Gerd Zipper


Stumme Qualen










Kriminalroman aus Schwäbisch Gmünd













Prolibris Verlag



Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2019
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29

Titelbild: © Raphael Adanero
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-208-9
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-190-7

www.prolibris-verlag.de

Dieser Roman spielt auf der Ostalb. Reale Schauplätze sind Schwäbisch Gmünd, Bartholomä, Heubach, Lorch und Waldstetten. Erfunden sind die Gmünder Szenekneipe Unicorn House und die Tageszeitung Remspost.
Figuren, Namen, Handlungen und Ereignisse - außer dem Einbruch in das Gmünder Rathaus - entspringen allein der Fantasie des Autors. Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und tatsächlichen Begebenheiten sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.


Der Autor
Gerd Zipper, Jahrgang 1958, ist in Schwäbisch Gmünd geboren, aufgewachsen und lebt dort auch heute. Er studierte Bauingenieurwesen und ist hauptberuflich als Diplom-Ingenieur (FH) tätig. Seit Anfang der Achtzigerjahre schrieb er mehrere Sachbücher, Artikel in Zeitschriften sowie eine Anthologie, Kurzgeschichten, Gedichte und Drehbücher. Der erste Kriminalroman mit dem gegensätzlichen Ermittlerpaar Anton Hecht und Mona Hering, »Der Tunnel«, erschien 2012, dem 2014 »Der Übervater« folgte. »Stumme Qualen« ist der dritte abgeschlossene Krimi dieser Serie.




Für Birgit



Prolog
»Hiiilfäää! ... Hiiilfäää!« Seine Stimme versagte und ähnelte der eines verzweifelt jaulenden Welpen. Er konnte so viel, so lange und so laut schreien wie er wollte. Hier draußen im abgeschiedenen Tal der Grünhalde hörte ihn niemand. Das nächste Haus in dieser Idylle stand mehrere Steinwürfe entfernt. Dass es nur am Wochenende bewohnt war, wusste er.
»Gggrrr!« Mit großer Kraftanstrengung versuchte sich Ralf Schwitzgebel aus seiner misslichen Lage zu befreien, indem er sich im Bett leicht zur Seite drehte. Wie lange er schon so stark geschminkt und in einem lila Tanga dalag, konnte er nicht mehr einschätzen. Seine stark behaarten Beine steckten in grobmaschigen schwarzen Netzstrümpfen mit Strapsen, die Oberschenkel quollen aus kniehohen Schnürstiefeln hervor. Beim Stehen würden ihn die schwindelerregend hohen Pfennigabsätze der schwarz glänzenden Lackstiefel um zehn Zentimeter größer machen. Seine Handgelenke waren mit Handschellen an Ringen befestigt, die in der Wand hinter dem Wasserbett verankert waren. Die starken Industriedübel die er aus seiner Firma hatte mitgehen lassen, rächten sich jetzt, sie gaben keinen Millimeter nach. Hätte er damals doch nur die billigen aus dem Baumarkt gekauft. Alles Jammern half nichts mehr. Seine Handgelenke schmerzten und waren bereits so wundgescheuert, dass stellenweise das blanke Fleisch zu sehen war.
Zwanzig oder auch dreißig Minuten so gefesselt zu liegen, war auszuhalten. Trotzdem war er jedes Mal auch erleichtert, wenn ihn seine jeweilige Gespielin davon erlöste. Aber jetzt befand er sich schon wesentlich länger in dieser misslichen Lage, wie lange genau, hätte er nicht sagen können. Wann würde ihn endlich jemand daraus befreien, fragte er sich. Und wer sollte ihn hier draußen auch besuchen? Seine Putzfrau würde am Montag kommen – und das war in fünf Tagen.
Seine Augen flackerten panisch. Vor Anstrengung presste er seinen Atem hinaus. Dann blieb er bewegungslos und völlig erschöpft liegen. Er musste versuchen, sich selbst zu beruhigen. Die Person, der er diese Situation zu verdanken hatte und die ihn erlösen könnte, war längst weg. Hastig hatte sie ihren Büstenhalter angelegt und das üppige, was hineingehörte, an der richtigen Stelle positioniert. Er hatte währenddessen nur das tätowierte Gesicht auf ihrem Schulterblatt wahrgenommen, das bei diesen Verrenkungen verschiedene Grimassen schnitt.
Sie hatte ihm noch einen verächtlichen Blick geschenkt, ihre rotblonde Lockenfrisur nach hinten geworfen und ihm die Faust mit dem gestreckten Mittelfinger gezeigt. Dann hatte sie sein Haus verlassen. Das Letzte, was er weit unten am Weg hörte, waren die quietschenden Reifen ihres wegfahrenden Mini-Coopers.
Bisher hatte es doch immer wunderbar funktioniert, das mit dem Dirty-Talk. Alle waren sie abgefahren auf sein schmutzig-derbes Geschwätz und dabei oft in höchste Verzückung geraten.
Zugegeben, in letzter Zeit war er nicht mehr so wählerisch bei seinen Kneipenbekanntschaften. Vielleicht war er bei ihr auch etwas zu weit gegangen. Zutiefst bereute er jetzt, dass er sie auf das Übelste beleidigt hatte. Was musste er sich über ihre fette Wampe lustig machen, ihr Geldgier vorwerfen und vor allem – selbst wenn es der Wahrheit entsprach – sie als hässliche, versiffte Schlampe beschimpfen?
Er spürte einen metallischen Geschmack im Mund. Der rührte von dem Blut her, das nach einem kräftigen Faustschlag von ihr aus seiner Nase in den Mundwinkel gelaufen war.
Er nahm einen neuen Anlauf, sich zu befreien. Vergeblich vollführten seine stark geröteten Beine ruckartige Bewegungen. Einer der spitzen Pfennigabsätze rammte sich in die Hülle des Wasserbettes und blieb darin stecken. Er hielt sofort inne. Augenblicke später beugte er das Knie und zog dabei den Absatz des Stiefels heraus.
»Verdammte Scheiiiße!«
Erst jetzt realisierte er was er getan hatte. Eine dünne Fontäne sprudelte aus der kleinen Öffnung der Betthülle. Das Wasser ergoss sich nicht nach außen, sondern füllte die Kuhle, die er mit seinem Gewicht formte.
Panisch trat er heftig gegen die stabile, als Sicherheitswanne dienende Umfassung. Ohne Erfolg. Der immer verzweifelter zuckende Körper sank ständig tiefer in den hohen Bettrahmen ein. Ganz langsam begann das austretende Wasser um ihn herum zu steigen.
Freitag, 15. Juli
Langsam bog der Reisebus auf den großen Parkplatz vor dem Kloster Lorch ein. Die langgestreckte ehemalige Benediktinerabtei lag auf einer Anhöhe über dem Remstal, fünf Kilometer westlich von Schwäbisch Gmünd. Der Morgentau glitzerte auf den Rasensteinen unter der dichten Baumreihe. Die Sonne warf ihre Strahlen durch die Wipfel der Buchen. Drei Dutzend älterer Herrschaften schickten sich an, auszusteigen und sich um den Reiseleiter zu scharen, um sich für die Besichtigung der staufischen Anlage in Stellung zu bringen. Zwischen ihnen drängelte sich ein kleiner ergrauter Mann ungeduldig an den Sitzreihen vorbei, stürmte aus der hinteren Bustür über den leeren Parkplatz und verschwand schnellen Schrittes im dichten Wald an der Klostermauer.
Es dauerte keine Minute, da rannte er wieder leicht taumelnd auf seine Mitreisenden zu. Sein Gesicht war kreidebleich, sein ganzer Körper zitterte. Er versuchte, etwas zu sagen, doch er brachte nur unverständliches Gestammel zwischen seinen Lippen hervor. Seine fuchtelnden Arme zeigten in Richtung des Gehölzes an der Klostermauer.

***
»Same Procedere. Keine Handtasche, keine Papiere, kein Handy, kein Schmuck oder sonst was«, sagte Hecht, als er die Tote untersucht hatte.
»Und hier, auch wie gehabt.« Hering deutete auf die Füße, an denen die Schuhe fehlten.
Das rechte Bein der Toten war angewinkelt. Die abgewetzte Jeans war dort ein wenig nach oben gerutscht. Etwas Schwarzes aus Kunststoff schaute unter dem Hosenbein hervor. Hecht war das nicht entgangen. Mit einem schmerzvollen Stöhnen ging er, sich den Rücken haltend, vor der Toten auf die Knie und betrachtete es. Vorsichtig schob er den Saum der Hose mit einem Kugelschreiber nach oben. Hering beobachtete ihn interessiert. Das Teil, das einer klobigen Armbanduhr ähnelte, kam oberhalb des Knöchels ganz zum Vorschein.
»Aha, an der Stelle«, Hecht deutete darauf, »hat der Täter versucht, das Ding an der Manschette zu knacken.«
»Ist ihm nicht gelungen, es abzumachen«, sagte Hering.
»Ohne entsprechendes Werkzeug klappt des nicht.«
»Dieses Mal hat er es nicht geschafft, dem Opfer die ganze Identität zu nehmen«, stellte Hering fest.
»Hört das denn nie auf?«, fragte Dr. Krautschneider laut und packte seine Utensilien zusammen. »Hier haben wir es mit demselben Tötungsmuster zu tun. Nur eines ist anders, der Schnitt an der Kehle ist nicht ganz so tief geführt wie bei den beiden vorher«, informierte der Arzt die Ermittler.
»Das heißt, mit weniger Kraft?«, fragte Hering.
»Möglich«, sagte der Arzt.
»Wie sieht es mit dem Tatzeitraum aus?«
»So grob zwischen einer Stunde vor Mitternacht und zwei Uhr.«

Auf dem Parkplatz vor dem Kloster preschte ein Mini Cooper heran und bremste stark ab. Dann schlängelte er sich langsam zwischen den Einsatzfahrzeugen vor bis zum Wald an der Klostermauer. Aus dem Wagen stieg Lara Fabrizius.

***
Hecht steuerte den Wagen auf den Besucherparklatz der Gmünder Justizvollzugsanstalt Gotteszell, einem ehemaligen Dominikanerkloster. Es war das einzige Frauengefängnis in Baden-Württemberg. Mehrere Monate musste es zurückliegen, dass er die Klosteranlage, die seit über 200 Jahren als Gefängnis diente, das letzte Mal betreten hatte. Hering blickte nach oben. Die wuchtigen Umfassungsmauern waren mit Stacheldraht versehen. Langsam schwenkten die Videokameras in ihre Richtung. Das Vorzeigen ihrer Dienstausweise an der Torwache ermöglichte den Kripobeamten eine unkomplizierte Personenkontrolle. Der diensthabende Justizbeamte an der Schleuse führte ein kurzes Telefonat mit dem Anstaltsleiter Bernd Waibel.
Die lange Wand im Gang des Besucherbereiches war vollständig mit Briefen, Gedichten und Gedanken von inhaftierten Frauen bestückt. Die beiden Ermittler standen stumm davor, lasen die Texte und ließen sie auf sich wirken. Hering bekam Gänsehaut. Wünsche, Bitten um Verzeihung, Beginn eines neuen Lebens, Reue, Einsamkeit, Durchhaltewillen und Hilferufe nach draußen, waren die beherrschenden Themen der berührenden Briefe. Hering wischte sich eine Träne von der Wange. Auch Hecht musste mehrmals beim Lesen schlucken, bevor Waibel endlich durch eine Sicherheitstür zu ihnen stieß.
Der Weg zu seinem Büro führte sie durch mehrere verriegelte Türen. Über einem Durchgang hing ein Schild auf dem stand: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie erreichten einen großen Hof. Auch hier überwachten Kameras das Geschehen. Junge Frauen in grünen Latzhosen bearbeiteten die gepflegten Grünanlagen und fegten die Wege vor der ehemaligen Klosterkirche. Hering hatte den Eindruck, als würde es diese Hosen nur in einer Größe geben.
Die Polizisten und Waibel gingen ein Stück über den Hof auf ein Verwaltungsgebäude zu.
»Wie viele sind hier inhaftiert?«, fragte Hering.
»Knapp über dreihundert.«
Hering deutete auf die arbeitenden Frauen. »Sind das nur Jüngere?«
»Die Inhaftierten sind zwischen 16 und 87 Jahre alt.«
»Und die Straftaten?«
»Von Taschendiebstahl bis Mord.«
»Was machen die denn hier?«, fragte Hering erstaunt, als sie eine Handvoll sehr kleiner Kinder auf einer Wiese neben der Umfassungsmauer herumtollen sah.
»Bis zum Alter von drei Jahren ist das möglich. Elf Plätze haben wir in unserer Mutter-Kind-Abteilung. Das ist bundesweit vorbildlich«, schwärmte Waibel mit einem gewissen Stolz in der Stimme. »Was führt Sie zu mir?«, fragte er, als die Ermittler im Büro gegenüber seinem Schreibtisch Platz genommen hatten.
Hecht griff in seine Westentasche und legte eine eingetütete handygroße Box mit einer Manschette auf den Tisch.
»Aha. Kann sein, die gehört uns. Wo haben Sie die denn her?«, fragte er und sah die beiden verwundert an. »Wir haben derzeit nur drei im Einsatz. Momentan läuft ein Modellversuch.«
»Des trug eines unserer weiblichen Mordopfer. Nummer drei.«
»Die elektronische Aufenthaltsüberwachung tragen nur unsere Freigängerinnen.« Er drehte sich zu seinem Rechner hin und bearbeitete die Tastatur. »Ich schau mal nach, in Bad Vilbel.«
»Was ist dort«, fragte Hering.
»Von der dortigen Zentrale aus werden die Fußfesseln mit dem Minisender per GPS in ganz Deutschland überwacht.« Waibel schüttelte den Kopf. »Nichts Auffälliges, sie war bisher in der Gebotszone, also im zugelassenen Bereich«, sagte er, während er weitertippte und einen kurzen Blick auf die Tüte warf. »Da haben wir es. Brigitte Möhler, hat gerade Hafturlaub. Hier. Ihre Position, Moment … ähm ja, natürlich hier.« Er zeigte auf die Fußfessel auf dem Tisch und drehte den Monitor zu den beiden Ermittlern. Ein Bild mit einer Frau mit rotblonder Lockenfrisur war zu sehen.
»Das Foto sollten wir haben«, sagte Hering und legte eine Visitenkarte auf den Tisch.
»Wir benötigen auch persönliche Sachen von ihr und den Zahnstatus, wenn vorhanden«, sagte Hecht.
»Kriegen Sie.« Waibel suchte weiter nach Informationen über die Frau.
»Weswegen hat sie eingesessen?«, wollte Hering wissen.
»Körperverletzung mit Todesfolge, zwei Jahre, hätte noch drei Monate Reststrafe zu verbüßen gehabt. Wurde von der Straffälligenhilfe betreut.«
»Und wie lange war sie draußen?«, fragte Hering.
»Die letzten vier Tage hatte sie Hafturlaub.«
»Brigitte Möhler«, sagte Hecht laut vor sich hin und überlegte einen Moment. »Der Name, irgendwie kommt der mir …«
»Der Fesselsexprozess«, half ihm Waibel auf die Sprünge, »Sie erinnern sich?«
»Und ob«, sagte Hecht und lachte. »Der Schwabenralle, langjähriger treuer Kunde von uns.«
»Fesselsexprozess?«, fragte Hering.
»War eine dubiose Sache. Ein Mann hat im Wasserbett den Tod gefunden«, sagte Hecht. »Einfach ersoffen, jämmerlich.«
»Man munkelt, sie habe ihn im Wasserbett ertränkt, konnte es ihr aber nicht nachweisen«, sagte Waibel. »So wurde sie nur wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt.«
»Gibt es was Besonderes über sie, das uns helfen könnte?«
»Die wusste, was sie wollte, ließ sich nichts gefallen. Die meisten Mitgefangenen haben sie gemieden.«
»War sie gewalttätig?«, fragte Hering.
»Es gab mehrere Zwischenfälle. Einmal musste sich eine Insassin in ärztliche Behandlung begeben.«
»Das heißt, sie hat hier keine Freundschaft zu irgendeiner Mitgefangenen geschlossen, die uns ein wenig über ihre Pläne während ihres Hafturlaubs Auskunft geben könnte?«
»Nein, da fällt mir wirklich niemand ein, ich bedaure.«

Insgeheim war Hering froh und atmete auf, als sie und Hecht die Gefängnistore hinter sich gelassen hatten und zum Wagen gingen. Aber die ergreifenden Briefe und Hilferufe der Frauen und deren Schicksale hinter den Gefängnismauern stimmten sie noch lange nachdenklich.

***
»Manchmol hat’s da ganz schee gscheppert hat’s da, bei dena drüben. Aber ich sach nix, gar nix sach ich«, flüsterte sie in ihrem fränkischen Dialekt. Dann blickte sie sich um und fuhr mit einem verschwörerischen Ton in der Stimme fort. »Ich sach nur eens, häuslicha Gewalt sach ich.« Hinter vorgehaltener Hand flüsterte sie weiter. »Doch nix Genaues wess mer net.«
»Danke Frau, ähm …«, sagte Hering.
»Baumann, Erna Baumann, und wanns noch Frochen ham, dann …«, sagte die alte Frau.
»… dann melden wir uns«, sagte Hering.
Die Frau verschwand hinter dem dichten Gebüsch, das die Grenze zum Nachbargrundstück markierte.
Hering klingelte an der Haustür. Auf dem messingfarbenen Türschild stand der Name Möhler. Der weiße Sprinter in der Garageneinfahrt mit der großen Aufschrift Möhler Montagebau machte einen etwas heruntergekommenen Eindruck. Die Garage war offen. Sie schien als Lager für Werkzeug und Material zweckentfremdet worden zu sein. Hecht sah sich ein wenig darin um.
Es dauerte eine Weile, bis jemand die Haustür öffnete. Vor Hering stand ein mittelgroßer untersetzter Mann in hellbrauner Latzhose, in deren Seitentasche ein Meterstab steckte. Sein glatt rasiertes Doppelkinn glänzte in der Sonne.
»Herr Möhler, Roland Möhler?«, fragte sie.
»Wer will das wissen?« Die Antwort wartete er nicht ab, denn er hatte Hecht in seiner Garage erblickt. »He Sie, suchen Sie was Bestimmtes?«
»Ja«, sagte Hecht laut zum Erstaunen Herings. »Das wird Ihnen die Dame hier erklären.«
Hering zückte ihren hellblauen Dienstausweis. »Hering, Kriminalpolizei Gmünd, mein Kollege Hecht.«
»Polizei? Um was geht es denn?«
Hering hatte den Eindruck, als sei die Frage nur eine abgedroschene Floskel, so als ob er bereits ahnte, um was es ging.
»Meine Frau, nicht wahr, ist da schon wieder was? Aber die sitzt doch …«, fragte er.
»Ja, es ist etwas mit Ihrer Frau. Deswegen sind wir gekommen, aber lassen Sie uns nicht an der Tür darüber sprechen. Können wir reinkommen?«
»Bitte.« Möhler zeigte auf die Haustür, griff mit der anderen Hand in seine Hosentasche. Er zog eine Edelstahlschraube mit Mutter hervor, an der er zu spielen begann, während er Hecht und Hering in sein kleines Büro vorausging. Die Regale an den Wänden waren mit Aktenordnern vollgestopft, der einzige Schreibtisch schien fast unter der Last der sich hoch auftürmenden Papierstapel und Ordner zusammenzubrechen.
Hering kam gleich ohne Umschweife auf den Punkt. »Ja, es geht um ihre Frau. Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass sie tot ist.«
Möhler zog die Luft durch den geöffneten Mund ein. »Woran … Was ist passiert?«
»Sie wurde ermordet.«
Möhler rieb sich die Stirn. Dann setzte er sich auf seinen Schreibtischstuhl und lehnte sich nach hinten. »Wissen Sie schon wer es war?«
»Nein. Vielleicht haben Sie eine Idee, wer es gewesen sein könnte.«
Möhler überlegte einen Moment. »Nein, keine.« Er erwartete weitere Fragen von Hering. Doch da kam sekundenlang nichts. Die Stille schien er schwer zu ertragen, deshalb fragte er weiter. »Wo haben Sie sie gefunden?«
»Beim Kloster Lorch, in der Nähe des Besucherparkplatzes, direkt an der Klostermauer«, sagte Hering.
Große Trauer und Entsetzen sieht anders aus, dachte sich Hecht.
»Die Presseberichte der letzten Woche, war es der Serienmörder?«, fragte Möhler zögerlich.
Hering überlegte, was sie antworten sollte. Da mischte sich Hecht ein: »Es ist nicht auszuschließen, aber Genaues können wir noch nicht sagen«, mischte sich Hecht ein.
»Dass das alles so enden musste«, sagte Möhler kopfschüttelnd. »Aber es erstaunt mich nicht.« Hektisch drehte er die Mutter auf der Schraube hin und her.
»Wie meinen Sie des genau«, fragte Hecht nach.
»Ihre ständigen Männerbekanntschaften in den letzten Jahren, unsere Ehe, die gab es nur noch auf dem Papier. Was da für Typen drunter waren. Da wundert mich nichts mehr.«
»Wo hat sie die Männer kennengelernt?«, hakte Hecht sofort nach.
»In den einschlägigen Kneipen der Stadt.«
»Könnten Sie uns aufschreiben, welche genau des waren?«
Wortlos nahm Möhler ein Stück Papier und einen Kugelschreiber und schrieb ohne Pause. Mit rechts, das fiel Hecht und Hering sofort auf. Sie dachten beide an Krautschneiders Hinweis, dass der Mörder der zwei ersten Opfer höchstwahrscheinlich Linkshänder sein musste. Allerdings fragte Hering sich erneut, ob das wirklich ein für den Tathergang relevantes Indiz sein konnte. Schließlich hatte Hecht bemerkt, dass auch er mit rechts schreibe, aber schwere Arbeiten wie Holzhacken mit der linken Hand erledigte.
Möhler reichte Hecht den Zettel mit den Namen der Kneipen. »Danke.« Hecht warf einen kurzen Blick darauf. »Hm, das sind ja einige«, stellte er erstaunt fest, bevor er ihn an Hering weitergab. »Herr Möhler, überlegen Sie bitte noch mal, haben sie irgendeine Idee, wer Ihre Frau umgebracht haben könnte?«, fragte sie nachdrücklich.
»Wenn Sie in die Kneipen gehen, in denen sie sich rumgetrieben hat, da wird sicher einer dabei sein.«
»Wie war das mit den Problemen zwischen Ihnen und Ihrer Frau?«, fragte Hering.
Möhler lachte laut. »In den letzten zwei Jahren gab es die nicht mehr, da war sie eingesperrt. Davor schon. Ständig haben wir uns gestritten.«
»War es nur Streit oder ist Ihnen auch ab und zu die Hand ausgerutscht?«
Möhler erstarrte. Die Ermittler warteten vergeblich auf eine Antwort.
Hering beugte sich nach vorn. »Herr Möhler?«
»Ich weiß nicht, auf was Sie hinauswollen. Nur eines, ich habe Brigitte nie geschlagen.«
Hering musste sich damit zufriedengeben. Sie merkte, dass sie mit dem Thema häuslicher Gewalt hier und heute nicht weiterkam.
Hecht hatte sich unterdessen in dem kleinen Büro umgesehen. Das Einzige, das ihm interessant erschien, war ein verblichenes farbiges Familienfoto eines Paares mit einem kleinen Mädchen, das an der Wand neben der Tür hing. »Ihre Frau und Ihre Tochter?«
»Romy. Sie lebt im Sauerland, hat selbst schon Familie.«
»Mit ihr müssen wir auch noch reden«, sagte Hecht.
»Ich glaube, das können Sie sich sparen.«
»Wieso des denn?«
»Sie hat seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter, wollte mit ihr nichts zu tun haben. Ist zu oft von ihr enttäuscht worden.«
»Noch eine Frage, reine Routine«, sagte Hering. »Wo waren Sie in der vergangenen Nacht zwischen 23.00 und zwei Uhr?«
»Na hier, zu Hause.«
»Kann das jemand bestätigen?«
»Nein, ich lebe allein.«

***
Endlich! Hering schien ihren inneren Schweinehund überwunden zu haben. Es konnte losgehen. Sie war bereit, sprach sich selbst Mut zu. Also Mona, nicht auf die Nadel sehen, hörst du. Lenke dich ab, sprich mit der Frau vom Roten Kreuz, die neben dir sitzen und auf dich aufpassen wird. Gutgelaunt betrat sie das Vorzimmer von Nelli Tomberg, die sich gerade mit Jennifer Funk und Sascha Obergfell unterhielt.
»Das trifft sich gut, dass Sie kommen, Frau Hering. Wir haben was für Sie«, sagte Obergfell. Zusammen mit Funk hatte er die Liste mit einem halben Dutzend Kneipen abgeklappert, in denen das dritte Opfer angeblich verkehrt haben sollte. Sie versprachen sich darüber Informationen von Gästen und Barkeepern über Personen mit denen es zu tun hatte. »Brigitte Möhler ist vor wenigen Tagen in der spanischen Kneipe Tomate Loco aufgetaucht, hat dort alte Bekannte getroffen und mit denen ordentlich gesoffen«, berichtete Obergfell.
»Die hat sie ganz schön verkohlt, hat ihnen erzählt, dass sie seit zwei Jahren auf Mallorca lebt. Sie sei nur auf Urlaub hier, müsse hier was regeln bevor sie für immer nach Malle ziehe«, sagte Funk. »Vielleicht hat sie das ja tatsächlich vorgehabt.«
»Dann stellt sich die Frage, was sie bis zu ihrer Haftentlassung noch abklären wollte«, sagte Hering.
»Vielleicht kann uns das der Möhler beantworten.«
»Scheidung möglicherweise, weil ihr Mann sie misshandelte«, mutmaßte Obergfell.
»Scheidung? Das hatten wir doch schon Mal«, erinnerte sich Hering.
»Beim Stahl«, sagte Nelli Tomberg.
»Wenn Sie das noch bei dem Möhler prüfen könnten«, sagte Hering zu Obergfell.
»Geht klar.«
Hering wandte sich an die Polizeisekretärin. »Frau Tomberg, wann war noch mal der Blutspendetermin, den Herr Heckenlaible festgelegt hat?«
Nelli Tomberg blätterte in ihrem Kalender. »Übernächsten Montag.«
»Wunderbar, passt«, sagte Hering.
»Waren Sie schon häufiger zum Spenden?«
»Ne«, antwortete Hering knapp.
»Schön, dass wir wieder alle zusammen was Gutes tun können«, freute sich Funk. »Der Sascha und ich, wir sind übrigens seit letzter Woche typisiert, für die Knochenmarkspenderdatei.«
»Und wir haben beide einen Organspenderausweis ausgefüllt«, legte Obergfell stolz nach.
»Das mit dem Blutspenden, das ist erst mal ein Anfang«, sagte Hering leise.
»Ich erinnere mich genau, wie es bei mir war, das ...«
Funk verpasste ihm einen leichten Stoß mit dem Ellenbogen. »Ja, ist ja gut.« Sie wusste Bescheid. Vor Tagen hatte ihr Nelli Tomberg in einem Vieraugengespräch Herings Problem geschildert.
Obergfell gab nicht nach. »Ich weiß noch, einmal da ist mir die Nadel, so ein zwei Millimeter-Oschi ...«
Nelli Tomberg ballte die Fäuste und sah flehend zur Decke.
»Hm, hm«, machte Funk nachdrücklich, um ihn von weiteren Schilderungen abzuhalten.
Aber er ließ nicht locker. »… ich habe einen riesigen blauen Fleck in der Armbeuge bekommen, so groß wie ein Handteller.« Da bemerkte er die sich verändernde Gesichtsfarbe von Hering. »Ist Ihnen nicht gut?«, fragte er mit besorgter Miene.
Hering war tapfer, wollte sich keine Blöße geben »Geht schon.«
»Sascha, musst du nicht ...«, begann Nelli Tomberg und rollte die Augen nach oben.
Obergfell wehrte mit der Hand ab. »Jetzt lass mich doch zu Ende … Ich weiß noch, einmal an einem Sommertag, so heiß wie heute, da haben sich die Pflasterbänder von meinem schwitzenden Arm gelöst.«
Nelli Tomberg beschloss, ihn zu erwürgen.
»Aua.« Obergfell rieb sich das Schienbein, gegen das ihn Funk getreten hatte. Er warf ihr einen verständnislosen Blick zu.
»Da hat es die Nadel vielleicht rumgedreht, kann ich Ihnen sagen. Ich dachte, ich würde ...«
»So, nu is’ aber gut, das interessiert doch keinen«, sagte Funk schnell, packte Obergfell am Arm und zog ihn zur Tür hinaus. Es gelang Obergfell nicht, sich dagegen zu wehren.
Hering war auf den Stuhl vor Nelli Tombergs Schreibtisch gesunken und atmete schwer. »Ich hole Ihnen ein Glas Wasser«, sagte Nelli Tomberg.
Einen Moment später vernahm Nelli Tomberg draußen im Gang eine zunehmend laute Frauenstimme. Funk las ihrem unsensiblen Kollegen die Leviten.

***
Hecht und Hering saßen am Tresen im Gasthof Mondschein. Er hatte ein halb volles Glas Vollkornsprudel vor sich stehen, sie nippte an einem Viertel Schwarzriesling Samtrot. Ihr Thema war – wie so oft – die Probleme mit ihren Kindern. Heute hatte sich Hecht vor allem über die letzte Auseinandersetzung mit Stefan ausgelassen. Ab und zu schwiegen sie sich minutenlang nur an und starrten auf den Tresen vor sich oder ließen ihre Blicke durch die Gaststube schweifen.
Hecht dachte an seine Tochter Marie-Luise. Er war froh, dass die Zwanzigjährige ihren Weg gefunden hatte und in Köln Medienwissenschaften studierte. Sechs Wochen war es jetzt schon her, seit sie das letzte Mal zu Besuch bei ihren Eltern gewesen war. Hecht musste sich eingestehen, dass er seine Große, seine Marie-Lu vermisste.
Jetzt konnte er es nicht mehr erwarten, bis seine Kartenspieler eintrafen, denn heute war Freitagabend und an dem wurde traditionell Binokel gespielt. Und manchmal sogar bis in den frühen Morgen.
Mona Hering freute sich jetzt schon darauf, dass Torben in drei Wochen endlich wieder aus den Ferien bei seinem Vater in Kiel zurückkehren würde. Ihre große Sorge, die sie nach wie vor stark beschäftigte, war, dass der Junge für immer in den Norden zurückgehen könnte. Vielleicht war sie selbst schuld, wenn es so weit kommen sollte. Sie musste etwas dafür tun, dass er sich hier am Rande der Schwäbischen Alb zu Hause fühlte. Dazu müsste sie diesen bequemen Zustand mit den beiden gemieteten Fremdenzimmern in diesem Gasthaus aufgeben und endlich einmal zusagen, wenn ihr eine Wohnung angeboten wurde.
In der wuchtigen Eingangstür erschien Dr. Krautschneider. Sein langes blondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Leicht verschwitzt und mit halb geöffneter Lederjacke ging er direkt auf die beiden Ermittler zu.
»N’Abend. Darf ich?«, fragte er und deutete auf den leeren Barhocker neben Mona Hering.
»Natürlich, bitte«, sagte sie lächelnd. Hecht hatte den Eindruck, sie freute sich darüber, dass der Rechtsmediziner wieder einmal vorbeischaute. Dass seine Besuche im Mondschein in den letzten Wochen häufiger geworden waren, das hatte Hecht längst wahrgenommen.
»Wo kommen Sie denn her?«, fragte Hering.
»Kleine Freitagsrunde über die Ostalb«, sagte der Arzt, legte seinen beigefarbenen Retro-Halbschalenhelm auf den Tresen und wickelte ein Tuch vom Hals.
»Was haben wir denn heute dabei?«, hakte Hering weiter nach.
»Meine Horex Imperator, Baujahr fünfundfünfzig.«
»Ah ja, schön, die schau ich mir nachher mal an, wenn Sie erlauben.«
»Radler?«, fragte der Wirt hinter dem Tresen.
»Ja bitte.«
»Ich habe was für Sie, wollte es Ihnen heute noch sagen«, sagte er zu den beiden Polizisten.
»Na, dann mal los«, forderte Hering ihn auf.
»Als Tatwerkzeug kann ich bei allen drei Morden eine gebogene Klinge bestätigen. Ohne Zweifel.«
»Nichts Genaueres?«, fragte Hering.
»Ich habe die drei Schnittbilder überlagert. Die Schwierigkeit dabei ist, dass ich nicht weiß, in welchem Winkel der Kopf der Opfer lag, als der Schnitt durchgeführt wurde.«
»Könnte das ein Krummdolch, Krummsäbel oder so was sein?«, fragte Hering.
»Nein, die Klinge ist stärker nach innen gebogen. Wie eine Sichel.«
»Oder ein Karambit?«, konkretisierte Hecht.
»Möglich«, bestätigte Krautschneider und bemerkte Mona Herings fragenden Blick. »Das ist ein Messertyp aus dem asiatischen Raum.« Er beschrieb das Messer mit den Händen. »Mit klauenförmiger Klinge und meist einem Ring am Griffende.«
Hering überlegte einen Moment. »Also können wir uns auf diese zwei möglichen Tatwaffen beschränken. Sichel und Kram… wie noch mal?« Hering sah fragend in die Runde.
»Karambit«, korrigierte Hecht.
»Karambit«, verbesserte sich Hering.
»Eine Sichel, die gibt es in jedem Bauernhaus«, stellte Krautschneider fest.
»Und jeder Kleingärtner hat so was«, sagte Hering.
»Dann müssen wir noch rausfinden, wer so ein Karambit benutzt«, konstatierte Hecht.
»Und wer von den Verdächtigen eines von beiden zu Hause hat«, sagte Hering.
Sonntag, 17. Juli
Es war windstill, sämtliche Windräder standen. Die beiden jungen Männer mit den grauen Kapuzenpullis luden die einen Meter langen Hölzer vom Stapel auf einen Anhänger, der an einen schweren und verdreckten Geländewagen gekoppelt war. Trotz ihrer Stirnlampen übersah der Kleinere von ihnen eine matschige Stelle auf dem Waldweg, rutschte aus, verlor das Gleichgewicht und drohte zu stürzen. Um sich zu retten, ließ er sofort das schwere Holz von seiner Schulter fallen. Es rumpelte die steile Böschung hinunter und blieb weit unten zwischen den Fichten hängen. Er machte Anstalten, den Hang hinunterzusteigen.
»Lass das Ding liegen«, rief der Größere ihm zu.
»Die da noch«, sagte sein Kumpel und deutete auf die Handvoll verbliebener Hölzer auf dem Stapel.
»Gut jetzt, komm, weg hier.«
Der Kleinere zögerte einen Moment.
»Na los, der Hänger bricht eh gleich zusammen«, mahnte der Größere zur Eile.
Rasch verzurrten die beiden Männer das Holz mit Gurten auf dem völlig überladenen Anhänger. Dann stiegen sie in ihren Wagen. Langsam entfernten sich die Lichter des Gespanns im tiefen Schwarz der Nacht und verschwanden in Richtung Süden.