Über das Buch

Welche Rolle spielen die Klassiker heute? Rüdiger Safranski im Gespräch mit Michael Krüger und Martin Meyer

Goethe und Schiller, Hölderlin und Nietzsche: Wie steht es um die Klassiker? Wie bewähren sie sich in einer Zeit, die einstige Gewissheiten unserer Kultur radikal in Frage stellt? Welche Rolle spielen sie noch auf dem Theater, für die private Lektüre? Fragen, die man am besten Rüdiger Safranski stellt. Seit seiner E.-T.-A.-Hoffmann-Biographie von 1984 ist es auch sein Verdienst, dass sich eine große Öffentlichkeit mit Leben und Werk literarischer und philosophischer Klassiker auseinandersetzt. Nun hat er sich mit seinem langjährigen Verleger Michael Krüger und dem Publizisten Martin Meyer zu einem Gespräch getroffen, das auch um die Frage kreist, welche Rolle die Klassiker in unserem Leben spielen.

Rüdiger Safranski

Klassiker!

Ein Gespräch über die Literatur und das Leben mit Michael Krüger und Martin Meyer

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Herkunft, Kindheit, Schulzeit

Studium in Frankfurt und Berlin

Rote Zelle Germanistik

Berliner Hefte, E. T. A. Hoffmann

Fragen des Kanons

Deutsche Schicksale, deutsche Kultur

Wie schreibt man eine Biographie?

Standortbestimmungen

Herkunft, Kindheit, Schulzeit

Michael Krüger: Wir fangen bei der Geburt an.

Martin Meyer: Oder noch besser bei der Zeugung.

Rüdiger Safranski: Bei der Zeugung, ja, ja, genau.

MM: Die erste Frage kann, ja muss dann doch lauten: Wie kommt es, dass einer, der nach dem Krieg in einer kleinen württembergischen Provinzstadt geboren wurde, wo es wahrscheinlich nicht groß um Literatur ging und auch sicher kaum um Philosophie, sein Leben später dem großen und erhabenen Narrativ des deutschen Geistes um 1800 widmet?

RS: Wir Safranskis sind ja eine Flüchtlingsfamilie, auf einmal waren wir in Württemberg, in Rottweil, in einer an sich katholischen Stadt, und um uns herum, in den Flüchtlingskreisen, sind alle evangelisch, davon ziemlich viele Pietisten. Weil sie so streng waren, nannte man sie später in der Zeit des Vietcong Pietcong. Ich wurde in Rottweil geboren, war sogar noch von einem Bombenangriff betroffen. Da fiel dann zwar keine Bombe, aber ich wurde als kleines Baby in den Bombenkeller geschafft und habe alles heil überstanden, außer einem Ohrschaden, den ich seitdem habe: Das ist gewissermaßen ein Kriegsschaden, dass ich auf einem Ohr schlecht höre. Gezeugt worden bin ich aber in Königsberg während eines illegalen Fronturlaubs meines Vaters, wie ich später herausbekommen habe. Er ist von der Ostfront an die Westfront versetzt worden, unterwegs in Königsberg hat er mich wohl eilig gezeugt, denn er musste am nächsten Tag wieder weiter. Meine Mutter floh im Sommer 1944 aus dem noch unzerstörten Königsberg mit meiner kleinen Schwester, der Großmutter und mit mir in ihrem Leibe. Ich bin also pränatal vor den Russen geflohen. Wir gehörten zu den Heimatvertriebenen. Es gab ein schönes Buch in den frühen zweitausender Jahren, Kalte Heimat, da hat Andreas Kossert untersucht, wie eigentlich die Integrationsgeschichte der Flüchtlinge im Nachkriegsdeutschland abgelaufen ist. Als Kind bekam ich davon doch einiges mit, vor allem den Umstand, dass zu Hause Hochdeutsch geredet wurde und in der Schule Schwäbisch.

MK: Wo kam denn die Familie deines Vaters her?

RS: Die Vorfahren meines Vaters verlieren sich irgendwo in den polnischen Sümpfen im 19. Jahrhundert, mehr wissen wir nicht. Interessanter ist die mütterliche Linie. Die hießen Schleiminger und lebten im 18. Jahrhundert noch im Salzburgischen, bei Schladming. Sie waren Protestanten und wurden von dem offenbar ziemlich fanatischen, katholischen Erzbischof verjagt. Konfessionelle Säuberung eben. Der Preußenkönig, der Vater von Friedrich dem Großen, nahm sie Anfang des 18. Jahrhunderts in Ostpreußen auf. Dort siedelten sie und wurden Bauern, aber ein Teil ist aus Heimweh wieder zurückgekehrt, sie hielten das flache Land dort nicht aus. Verwandte von uns haben herausbekommen, dass diese Schleimingers aus dem Salzburgischen dorthin einst geflohen waren aus den verwüsteten Landstrichen Schwabens während des Dreißigjährigen Krieges. Mit der Flucht der Familie 1944 aus Ostpreußen nach Schwaben schließt sich also ein Kreis über drei Jahrhunderte hinweg. Flucht und Vertreibung — der Wahnsinn der europäischen, der deutschen Geschichte.

Als kleiner Junge merkte ich durchaus, dass wir zu einer Diaspora gehörten. Zwar hatte ich sonst wenig Probleme mit meinen Schulkameraden, ich war eigentlich vollständig integriert. Aber dann beobachtete ich bei meinen Eltern, dass sie meist mit den Heimatvertriebenen zusammen waren und von der Restbevölkerung in Rottweil kaum angenommen wurden. Es gab eben Vorbehalte. Ich persönlich habe das in der Schule erlebt. Wenn das Klassenbuch angelegt wurde, musste jeder seinen Namen sagen. Da meldeten sich dann die Schmelzles und Häberles und wie sie alle regionsüblich hießen, und dann kam der Safranski. Wie heischt du? Safranski? Gang amol an die Tafel und schreib des auf. An dieser Sonderbehandlung, wenn ich als Einziger an der Tafel meinen ungewöhnlichen Namen aufschrieb, bemerkte ich, dass da etwas Besonderes vorlag.

MK: Und welchen Beruf hatte der Vater?

RS: Der Vater war Jurist, hatte in Königsberg studiert, kam aus einer kleinbürgerlichen Familie, alles wurde zusammengekratzt, damit er studieren konnte. Er hatte den Referendar gemacht und wollte dann aber nicht in den nationalsozialistischen Staatsdienst. Das habe ich erst viel später herausbekommen. Er war kein Widerstandskämpfer, doch da er den Staatsdienst vermeiden wollte, bereitete er sich darauf vor, in einer Anwaltskanzlei zu arbeiten. Das war kurz vor dem Krieg.

MM: Wo spielte sich das ab?

RS: In Königsberg. 1938 wurde er zum Wehrdienst eingezogen, weil er nach dem Referendariat und ohne Staatsdienst ja »frei« war. Er war dann im Krieg und zwei Jahre in französischer Kriegsgefangenschaft. Als er wieder nach Hause kam, hatte er das Problem, dass er nicht im Staatsdienst gewesen war — man stellte zuerst diejenigen ein, die drinnen geblieben waren. Er musste eine Familie ernähren, und so hat er dann erst einmal in der Fabrik gearbeitet, und dann hat er umgelernt, eine kaufmännische Ausbildung absolviert und später dann als Prokurist gearbeitet. Es gab also neben der Deklassierung als Flüchtling auch noch eine berufliche Deklassierung. Die habe ich gespürt, wenn in der Schule gefragt wurde, was der Vater für einen Beruf habe. Ich sollte antworten, schärfte mir meine Mutter ein, »Jurist«, weil das besser klingt. Auf die Nachfrage, was denn für ein Jurist, konnte ich dann nicht antworten. Sehr peinlich!

MM: War die Mutter auch berufstätig?

RS: Ja, sie war bei der Post. Dass die Mutter berufstätig war, kam ja eher selten vor, das musste man rechtfertigen.

MM: War sie dort in der Verwaltung beschäftigt?

RS: Ja, und sie hat das wohl ganz gerne gemacht. Um den Haushalt und die Kinder, meine Schwester und mich, kümmerte sich eine Großmutter, die Mutter meines Vaters, und deswegen konnte meine Mutter arbeiten. Und mit dieser Großmutter kommen wir schon auf die Spur der geistigen Prägung. Diese Großmutter war nämlich richtig pietistisch. Das war nicht dieser schwäbische Pietismus, sondern der womöglich noch strengere ostpreußische. Wenn ich sie mir heute auf alten Fotos anschaue, muss ich an den späten Beethoven denken, so sah sie aus. Sie war ja nun auch schon alt, aber doch noch sehr rüstig und hat uns mit allen Mitteln in diese pietistischen Kreise hineingedrückt. Am Sonntag traf man sich immer am Nachmittag um zwei Uhr bei den Pietisten zur Gebetsstunde. Da saßen dann in einem kleinen Gemeindesaal drei, vier ältere Männer, manche mit Bart, und legten das Wort Gottes aus. Dreißig, vierzig Leute, meistens auch ältere Leute hörten ihnen zu. In meiner Erinnerung handelte es sich oft um düstere Themen, Offenbarungen Johannis und so weiter, sehr apokalyptisch. Auf mich wirkte es einschläfernd. Das Ganze hatte so etwas Sedierendes, etwas Beruhigendes. Ich denke jedenfalls nicht mit Schrecken daran, nur war es eben so, dass der Weg am Sonntag um zwei Uhr von den Safranskis zu diesem Ort, wo die Bibelstunde stattfand, an eine Gabelung führte. Dort musste man rechts abbiegen, und genau an dieser Abzweigung war das Kino. Und das Kino hatte am Sonntag immer um zwei Uhr Jugendvorstellung. Wenn wir mit der Großmutter kamen, standen meistens ein paar meiner Klassenkameraden vor dem Kino, aber wir bogen eben rechts ab, statt Kino Bibelstunde.

MM: Das dürfte bei den Kameraden aber eher Mitleid erzeugt haben …

RS: Na ja, eher vielleicht Spott. Es gab eben zwei Wege, wie das meine Großmutter und ich dann auch sahen, der weltliche und der geistliche, der von ihr so genannte »ernste«. Hier also der Ernst, dort das Lotterleben des Irdischen, des Weltlichen und so weiter. Dass es diese beiden Welten gibt, das war entscheidend. Nun muss ich aber sagen, dass meine Mutter ganz und gar weltlich war, eher eine Frohnatur, die auf Vergnügen aus war.

MM: Dann folgere ich messerscharf: Das Fröhliche stammt von Mutters Seite.

RS: Ja, das habe ich wohl von meiner Mutter. Auch der Vater hatte mit den Pietisten nichts am Hut. Er sagte jedem, der es hören wollte, er sei ein Heide. Ich erlebte nun diese beiden Welten nicht als eine zerreißende Spannung. Meine Schwester, die etwas älter ist, die vielleicht auch noch stärker unter dem Einfluss meiner Großmutter stand, hat das eher als Konflikt erlebt. Ich konnte die eine Welt mit der anderen offenbar ganz gut ausbalancieren. Sie relativierten sich wechselseitig.

MK: Und wie lange musstet ihr das aushalten?

RS: Bis meine Großmutter 1961 starb. Da war ich fünfzehn. Mit ihrem Tod verschwand die pietistische Welt, doch die »geistliche« Einvernahme hörte nicht ganz auf, denn ich war auf einem humanistischen Gymnasium mit zahlreichen katholischen Theologieanwärtern, Internatsschüler der Eucharistiner und Franziskaner. Eine hervorragende Schule übrigens, ich habe dort viele Anregungen bekommen. Hebräisch war fakultativ, Lateinisch, Griechisch Pflicht. Englisch lief nebenher und wurde so unterrichtet, als sei es auch eine tote Sprache. Die Schule war demnach stark humanistisch-theologisch geprägt. Das Vergangene in jeder Form wurde sehr gepflegt.

MK: Aber es war ein staatliches Gymnasium, ein normales staatliches Gymnasium.

RS: Ein normales staatliches Gymnasium mit sehr guten Lehrern. Inmitten der katholischen Theologieaspiranten entschied ich mich dann selbst schließlich auch für die Theologie, die evangelische, versteht sich.

MM: Nochmals kurz zu den zwei Wegen. Im Religionsunterricht wurde damals und noch länger gelehrt, dass sich der Mensch unter Anleitung Gottes für das Gute, mit der Verführungskraft des Teufels hingegen für das Böse entscheiden könne. Wie reagierte da der junge Rüdiger — etwa wenn ihm die weltlichen Attraktionen wie das Kino mit einem Plakat von Elke Sommer näherrückten?

RS: Ja, ja, doch ich hatte das Gefühl, ich gehöre zu zwei Welten, zu zwei Sphären. Ich war mit meiner Großmutter bei den Pietisten und begleitete die alten Leute dort auf dem Harmonium. Aber ich war natürlich auch in der anderen Sphäre. Nicht nur als Zaungast. Das Kino zumal wurde für meine intellektuelle Entwicklung höchst bedeutsam. Es gab damals den sogenannten Stadtjugendring, eine Art Jugendparlament und Jugendkabinett mit einem kleinen Budget für Veranstaltungen. Ich war der Filmbeauftragte. Meine Aufgabe war, für einen Mittwoch in jedem Monat einen Film auszusuchen für eine preisermäßigte Vorführung. Ich musste also die einschlägigen Kataloge studieren, und was ich dann auswählte, war fast immer sogenannte Filmkunst, für die ich maßlos entflammt war.

MM: Intellektuell.

RS: Das war intellektuell. Wir schreiben das Jahr 1962, da kam die Neue Welle aus Frankreich, schon die frühen Truffaut-Filme und die Godard-Filme, oder auch die alten Carné-Filme. Da gab es dann Bücher, mit denen habe ich mich kundig gemacht. Das Ganze war eine recht erfolgreiche Geschichte. Allerdings hatte ich zu oft untertitelte Filme im Programm, deshalb ist mir irgendwann das junge Publikum aufs Dach gestiegen. Carné beispielsweise liebte ich über alles, dessen Filme gab es nur untertitelt, etwa den legendären Film Die Nacht mit dem Teufel, eine Troubadour-Geschichte, unwahrscheinlich schön. Heute ganz vergessen. Für meine Rottweiler aber denn doch zu ambitioniert. Ich versöhnte sie mit einem anderen legendären Film, Jazz an einem Sommertag, Das Jazzfestival von Newport, als sie alle noch da waren, die Mulligans, Brubecks, Petersons. Mit diesem Sound und Swing entließ ich die Rottweiler Schüler dann in die Ferien.

MM: Das zeigt nun aber, dass du schon damals Führungsfunktionen wahrnehmen konntest.

RS: In bescheidenem Maße, kann man sagen. Das hat mir auch wirklich großen Spaß gemacht. Gewiss wollte ich in Sachen »Filmkunst« auch ein wenig missionieren, aber hauptsächlich ging es mir um die Entdeckung einer neuen, sehr anziehenden Welt. Die anderen wollte ich einfach mitnehmen. Dabei habe ich viel gelernt.

MK: Zurück zur Schule. Das war also ein Gymnasium mit gemischten Klassen, Buben und Mädchen.

RS: Gebremst gemischt. Wir hatten vier Mädchen in der Klasse, mehr nicht. Am Ort war auch noch ein reines Mädchengymnasium, das Droste-Hülshoff-Gymnasium, das nannten wir dann trostloser Hühnerhof.

MM: Hmmm …

RS: Ich war an meiner Schule sehr glücklich. Die sogenannten dumpfen fünfziger, frühen sechziger Jahre? Nicht bei uns an der Schule. Ein neuer Lehrer, eine intellektuelle Kapazität, hatte doch tatsächlich den Mut, Anfang der sechziger Jahre, zum Attentat des 20. Juli, in der Aula einen großen Festakt zu veranstalten. Das war damals noch sehr ungewöhnlich. Es gab ungefähr zur selben Zeit auch eine Extravorführung des Filmes Mein Kampf von Erwin Leiser. Die Schüler waren fast verpflichtet, ihn zu besuchen. Unser Geschichtslehrer hat einen sehr ambitionierten Geschichtsunterricht gemacht, zum ersten Mal bemerkte ich, dass sich Geschichte nicht nur nacherzählen, sondern auch durchdenken lässt. Das war überhaupt ein eindrucksvoller Mann. Ein katholischer Intellektueller, würde ich heute sagen. Er brachte zu jeder Unterrichtsstunde ein Blatt Papier mit, eine durchgängige Darstellung des jeweils Behandelten. Er schrieb nämlich gerade an einem Buch über die Geschichte als Drama der Säkularisierung, darüber also, wie die alte Ordnung Europas sich auflöste mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts als Folge davon.

MM: Der Abfall von Gott, der Sturz in die Weltlichkeiten.

RS: So sah er es, doch es war nicht einfach kirchenfromm. Das waren ungeheure Dimensionen, die sich da auftaten. Was alles untergeht, wenn die überwölbende Sinnglocke von Kirche und Geist verschwindet. Die Darstellung hatte Format, das war vielleicht einseitig, doch stringent gedacht, das merkte ich schon damals. Ich habe mir diese Papiere aufbewahrt und sie vor einiger Zeit wieder einmal angeschaut und war immer noch beeindruckt.

MM: Zwischenfrage: Du bewahrst solche Dinge auf — bist du ein archivalisches Temperament?

RS: Nein, eigentlich bin ich das nicht. Aber diese Blätter waren bedeutend, das ahnte ich, und deshalb habe ich sie aufbewahrt. Das war Geschichte als intellektuelle Herausforderung, dargeboten von einem wirklich leidenschaftlichen Lehrer. Übrigens nahm dessen späteres Leben einen tragischen, fast romanhaften Verlauf. Er liebte seine Arbeit sehr, wurde dann Rektor an der Schule, hatte aber einen ganzen Stall voller eigener Kinder und einen Drachen zur Frau.

MM: Das kommt ja tatsächlich vor.

RS: Bei ihm lief das dann so, dass er sich nicht mehr nach Hause traute und in seinem großen Rektoratszimmer übernachtete, zuerst das eine oder andere Mal, dann hauste er fast ständig dort mit Anzeichen von Verwahrlosung. Den mussten sie dann richtig abtransportieren. Den Professor Unrat im Roman haben sie aus der Kneipe geholt, meinen Geschichtslehrer holten sie aus dem Rektorat, wo er sich verschanzte. Traurig. Er starb dann auch bald.

MK: Sag noch ein Wort zu den Mitschülern. Kann man sich die Schule vorstellen wie ein Stift von lauter Hochbegabten, oder war das eine ganz normale Schule? Was ist aus deinen Mitschülern geworden?

RS: Sehr viele kamen aus diesen katholischen Internaten. Die Kirche durchkämmte das Land auf der Suche nach Begabten, doch zumeist Unbemittelten, um ihren Nachwuchs zu rekrutieren. Das Niveau an der Schule war ziemlich hoch. Es gibt immer noch Klassentreffen. Deshalb weiß ich, dass aus recht vielen etwas geworden ist. Mit manchen stehe ich noch in Verbindung, einer beispielsweise ist Professor für katholische Theologie in Münster, immer noch Franziskaner. Wenn wir uns in den ersten Jahren nach dem Abi trafen, holte er aus seiner braunen Kutte einen Obstschnaps hervor, er kam aus dem Schwarzwald. Ich hatte damals noch einen anderen Freund, Norbert, der gehörte nun nicht zu dieser eher katholisch geprägten Mitschülerschaft, sondern der war aus Frankfurt gekommen und brachte skeptischen, aufklärerischen Geist mit, sehr elitär, auch von oben herab. Er rezitierte Stefan George, mokierte sich aber auch über ihn, im Stil von Arno Schmidt, wie ich später bemerkte. Dieser Freund war ein wenig älter und hat nicht nur mich verzaubert. Er öffnete eine neue Welt. Er war mein »großer Meaulnes«, er glich ein wenig jener rätselhaften, lebensverwandelnden Titel-Figur aus dem wunderschönen gleichnamigen Roman von Alain-Fournier. Zu Norbert hatte ich ein sehr intensives, erregendes Verhältnis. Es wurde aber schwierig, als wir mehr und mehr intellektuell konkurrierten und er außerdem eine Freundschaft mit meiner Schwester begann, was unsere Beziehung noch zusätzlich verkomplizierte. Er war sehr wichtig für meinen Bildungsgang; von ihm hörte ich zum ersten Mal von Erich Kästners Roman Fabian. Das war eines seiner Kultbücher. Von Norbert hörte ich auch den Namen Adorno. Ein Fabelwesen. Er hatte ihn mit einem großen Strohhut im Schwimmbad gesehen.

MM: Im Frankfurter Schwimmbad. In der Lebenswelt der Durchschnittsvergnügungen …

RS: Adorno im Schwimmbad. Dann hörte ich ihn auch im Südwestfunk, in der Sendung »Die Aula«, am Sonntagvormittag, das war kulturelles Hochamt.

MM: Um welche Themen ging es?

RS: Über Gott und die Welt, wie immer in dieser Sendung, so will es mir heute vorkommen. Unvergesslich auch Karl Barth, ebenfalls in der »Aula«, vielleicht der größte Theologe des 20. Jahrhunderts, seine berühmten Gefängnispredigten. »In der Welt habt ihr Angst, ich aber habe euch bei meinem Namen gerufen, ihr seid mein«, so begann er, sehr schweizerisch.

MM: Der große und gestrenge Basler Theologe.

RS: Ja, Basel, wo auch Jaspers nach 1945 lehrte, einen Stock darüber. Auch ihn hörte ich ergriffen in der »Aula«. Und auch das legendäre Gespräch Adorno/Gehlen.

MM: Wunderbar, ja, ein seltsamer Brückenschlag über die politischen Lager hinweg.

RS: Unvergesslich, wie der Herrenreiter Gehlen, sonor und zynisch, begann: »Herr Adorno, wir sind doch bestimmt einer Meinung darin, dass der Mensch von seiner Freiheit überfordert wird.« Und dann Adorno, unendlich beredt, präzise, verschlungen, seinem Kontrahenten recht gebend und dann auch wieder nicht. Man wurde ganz schwindlig dabei. Mit der »Aula« jedenfalls war der Sonntag gerettet. Eine Wundertüte von Anregungen. Ein Echoraum ohnegleichen. Man hörte die Geister wie von weit her und sah sie doch vor sich. Hier muss ich noch etwas von meinem Deutschlehrer erzählen, der übrigens ein ausgebildeter Philosoph war. Der kam zu uns als Referendar und hat uns außerhalb der normalen Schulzeiten einen Extra-Literaturkurs angeboten. Dort habe ich übrigens zum ersten Mal Kafka gelesen. Ich schrieb auch meine Hausarbeit über Kafka. Dieser Lehrer hatte bei Heidegger studiert. Dazu muss man wissen, Heidegger kommt aus Meßkirch, das ist nicht weit von Rottweil, also meine heimatliche Region. Der Lehrer hatte einige der späten Privatvorträge von Heidegger gehört. Die kleine Schar der Hörer, so erzählte er, sitzen schon zusammen in einem Raum, fast nur eine Stube, es ist Winter, sie warten. Heidegger ist noch nicht da. Verspätet öffnet sich die Tür, und aus der Winternacht tritt Heidegger, schneeüberstäubt, nimmt den Mantel ab, schüttelt ihn aus, im Nu ist der ganze Raum von einem Schneegestöber erfüllt. Und dann fängt Heidegger an, er spricht über Hölderlin. Heidegger kommt aus der Winternacht, bringt ein Schneegestöber mit und spricht über Hölderlin. Das war zunächst mein Bild von Heidegger. Es kontrastierte mit dem Bild von Adorno im Schwimmbad mit Strohhut.

MM: Die Herren wussten freilich auch, wie sie sich selber inszenierten. — Noch eine andere Frage: Warst du ein guter Schüler, wolltest du ein guter Schüler sein?

RS: Ich war am Anfang ein durchschnittlicher Schüler, war dann aber in den letzten drei Jahren ziemlich gut. Da hatte ich in Deutsch, Geschichte, Religion und so weiter lauter Einsen. Mit Mathe hatte ich immer ein Problem, Latein war in Ordnung, Englisch grausig. Wo mich etwas fesselte, da war ich wirklich gut.

MK