Der Lyriker Kadhem Khanjar ist Gründer des Kollektivs Kultur-Miliz, das im Irak Lyriklesungen an Schauplätzen von Krieg und Zerstörung veranstaltet: neben ausgebrannten Autos, auf Minenfeldern, in zerbombten Häusern, in Krankenwagen, die zu Leichenwagen geworden sind. Khanjars Texte widmen sich vor einer existenziellen Traurigkeit dem lauten Lebenwollen.
Die Bilder expliziter Gewalt, von denen Khanjars Texte durchzogen sind, entsprechen einem breiten Trend in aktueller arabischer Literatur, ein Widerschein der teilweise dystopischen Realitäten der Region. Zum ersten Mal erscheinen seine ersten beiden Gedichtbände auf Deutsch, in der Übersetzung von Sandra Hetzl.
„Lyrische Alltagsschilderungen aus einem verwüsteten Land: Kadhem Khanjar zählt zur neuen Generation irakischer Schriftsteller.“ Deutschlandfunk Kultur
„Khanjar macht Poesie unter Lebensgefahr.“ Arte Tracks
Der Autor
Kadhem Khanjar ist Lyriker und Performer und wurde 1990 in der Nähe von Babylon geboren. Er lebt in Bagdad.
Kadhem Khanjar
Dieses Land gehört euch
Gedichte
ein mikrotext
Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl
ein mikrotext
Erstellt mit Booktype
Cover: Inga Israel
Covertypo: PTL Attention
www.mikrotext.de – info@mikrotext.de
ISBN 978-3-944543-88-8
Alle Rechte vorbehalten.
© mikrotext 2019, Berlin
Die Übersetzung aus dem Arabischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom e.V. – Literaturen der Welt.
Kadhem Khanjar
Dieses Land gehört euch
Gedichte
Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl
Gestern war ich wieder in der Gerichtsmedizin. Sie wollten einen Fingerabdruck mit Nukleinsäure. Sie sagten, sie hätten ein paar Knochen gefunden, deren Identität noch nicht geklärt sei.
Auch dieses Mal suchte ich – wie eine Orange – nach dem Schälmesser der Hoffnung.
Jetzt, lieber Bruder, bin ich zu Hause. Ich wische den Staub von den Plastikblumen, die dein Foto umranken
und begieße sie mit Tränen.
***
Der medizinische Bericht sagt, diese Tüte voller Knochen, deren Entgegennahme ich heute unterzeichnet habe, bist du. Aber das ist viel zu wenig. Ich habe sie vor ihnen auf dem Tisch ausgebreitet. Wir zählten noch einmal nach: ein Schädel mit sechs Löchern, ein einzelnes Schlüsselbein, drei Rippen zuviel, ein gebrochener Oberschenkel, ein Haufen Karpalknochen und ein paar Wirbel.
Kann dieses Bisschen ein Bruder sein?
Der medizinische Bericht behauptet das. Ich steckte die Knochen wieder in die Tüte, klopfte die Erde von meinen Handflächen, pustete den Rest auf den Tisch, packte dich auf meinen Rücken und ging.
***
Im Bus habe ich die Tüte neben mich gesetzt. Ich zahlte für zwei Sitzplätze. Das geht diesmal auf mich. Heute bin ich groß genug
geworden, dich auf meinem Rücken zu tragen und deine Fahrkarte zu zahlen.
***
Ich habe niemandem etwas davon gesagt, dass ich dieses Bisschen entgegengenommen habe. Ich beobachte, wie deine Frau und Kinder dicht an dem Sofa vorbeigehen, auf dem ich dich abgesetzt habe.
Ich wünschte, einer von ihnen möge die Tüte öffnen. Ich wünschte, sie würden dich ein letztes Mal sehen. Aber du bist ein Dickschädel, bis auf die Knochen. Später wundern sie sich noch über den Tränenfleck auf dem Sofa …!
***
Seit einer Stunde ordne ich diese feuchten Knochen auf dem Boden des Sarges und versuche, dich zu vervollständigen.
Nur die Sargnägel wissen,
dass das zu wenig ist.
Sie pflegten die Leichen miteinander zu vermengen, und wenn wir frühmorgens hinaus auf den Platz liefen, tapsten wir wie trübe Augen und ordneten Köpfe Körpern zu, während wir tief in uns wussten, dass wir die Köpfe an Körper vergaben, die sie gar nicht kannten. Jetzt ordnen sie die Leichen, geben ihnen Einheitskleidung und legen die Köpfe auf die Rücken. Aber hinaus laufen wir nicht mehr,
denn diese ordentlichen Leichen haben mittlerweile unsere Vorgärten erreicht.
***
Wir schätzen das Alter des Todespflänzchens bei den Leichen,
die sie auf dem Asphalt liegenlassen,
immer anhand der zerlaufenen Fettlache unter ihnen.
Bei auf der Erde liegenden Leichen gelingt uns das nicht.
***
Mein Vater / meine Mutter zanken seit drei Stunden. Ich glaube nicht, dass er sie umbringen wird, wie er droht. Unser Vorgarten wäre zu klein für eine Leiche.
***
Sie veröffentlichten ein Foto seiner Leiche auf Facebook. Der Leiche meines kleinen Bruders.
Und nachdem wir ihn nirgends finden konnten, druckten wir das Foto aus,
wuschen es, wickelten es in ein Tuch und begruben es auf dem Familienfriedhof.
***
Die Mörsergranaten drücken die Tür der Dachterrasse auf, gleiten die Treppe hinab,
fressen den Kühlschrank leer, dann die Küche, dann das ganze Haus, bis sie zum Platzen voll sind.
Dann kommen die Männer vom zivilen Luftschutz,
ziehen unsere Leichen aus ihren Bäuchen und werfen uns auf unsere Nachbarn.
***
Wir stehen einander gegenüber und hieven Leichen auf die Wagenladefläche; du redest über ihr Gewicht, über die Intensität ihres Gestanks und lange noch über das Aufsammeln verstreut herumliegender Körperteile, während mein Blick eine blinde Mündung fixiert, in die ich mit einem Auge hineinsehe und durch die ich meine schlafende Frau untersuche:
Atmet sie noch?
Ich lenke das Auto wie ein verbrennendes Gebäude, das einsam erlischt.
Selbst Feuer stirbt schneller, wenn man ihm keine Beachtung schenkt.
Wenn der Polizist dich durchsucht, sobald du den Markt betrittst, gibt er dir das Gefühl, du bist ein
Terrorist.
Wenn du mit deinen Augen den Stacheldraht durchdringst, der dein Haus von der Straße abgrenzt,
durchdringst du ihn als Terrorist.
Jedes Mal, wenn du neben den Betonklötzen vor deinem Arbeitsplatz entlangläufst,
läufst du dort als Terrorist.
Jedes Mal, wenn du deinem Vermieter die Miete übergibst, nimmt er sie entgegen
wie von einem Terroristen.
Und wenn du mit deinen Kindern fernsiehst,
kannst du deinen Terrorismus aus den Mündern der anderen hören.
Und wenn du deinen Bruder im Gefängnis besuchst, checkt das Wachpersonal im Computer deinen Namen, vielleicht bist du ja einer, nach dem sie fahnden, oder gar ein Terrorist.
Und während du dein Motorrad auf dem Gehweg parkst,
denkt der Besitzer des Ladens, dein Motorrad ist sprengstoffbeladen und du ein Terrorist.
Wenn du mit deiner Frau zum Orthopäden gehst,
musst du allein vor der Praxis warten wie ein Terrorist.
Voll Terrorismus kaufst du deinen Whisky
und kriechst auf den Augenspießen der anderen von dannen.
Ich schlucke meine Terrorismuspille täglich, morgens, mittags und abends, immer nach dem Essen, wie der Apotheker mir
empfohlen hat – der Hundesohn.
Ausgestreckt auf dem Bauch,
meine Hände hinten gefesselt,
ziehen eure Militärstiefel ihre Kreise.
Ihr macht noch einen Soundcheck
und stellt die Menschen im Halbkreis auf.
Es war viel die Rede von Allah, Mohammad u.Ä. in der Ansprache,
die Abu Abdullah al-Muhadschir gehalten hat.
Ich hätte so gern gesehen,
welche Farbe das Bajonett hatte,
und wie scharf seine Klinge war,
und mit euch meinen Kopf getragen
und gefeiert.
***
Er beugte sich hinunter,
drückte den Messergriff in seiner Hand, die freidrehte, wie ein im Schlamm steckendes Auto
das nicht von der Stelle kommt.
***
In der Nacht
laufen die Strommasten
mit den abgeschnittenen Köpfen zu den Körpern,
nachdem diese von Füßen herumgereicht wurden
und von amerikanischen Bajonetten
und Fliegen.
***
Das Bajonett am Hals
kommt und geht
wie eine feuchte Streichholzschachtel,
mit der sie versuchen, den Herrn des Holzes zu entflammen …!
***
Er ist weder kugel-
noch kreisförmig,
noch feucht,
noch leicht,
noch abgetrennt.
Und ich meine den Kopf, der in deiner Hand rotiert.