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Tod einer Bikerin

Klaus Heimann

edition oberkassel

Start mit einer Ermahnung

Ich hätte nie geglaubt, dass mich das Jagdfieber nochmal derart packen würde! Niemals!

Rückblickend verstehe ich immer noch nicht, wie es so weit kommen konnte. Vor drei Jahren war ich infolge mehrerer Verstöße gegen die Dienstordnung auf Betreiben meines damaligen Chefs, Oberrat Gelbarth, bei der Kripo Essen ausgeschieden. Ich war nie ein Kriminalbeamter, der Risiken eingegangen ist - eher ein Vernunftmensch mit einiger Begabung, Hintergründe zu durchleuchten und geschickt Fragen zu stellen. Jemand, dem die Gerechtigkeit am Herzen liegt. Jemand, der den Sinn seiner Arbeit darin sah, dass Verbrecher ihre Taten sühnen.

Seit dem Nordkap-Fall, der sich 2014 so widerborstig seiner Klärung entgegengestemmt hatte, und seiner Aufklärung im Sommer 2015, die mich beinahe das Leben gekostet hätte und an die ich mein künstliches Knie als Andenken bei mir trage, glaubte ich den Kriminalisten in mir abgestreift zu haben.

Ich vermisste meinen alten Job in der Mordkommission eigentlich höchst selten. Nur ab und zu befiel mich eine Ahnung des alten Jagdfiebers, etwa, wenn ein gut gemachter Krimi im Fernsehen gesendet wurde, mir ein spannender Thriller-Roman in die Hände fiel oder in der Zeitung über aktuelle Mordfälle berichtet wurde. Dann legte ich das Puzzle gerne zusammen, ehe das Bild für Zuschauer oder Leser zusammengesetzt wurde, rätselte mit den ermittelnden Schauspielern, wer der Täter sein könnte, überlegte mir einen Tathergang zum Gelesenen. Da lauerte etwas in mir, was einen – ohne mit Eigenlob zu übertreiben – guten Kriminalisten aus mir gemacht hatte. Der Wille, der Gerechtigkeit in meinem bescheidenen Einflussbereich auf die Sprünge zu helfen.

Im Grunde bin ich gut damit klargekommen, dass dies alles ein Ende gefunden hatte. In dunklen Stunden liefen mir einige der aufgeklärten Fälle oft genug nach. Der Anblick von Leichen, blutverschmierte Tatorte – keine Bilder, die man gerne aus dem Gedächtnis kramt. Die menschlichen Schicksale, die dahinterstanden, waren mir von meinem Ex-Job als »Pfahl im Fleisch« zurückgeblieben - so drücke ich das Gefühl beim Hochquellen düsterer Erlebnisse gerne aus. Ich habe dieses Bibelwort aus einer Predigt von Pfarrer Kirch-Mann, der in den Haarzopf-Fall hineingezogen worden war. Es beschreibt das Gefühl ziemlich treffend.

Ich lebte meinen Ruhestand in dem Irrtum, mich könnte kein mörderisches Geheimnis mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Weit gefehlt!

Tief unter den Alltäglichkeiten, die mein Dasein als Frührentner takteten, schlummerte anscheinend ein verdrängter Ehrgeiz - möglicherweise angeheizt durch den Umstand, gewisse kriminalistische Fähigkeiten nicht mehr ausspielen zu dürfen. Er ist über mich gekommen wie ein längst überwunden geglaubter Infekt, wie eine schlummernde Gürtelrose nach den Windpocken der Kinderjahre. Die Lehren aus meinem Leichtsinn bei der Aufklärung des Nordkap-Falls habe ich einfach beiseite gewischt.

Ich hasse den Lügner, zu dem ich unter Heiligung der Mittel zum Zweck geworden bin. Den Schwindler, der sich nicht scheute, die wichtigsten Menschen in seinem Leben zu hintergehen. Allen voran Lotte, meine Frau. Eigentlich heißt sie Charlotte und mag die Verstümmelung ihres Namens nicht. Mir lässt sie das durchgehen, wie vieles andere auch.

Meine Angetraute ist wirklich eine patente Person. Wir harmonieren im Grunde prächtig. Nur ausnahmsweise kommt es zu den typischen kleinen Missverständnissen zwischen den Geschlechtern, die das Einschlafen einer Beziehung verhindern.

Normalerweise weiß ich genau, ab wann es zurückzurudern gilt. Je mehr ich mich aber in den Mordfall, der mir einfach so vor die Füße geplumpst ist, verbissen hatte, desto gereizter wurde die Stimmung zu Hause. Ganz untypisch für mich, ging ich diesmal keinem Streit aus dem Weg. In diesem Sommer hatte mich der Teufel geritten und sogar die gute Beziehung zwischen Lotte und mir ins schiefe Licht gerückt. Natürlich war die Gereiztheit meinerseits eine Folge des erwachten krankhaften Ehrgeizes. Lotte hat nur darauf reagiert.

Warum ich mich in Gefahr gestürzt habe? Warum ich die Menschen in meinem Umfeld so schlecht behandelt habe? Warum alles so weit gekommen ist?

Ich kann diese Fragen schlussendlich nicht beantworten. Lag es nur an diesem krankhaften Ehrgeiz? Oder hingt es auch damit zusammen, dass Lotte immer noch ihrem Broterwerb nachgeht und ich deswegen einen Minderwertigkeitskomplex entwickelt habe? Spielte eine Rolle, dass ich meinen alten Job in schlechten Händen glaubte?

Dies alles wird zu meinem Versinken im Sumpf beigetragen haben. Irgendwie bin ich hineingerutscht, ist eine Gemengelage entstanden, die mich mir selbst gegenüber fremd zurücklässt.

Ihren Anfang nahmen die Geschehnisse um den Mordfall in Essen-Werden bereits mit einer heftigen häuslichen Disharmonie. Ich gehe gerne in die Kneipe. Nicht zu häufig, aber einigermaßen regelmäßig. Mit meinem Kumpel, dem Schutzpolizisten Eckhard Schulz, genannt Ecki. In letzter Zeit war ich des Öfteren zu unvorsichtig gewesen und hatte dabei ein, zwei Pils über den Durst getrunken. Bereits Anzeichen einer gewissen dauerhaften Unterforderung und eines Gefühls des Überflüssigseins?

Egal. Jedenfalls stolperte ich in den entscheidenden Abend, ab dem die Dinge ihren Lauf nahmen, mit einer Ermahnung.

***

»Und dass du dir nicht wieder die Hucke vollsäufst!«

Ich hörte Lottes Ermahnung in dem Moment, als ich die Wohnungstür hinter mir zuschlug. Keine zehn Sekunden vorher hatte sie mir im Flur einen Kuss aufgedrückt und einen schönen Abend gewünscht. Bester Laune und voller Vorfreude war ich über die Schwelle geschritten. Und dann diese überflüssige Bemerkung aus dem Hintergrund. Vielleicht meinte meine Angetraute es gar nicht so herabwürdigend, wie es bei mir ankam. Trotzdem. Ein unnötiges Wechselbad!

Wenn ich heute nach ausgiebigem Thekenturnen spätabends nach Hause käme, würde ich mich natürlich nicht unbedingt wie eine Schleichkatze fortbewegen. Immerhin hatte ich mir das muntere Pfeifen eines Liedchens im Nachklang wunderschöner Abende am Tresen lange abgewöhnt. Diesen Punkt auf der langen Liste ihrer Erziehungsziele in Bezug auf ihren Ehemann hatte Lotte erfolgreich umgesetzt. Mit der für sie typischen, sanften Hartnäckigkeit. Vielleicht verursachten sogar das Öffnen und Schließen der Wohnungstür und das Abwerfen der Klamotten im Flur lediglich Geräuschbelästigungen unterhalb des Anstoß-Levels. Wenn ich das Schlüsselloch auf Anhieb traf …

Nicht zu verhindern wäre, dass ich schnarchte. Wie immer bei erhöhtem Drogenspiegel. Dies zu beeinflussen stand außerhalb meiner Macht. Aber dafür würde ich erst morgen früh gerügt. Großzügig über diese Dinge hinwegzusehen, das würde Lotte gut anstehen. Meiner Meinung nach. Schließlich finden solche Umtrünke höchstens alle vier bis sechs Wochen statt.

An diesem frühen Juniabend war die Luft angenehm warm. Der längste Tag des Jahres stand kurz bevor. Ich beschloss, den üblichen etwa halbstündigen Umweg einzuschlagen, wenn ich zu einem genüsslichen Männerabend unterwegs war. So hatte ich es immer gehalten. Häufig sogar auf dem Rückweg, wenn mein Gang nicht mehr unbedingt die straffe Zielgerichtetheit aufwies, die ihm normalerweise zu eigen ist. Nur zu der Zeit, als mein Knie infolge der Operation noch schmerzte, habe ich notgedrungen auf den zusätzlichen Schlenker verzichtet.

Nach wie vor leicht gekränkt wegen Lottes Ermahnung, schlenderte ich die Straße hinunter auf meinen alten Arbeitsplatz zu: das Polizeipräsidium Essen. Ich querte die Grünanlage, in der Sturm Ela am Pfingstmontag 2014 die mächtige Buche gefällt hatte. Mich gähnte der Platz an, an dem sie seinerzeit in Sichtweite zum Polizeipräsidium beharrlich auf mein Erscheinen gewartet hatte. Mit der Geduld eines Baumes. Seit Jahr und Tag haben sie auf dem Gelände, wo sie stand, eine Baustelle eingerichtet. Planierraupen und Bagger standen neben haushohen Erdhügeln.

Oft, wenn nicht immer, hatte ich mich auf dem Heimweg von einer Zechtour am Stamm der Buche erleichtert. Direkt gegenüber dem Portal meines Brötchengebers. Merkwürdig, dass mir erst neulich, lange nach meiner aktiven Zeit, in den Sinn gekommen war, dass ich dem Polizeipräsidenten sozusagen jahrelang vor die Hütte gepisst hatte. Vielleicht hat meine Loyalität dem Apparat gegenüber verhindert, dass ich eher auf diesen Kalauer gekommen bin.

Die im Grunde hohle Sprechblase munterte mich auf. Ich zeigte dem Polizeipräsidium, in dem ich die überwiegende Zeit meines Berufslebens abgedient hatte, eine lange Nase. Dann ging ich zur Zweigertstraße hinüber und wechselte zunächst die Fahrbahnseite. Am nächsten Abzweig unternahm ich einen Abstecher in das Wohnviertel dahinter.

Irgendwann erreichte ich die Rüttenscheider Straße, Lottes und meine Flaniermeile. Auf der »Rü« hielt ich mich entlang von Geschäften und Gastronomie südwärts bis zur Einmündung der Emmastraße. Von hier war es nicht mehr weit bis zu Guido, meinem Lieblingswirt, bei dem ich verabredet war.

Ein merkwürdiger Fall

Ich betrat die Kneipe durch die ehrwürdige alte Pforte. Ihr hufeisenförmiger Tresen aus dunklem Holz war gut besetzt. Einen Moment blinzelte ich, noch von der Sonne geblendet. Dann entdeckte ich meinen Freund Ecki an einer der Rundungen des Tresens stehen. Aufmunternd prostete er mir mit einem Pils zu. Das verstärkte das Trockenheitsgefühl in meiner Kehle schlagartig.

Mit ausgebreiteten Armen ging ich auf Ecki zu, um ihn standesgemäß zu begrüßen. »Hallo mein Freund. Vorsprung? Das sehe ich nicht gerne!«

»So weit geht unsere Freundschaft nicht, dass ich hier verdurste, während ich auf dich warte!«

Der lockere Ton, der zwischen uns herrscht, lässt jeden gemeinsamen Umtrunk wie eine nahtlose Fortsetzung des vorangegangenen wirken. Wir fielen uns herzlich in die Arme und tätschelten uns gegenseitig den Rücken. Als ich von Ecki abließ, stellte Guido gerade unaufgefordert den ersten schäumenden Longdrink des Abends vor mir ab. Ein aufmerksamer Wirt! Da braucht es keine extra Bestellung.

»Danke Guido. Alles im Lack?«

»Bestens, Sigi. Schau dich um! Da sage einer, mit den alten Kneipen ginge es bergab.«

»Anderswo sieht es nicht so gut aus.«

»Ich behaupte nicht, dass es einfach ist. Aber bei mir geht beinahe jeden Abend die Post ab.«

»Du machst eben alles richtig«, lobte Ecki. »Bist ein Freund von Traditionen, ohne den Anschluss an Trends zu verpassen.«

Ein bemerkenswerter Satz für einen Ecki! Dass Guido das ebenfalls auffiel, sah ich an seinem Blick. Er wurde jedoch anderswo gebraucht und tippte sich, ohne etwas zu erwidern, zum Dank für das Lob mit zwei Fingern an die Schläfe und verschwand.

»Erich ist noch nicht da?«, stellte ich mehr fest, als dass ich fragte.

»Nöö. Wann wollte der denn kommen? Du hast mit ihm telefoniert.«

Erich, mein langjähriger Wegbegleiter im Polizeidienst, hatte sich beim letzten Mal in die Runde eingeklinkt und gefragt, ob er bei Gelegenheit wieder dazustoßen dürfte. Da er ein angenehmer Kerl ist, hatten Ecki und ich gerne zugestimmt. Wir mussten auch an Guido denken. Der war angewiesen auf Nachwuchs.

Letzte Woche hatte ich Erich den Termin durchgegeben. Bestimmt würde er wieder von Möhrchen hier abgeliefert, der Dritten im Team meiner letzten Dienstjahre. Nach langem Nebeneinander hatte es vor ungefähr zwei Jahren endlich zwischen den beiden jüngeren Kollegen gefunkt. Besser: Endlich bei Erich gefunkt, dem ewigen Schürzenjäger.

Möhrchen hatte ich immer in Verdacht, dass sie heimlich in unseren Mitstreiter verschossen war. Die beiden hatten vor Kurzem geheiratet und mir war die Ehre zugefallen, einer ihrer Trauzeugen zu sein.

Ich war seltsam gerührt gewesen, als ich meine Unterschrift unter die Dokumente setzen durfte. Anschließend hatte es eine kleine Feier gegeben mit vielleicht zwanzig, fünfundzwanzig Gästen. Allesamt angenehme Leute. Ich hatte mich sehr wohlgefühlt in diesem Kreis. Selten habe ich eine glücklichere Braut gesehen. Wie sagt man so schön: Was ewig währt …

Die Tür schlug auf und Erich erschien im Rahmen. Mit seinen einsneunzig und dem breiten Kreuz füllte er ihn gut aus. In seinem Schatten spazierte Möhrchen herein. Seit unserer gemeinsamen Zeit hatte sie kräftig abgenommen. Die weiche Knautschzone um die Hüfte herum war sie trotzdem nicht losgeworden. Ein ungleiches Paar. Erich mit sportlichem, trapezförmigem Körperbau, seine Frau einen guten Kopf kleiner als er, schmal in den Schultern, mit insgesamt kegelartiger Silhouette. Ohne ihre üppige, möhrenfarbige Lockenpracht, wäre die Kleine komplett neben ihrer männlichen Begleitung verblasst. Wen sie allerdings ansah, den zog sie unweigerlich hinein in ihre tellergroßen, saphirblauen Augen. Männer wie mich jedenfalls. Ihre Sommersprossen sahen dunkelbraun aus. Erst im Winter würden sie blasser werden. Ich wusste, wie sehr die Kleine diese sommerliche Veränderung hasste.

Erich entdeckte uns. »’nabend Männer. Schon bestellt?«

Die kleine Rote lächelte uns verschmitzt zu. »Hallo Sigi, hallo Ecki. Da habt ihr euren Mitstreiter. Gerne gebe ich ihn nicht her. Ihr seid Zeugen, dass ich ihn unbeschädigt bei euch abliefere.«

Ich schmunzelte zurück. »Hallo meine Gute. An deinen Männe kommt nix dran. Ich pass auf. Versprochen!«

»Das soll mich beruhigen? Du weißt, ich habe lang genug auf ihn gewartet. Die wenigen Stunden, die wir uns sehen, möchte ich ihn möglichst unversehrt an meiner Seite haben.«

»Wir alten Männer trinken ihn schon nicht unter den Tisch!«

Das wollte Ecki so nicht stehen lassen. Er protestierte: »Na, Sigi, da sprichst du aber nur für dich. Alter Mann. Ha! Sieh hier: Ich bin gut im Training!« Er strich sich über sein Pilsgeschwür, dem die Schwerkraft zu einer deutlichen Ausstülpung über den Gürtelrand hinweg verhalf.

Die kleine Rote schüttelte gespielt den Kopf über Eckis Einwurf.

Dann kniff sie Erich ein Auge. »Halte dich von dem da fern. In seine Tiefe passt deutlich mehr hinein als in deine Länge. Du ziehst unweigerlich den Kürzeren. Ich übergebe dich in Sigis Obhut. Der ist schließlich unser Trauzeuge und wird Schaden von dir fernhalten. Pflichtbewusst, wie er ist.«

Unser Möhrchen. Sie hatte es immer schon gut draufgehabt, uns Männer elegant einzuwickeln. So humorig sie das hervorgebracht hatte – der Ernst in ihren Worten war bei mir angekommen. Sie mochte einen angeheiterten Erich genauso wenig wie Lotte einen angeheiterten Sigi. Mal schauen, was ich für sie tun konnte.

Möhrchen verabschiedete sich. Sie schenkte jedem von uns zum Abschied einen Blick aus ihren blauen Ozeanen.

»Macht’s gut. Um elf hole ich dich ab, Erich.« Sie drückte ihrem Mann einen intensiven Kuss auf den Mund und verschwand durch die Pforte des Kneipenparadieses.

Ecki grinste Erich feist an. »Die hat dich ganz schön unter der Fuchtel, was?«

»Hatten das seine Frauen nicht immer?«, lästerte ich.

»Schnauze, Männer. Ihr wisst, dass ich lange nach der Richtigen gesucht habe. Und Möhrchen ist die Richtige, glaubt mir das.«

Ecki, wie er war, konnte sich unmöglich verkneifen, weiter Öl aufs Feuer zu gießen. »Sehnst du dich nicht nach all deinen schicken Blondinen zurück? Mit schlanken Körpern und draufgängerischem Temperament?«

Der Dicke traf den Punkt. So hatte es lange ausgesehen, Erichs Beuteschema. Diese Beziehungen hatten maximal drei Jahre gehalten. Übrigens in seltsamer Synchronizität zu dem Rhythmus, in dem Ecki seine viel zu großkotzigen Autos wechselte. Ob die Trennungen nun von Erich oder von seinen Flammen ausgegangen waren – das Resultat war immer dasselbe gewesen. Kurz darauf war er erneut auf Treibe gegangen. Bis er endlich das treue Möhrchen für sich entdeckt hatte.

Erichs Gesichtsausdruck wurde richtig ernst. »Das war mal. Ist Geschichte. Mein Lehrgeld habe ich bezahlt. Und das nicht zu knapp. Ihr werdet es kaum glauben: Ich sehne mich kein Bisschen nach dieser Zeit zurück. Möhrchen ist perfekt für mich.«

Der Tonfall unseres Kumpels ließ Ecki verstummen. Ein wenig gönnte ich ihm diesen Dämpfer. Bei Weitem nicht jedes Thema war dazu geeignet, in der Kneipe oberflächlich und mit Spott durchgekaut zu werden.

Ich lenkte die beiden von ihrem Thema ab. »Guido, ein Pils für den Jungen und drei Samtkragen.«

»Das ist ein Wort!«, bekräftigte Ecki meine Bestellung.

Erich verzog das Gesicht. »Uuh. Sofort mit Schnaps loslegen …«

Ich haute meinem Ex-Kollegen auf die muskelbepackte Schulter, dass es klatschte. »Deine Frau ist weg. Und außerdem weiß ich, was du verträgst. Ich gebe lange vor dir auf. Habe ich den Kanal bis zum Kragen voll, hast du exakt deinen eheverträglichen Pegel erreicht. Du rufst Möhrchen an, bittest sie, dich einzusammeln, vermeidest aber – ganz wichtig! – jede Art von Zärtlichkeiten. Und möglichst flach atmen! Deine Gattin wird deinen Zustand höchstens erahnen, aber mangels direkten Körperkontakts nicht allzu intensiv riechen. Du lässt dich von ihr einfach brav in die Heia abführen. Der Rest geht mich nichts mehr an.«

Ecki kicherte. Meine harmlose, verklausulierte Schlüpfrigkeit traf seinen Junggesellenhumor. Ich weiß es zwar nicht mit Gewissheit, denke mir aber, seine Bilanz bei der Damenwelt sieht recht mickrig aus. Wenn er überhaupt auf Frauen steht – selbst darüber bin ich mir nicht im Klaren. Als wir hier bei Guido den Stoppenberg-Fall durchgekaut hatten, war ich nah dran gewesen, seine Orientierung aufzudecken. Blieb am Ende ein Fehlversuch.

Das spielte ohnehin keine Rolle für mich. An diesem Abend nicht und an allen kommenden ebenso wenig. Ecki war ein umgänglicher Typ, mit dem man reden konnte. So was zählt am Tresen.

Wie von Zauberhand standen die Getränke vor uns und wir prosteten uns zu. Erst mit dem Pilschen, dann mit den Samtkragen. Ich schüttelte mich von dem bitteren Boonekamp. Es war tatsächlich ein wenig früh gewesen für den Schnaps.

Erich sprach aus, was er über die Ruhrgebiets-Spezialität dachte: »Ein absolut widerliches Zeug. Dass ihr das Sauzeug herunterkriegt!«

»Hast du doch auch«, entrüstete sich Ecki.

»Ihr habt mich verführt!«

»Dieser Anlauf muss es dir wert sein, dass dir der Nächste schmeckt«, philosophierte ich.

»Nee, lass man. Die nächste Schnapsrunde geht auf mich und dann trinke ich lieber einen Jägermeister.«

Ecki schüttelte mit wenig schauspielerischem Talent den Kopf. »Tss, tss, der Nachwuchs. Wozu wird unsere Kneipenkultur verkommen, wenn nur noch so’ne Leute wie du am Tresen aufkreuzen. Armer Pott!«

»Noch drei Pils?«, fragte Guido über Erichs halb leeres und die beiden leeren Biergläser hinweg.

»Bis wir abwinken«, verkürzte ich den Bestellprozess für den restlichen Abend.

»Aber nicht eins:eins«, schärfte ausgerechnet Ecki nach, was übersetzt hieß: Fülle nur Bier nach und bringe nicht jedes Mal einen Kurzen zur frischen Gerstenkaltschale mit. Guido war in diesen Geheimcode eingewiesen.

Der Abend nahm seinen Lauf und wir sprachen über dies und das. Über Eckis derzeitiges Auto, einen alten, rostigen Camaro, der ihm die Haare vom Kopf fraß. Über die neue Einrichtung des Wohnzimmers, die Erich und Möhrchen anschaffen wollten. Bisher bestand sie aus zusammengewürfelten Möbeln der beiden Single-Wohnungen. Ich vermutete, die Geschmäcker der glücklich Vermählten waren sehr verschieden und hatten sich in ihrem gemeinsamen Domizil zu einem fürchterlichen Stilmix zusammengefügt.

Anschließend erzählte ich von meinen Tagen als Frührentner und erntete dafür gehörig Neid. Ich hielt dagegen. Es gab genug Langeweile in meinem Leben. Warum dachten alle, die Stunden füllten sich von alleine, wenn man nicht mehr arbeiten ging? Dinge, mit denen es sich zu beschäftigen lohnte, fielen niemandem in den Schoß.

Die Diskussion darüber mündete unvermeidlich in meiner Frage an Erich – bis dahin waren drei Lagen Schnaps gelaufen: »An was für einem Fall arbeitet ihr denn gerade?«

Erich seufzte. »Frag lieber nicht. Wir stecken fest.«

»Immer noch diese Geschichte in Werden?«

An unserem letzten gemeinsamen Abend hatte Erich davon erzählt. Es hatte lange nichts darüber in der Zeitung gestanden.

»Genau. Wir kriegen den Burschen nicht weichgeknetet. Bald sind wir gezwungen, ihn laufen zu lassen.«

Erich meinte den Lebenspartner der Frau, die ermordet worden war. Die Polizei war von einem Nachbarn, der ein lautes, schussähnliches Geräusch gehört hatte, zum Tatort gerufen worden. Sie hatten den Mann schnarchend im Schlafzimmer vorgefunden, mit beinahe drei Promille Alkohol im Blut. Die Frau hatte nebenan im Wohnzimmer auf dem Sofa gelegen. Ihr Blutalkohol war ebenfalls beträchtlich gewesen. Sie hatte eine Schusswunde auf der Stirn getragen.

»Habt ihr seit unserem letzten Treffen irgendetwas Neues herausgebracht?«, erkundigte Ecki sich.

»Was wisst ihr denn?«

»Dass beide besoffen waren, dass sie von Hartz IV lebten, keine Schmauchspuren an Händen und Kleidung des Mannes – er hat also nicht geschossen –, nichts gestohlen, am Tatort blieben keine Gegenstände zurück, die dem Täter gehören. Auch keine Patronenhülse. Fällt dir noch etwas ein?« Ecki sah mich fragend an.

»Nein. Korrekt wiedergegeben wie ein Notizbuch. Mehr habe ich mir auch nicht gemerkt.«

Erich nahm sein Bierglas in die Hand und starrte in den zusammengesunkenen Schaum. »Wir wissen, dass die Frau ein Motorrad besaß. Eine rote Honda, konnten wir ermitteln. Die ist verschwunden. Auf ihrem Bankkonto gab es keine auffälligen Bewegungen. Volle vier Jahre sind wir zurückgegangen. In ihrem Umfeld nur unauffällige, harmlose Geister. Viele Kontakte besaß sie sowieso nicht.«

Ich schaltete mich ein. »Und auf seinem Konto?«

»Keine größeren Abhebungen oder Einzahlungen. Völlig unverdächtig.«

»Lagen auffällige Mengen Bargeld in der Wohnung herum?«

»Nein. Jedenfalls nicht zu dem Zeitpunkt, als wir sie inspiziert haben.«

»Zwielichtige Gestalten, mit denen der Mann befreundet ist?«

»Das ist allem Anschein nach ein Einzelgänger. Keine Kontakte zu Verwandten, keine echten Freunde. Jedenfalls konnten wir niemanden ausfindig machen, der ihn gut genug kennt, um ihm einen unbescholtenen Leumund auszustellen.«

»Was bietet sich als Motiv an? Diebstahl scheidet wohl aus. Eiversucht etwa? Habt ihr schon in diese Richtung geforscht?«

»Bis jetzt alles Fehlanzeige.«

Ecki nuckelte an seinem Bierglas. »Ihr seid nicht zu beneiden, ihr von der Kripo. Unsereins muss sich die Birne nicht so zermartern. Musst nur entscheiden, wen du einkassierst und wen nicht.«

»Gib’s zu. Wenn es brenzlig wird, hältst du doch möglichst Abstand«, neckte ich Ecki.

Das fand mein Kumpel gar nicht lustig. »Kannst du unmöglich! Wenn die Durchgeknallten aggressiv werden, entstehen immer Situationen, in denen sie deinem Arsch nahekommen. Verstecken is nich.«

Ich merkte, dass mein Kommentar schlecht angekommen war.

»Tschuldigung, Ecki. Das weiß ich natürlich. War ein doofer Spruch.«

»Prost!«

Ecki stieß mit seinem vollen Glas bei mir und Erich an und leerte es in einem Zug. Wir zogen nach. Guido hatte es bemerkt und zapfte bereits wieder Neue.

Meine Neugier war lange nicht gestillt. »Sag, Erich, wie steht es denn mit den Aussagen dieses Lebensgefährten? Du hast gesagt, er gibt wenig von sich?«

»Der gibt bereitwillig zu allem Auskunft, was nicht direkt mit dem Mord zusammenhängt. Zum Tatzeitpunkt, behauptet er, war er zu besoffen, um irgendetwas mitzukriegen.«

Ecki lachte trocken auf. »Ha. Klar, bei drei Promille. Das ist Kampftrinker Meisterklasse!«

Ich ließ nicht locker. »Habt ihr ihn in der Kartei?«

»Arnfried Nußbaum heißt er. Keine Einträge. Nur wegen zu schnellen Fahrens. Mit der Kiste des Opfers. Die Frau hieß Gertrud Fenger.«

Tief in meinem Gedächtnis klingelte etwas, als Erich den Namen des Mannes nannte. Einen kurzen Augenblick horchte ich dem Klingeln nach. Vergeblich. Es wurde leiser und verstummte.

»Wie ist der Täter deiner Meinung nach in die Wohnung gelangt?«, fragte ich stattdessen.

»Du wirst es nicht glauben. Sie haben einen Schlüssel unter der Fußmatte.«

»Da sucht heute wirklich keiner mehr. Das hält niemand mehr für möglich, so einen Leichtsinn«, spottete ich. »Und wie ist der Mörder ins Haus gekommen?«

»Ich spreche von der Haustür. Da lag der Schlüssel unter der Fußmatte. Die Wohnungstür war geschlossen, als die Kollegen eintrafen.«

»Wo der Haustürschlüssel liegt, könnte natürlich jedermann beobachtet haben, der zufällig vorbeiging.«

»Nur, wenn die Enkel des Nachbarn nach Hause kamen. Du musst wissen, dass die Kinder tagsüber von den Großeltern betreut werden. Die Erwachsenen im Haus besitzen allesamt eigene Schlüssel. Der unter der Matte war die Idee vom Vater der Kinder. Acht und zehn Jahre sind sie alt. Aber du hast recht: Die Kids haben garantiert kein Geheimnis um diesen Schlüssel gemacht.«

Ich legte die Stirn in Falten.

Eine schlechte Angewohnheit, der ich immer dann fröne, wenn ich Witterung von einem ungelösten Geheimnis aufnehme.

Im Dienst wussten alle sofort: Sigi kaut an einem Fall.

»Ist der Mörder gewaltsam in die Wohnung eingedrungen oder hat ihm jemand von innen geöffnet?«

»Als die Kollegen zum Tatort kamen, war sie - wie gesagt - geschlossen. Der Säufer drinnen im Schlafzimmer hat weder auf ihr Sturmschellen noch auf Rufen reagiert. Sie mussten die Tür aufbrechen. Falter hat später herausgefunden, dass dies der einzige Versuch war, sie mit Gewalt zu öffnen. Wir wissen bis heute nicht, wie der Täter hineingelangt ist.«

»Es ist aber sicher, dass er durch die Wohnungstür kam?«

»Das Haus besitzt keine Balkone. Er hätte eine Leiter anlegen müssen und durch ein Fenster klettern. Es waren keine Spuren dieser Art festzustellen.«

Hartmut Dreute von der Spurensicherung, wegen seiner Leidenschaft für präparierte Schmetterlinge von Insidern auch »Falter« genannt, war ein guter Mann. Wenn das sein Untersuchungsergebnis war, waren jedwede Zweifel unangebracht.

»Seid ihr sicher, den Umgang und die Vergangenheit des Pärchens ausreichend unter die Lupe genommen zu haben? Oder schlummert da noch etwas?«

»Sigi, hallo! Wir stehen hier in einer Kneipe und lassen uns volllaufen. Wir sitzen nicht an unseren Schreibtischen im Präsidium und basteln Tatszenarien.«

»Da liegt Erich richtig«, sprang Ecki meinem ehemaligen Kollegen zur Seite.

Eine kleine Gesprächspause entstand. Jeder hing den eigenen Gedanken nach.

Plötzlich fragte Ecki: »Meint ihr, die Frau hat ihren Mörder selber in die Wohnung gelassen?«

Erich zuckte die Schultern. »Könnte sein. Davon weiß Arnfried Nußbaum angeblich ebenfalls nichts. Er habe aber niemandem geöffnet. Er sei alkoholbedingt außer Gefecht gesetzt gewesen.«

»Besaß die Ermordete Hämatome an den Armen oder am Oberkörper?«, fasste ich nach.

»Nein.«

Ecki hatte den Hintergrund meiner Frage nicht kapiert. »Warum ist das wichtig?«

»Na, da sie unverletzt war, deutet doch alles darauf hin, dass sie den Täter kannte. Sonst hätte sie ihn an der Tür abgefertigt. Oder sie hätte einem Unbekannten geöffnet und wäre gewaltsam in die Wohnung hineingezerrt worden. Das hätten Hämatome zu bedeuten. Ist doch simpel!«

Erich wurde heftig. »Mensch Sigi, ich habe die Grundschule des Kriminaldienstes hinter mir. Alles überprüft, alles mit den Kollegen besprochen. Dass Gertrud Fenger ihren Mörder kannte und ihn hineingelassen hat, ja, das wäre eine Möglichkeit. Kampfspuren wie zerbrochene Gegenstände, umgeworfene Stühle oder umgeknickte Teppiche gab es übrigens auch keine. Eine andere Möglichkeit wäre, dass der Mörder einen Zweitschlüssel besaß. Und wenn wir weitergraben, finden wir vielleicht noch ein Mauseloch, durch das er geschlüpft ist. Feierabend!«

»Gut, gut. Beruhige dich. Nur eines noch: Welche Version verfolgt ihr?«

»Wir gehen bisher davon aus, dass die Frau geöffnet hat.«

»Fingerabdrücke?«

»Sigi!«, blafften mich meine Saufkumpane gleichzeitig an. Stimmte ja. Ich war nicht mehr aktiv.

Ecki und Erich wandten sich einem anderen Thema zu. Ich war für den Rest des Abends nicht mehr richtig dabei. Ob die Mordtat in den Händen meines ehemaligen Kollegen gut aufgehoben war? Beim Lösen von Fällen war er jedenfalls nie der hellste Fixstern am Himmel gewesen, was sich in seiner bescheidenen Aufklärungsquote widerspiegelte.

Oder hatte ich seinem schlummernden Talent im Wege gestanden? Hatte ihn zu väterlich unter meine Fittiche genommen? Unbewusst seinen Horizont verstellt?

Was spielte das eigentlich für eine Rolle? Ich war nicht mehr dabei und mich ging die ganze Sache nichts an. Was bedauerlich war, denn es hörte sich kniffelig an. Richtig kniffelig. Ein Verbrechen ganz nach dem Geschmack von Sigi Siebert.

Ach was. Vergangenheit. Lieber noch einen Samtkragen und ein Bier vernaschen.

***

Gegen elf Uhr tauchte Möhrchen auf. »Na, genug getrunken?«, erkundigte sie sich, eher tadelnd als wirklich an einer Antwort interessiert.

»Hat er«, antwortete ihr Ecki, der unverändert wie eine Eins am Tresen stand. »Er hat sich tapfer geschlagen.«

»Noch einen für den Weg?«, schlug ich vor.

Mir entging Erichs huschender Seitenblick hinüber zu seiner Frau nicht. »Lass man. Wir ziehen.«

»Nimm ruhig noch ein Bier. Ich bestelle mir eine Cola«, überraschte ihn Möhrchen.

Das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Bald standen drei Pils und eine Cola vor uns. Ecki und Erich setzten derweilen ihr Gespräch über V8-Motoren fort.

Eine Gelegenheit für meine alte Lieblingskollegin, mich beiseite zu nehmen. »Sigi, hat Erich von seinem aktuellen Fall erzählt?«

»Ja. Vorhin.«

»Der läuft ihm ganz schön nach, weißt du. Er kommt mit diesem Arnfried Nußbaum keinen Zentimeter weiter und eine Idee, in welche Richtung er ermitteln sollte, hat er auch nicht.«

»Du arbeitest mit ihm zusammen am Fall?« Unser Möhrchen war immer eine verlässliche Stütze gewesen. Ein patentes Mädchen.

»Mich haben sie lange abgezogen. Weißt du das nicht? Direkt nach unserer Hochzeit war das, kurz nach Erichs Beförderung. Ich schaffe aushilfsweise bei den Drogen. Erich arbeitet mit einem Neuzugang am Mord in Werden.«

»Ist Mord nicht wichtiger als Rauschgift?«

»Das ist so eine Großoffensive. Politisch motiviert, weißt du: Wir wollen, dass Essen clean wird.«

»Scheiße. Eine Großstadt wird nie clean. Träumer!«

»Wem sagst du das! Jedenfalls ist Erich ziemlich fertig. Ich kriege ihn selbst am Wochenende kaum aufgemuntert.«

Ich wünschte mir irgendwie, was ich andeutete.

»Willst du mir zu verstehen geben, er könnte Hilfe gebrauchen?«

Die blauen Ozeane wiesen mich entrüstet zurück. »Quatsch! Du bist raus aus dem Dienst und sollst es bleiben. Wäre ja noch schöner, wenn du als Rentner dem Erich hineinpfuschen würdest. Ich wollte mich nur jemandem anvertrauen, der Verständnis für diese Dinge hat. Der weiß, wie es in einem rumort, wenn die Ermittlungen stocken. Irgendwo muss man mal darüber quatschen dürfen.«

»Verstehe.«

Ecki und Erich hatten den amerikanischen Motorenbau zu Ende besprochen.

»Fährst du mich jetzt heim, Schatz?«

»Ich trinke eben aus.«

Möhrchen kippte die Cola, die sie bislang nicht angerührt hatte, in einem einzigen Zug hinunter. Dann griff sie nach der Hand ihres Mannes.

»Abzug. Tschüss Männer. Hat mich gefreut, dich wiederzusehen, Sigi. Darfst uns gerne mal besuchen. Zuhause oder im Präsidium.«

»Mach ich«, versprach ich leichthin. »Tschüss ihr Zwei.«

Erich zahlte seinen Deckel, umarmte uns Zurückbleibenden zum Abschied und verschwand mit seiner Liebsten ins heimatliche Nest.

»Sollen wir noch einen?«, lockte Ecki.

»Gerne.«

Es blieb nicht bei dem Einen. Wir torkelten als Letzte aus Guidos Laden auf die Straße und hörten, wie er ihn hinter uns abschloss. Arm in Arm maßen wir den Bordstein in Richtung Rüttenscheider Stern aus. Dort verabschiedete sich Ecki von mir.

Auf meinem Heimweg suchte ich in alter Tradition die Stelle auf, an der meine Freundin, die Buche, einst dahingeschieden war. Wehmütig starrte ich auf den Baustellenzaun. Dann suchte ich mir ein verschwiegenes Eckchen im seitlichen Gebüsch und wässerte die tief im Erdreich um sie trauernden Reste ihres Wurzelwerks.

Home, sweet Home

Als ich wenig später zu Hause eintorkelte, weckte ich leider Lotte. Für den fröhlich Heimkehrenden ist das der ungünstigste Fall. In Bezug auf seinen Empfang sind zwei Varianten denkbar. Die für ihn Angenehmere sieht vor, dass sich seine Angetraute zähneknirschend schlafend stellt. Die Schlechtere ist die von diesem Abend …

Lotte lief zur Hochform auf. Dabei hatte ich beim Hereinkommen nur ganz, ganz leise den River-Kwai-Marsch gepfiffen. Okay – ein bedauerlicher Rückfall in längst aberzogen geglaubte Gewohnheiten. Schwerer wog, dass ich unmittelbar nach dem Eintreten über das Leergut stolperte, das für den morgigen Einkauf zum Umtausch bereitstand. Der oberste Kasten vom Stapel hielt dieser Attacke nicht Stand und stürzte polternd zu Boden. Glas splitterte. Aber wegen so einer Lappalie gleich so eine Gardinenpredigt?

Die Schlafzimmertür stand offen. Lottes Nachttischlampe wurde angeknipst.

»Das nächste Mal schlafe ich im Bahnhof neben den Gleisen. Kein ICE macht solchen Krach, wenn er durchrauscht. Nilpferd! Ach was, Nilpferd: Dinosaurier! Und ein Saufkopp obendrein!«

»Es war dunkel im Flur. Ich wollte dich nicht mit Licht wecken.«

Meine gelallte Entschuldigung machte es nicht besser.

»Mit Licht nicht, aha. Aber mit diesem saublöden Gassenhauer! Damit gleich das ganze Haus weiß, dass der Herr vom Alko-Trip zurück ist. Und anschließend ein kräftiger Tusch auf dem Schlagzeug. Du bist ein unverbesserliches Trampeltier, Sigi Siebert.«

»Aber Löttchen …«

»Nix da, Löttchen. Schnauze jetzt. Ich will schlafen. Im Gegensatz zu dir, muss ich meine Brötchen mit Arbeit verdienen. Dass du dich vorsiehst, noch mehr Lärm zu machen. Ich raste aus!«

Es gelang mir nur ganz knapp, einer weiteren Standpauke von Lotte zu entgehen. Eine widerspenstige Tube Zahnpasta legte mir bösartig einen Stein in den Weg. Sie glitt mir aus der Hand und brachte den Zahnbecher zum Umstürzen. Es dröhnte in meinen Ohren, als hebe eine Explosion das Dach des Hauses ab.

Kaum war ich in die Federn geplumpst, löschte Lotte ihre Nachttischlampe. Trotzdem ich hundemüde war und es in meinen Ohren alkoholisch sauste, hielt ich geistesgegenwärtig die Luft an und horchte auf ihre Atemzüge. Erst als sie mir ruhig und ausgeglichen erschienen, wälzte ich mich auf meine Einschlafseite. Wenigstens hatte ich vermieden, meine Göttergattin mit meinem Geschnarche am Einschlafen zu hindern. Sie hätte mir mindestens Staubwischen aufgebrummt!

***

Ich will mich nicht groß beklagen, über die dicke Rübe vom nächsten Tag. Es gibt kein größer Leid, als das, der Mensch sich selbst andeit – behauptete meine Tante Klara immer.

Aber Lotte hätte sich gerne mäßigen dürfen.

»Seit zwei Uhr liege ich wach. Geh mal bei den Nachbarn fragen, ob ihre Möbel noch stehen. Du müsstest sie zwischenzeitlich kurz und klein gesägt haben!« Das waren die Worte, mit denen ich aus meiner traumlosen, friedlichen Dunkelheit gerissen wurde. Ich blinzelte auf meinen Wecker. Fünf Uhr dreißig! Was fiel meinem Weib ein?

»Hast du auf die Uhr geguckt?«

»Ungefähr siebenhundert Mal. Mir reicht’s! Untersteh dich, wieder einzuschlafen! Du kochst mir jetzt einen Kaffee.«

War meine Gattin verrückt geworden? Kaffee? Um diese Zeit?

Ein kleiner Rest Verstand kämpfte sich durch die Dunstglocke um mein Hirn. Diese Quälerei musste mir der Burgfrieden in den eigenen vier Wänden wohl wert sein.

Zeitlupenhaft kämpfte ich mich unter der Bettdecke vor. Nur keine ruckartigen Bewegungen jetzt!

Beim Einfüllen des Kaffeemehls in die Maschine – wir brühen immer noch altmodischen Filterkaffee auf – ging mir ein halbes Lot daneben. Ich wischte es notdürftig mit einem Küchentuch weg. Dabei landeten ein paar Krümel auf dem Boden, die sich bestimmt festtreten würden. Als der Kaffee durchgelaufen war, füllte ich zwei Tassen und ging damit zurück ins Schlafzimmer.

Kerzengerade saß Lotte im Bett. »Zwei Tassen? Nix da. Erst gehst du Scherben kehren im Flur. Meinst du, ich will mir eine eintreten? Ein Wunder, dass dir das gestern Abend nicht passiert ist.«

Zähneknirschend holte ich Besen und Kehrschaufel und machte mich ans Werk.

Erstaunlich, wohin ein so schweres Material wie Glas pulverisiert überall fliegt. Zum Glück waren nur zwei Flaschen beim Aufprall auf den Fliesenboden geplatzt. Die anderen konnte ich unversehrt samt Kasten wieder zuoberst auf den Stapel stellen.

Dem Kehren folgte eine Runde mit dem Staubsauger. Zur Sicherheit. Dabei entdeckte ich eine tiefe Macke mitten auf einer unserer Flurfliesen. Au Backe. Das würde Lottes Zorn ein Krönchen aufsetzen!

Als ich mein Werk zur eigenen Zufriedenheit beendet hatte, wagte ich einen erneuten Vorstoß ins Bett. Ich lehnte mich auf meiner Seite am Kopfteil an. Der Kaffee war mittlerweile lauwarm geworden. Angewidert stürzte ich die Brühe in einem Zug hinunter.