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Buch ISBN: 978-3-947145-26-3 
E-Book ISBN: 978-3-947145-27-0


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Lektorat: Birgit Rehaag, www.lektorat-satzzeichen.de



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Alexandra Huß


Blutrote Hand


  Ein Horror-Thriller

über die Autorin



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Alexandra Huß studierte Creative Writing und absolvierte verschiedene Praktika in der Buchbranche.

Sie lebt mit ihrer Familie im Ruhrgebiet und verfasst unter anderem Texte für Touristikportale.

Auf Mallorca, ihrer zweiten Heimat, tankt sie Energie für neue Projekte.


Die Autorin ist direkt online zu erreichen unter www.alexhussde.de.

Inhalt



Neubeginn
Zwei Jahre später

Stratfort-upon-Avon
28-34 Tooley Street
Maudsley Hospital London – Hannah Holmes
Nightingale House – London / Mr. Patten
Waterstones
Hannah Holmes – Erste Spuren
Das Boot – Scout
Nightingale House – Mr. Patten
Die geheime Tür – Scout
Hannah Holmes
Miss Lane
Aberforths Geheimnis
Nightingale House
Scout
Hannah Holmes
Scout
Forensische Klinik – Hannah Holmes
Nightingale House
London Dungeon – Scout
Das Boot – Alasdair, Afton & Locky
Hannah Holmes
Mr. Patten
London Dungeon – Scout
Hannah Holmes
Scout
Hannah Holmes
Scout
Hannah Holmes
Scout
Salomon Street 22, erste Etage

Salomon Street 22, erste Etage.


Die Nebelschleier in meinem Gehirn verschwinden. Jemand hat mich in das Kinderbett gelegt, Hände und Klamotten sind voll Blut. Ich bin alleine.

Ich schlage die Bettdecke auf und taumle ans Fenster. Zupfe die Gardine einen Zentimeter an die Seite und blicke resigniert zum Schuppen hinüber, vor dem ein Polizeiauto mit Beleuchtung und ein schwarzer Leichenwagen parken.

Männer in weißen Plastikanzügen räumen ihre Geräte weg, ein großer, heller Scheinwerfer wird eben ausgeknipst.

Ein Sarg, wahrscheinlich mit der Leiche von Rooney, wird aus dem Schuppen getragen, ein weiterer wird abtransportiert und verschwindet aus meinem Sichtfeld. Ich sehe Hannah und Patten, sie stehen mit dem Rücken zu mir dort unten. Neben Patten steht ein Polizist, der ihm anerkennend auf die Schulter klopft. Ich vermute Moretti, der Bulle, von dem er erzählt hat. Und der nun mit einem Schlag mehrere Fälle gelöst hat.

Ich spucke auf den Boden, um den metallischen Geschmack von Theodoras Blut zu vertreiben. Hannah dreht den Kopf, guckt mich verbittert an. Sie gestikuliert mit der Hand. Ich soll vom Fenster verschwinden.

Weder der Jeep noch die Jungs sind zu sehen. Ich habe das Gefühl, gleich durchzudrehen. Keine einzige Träne kann ich weinen. Ich lege die Hände vor die Augen und dreh mich um die eigene Achse. Im Kreis, bis mir vor Schwindel die Beine einknicken und ich auf dem bunten Teppich lande.

Alasdair, mein frecher Junge.

Der Zahnstocher von Aberforth. Ich hole ihn aus der Tasche und fange an, Linien auf das Hosenbein zu zeichnen, einfach nur beschissene Linien.

Irgendwann sehe ich auf mein Handgelenk. 13 Uhr. Ich stehe auf, stopfe die Hände in die Tarnhose und denke nach, ertaste ein Stück Papier und ziehe es heraus. Es ist blutverschmiert und die Buchstaben sind mehr hingekritzelt als geschrieben worden.

›Für Scout.

Erst auf dem Hausboot lesen.‹

Ich stecke es zurück in die Hose und schaue nochmal hinunter zum Schuppen.

»Okay, Hannah, Botschaft angekommen. Ich vertraue dir«, sage ich im Flüsterton.

Ich hole mein Handy raus und tippe ihr die Nachricht von Alasdairs Tod ein und wo sie meinen toten Bruder findet. Dann drehe ich mich um und öffne die Kinderzimmertür, werfe noch einen wütenden Blick in das Scheißzimmer, indem es Quentin sicher gefallen hätte.

Darauf bedacht, dass mich vom Garten her niemand sehen kann, schlüpfe ich aus dem Haus. Steige an der Grenze zu den Nachbarn über einen Zaun und renne los. Der Fluss Teviot muss in östlicher Richtung liegen, dort, wo die grauen Wolken mit neuem Schnee unbeirrt zu uns herüberziehen. Es ist richtig kalt, aber so kalt wie in mir kann keine Jahreszeit sein.

Ich bin in Alasdairs Koje, die, die er sich ausgesucht hat. Hier riecht es nach Öl und Leder, nach Zigarettenrauch und Alkohol. Auf den Holzplanken rollt eine leere Whiskyflasche im Wogen der Wellen hin und her. Gelegentlich stößt sie gegen die Kante des Tisches und kullert wieder zurück. Sein Schlafplatz ist, wie üblich, komplett zerwühlt. Ausgepowert gehe ich hinüber und setze mich auf das Bett. Drücke mein Gesicht in das Kopfkissen und versuche mir vorzustellen, wie er da gelegen hat. Von einer glücklichen Zukunft mit dem Hausboot geträumt hat. Bis Theodora und Rooney hier aufgekreuzt sind.

Alasdair hat nie die Möglichkeit gehabt, ein Mädchen zu küssen, er kann keinen Führerschein machen und verfickt noch mal kein stinknormales Leben mehr leben. Wutentbrannt springe ich vom Bett, greife nach der nervenden Schnapsflasche, schlage sie mit voller Wucht gegen die Tischplatte. Dann nehme ich, ohne zu zögern, eine Scherbe und ritze mir seinen Namen in den Arm, schräg unter dem von Caspar. Dann zünde ich mir eine Zigarette an und hole den Brief von Hannah aus der Tasche. Ich fange an, zu lesen.

Scout.

So kann es nicht weitergehen. Patten und ich haben die Polizei gerufen. Ich werde dir versprechen, die Wogen für dich und deine Brüder zu glätten, doch die Verantwortung sich zu stellen, liegt bei dir. Du trägst nun erst mal die Sorge für dich ganz alleine. In dieser Zeit nehme ich die Jungen mit zu mir, ihnen geht es den Umständen entsprechend gut. Sie sollen eine vernünftige Zukunft bekommen, Scout, nicht wahr?

Du hast meine Adresse sowie die Handynummer und bist jederzeit willkommen. Theodora ist endlich Geschichte. Bleib' auf dem Hausboot, fahr dahin, wo du immer schon mal hin wolltest und kehre dann als gewissenhafte Frau zurück. Um Aberforth kümmere ich mich. Ich werde versuchen, ihn da beerdigen zu lassen, wo dein Bruder Caspar liegt und ich hoffe, damit in deinem Sinne zu handeln.

Hannah.

 

***


Die Städte, die leise an mir vorbeiziehen. 

Die hellen Lichter hinter den Fenstern.

Ab und zu ein Gesicht, das trübsinnig auf den Fluss blickt. 

Ich höre das Herzklopfen von Millionen Menschen.

Rieche ihre Gerüche und spüre ihre Sehnsüchte. 

Es ist das erste Mal, das ich alleine bin.

Drei Tage.

Danach tauchte ich aus der Ohmacht wieder auf.

Drei Tage voller rasender Schmerzen in einem Körper. 

Zerschlagen, fast unfähig, noch mehr zu leiden.

Ich hatte mich nicht umgedreht.

Bloß das Boot vom Steg gelöst und den Motor gestartet. 

Vielleicht klingt das philosophisch.

Ist ja eigentlich nicht mein Ding.

Aber ein Funken Hoffnung bleibt auch mir. 

Oder?



***



Während ich hinaus auf das Deck trete, der lautlos fallende Schnee auf meine Kapuze rieselt, spüre ich Hannahs mütterliche Fürsorge in jeder der Zeilen.

Und ich werde auf sie eingehen. 

Für meine Brüder.

Und für mich. 

Versprochen.

 




Leute fragen mich, warum ich so grausame Sachen schreibe.

Ich erkläre ihnen dann gerne,

dass ich das Herz eines kleinen Jungen habe, und dass es in einem Einmachglas

auf meinem Schreibtisch steht.


Stephen King


Weiße Hand wie Schnee


Fünf Geschwister, tief im Wald, 

von Angst und Wut getrieben.

Gequält und missbraucht, doch sie haben überlebt,

vom Nebel eingehüllt, der Rachewunsch, geblieben.


Verirrte Seelen, Burggemäuer. 

Der Mann und die Laterne.

Ist Hilfe nah, oder so fern? 

Morbides Werk, finsterer Mond, 

der Jüngste wird zum Stern.


Rachelust und Mördergier, 

wir ziehen los ins Feld.

Mit Humpty Dumpty im Gepäck, 

hinunter in die Gruft

und gänzlich ohne Schreck.


Wer ist der Böse? 

Ich bring’s raus!

Und aschezähe Glut,

wird fließen aus der Hand so weiß wie Schnee 

und dunkelrot wie Blut.

Neubeginn


Wir haben den Wald von Dumfries an einem Freitag im November verlassen, gerade als die Kirchturmglocke der St. Michaels Church zu Mittag geschlagen hat.

Der Kombi rumpelt langsam Richtung Autobahn. Ich werfe einen letzten verbitterten Blick zurück auf die Baumwipfel, aus denen feuchter Tau aufsteigt. Mister Fitch ist bei uns, er sitzt vorne neben Aberforth und sieht aus dem Fenster. Der Köter stinkt nach Blut und Pisse, die Jungs schlafen.

»Wohin jetzt?« Aberforth schaut in den Rückspiegel.

Ich habe so viele Ideen gehabt. Doch im Moment fühle ich mich einfach nur leer, ständig schaue ich aus dem Wagen und habe das beschissene Gefühl, uns verfolgt irgendwer. Ich kratze mir das Blut unter den Fingernägeln weg und denke nach.

»Ich hab’ da jemanden«, kommt Fitch mir zuvor.

»Und?«

»England. Da können wir vorerst unterkommen.« Er dreht sich langsam zu mir um. »Mein Bruder.«

»Okay, wo genau finden wir diesen Bruder?«

»London. Er besitzt dort das Gruselkabinett. War lange nicht dort.«

Er zupft ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnupft hinein, faltet es auseinander und guckt die Farbe seiner Rotze an. Ich kotz’ gleich.

»London? Ihr wisst, dass Holmes dort lebt und arbeitet?«, fragt Aberforth.

Er schnauft verächtlich und sieht in den Rückspiegel.

»Hast du eine bessere Idee, Klugscheißer?«, frage ich ihn.

Ich lehne mich an den Wolfshund und versuche, zu schlafen.

Im Radio spielen sie ein Lied von Eric Clapton und draußen fällt der erste Schnee.


***


Sechs Stunden später, es wird langsam dunkel, erreichen wir die Hauptstadt. Fitch kurbelt sein Fenster herunter und atmet tief die kühle Luft ein. Wir fahren vorbei an grauen Häuserblocks, kahlen Bäumen und vollen Gehwegen. Autos hupen, Ampeln springen von Grün auf Rot um und die Laternen auf den Bürgersteigen gehen schleppend an. Locky wacht auf, reibt sich über die Augen und gähnt.

»Wo sind wir, Scouti?«, fragt er leise.

»Wir sind in London. Wo müssen wir jetzt lang?«, frage ich Fitch, der mit dem Gesicht an der Scheibe klebt, als wäre er noch nie hier gewesen.

»Hm«, macht er nur und deutet auf ein Geschäft, das auf der gegenüberliegenden Straße seine blaue Markise ausgefahren hat. Mehr sagt er nicht.

Aberforth dreht an der nächsten Ampel und parkt den Kombi vor dem Souvenirladen. Fitch drückt Afton etwas Geld in die Hand und schickt ihn, eine Karte von London kaufen. Bis er zurück ist, vertreten wir uns die Beine und lassen Diavolo auf den Bordstein pinkeln. Der Hund ist ganz rot von Theodoras Blut und wahrscheinlich glotzen die Passanten, die an uns vorbei latschen, deshalb so blöd. Ich strecke ihnen meinen Mittelfinger entgegen, sehe aus dem Augenwinkel jemanden hinter Afton auf uns zu schlendern, und drehe mich um. Ein Bulle.

»Steigt sofort ein«, zische ich und gebe Diavolo ein Zeichen, in den Wagen zu springen. Der Polizist bleibt einen Schritt von mir entfernt stehen und hebt die Hand zum Gruß.

»Dürfte ich bitte Ihre Papiere sehen?«, sagt er vorschriftsmäßig und sein schmieriges Grinsen erinnert mich an das von Vater. Nun nimmt er die Kopfbedeckung ab und legt sie auf unser Auto.

Erster Fehler.

Ich verschränke die Arme auf dem Rücken, wie ein Schulmädchen, mein Klappmesser bringe ich in Position. Er zieht einen Stift samt Block aus der Uniform und schaut mich mit schief gelegtem Kopf abwartend an. Er grinst immer noch.

Zweiter Fehler.

Ich klopfe mit der flachen Hand auf das Autodach, Aberforth startet die Zündung und beobachtet uns anhand des Außenspiegels. Der Bulle beugt sich hinunter, sieht in den Wagen und bittet Art, den Motor auszumachen. Dann gleiten seine Augen weiter nach hinten und mustern Diavolo. Er hebt die Augenbrauen und sagt so was wie ›Du meine Güte‹.

»Möchten Sie ihn streicheln?«, frage ich geistesgegenwärtig und klappe das Messer hinter meinem Rücken zu.

»Wir sind auf dem Weg zum Tierarzt, er wurde angefahren«, lüge ich und deute auf Diavolos blutiges Fell.

Irritiert klappt er den Block zu und steckt in zurück in die Tasche der Uniform.

»Wissen Sie, ich habe selber einen Hund«, labert der Typ, öffnet die Heckklappe und spricht mit Diavolo wie mit einem Kind.

»Was bist du für ein Armer?«, schnalzt er und seine dicke Wampe lässt fast alle Knöpfe an seinem Hemd platzen. Er riecht nach Pommes-Fett und Sportdeodorant.

»Braver Hund. Gleich wird dir geholfen, was, mein Großer?« 

Der Polizist setzte seine Kappe wieder auf, hob grüßend die Hand und bummelte von dannen. Ich quetsche mich zu den Jungs auf die Rückbank.

»Schaut weg, okay?« 

Sie nicken mit dem Kopf, dann halten wir uns die Ohren zu und singen das Lied von Humpty Dumpty.


***


»Wann sind wir endlich da?«, motzen die Jungs im Abstand von fünf Minuten.

Sie kauen Kaugummis, schmatzend und mit offenem Mund. Der alte Fitch scheint genervt, er murmelt unverständliche Flüche und putzt sich ständig die Nase.

Nur Aberforth ist still.

Aber an den weißen Handknochen, die deutlich hervortreten, während er das Lenkrad festhält, bemerke ich seine Anspannung. Der Blick, den er den Jungs jetzt durch den Rückspiegel zuwirft und sie damit zum Schweigen bringt, werde ich nie vergessen. Leidenschaftslos und kühl. Das Antlitz des Bösen. Eingeschnappt ziehen meine Brüder ihre Köpfe ein, sie lehnen sich aneinander und machen die Augen zu.

Bis auf das Schmatzen des Köters und leiser Radiomusik ist es nun ruhig im Wagen. Es stinkt wie auf einem Schlachthof und der Vergleich ist cool. Ich konzentriere mich auf das Pulsieren meiner Halsschlagader, schließe ebenfalls die Augen und versuche, zu schlafen.




Zwei Jahre später

 






Stratfort-upon-Avon


Der Montag des zweiten Novembers ist ein wolkiger Tag, verhältnismäßig warm für diese Jahreszeit. Ich sitze im Wagen und warte auf Aberforth, der uns Zigaretten besorgt.

Lässig schlendert er kurze Zeit später aus der Tankstelle, eine Kippe im Mundwinkel. Die Ärmel des schwarzen Rollis hat er hochgekrempelt, die gleichfarbige Hose steckt in dicken Armeestiefeln.

»Wir können«, sagt er, steigt ein und hält mir die Schachtel hin. Ich greife zu und warte, bis er mir Feuer gibt, dann drehe ich den Schlüssel um und starte den Dutch.


***


Die Grabsteine stehen kreuz und quer auf dem abgetretenen Rasen, die meisten sind schief oder eingesunken. Unter dem grauen Himmel von Stratford steht die Holy Trinity Church beinahe leuchtend da.

»Wo liegen sie?«

Ich sehe Art an und schaue auf die kalten Steine ringsum. Gräber erzählen Geschichten über Hochmut und Bescheidenheit, Dekadenz und Verfall. Ich mag Friedhöfe, eine seltsame innere Ruhe umschließt mich.

Dieser Ort macht etwas mit mir.

Ich knöpfe meinen Anorak zu und warte auf eine Antwort.

Art streckt seinen Arm aus und deutet auf einen Platz unter dem urigsten Baum, den ich je gesehen habe. Langsam gehen wir hinüber.


***


In den vergangenen zwei Jahren haben wir uns gut eingespielt. Er ist zwar immer noch ein beschissener Freak, doch wir kommen miteinander aus.

Wir haben einen Deal. Er fickt keine Toten mehr und ich höre auf, ihn zu verarschen. Fitch und die Jungs haben die Werkstatt und verdienen sich damit ihr Taschengeld. Zudem haben wir den Schatz aus der Burg an einen Hehler vertickt, die Kohle, die dabei rausgesprungen ist, reicht für mindestens fünf Jahre.

Locky malt weiter seine Bilder, Aberforth und ich reparieren bei Bedarf defekte Sachen im Gruselkabinett.

Wir sind uns ähnlicher als gedacht. Etwas farblos, ungesellig mit einem Hang zur Melancholie.

»Woran sind sie gestorben?«

Mein Blick bleibt auf den Initialen des grauen Steines haften. Mir ist, als könne ich sie riechen, ihren Todesduft. Aberforth geht in die Knie und wischt ein bisschen Erde zur Seite. Er scheint im Moment irgendwo anders zu sein und ich lasse ihn in Ruhe.

Bevor mich die Stimmung erdrückt, laufe ich hinunter zum Fluss und setze mich auf ein altes, vermodertes Boot. Ich zünde mir eine Zigarette an, lasse die Augen über die Wasseroberfläche wandern. Dahinten zieht eine Gruppe Schwäne ihre Runden. Ich beneide sie. Gerne wäre ich mit ihnen geschwommen, doch es ist zu kalt und ein Sturm wurde angekündigt.

»Sie sind alt gewesen und krank. Ich saß im Maudsley, als meine Großeltern gestorben sind. Habe es aus der Zeitung erfahren, die Todesanzeige stand damals in der Times.«

Aberforth ist so leise hinter mich getreten, dass ich fast einen Herzinfarkt bekomme.

»Beschissener …«, will ich schreien, aber Art legt einen Finger an den Mund.

»Denk an unseren Deal, Scouti.«

Und weil er weiß, dass nur meine Brüder mich Scouti nennen dürfen, grinst er unverschämt, und läuft wie ein kleines Kind davon.

»Ich krieg dich«, rufe ich lachend und renne ihm hinterher.

Wir fahren die Strecke zurück nach London. Mittlerweile ist der Himmel schwarz wie die Nacht, es beginnt, riesige Tropfen zu regnen. Das monotone Surren des Scheibenwischers geht mir auf die Nerven, ich schalte das Radio an und dreh' den Knopf auf volle Pulle.

Am frühen Morgen wurde aus dem Fluss Avon eine Frauenleiche geborgen. Die Ermittler gehen von Selbstmord aus. Die junge Frau wurde nach ihrem Tod missbraucht. Weitere Informationen bekommen Sie unter …

Ich sehe Aberforth an.

»Sag was!« Mir wird schwindlig und ich fahre den Dutch an den Seitenstreifen. »Aberforth?«

»Ich konnte nicht anders. Es ist wie ein Zwang. Sie lief mir zufällig über den Weg, unten am Hafen. Wollte sich umbringen. Ich habe sie nicht ermordet, aber danach, als sie schon tot war …«

Er guckt mich nicht an, zeichnet bloß mit dem Finger beschissene Figuren auf sein Hosenbein.

»Der Deal, Art. Was ist mit unserem Deal? Kannst du dir nicht einfach einen runterholen und gut?«

Ich bin so wütend, dass ich die Wagentür öffne und aussteige. Mit voller Wucht trete ich gegen den vorderen Autoreifen und schreie dem Himmel meine Wut entgegen.

Als ich zurück in den Wagen steige, sehe ich, wie Aberforth dasitzt, zusammengesunken, sein Gesicht hat er in beide Hände gegraben.

»Wir können nur hoffen, dass uns niemand auf die Schliche kommt, Mister«, zische ich.

Ich drehe den Schlüssel, der Motor springt an und ich drücke den Fuß aufs Gaspedal.

28-34 Tooley Street


Diavolo liegt im Eingang und schnauft. In letzter Zeit geht es ihm zusehends schlechter, er wird sicher bald draufgehen.

Ich habe lange überlegt, wo wir den Kadaver hinschaffen werden und da hatte ich die Idee mit dem Gruselkabinett. Aber dazu muss der Köter erst mal abkratzen, dann versuche ich, ihn auszustopfen.

Locky kommt uns im Flur entgegengerannt, er strahlt über beide Ohren. Die Haare sind völlig zerzaust und er trägt seinen viel zu kurzen Lieblingsschlafanzug, den hellblauen, mit den Bärchen. Er hat bloß eine Socke an den Füßen, und die hat ein Loch.

»Wie siehst du denn aus, Locky?«, frage ich belustigt, doch er hält dagegen.

»Ich bin ein Künstler und die sehen so aus. Scouti, guck mal.«

In der Hand hat er eine Zeichnung und ich sehe mir das Bild an. Er hat mich gemalt, mit einem weißen Brautkleid, die Haare zu einer monströsen Frisur aufgesteckt. Da ich nichts dazu sage, bohrt er nach.

»Gefällt es dir, Scouti?«

Seine blauen Augen blinzeln mich an. Ich wuschele ihm durch die roten Löckchen und sage ›Ja‹.

»Wo sind deine Brüder, Locky? Wir wollen gleich essen.«

»In der Werkstatt. Fitch hat einen neuen Auftrag bekommen.

Soll ich sie holen?«

Und schon ist er im Hausflur verschwunden. Das Bild flattert durch die Luft und bleibt auf dem Küchenboden liegen. Dass da draußen ein Haufen Schnee liegt und er die falsche Kleidung trägt, wird er bald merken.

Die Werkstatt teilt Mister Fitch mit seinem Bruder, sie liegt im Hof, direkt hinter dem London Dungeon. Fitch und Boyl haben sich in dem dazugehörigen Anbau eingerichtet, wir bewohnen die gesamte obere Etage über dem Gruselkabinett. In der Küche, da wo wir uns am meisten aufhalten, steht eine rot lackierte Eckbank. Davor ein Tisch aus Teak und zwei verschiedene Stühle vom Sperrmüll. Wir haben wenige Möbel, auf dem Fußboden liegen helle Teppiche und lediglich die gemalten Bilder von Locky hängen an der Wand.

Die Rückseite des Appartements besteht aus bodenlangen Fenstern, sodass wir einen irren Blick über die Dächer von London haben. Wir kochen mit Gas, den Herd hat uns Boyl geschenkt, er ist benutzt, aber funktionsfähig.

Carson Fitch und sein Bruder verstehen sich nicht so gut, beide sind mürrische, verhärmte Männer. Sie streiten und haben grundsätzlich verschiedene Meinungen. Ich mag Boyl nicht und er mag meine Brüder nicht besonders leiden. Mich zwinkert er oft an, und wenn er nicht bald damit aufhört, hat er ein demnächst ein Auge weniger. Dann kann er sich zu den Plastikfiguren unten im Kabinett gesellen.

Und da ist sie wieder, diese Idee mit Diavolo.

Wie eine Horde Elefanten kommen die Jungs in die Küche gestürmt. Sie setzten sich wie ausgehungert auf ihre Plätze und grabschen nach dem Besteck. Wir essen Bratkartoffeln und Salat zu Rühreiern. Die Zwillinge futtern so schnell, dass ich nicht mitkomme.

»Müsst ihr immer so schaufeln, verdammt nochmal?«

 

Entnervt schiebe ich meinen Teller weg und schnappe mir die Zeitung. Der erste Artikel springt mich sofort an.

Pesthauch in Londons Straßen

Wer sich das London Dungeon also freiwillig und vorsätzlich antut, wird mit realistischen Folterungen konfrontiert, erfährt aber auch auf drastische Weise, wie die Straßen Londons bei der großen Pest im 17. Jahrhundert ausgesehen haben, als niemand mehr in der Lage war, die verwesenden Leichen zu bergen.


***


Verwesende Leichen. Ich muss an Aberforth denken, der nach dem Geständnis von vorhin in seinem Zimmer verschwunden ist. Doch irgendwie kann ich ihn verstehen, er ist nun mal ein Psycho. Bloß der Scheiß steht morgen in jeder Zeitung und ich wette, dass die Bullen ihm diesmal auf die Schliche kommen.

Ich lege den Artikel weg, denn ich kriege Kopfschmerzen. Erst ein Stechen, dann ein Ziehen, vom Nacken her hinauf bis an die Stirn, hinter die Augen, wo Lichtblitze mir den Nerv rauben.

Ich schau mir meine Brüder an und seufze. Das brave Leben hier fühlt sich zu unecht an, fast lächerlich, um wahr zu sein. Ich vermisse die Burg und mir fehlt Caspar. Ich möchte gerne im See baden und Feuerholz holen.

»Scout, magst du dein Essen nicht mehr?« Afton guckt mich inständig an.

»Nimm es dir«, sage ich und falte die Zeitung wieder zusammen. »Ihr räumt auf, ich muss noch was erledigen.«

»Aber wir wollen …«, will Alasdair einwenden, doch ich stehe auf und verschwinde. Ich brauche ein Buch und versuche, es bei Waterstones zu bekommen.

Maudsley Hospital London – Hannah Holmes


»Wem galten seine letzten Gedanken?«

Mister Kent schaut mich an. Mit dem schwarzen Anzug sieht er aus wie ein Totengräber. Ich kann ihn nicht ausstehen, muss aber trotzdem mit ihm reden.

»Das ist eine ziemlich naive Frage, Mister Kent. Er hatte nicht viel Zeit zu denken, wissen Sie. Der Hund hat ihn aufgefressen. Er hat Mister Mac Dollyn verspeist, wie Sie Ihr Mittagessen.«

Seine zu eng stehenden Augen wandern für eine Sekunde hinunter auf den Teller mit den angebissenen Sandwiches. Ich beobachte, wie er die Krawatte lockert und einen feinen Schweißfilm auf der Stirn bekommt.

»Miss Holmes, wenn Sie möchten, übernehme ich so lange die Leitung des Maudsley. Nur, bitte, seien Sie vorsichtig. Das Tier ist ein Monster. An Ihrer Stelle würde ich Scotland Yard informieren.«

Recht hat er.

Doch was geschieht dann mit den Kindern? Nach ersten Ermittlungen vor gut zwei Jahren hat die Polizei die Suche eingestellt. Angeblich hat es keine Spuren gegeben. Aber wie kann das sein? Das Bild in der Folterkammer werde ich mein Leben nie vergessen, all das Blut und die Knochen. Niemand hat danach an eine Horde Kinder geglaubt, die mordend durchs Land zieht und an die Geschichte einer alten Frau, die dermaßen verrückt geworden ist. Auch ich habe damals keine Aussage gemacht, ich bin verängstigt gewesen und Scouts Warnung hat gesessen.

Ich habe Mister Kent erzählt, dass ich einen Hinweis auf den Wolfshund bekommen habe. Aber ich habe die Zwillinge gesehen, hier in London und das hat mich derart geschockt, dass ich Zeit brauche, um meine Gedanken zu sortieren.

Nein, ich werde es im Alleingang versuchen. Möglich, dass die Kinder auf mich hören. Vielleicht kann ich sie doch noch überzeugen, ihre Lebensweise zu ändern und für ihre Taten geradezustehen.

»Also, Mister Kent, Sie übernehmen für eine gewisse Zeit meinen Posten und ich revanchiere mich bei Ihnen.«

Wir reichen uns die Hände.

»Miss Holmes?« Kent kommt auf mich zu und sieht mich scharf an. »Versuchen Sie es nicht alleine. Der Hund ist nicht normal.«

Wenn das sein größtes Problem ist, dann bitte. Ich nicke mit dem Kopf, bedanke mich und verschwinde in meinem Büro. Alles, was es damals an Informationen in Papierform gegeben hat, habe ich ausgeschnitten und an eine Pinnwand geheftet. Ein Zeitungsartikel, zwei Jahre alt, klebt direkt vor meiner Nase. Streifenpolizist. Tod. Zerfleischt. Hundebisse. Zusammen mit dem aktuellen Selbstmord am Ufer des Avon und der damit zusammenhängenden postmortalen Vergewaltigung sind mir das einige Zufälle zu viel.

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Bis gestern habe ich mir tatsächlich eingeredet, die können nicht so abgebrüht sein und hier in London ihr Unwesen treiben. Aber sie waren es, dessen bin ich mir sicher. Ich habe Alasdair und Afton am Hafen gesehen. Groß, rote kurze Haare. Ein Mann ist bei ihnen gewesen. War es der Alte von damals, dieser Fitch? Ich habe mir geschworen, es herauszufinden. Außerdem bleibt die Frage offen, ob Aberforth tatsächlich noch bei ihnen ist. Den werde ich dann im Sinn von Mister Mac Dollyn in die Anstalt zurückbringen. Jemand muss die Geschichte zu Ende bringen. Ein für alle Mal.

Ich schnappe mir die Lederjacke vom Bürostuhl, gehe zum Wagen und fahre nach Hause.


***


Im Hausflur riecht es nach fettigen Pommes und abgestandenem Bier. Ich krame den Schlüssel aus meiner Handtasche und will grad aufschließen, da öffnet Caja mir freudestrahlend die Tür. In der einen Hand ein Sektglas und in der anderen einen Kochlöffel. Mit ihren achtunddreißig ist sie zwei Jahre jünger als ich, sieht aber wesentlich jugendlicher aus.