Einleitung

Seit etwa 20 Jahren ist in Deutschland die Frage nach der Identität des Mannes ins Bewusstsein vieler Männer getreten. Die feministische Bewegung hat das Selbstbewusstsein vieler Frauen gestärkt. Das hat die Männer verunsichert. Auf einmal wussten sie nicht mehr, wer sie in Wirklichkeit sind. Sind sie nur die Patriarchen, die alles beim Alten lassen möchten? Oder sind sie die Machos, wie sie von vielen Frauen karikiert werden? Oder geben sie sich als »Softies«, die weder von Männern noch von Frauen ernst genommen werden? In diesem Buch möchte ich anhand biblischer Männergestalten einen Weg aufzeigen, wie Männer ihre eigene Identität finden können. Dabei geht es mir um die beiden Pole: Kämpfen und Lieben. Wer nur kämpft, ist in Gefahr, hart und unempfindlich zu werden. Wer nur liebt, neigt dazu, nur seine zärtlichen Seiten zuzulassen. Zum Mann gehören beide Fähigkeiten. Als Kämpfer ist er fähig zu lieben. Seine Liebe braucht die Qualität des Eroberers und des Beschützenden. Und sein Kampf bedarf der Liebe, damit er nicht blindwütig wird.

In den letzten Jahren sind viele Männergruppen entstanden, in denen sich Männer über ihr Mannsein austauschen. Es gibt ­diese Männergruppen in der evangelischen und katholischen Kirche, aber auch im Umfeld von Therapeuten, die Männer einladen, gemeinsam ihre männliche Energie zu entwickeln. Offensichtlich besteht ein großes Bedürfnis, dass Männer auch mal unter sich sind. Unter Männern wagen sie es, ihre eigene Unsicherheit, ihre Ängste und Schwächen zu zeigen. In solchen Männergruppen sind sie frei von dem typischen Imponiergehabe, das sie leicht an den Tag legen, sobald Frauen mit dabei sind. In meinen Kursen sind normalerweise mehr Frauen als Männer. Und ich arbeite gerne mit Frauen, weil sie ein tiefes Gespür ­haben für spirituelle und psychologische Fragen. Wenn ich mit reinen Männergruppen arbeite, spüre ich aber auch, dass dort eine ­eigene Qualität entstehen kann, eine männliche Qualität. Wenn Männer ihre alten Rollen ablegen und sich ehrlich aufeinander einlassen, dann wird auf einmal der Saal voll von männlicher Kraft.

Seit 12 Jahren begleite ich Priester und Ordensleute, Männer und Frauen, im Münsterschwarzacher Recollectio-Haus. In den letzten Jahren haben ein Therapeut und eine Therapeutin öfter einmal ein Mann-Frau-Wochenende veranstaltet. Zunächst einmal sind bei diesen Kursen die Männer und Frauen jeweils ­unter sich und gestalten einen Raum mit Symbolen. Dann laden die Männer die Frauen zu sich ein und umgekehrt. Es ist immer ein spannendes Wochenende, an dem klarer wird, wie Männer sich von Frauen unterscheiden. Es geht nicht um Wertung, sondern um die Erfahrung, dass ich ganz Mann und ganz Frau sein darf.

Beim letztem Silvester-Jugendkurs in Münsterschwarzach (über die Jahreswende 2002/2003) hat Pater Mauritius eine Gruppe nur für Männer angeboten. Das war eine Premiere bei den Jugendkursen, bei denen die Frauen sonst überwiegen. Aber es war eine wichtige Erfahrung für die jungen Männer zwischen 16 und 30 Jahren. Offensichtlich war es ihnen ein Bedürfnis, einmal unter sich zu sein, sich über die eigenen Stärken zu unterhalten, die sie meistens übersehen, und vielleicht auch einmal voreinander schwach sein zu dürfen. Es gab sehr ehrliche Gespräche über die eigene Sexualität, über die Ängste, vor den Frauen nicht gut genug zu sein, aber auch über die Angst, zur eigenen Männlichkeit zu stehen. Die Erfahrung dieser Männergruppe zeigte, wie wenig sich junge Männer heute zutrauen. Sie sollen gegenüber Frauen immer lieb und nett sein und vergessen so, dass sie Männer sind. Sie trauen sich nicht, zuzupacken, für sich zu kämpfen, Führung zu übernehmen. Sie spüren, dass ihnen etwas fehlt. Aber sie wissen oft nicht, wie sie zu einem authentischen Mannsein finden können, ohne in die Machorolle zu fallen oder zum Softie zu werden.

Meine Bücher werden mehr von Frauen gelesen als von Männern. In diesem Buch möchte ich bewusst als Mann zu Männern sprechen. Ich lebe seit 39 Jahren in einer reinen Männergruppe, in einer Klostergemeinschaft von etwa 100 Männern. So eine Männergesellschaft hat ihre eigene Qualität, aber auch ihre Gefahren und Einseitigkeiten. Wenn Männer sich miteinander auf die Suche machen, dann entsteht eine starke Kraft. Sie öffnen sich gegenseitig die Augen für die wirklichen Probleme in unserer Welt. Und sie sind bereit, die Ärmel hochzukrempeln und die Aufgaben anzupacken, die für sie anstehen. Die Gefahr einer reinen Männergesellschaft besteht jedoch darin, dass das Gespür füreinander verlorengeht, dass jeder nur für sich alleine lebt und arbeitet. Oft treten vaterlose Männer ins Kloster ein. Sie suchen im Kloster entweder die große Mutter, die sie von ihrer eigenen Mutterbindung befreit. Oder aber sie sehnen sich nach echten Vätern, an denen sie als Mann wachsen können. Damit spiegelt die Klostergemeinschaft die Problematik unserer Gesellschaft wider. Seit Alexander Mitscherlich ist das Wort von der vaterlosen Gesellschaft verbreitet. Das Problem ist, dass heute viele vaterlose Männer nach Ersatzvätern suchen. Manche sind anfällig, sich starken Männern unterzuordnen und sich von ihrem Machtgehabe blenden zu lassen. Unsere Gesellschaft braucht heute Väter, an denen sich die jungen Männer orientieren können, die ihnen den Rücken stärken und sie herausfordern, ihre eigene männliche Energie zu entwickeln.

In meiner Klostergemeinschaft habe ich echte Väter erlebt. Wenn die Männergesellschaft eines Klosters sich zu einseitig von der Mutterenergie her bestimmt, dann kleben die Mönche aneinander. Es geht keine Kraft mehr von ihnen aus. Gott sei Dank erlebe ich in unserer Gemeinschaft die männliche Energie der Väter. Wenn Männer gemeinsam darum ringen, welche Antwort sie auf die Fragen unserer Zeit geben möchten, dann entsteht ein hohes Potential an Kreativität. Sie bekommen Lust, etwas anzupacken und etwas für diese Gesellschaft zu tun. Sie entwickeln Visionen und haben den Mut, sie in die Tat umzusetzen. Ich spüre, dass ich mit meiner eigenen Kreativität teilnehmen darf an dem Potential, das eine Gemeinschaft von Männern bietet. So möchte ich dieses Buch aus meiner Erfahrung mit Männern und aus meinem eigenen Mannsein heraus schreiben und von Mann zu Mann reden. Es tut suchenden Männern gut, mal unter sich zu sein. Ich hoffe, dass ich mit den Gedanken dieses Buches viele Männer ermutigen kann, ihren Weg des Mannwerdens zu wagen.

Es gibt zwei Bilder vom Mann, die sein Wesen verfälschen. Da ist einmal das Bild des Machos, der auf seine Männlichkeit pochen muss, der vor Frauen angibt und sich mit seiner Potenz brüstet. Der Macho ist letztlich ein ängstlicher und zutiefst verunsicherter Mann, der seinen Wert nur darin findet, dass er Frauen entwertet. Das andere Bild, das genauso wenig hilfreich ist, ist der »Softie«. C. G. Jung hat den Mann dazu aufgefordert, seine »anima«, seine weibliche Seelenseite, zu integrieren. Aber manche Männer haben das so ernst genommen, dass sie ihr eigenes Mannsein vergessen haben. Walter Hollstein, ein Soziologe, der sich über die Identität des Mannes Gedanken gemacht hat, meint, vom Softie gehe nichts aus, der Softie sei nicht schöpferisch. Der Softie ist »nicht nur ein spannungsloser Partner der Frau, sondern auch gesellschaftlich steril. Von ihm geht keine Energie aus, keine Auseinandersetzung, null Leidenschaftlichkeit, keine Innovationen.« (Hollstein 25) In den Praxen amerikanischer Psychologen beklagen sich Softies oft über ihre Kraftlosigkeit. Sie fühlen sich richtungslos und in einer permanenten Identitätskrise. (Vgl. ebd. 23) Sie lassen sich von der Gesellschaft versorgen, anstatt sie mit Pioniergeist, Verantwortung und Wagemut zu gestalten.

Ich habe 25 Jahre lang Jugendarbeit gemacht. Zu den Kursen an Silvester und Ostern kamen oft über 250 Jugendliche und junge Erwachsene. Ein Drittel etwa waren junge Männer. Ich führte viele Gespräche mit ihnen. Ich hatte den Eindruck, dass nicht in erster Linie die kraftvollen Männer kamen, sondern eher solche, die an mangelndem Selbstwertgefühl litten, die gehemmt waren und von depressiven Stimmungen heimgesucht wurden. Sie suchten bei den Jugendkursen sehr ehrlich nach einem Weg, wie sie mit sich und ihrem Leben besser umgehen könnten. Der spirituelle Weg war für sie eine Verheißung, innerlich gelassener und ruhiger zu werden. Sie suchten eher eine beruhigende Spiritualität, als eine herausfordernde. Aggressive Männer, die diese Welt verändern wollen, gehen weniger zu spirituellen Kursen. Sie werden auch von der Kirche heute nicht angemessen angesprochen. Und doch braucht die Kirche gerade die aggressiven Männer. Und umgekehrt gilt: gerade den kraftvollen Männern täte eine Spiritualität gut, die sie mit ihrem wahren Wesen in Berührung bringt. Aber diese Männer suchen nach einer Spiritualität, die ihrem Mannsein entspricht, die in ihnen ihre männliche Energie weckt und sie dorthin lenkt, wo es sich lohnt, sie einzusetzen. Die Bibel erzählt uns von starken Männern. Da werden Männer nicht zu spirituellen Gurus hochstilisiert. Sie stehen mitten im Leben. Sie machen Fehler und sündigen. Aber sie gehen ihren Weg vor Gott und mit Gott. Sie machen sich auf die beschwerliche Reise des Mannwerdens.

In diesem Buch möchte ich dem Leser 18 Männergestalten aus der Bibel vor Augen führen, die einem Mann Kraft zu geben vermögen. Wenn ich mir selbst diese 18 Gestalten anschaue, dann spüre ich, wie viel Energie in diesen Männern steckt. Jeder geht seinen persönlichen Weg. Keiner ist zu Beginn seines Weges perfekt. Jeder muss über Versuch und Irrtum lernen. Er begegnet auch seinen Schattenseiten. Trotzdem sind diese Männer für mich Vorbilder. Viele Psychologen beklagen, dass es heute kaum männliche Vorbilder gibt. Die Politiker sind es kaum, die Filmschauspieler und Sportler auch nicht. Ich hoffe, dass der Leser in den 18 Männern Vorbilder für sich entdeckt. Er wird sich nicht in allen Männern wiederfinden. Ich werde die Männer der Bibel immer nur von einem Blickwinkel aus betrachten und sie einem archetypischen Bild zuordnen, das mir bei jedem vorherrschend zu sein scheint. Die Reihenfolge der Männergestalten orientiert sich an der Chronologie der Bibel. Der Leser sollte jedoch frei auswählen, wer ihn gerade am meisten interessiert. Der eine Leser braucht vielleicht als erstes den »wilden Mann« Johannes den Täufer oder den Krieger Simson. Ein anderer möchte lieber mit dem Liebhaber beginnen. Es hängt von der eigenen Situation ab, welcher Mann mich gerade mit seinem Archetyp am meisten anspricht. Archetypische Bilder haben nach C. G. Jung die Fähigkeit, uns mit dem eigenen Potential, das in uns steckt, in Berührung zu bringen. Sie setzen uns in Bewegung, damit wir uns mehr und mehr zentrieren und die eigene Mitte finden. Jedes archetypische Bild hat ein Entwicklungspotenzial in sich. Jeder der 18 Archetypen gilt auch für Frauen. Auch die Frau ist Führerin. Sie braucht die Kriegerin in sich. Sie ist Königin und wilde Frau. Wenn ich jetzt nur über Männer schreibe, soll das nicht heißen, dass ich Frauen abspreche, was ich von den Männern aussage. Die Frauen verwirklichen die archetypischen Bilder auf ihre Weise. Zum Teil sind es die gleichen Archetypen, die auf Männer und Frauen zutreffen. Frauen kennen aber auch ihre eigenen archetypischen Bilder. Ich hoffe, zusammen mit meiner Schwester auch ­darüber ein Buch zu schreiben, das dann nur für Frauen gedacht ist.

Kein Mann ist nur auf einen Archetyp festzulegen. Jeder lebt in seinem Leben verschiedene Aspekte. Und bei jedem formt sich der Archetyp auch in anderer Weise aus. Daher ist es mir wichtig, jeweils die konkrete biblische Gestalt in den Blick zu bekommen mit ihrer Lebensgeschichte und mit ihrer Entwicklungsgeschichte. Es ist sehr hilfreich, dass die Bibel uns keine perfekten Männer beschreibt. Bei jedem der großen Männer deckt sie auch schonungslos die Schwächen und Schattenseiten auf. Das ist tröstlich für den Leser. Denn die Männer in der Bibel sind nicht den Auseinandersetzungen und Gefährdungen enthoben. Sie geraten immer wieder in die Falle ihrer eigenen Veranlagung oder in die Versuchung, sich von außen bestimmen zu lassen und sich anzupassen. Gerade in dem Auf und Ab von Stärke und Schwäche, von Licht und Schatten, von Vertrauen und Angst, von Liebe und Hass hat sich der Mann zu bewähren. Der Mann sucht die Auseinandersetzung und den Kampf. Dass er dabei auch verlieren kann, nimmt er in Kauf. Er verabscheut allzu sichere Wege. Die Bibel schildert uns gefahrvolle und abenteuerliche Wege des Mannwerdens. Und ich hoffe, dass diese Wege die Leser ansprechen und in ihnen ihre männliche Energie wachrufen.

1 Adam: Mann und Frau

Adam ist ursprünglich nicht der Mann, sondern der Mensch überhaupt. Gott hat den Menschen aus Ackerboden geformt. Adam kommt von »Adama« (Erdboden, Erde). Der Mensch hat also eine tiefe Verbindung zur Erde. Er ist von der Erde genommen und wird im Tod zur Erde zurückkehren. Doch zur Erde kommt der Lebensatem, den Gott dem Adam in seine Nase bläst. Es ist also zugleich etwas Göttliches im Menschen. Die Bibel kennt zwei Berichte über die Erschaffung des Menschen. Die ursprüngliche wird uns im zweiten Kapitel des Buches Genesis erzählt. Da schafft Gott zuerst den Ackerboden. Aber er brachte noch keine Frucht. So formt Gott den Menschen aus dem Ackerboden und bläst ihm den Lebensatem ein: »So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.« (Genesis 2,7) Dann legt Gott für den Menschen einen Garten an. Der Mensch darf sich an den Bäumen und ihren Früchten freuen. Zugleich hat er die Aufgabe, den Garten zu bebauen. Doch der Mensch fühlt sich allein. Gott formt zuerst allerlei Tiere und führt sie dem Menschen zu. Der gibt ihnen einen Namen. »Aber eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht.« (Gen 2,20) Da formt Gott aus der Rippe des Adam eine Frau. Von ihr sagt Adam: »Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau (ischah) soll sie heißen; denn vom Mann (isch) ist sie genommen. Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch. Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.« (Gen 2,23–25)

An dieser Erzählung fasziniert mich, wie der Mann auf die Frau bezogen ist. Beide bilden eine innere Einheit. Der Mann sehnt sich nach der Frau. Er findet zu seiner Ganzheit nur dann, wenn er in eine gute Beziehung zur Frau tritt. Mann und Frau ­ergänzen sich. In diesem Buch schreibe ich nur über den Mann. Aber über ihn kann ich nicht schreiben, ohne auch seine Beziehung zur Frau in den Blick zu bekommen. In der Geschichte von Adam und Eva werden nicht nur die innere Einheit und Zusammengehörigkeit deutlich, sondern auch die Ursachen des Geschlechterkampfes, der die ganze Menschheitsgeschichte durchzieht. Der Mann kann offensichtlich nur dann ganz Mann werden, wenn er die Frau als gleichrangig und gleichwertig erkennt, und wenn er sich von ihr inspirieren lässt. Das vermag er nur dann, wenn er mit der Frau in sich, wenn er mit seiner »anima«, wie Jung die weibliche Seite der menschlichen Seele bezeichnet, in Berührung ist.

Adam und Eva sind nackt und schämen sich nicht voreinander. Sie achten und zeigen sich einander. Sie müssen sich nicht voreinander verstecken. Und sie haben es nicht nötig, voreinander Machtspiele zu spielen oder einander imponieren oder sich gegenseitig beschuldigen zu müssen. Doch dieser harmonische Zustand dauert nicht lange. Die Bibel erzählt die berühmte Geschichte von der Schlange, die Eva verführt. Die Schlange drängt Eva dazu, doch auch von den Früchten zu essen, die Gott ihnen verboten hat. Das ist ein altes Thema, das in vielen Märchen vorkommt. Oft darf die Frau einen Raum nicht betreten. Und gerade das Verbot verlockt sie, in diesen Raum zu gehen, der ihr dann zum Verhängnis wird. Doch offensichtlich sehen die Märchen das Übertreten des Gebotes als Voraussetzung für einen neuen Entwicklungsschritt.

Die Bibel beschreibt jedoch eher einen Rückschritt. Eva »nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß. Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz. Als sie Gott, den Herrn, im Garten gegen den Tagwind einherschreiten hörten, versteckten sich Adam und seine Frau vor Gott, dem Herrn, unter den Bäumen des Gartens.« (Gen 3,6–8) Man kann diese Geschichte verschieden deuten. Von der Psychologie her gesehen überzeugt mich die Deutung von C. G. Jung, der das Essen von den Früchten des Baumes der Erkenntnis als Akt des Bewusstwerdens versteht. Es ist also für Adam und Eva ein notwendiger Schritt auf dem Weg der Menschwerdung. Der Mensch fällt aus seinem paradiesischen Zustand heraus, und er erkennt seine Licht- und Schattenseiten. Er vermag zwischen gut und böse zu unterscheiden.

Mich interessiert an dieser Geschichte jedoch vor allem die Schuldzuweisung des Mannes an die Frau und das Sich-verstecken des Mannes vor Gott und vor der Frau. Für mich liegt darin die Ursache für den Geschlechterkampf zwischen Mann und Frau, der die Jahrtausende durchzieht und auch heute trotz aller Aufklärung und Gleichberechtigung immer wieder neu auflodert. Gott spricht den Adam an: »Wo bist du?« (Gen 3,9) Adam antwortet: »Ich habe dich im Garten kommen hören; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich.« (Gen 3,10) Adam hat also Angst, sich vor Gott so zu zeigen, wie er ist. Er versteckt sich vor Gott. Damit sagt er Wesentliches über sich selbst aus. Männer tun sich oft schwer, die eigene Wahrheit auszuhalten und sie Gott zu zeigen. Sie verstecken sich lieber hinter ihrer Fassade. Die Frage Gottes ist für mich heute aktueller denn je. Jeder Mann sollte sich so von Gott fragen lassen: »Wo bist du? Bist du ganz bei dir? Bist du wirklich du selbst? Wo bist du mit deinen Gedanken? Kannst du dich aushalten, so wie du bist?« Nur wenn der Mann sich diesen Fragen stellt, kann er zum Mann werden. Für mich ist die Frage Gottes die entscheidende Frage für die männliche Initiation, für die Einübung in das Mannwerden. Ich muss mich fragen, wo ich bin, wie ich bin und was ich bin. Ich muss aufhören, mich zu verstecken. Nur wenn ich wage, zu meinem Nacktsein zu stehen, mich so anzunehmen, wie ich gerade bin, zerrissen, stark und schwach, voller Leidenschaft und zugleich feige und ausweichend, nur dann werde ich zum Mann reifen.

Als Gott den Adam fragt, ob er vom verbotenen Baum gegessen habe, da schiebt Adam die Schuld auf Eva: »Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben, und so habe ich gegessen.« (Gen 3,12) Auch diese Eigenschaft wird charakteristisch für manche Männer. Sie leugnen die eigene Schuld und schieben sie anderen in die Schuhe. Letztlich gibt Adam Gott selbst die Schuld. Er hat ihm ja die Frau gegeben. Er selbst kann nichts dafür. Er weigert sich also, Verantwortung für sein Tun zu übernehmen. Der Mann sehnt sich nach der Frau. Aber offensichtlich hat er auch eine Seite in sich, die sich vor der Frau fürchtet. Und so muss er ihr alle Schuld zuschieben, wenn etwas bei ihm nicht stimmt. Der Mann spürt die Sehnsucht nach der Frau. Er ist nur eins mit sich, wenn er mit der Frau ein Fleisch wird. Und zugleich erfährt er einen inneren Zwiespalt in seiner Beziehung zur Frau. Und dieser Zwiespalt führt ihn dazu, die Frau zu verteufeln.

In dieser kurzen Erzählung klingt schon die lange Geschichte des Geschlechterkampfes an, der die Jahrhunderte durchzieht. Faszination und Verteufelung wechseln sich ab, Machtkämpfe, Verletzungen und Angst voreinander prägen die Beziehung zwischen Mann und Frau. Für den Prozess des Mannwerdens ist es wichtig, dass der Mann seine unbewusste Angst vor der Frau überwindet und sich seiner »anima« stellt. C. G. Jung sieht in der Integration der anima einen entscheidenden Entwicklungsschritt des Mannes, und zugleich die Voraussetzung dafür, dass der Mann aufhört, seine eigenen Probleme auf die Frau zu projizieren und sie ihr in die Schuhe zu schieben.

In der zeitlich späteren der beiden Schöpfungsgeschichten von Genesis 1 erschafft Gott am sechsten Tag den Menschen. »Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. (…) Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.« (Gen 1,26–27) Der Mensch ist also gerade in seiner Zweiheit als Mann und Frau Gott ebenbildlich. Die griechischen Kirchenväter haben über die beiden Verse Genesis 1,26 und 1,27 viel nachgedacht. Sie haben die beiden dort benutzten hebräischen Worte für Abbild und Ähnlichkeit (selem und demˆut) in ihre Sprache mit den Begriffen »eikon« (Bild) und »homoiosis« (Gleichnis, Ähnlichkeit) übersetzt und eine eigene Theologie daraus entwickelt. Der Mensch ist ursprünglich nach dem Bild Gottes geschaffen. Seine Aufgabe besteht darin, immer mehr Gott ähnlich zu werden. Der Begriff der Ähnlichkeit beschreibt also das Ziel des Menschen. Der Mensch soll Gott immer mehr nachahmen und wie Gott werden. Das ist die eigentliche Berufung des Menschen. Darin wird für mich etwas Wesentliches des Mannes sichtbar. Jeder Mann ist dem Schöpfer ähnlich. Darin besteht seine größte Würde. Er ist schöpferisch wie Gott. Seine Aufgabe besteht darin, Gott immer ähnlicher zu werden. Und zugleich wird in diesen Sätzen aus Genesis 1 für mich deutlich, dass der Mann nur dann Gott ähnlich wird, wenn er auch seine Beziehung zur Frau klärt und sie so gestaltet, wie es Gott ihm vom Ursprung her zugedacht hat: nicht Unterordnung, sondern Gleichwertigkeit, nicht Verachtung, sondern Achtung, nicht Gegeneinander, sondern Miteinander, nicht Spaltung, sondern Einswerden.

Ich möchte nur auf einen Aspekt des Mannseins eingehen, der mir an dieser Schöpfungsgeschichte wichtig erscheint. In seinem Bezogensein auf die Frau fühlt sich der Mann immer auch als sexuelles Wesen. Ich kann nicht über Mannwerdung sprechen, ohne mich mit der männlichen Sexualität zu beschäftigen. Männer trauen der Kirche nicht zu, dass sie ihnen bei der Gestaltung ihrer Sexualität hilft. Allzu oft haben sie erfahren, dass die Kirche die Sexualität nur verteufelt oder aber sie allzu sehr reglementieren möchte. Männer möchten offen über ihre Sexualität reden. Sie hassen das Moralin, das sich oft in die kirchliche Sicht auf die Sexualität hineinmischt. Die Bibel redet noch unbefangen über die männliche Sexualität. Die biblische Sprache ist noch nicht von der römischen Sexualmoral getränkt.

Bei Adam zeigt sich die Sexualität in seiner Sehnsucht, ein Fleisch zu werden mit der Frau. Mann und Frau sind nackt, aber sie schämen sich nicht voreinander. Adam hat also eine gesunde Einstellung zu seiner Sexualität. Doch nach dem Fall schämt er sich seiner Nacktheit. Hier kommt die ambivalente Einstellung vieler Männer zu ihrer Sexualität gut zum Ausdruck. Auf der einen Seite kreisen manche Männer ständig um ihre sexuelle Potenz. Sie müssen angeben mit ihren sexuellen Abenteuern. Doch hinter dieser Angeberei steht letztlich eine tiefe Unsicherheit der eigenen Sexualität gegenüber. Wenn Männer unter sich sind, dann gelingt es manchmal, dass sie ehrlich über ihre Sexualität sprechen. Junge Männer wissen nicht, wie sie mit der überschüssigen sexuellen Energie umgehen sollen. Sie erleben die Sexualität als eine Quelle von Kraft und Lust. Doch ihre Erziehung hat es ihnen oft unmöglich gemacht, zu dieser wohl wichtigsten Lebensenergie zu stehen und daraus zu leben. Oft genug ist Sexualität etwas, über das man nur hinter vorgehaltener Hand spricht. Es tut Männern gut, wenn sie sich offen über ihre Erfahrungen mit der Sexualität austauschen können. Da trauen sie sich, über ihre Angst zu sprechen, in der Sexualität nicht gut genug zu sein, den Erwartungen der Frau nicht zu entsprechen. Oder sie sprechen über ihre Probleme mit der Masturbation. Trotz aller sexuellen Aufklärung wissen sie oft nicht, wie sie damit umgehen sollen. Selbstbefriedigung praktizieren laut Statistik 98% der Männer, die einen nur selten, andere häufig. Und doch trauen sie sich kaum, darüber zu sprechen. Für die einen ist es noch mit dem Gefühl von Schuldigwerden behaftet, für die anderen ist es das Eingeständnis, dass die Beziehung zu Frauen ihre Sexualität nicht vollständig erfüllt. Es ist wichtig, ohne zu werten, die Selbstbefriedigung anzuschauen als Versuch, mit der eigenen Sexualität umzugehen. Erst dann kann man darüber sprechen, ob es nicht andere Wege für diesen Umgang mit der Sexualität gibt. Je älter Männer werden, desto mehr entdecken sie die Kreativität als einen Weg, die sexuelle Energie in andere Bahnen zu leiten. Für andere ist es die Spiritualität, in die ihre Sexualität hineinfließt. Für Sigmund Freud ist die Sexualität ein wichtiger Impuls für die Kultur. Und Sexualität ist immer ein Weg, mit seinem Leib in Berührung zu sein, sich mit allen Sinnen zu spüren. Und die Sexualität ist die Quelle, aus der die erotische Kraft in alle Beziehungen einströmt. Sie bewahrt einen vor langweiligen Beziehungen. Sie bringt Lebendigkeit und Buntheit hinein. Da strömt es hin und her, und man kann den Eros genießen, der da zwischen sich und dem Partner hin- und herspringt.

Für den Mann ist es wichtig, sich mit seiner sexuellen Identität auseinanderzusetzen. Er muss sich darüber klar werden, ob er heterosexuell oder homosexuell ist. Manchmal sind die Grenzen fließend. Manche Männer sind bisexuell. Sich seiner sexuellen Identität bewusst zu werden ist eine entscheidende Voraussetzung, sich als Mann anzunehmen. Auch hier ist es wichtig, dass wir alle Wertungen beiseite lassen. Jeder Mann – ob homo­sexuell oder heterosexuell – hat seine Qualitäten und Stärken und auch seine Gefährdungen. Homosexuelle Männer haben sich in den letzten Jahren oft noch stärker auf die Suche nach ihrer eigenen Männlichkeit gemacht als heterosexuelle Männer. Anstatt sich für ihre Homosexualität zu entschuldigen – wie es in manchen gesellschaftlichen Kreisen immer noch üblich ist –, freuen sie sich an ihrem Mannsein. Sie sind sich ihres Körpers bewusst und drücken sich und ihr Wesen in ihrem Leib aus. Sie haben oft ein stark ausgeprägtes ästhetisches Empfinden und große Offenheit für die Spiritualität. Wenn ich in diesem Buch über das Mann­sein spreche, habe ich immer heterosexuelle und homosexuelle Männer im Blick. Dabei ist mir bewusst, dass sich viele homosexuelle Männer von der Kirche verletzt fühlen. Oft genug hören sie, Homosexualität sei widernatürlich. Doch solche Wertungen sind falsch. Homosexualität kann ihren Grund in verschiedenen Ursachen haben: in der Erziehung, in einer großen Mutterbindung, in sexuellen Erfahrungen, aber auch in genetischer Prägung. Letztlich kann man nie sagen, warum ein Mann oder eine Frau homosexuell ist. Entscheidend ist, dass der Homosexuelle sich mit seiner Veranlagung und Prägung aussöhnt und das Beste daraus macht. Das heißt auch, dass er seine Homosexualität auf menschenwürdige Weise lebt.

Im Paradies schämen sich Adam und Eva ihrer Nacktheit nicht voreinander. Nach dem Fall jedoch erkennen sie, dass sie nackt sind. Und aus Furcht versteckt sich Adam vor Gott. Und aus Scham machen sie sich einen Schurz aus Feigenblättern. Über das Thema der Scham haben vor allem die Psychologen viel Bedenkenswertes geschrieben. Scham ist die Scheu, sich zu zeigen, wie man ist. Und ein wesentlicher Aspekt der Scham ist die ­sexuelle Scham. Man geniert sich seiner Nacktheit und möchte sie bedecken. Scham hat immer mit dem Bedürfnis nach Schutz zu tun. Man schützt sich vor den begehrlichen Blicken anderer. Aber Scham ist auch Ausdruck, dass man sich selbst in seiner Nacktheit nicht angenommen hat. Man möchte sich vor sich, vor Gott und vor den anderen verstecken. Wenn Männer ihre Scham voreinander ablegen und sich so zeigen, wie sie sind, ­entsteht auf einmal ein großes Vertrauen. Sie können ja sagen zu sich selbst, so wie sie sind. Sie brauchen keine Kleider mehr, mit denen sie angeben. Sie wagen, sich in ihrer Verwundbarkeit zu zeigen. Und Sexualität ist bei aller Schönheit und Faszination immer auch mit Verletzungen verbunden. Wenn sich jemand über die Sexualität eines anderen lustig macht, kränkt er diesen tief. Ich habe Männergruppen erlebt, die sehr ehrlich über ihre Sexualität sprachen und den anderen mit großer Achtung begegneten. Da wurde etwas von der paradiesischen Situation erfahrbar. Alle »waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander« (Gen 2,25).

Die Biologie der männlichen Sexualität hat eine tiefe Bedeutung. Der Mann ist Samenträger. Der Same möchte fließen und ein Kind zeugen. Der Mann ist wesentlich schöpferisch. Seine Sexualität ist schöpferische Energie. Der Mann will entweder im biologischen Sinn Vater werden und Kinder zeugen, oder aber er tut es auf geistige Weise. Erik Ericson spricht von ›Generativität‹ (Zeugungskraft). Der Mann fühlt sich erst wohl in seiner Haut, wenn von ihm etwas ausgeht. Für mich ist das Schreiben der Bereich, in den meine schöpferische Energie fließt. Für den anderen ist es das Malen oder das Gründen von sozialen Werken. Ohne die »phallische Energie« wird der Mann langweilig. Es geht nichts mehr von ihm aus. Um Mann zu werden, muss ich also lernen, mit meiner Sexualität auf gute Weise umzugehen. Dieser Lernprozess geht immer über Fehler und Irrtum. Ich muss meinen persönlichen Weg finden, meine Sexualität in mein Lebenskonzept zu integrieren. Es geht nicht darum, mit seiner Sexualität anzugeben. Dahinter steckt oft eine große Unsicherheit. Jean Vanier, der Gründer der Arche, einer Lebensgemeinschaft von Behinderten und Nichtbehinderten, sagte einmal zu Richard Rohr, er habe erkannt, »dass praktisch jeder in der westlichen Welt mit zwei Grundleiden herumläuft: mit einer gestörten Sexualität und mit einem tiefsitzenden Autoritätsproblem« (Rohr, Der wilde Mann 59). Vermutlich hängen diese beiden Probleme auch miteinander zusammen. Weil viele Männer von ihren Vätern nicht in gebührender Weise in ihr Mannsein und ihre Sexualität eingeführt worden sind, wissen sie nicht, wie sie mit ihrer Sexualität umgehen können. Und sie haben keine wirkliche Beziehung zum Vater aufgebaut. Männer mit einer Vaterwunde haben immer Autoritätsprobleme. Ich habe mit vielen Männern gesprochen, die Großes geleistet haben. Im ehrlichen Gespräch kommt irgendwann die Rede auch auf die Sexualität. Sie ist für die Männer etwas Faszinierendes. Aber zugleich ist sie meistens auch brüchig. Sie gelingt oft nicht so, wie wir uns das vorstellen. Wenn wir darüber ehrlich miteinander sprechen können, dann kommt Licht in die oft vor uns selbst und vor anderen versteckte Sexualität. Und wir lernen einen angemessenen Umgang mit ihr.

2 Abraham: Der Pilger