Adrian McKinty

Alter Hund, neue Tricks

Thriller

Aus dem Englischen von
Peter Torberg

Suhrkamp

Hang on St. Christopher with the hammer to the floor,
Put a high ball in the crank case, nail a crow to the door,
Get a bottle for the jockey, gimme a 294,
There’s a 750 Norton bustin down January’s door …

Tom Waits, Hang On St. Christopher, 1987

Der Mensch vergisst, dass er ein Toter ist, der mit Toten verkehrt.

Jorge Luis Borges, Das Sandbuch, 1977

1

Gehe nie nach Belfast im Juli

Die Buchhandlung war gesteckt voll. Alle acht Stühle waren besetzt, an der hinteren Wand standen weitere sechs Personen. Ciaran Carson kam mit einer Tasse Tee, ein paar DIN-A4-Blättern und einem Gedichtband aus einem Nebenraum. Er trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine rote Krawatte. Er war ein schlanker, selbstbewusster Mann mit kurzen schwarzen Haaren und ovaler Brille. Er sah aus wie ein Gelehrter der alten Sprachen, und das war er natürlich auch. Er sagte Guten Abend und begann mit seinem ersten Gedicht.

»Als die Bereitschaftspolizei aufmarschierte, regnete es plötzlich Ausrufezeichen. Muttern, Schrauben, Nägel, Autoschlüssel. Ein Satz kaputter Schrifttypen. Und die Explosion selbst – ein Asterisk auf der Landkarte …«

Die Veranstaltung lief sehr gut. Seamus Heaney, Derek Mahon und Paul Muldoon saßen im Publikum, und auch alle anderen waren entweder ernsthaft poesieverrückt oder Möchtegerndichter. »Hier drin ist es ja so wie damals, als die Sex Pistols in der Lesser Free Trade Hall in Manchester gespielt haben«, wollte ich zu jemandem sagen, aber keiner von diesen Leuten hätte verstanden, worüber ich da laberte.

Carson las aus The Irish for No und Belfast Confetti und aus seiner hervorragenden Übersetzung der Táin Bó Cúailnge.

Die Fragerunde wurde eröffnet, doch befiel uns die übliche peinliche Zurückhaltung der Einwohner von Ulster.

»Worin bestehen die Schwierigkeiten bei der Übersetzung von irischen Versen ins neuzeitliche Englisch?«, hörte ich mich fragen, und nachdem mir das entfleucht war, war ich ziemlich erleichtert, von Carson und dann Heaney nur freundliche Antworten zu erhalten, dazu eine lustige und recht gelehrte Bemerkung von Muldoon.

Ich ließ mir ein paar Bücher signieren und trat zufrieden auf die Ormeau Avenue hinaus.

Es war noch früh, erst sieben Uhr abends, und meine Fähre ging um Mitternacht. Vielleicht noch ein ruhiges Bier in der Crown Bar oder in Kelly’s Cellars? Oder Kino?

Ich fand eine Telefonzelle und rief Beth in Portpatrick an.

»Hi, wie geht es dir?«, fragte sie.

»Gut. Ich bin zu dieser Lesung gegangen.«

»War es gut?«

»Sehr gut.«

»Und was machst du jetzt?«

»Ich schlage nur die Zeit tot. Ich nehme die Fähre um Mitternacht.«

»Wie war’s denn auf dem Revier?«

»Richtig, richtig langweilig.«

»War ja nicht anders zu erwarten.«

»Ja.«

Ich ging jetzt sechs Tage im Monat zur Arbeit, das Minimum, das man brauchte, um nach der Pensionierung die vollen Bezüge zu erhalten. Normalerweise blieb ich drei Tage, machte dann zwei Wochen frei und war Ganztags-Dad in Schottland, um danach die Fähre zu nehmen und weitere drei Tage zu arbeiten. Bis vor einem Jahr war die langweilige Büroarbeit nur meine Tarnung gewesen, weil ich in Wahrheit der Sachbearbeiter für einen Agenten der IRA bei der Polizei war, den wir in einen Doppelagenten umgedreht hatten: Er fütterte die IRA mit falschen Informationen und versuchte, Hinweise für uns aufzuschnappen. Allerdings hatte sich diese Mehrfachbelastung von Assistant Chief Constable John Strong gerächt. Er hatte in seinem Hinterhof einen Birnbaum mit der Kettensäge gestutzt und dabei einen Herzinfarkt erlitten. Zwar hatte die Kettensäge ihn nicht umgebracht, dafür aber eine Reihe seiner geliebten Gartenzwerge dahingerafft, bevor die Kettenbremse auslösen konnte.

Eine Stunde lang hatte er nach Luft schnappend zwischen den abgetrennten Köpfen seiner Gartenzwergarmee in der Sommerhitze gelegen, bis er starb; ausgleichende Gerechtigkeit, wenn es nach jenen ging, die von seinen Verbrechen und seinem Geheimnisverrat gewusst hatten.

Er war im Beisein einer Ehrenwache der Royal Ulster Constabulary und mit allem Brimborium zu Grabe getragen worden; ein paar Tage später hatte eine kleine Gruppe maskierter IRA-Leute für »einen der Unseren« Salut über seinem Grab abgefeuert.

Nach Strongs Tod hatte sich der falsche Papierkram in echten Papierkram verwandelt. Als Teilzeitpolizist durfte ich keine Kriminalfälle mehr bearbeiten, was bedeutete, dass ich bis zum glorreichen 31. August 1994, meinem letzten Arbeitstag, in der Verwaltung arbeiten und gelegentlich als Verkehrspolizist eingesetzt werden würde; danach konnte ich nach zwanzig Dienstjahren bei der RUC in Pension gehen. Und wenn ich es irgendwie lebend bis zum 31. März 1995 schaffen sollte, würde ich die Bezüge erhalten, die mir nach voller Dienstzeit zustanden.

Wir würden ja sehen.

Rein instinktiv wollte ich so bald wie möglich den Dienst quittieren.

»Langweilig finde ich gut«, meinte Beth. »Langweilig höre ich gern. Langweilig heißt, dass du nicht bei Sondereinsätzen oder zur Fußstreife an der Grenze eingesetzt wirst.«

»Nichts dergleichen. Dafür habe ich ein Attest. Meine Knie sind zu kaputt für Sondereinsätze und Fußstreife«, entgegnete ich.

»Gehst du heute Nacht aufs Revier?«

»Ja. Aber nur kurz. Ich muss meinen Stundenzettel abgeben.«

»Grüß Crabbie und Alex von mir.«

»Mach ich, falls sie da sind. Wie geht’s Emma?«

»Bestens.«

»Gibst du sie mir?«

»Sie ist schon ins Bett gegangen. Aber ich kann sie ja wecken.«

»Nein, nein. Lass die Kleine schlafen.«

»Soll ich auf dich warten?«

»Nein, geh ruhig schlafen. Ich bin leise, wenn ich nach Hause komme«, sagte ich. Die neue SeaCat-Fähre von Larne nach Stranraer in Schottland brauchte nur eine Stunde über den Nordkanal, wenn also alles gutging, würde ich um halb zwei zu Hause in Portpatrick im Bett sein.

»Okay, ich liebe dich, Sean … bye!«

»Ich liebe dich auch.«

Ich legte auf und ging zum Kino an der Great Victoria Street.

Es handelte sich um ein Multiplex mit einem großen Angebot. Merkwürdigerweise gehörten zu diesem Angebot gleich vier Filme mit irischen Themen: In einem fernen Land mit Tom Cruise und Nicole Kidman; Die Stunde der Patrioten mit Harrison Ford; Cal mit Helen Mirren und The Crying Game mit Stephen Rea. In einem fernen Land war die Geschichte eines hin- und hergerissenen irischen Rebellen, der nach Amerika flieht, um den bösen Briten zu entkommen; Die Stunde der Patrioten handelte von einem hin- und hergerissenen irischen Rebellen, der sich mit Harrison Ford und den bösen Briten anlegt; Cal handelte von einem hin- und hergerissenen irischen Rebellen, der einen bösen Briten umbringt und sich in dessen Freundin verliebt, und The Crying Game handelte von einem hin- und hergerissenen irischen Rebellen, der einen bösen Briten umbringt und sich in dessen Freundin verliebt, die sich dann als Mann entpuppt. The Crying Game war der aus künstlerischer Sicht interessanteste Film, allerdings war ich selbst in eine Honigfalle der IRA getappt, deshalb ging mir die Geschichte etwas zu sehr an die Nieren.

Also beschloss ich, in der Crown Bar in Ruhe ein Glas zu trinken.

Ein gut eingeschenktes Pint Guinness im abgewetzten Hinterzimmer der wunderbaren Crown Bar in Belfast ist für viele der Inbegriff vom Himmel auf Erden. Ich durchlief allerdings gerade das bei mir übliche existentielle Stadium, das mich immer nach Abschluss meiner paar Diensttage überkam, und war keineswegs dem Ort angemessen entspannt.

Es war das Schicksal so vieler langgedienter Polizisten, einen Erlöser-Komplex zu entwickeln und die jugendlichen Versuchungen, die missionarischen Reisen, die Offenbarungen und schließlich das Martyrium zu durchlaufen. Ich war offenkundig im Stadium des Martyriums angelangt. Mit dem Ableben des von mir geführten Agenten war ich zu einem nutzlosen Teilzeitpolizisten in der Reserve geworden. Papierkram, Kleinscheiß und Revierdienst, so lauteten die Strafen, die überqualifizierten Teilzeitpolizisten drohten, welche nur ein paar Tage im Monat zum Dienst kamen.

Ich saß also gemütlich hinten rechts in der Crown Bar, als ich das unmissverständliche Zischen von Molotow-Cocktails hörte, die durch die Luft flogen und beim Aufprall auf der Straße in einer Stichflamme aus Benzin explodierten.

Ich stand auf und trat an die lange Theke aus rotem Granit. »Was ist denn los, John?«, fragte ich den bulligen Barkeeper.

»Irgendwelche Unruhen. Die Polizei hat den Marsch des Oranier-Ordens über die Ormeau Road gestoppt, also haben sie die guten alten Steine und Flaschen wieder herausgeholt. Spiel und Spaß, du verstehst?«

Und so ging es heutzutage in jedem Juli in Belfast zu.

Früher mal konnte der Oranier-Orden in Nordirland marschieren, wo er wollte, und die Polizei schützte den Marsch, doch in den letzten paar Jahren hatte sie sich bemüht, unparteiischer zu sein, und hatte nicht zugelassen, dass die Parade der Oranier durch die vorwiegend katholischen Teile von Belfast zog. Manchmal nahmen die Oranier und deren Sympathisanten die Umleitung ihrer traditionellen Marschroute gelassen hin, andere Male hingegen versuchten sie, die Straßensperre der Polizei zu durchbrechen, wogegen sich die Polizei wehrte, und schon gab es Unruhen. Häufig tauchten dann noch Wachmannschaften aus den katholischen Vierteln auf, um die Oranier anzugreifen, die Polizei steckte zwischen zwei Fronten, und dann griffen natürlich alle die Polizei an, wie immer.

Als Teilzeitinspector, der dienstfrei hatte, war es wohl meine Pflicht, nachzuschauen, ob ich helfen könnte, oder nicht?

Scheiß drauf.

Ich bestellte mir noch ein Pint Guinness und kehrte an meinen Platz zurück. Ich las die Gedichte von Ciaran Carson, die ich gekauft hatte, und einen neuen Versband von Paul Muldoon. Eine angenehme Art, eine Stunde zu verbringen: Guinness trinken, während sich die Polizisten und Randalierer draußen gegenseitig bewarfen.

Als ich mein Bier ausgetrunken hatte und die Crown Bar verließ, war es unheilvoll still draußen.

Polizei- und Armeehubschrauber schwebten über dem Westteil der Stadt, und überall hing der Qualm brennender Reifen und geklauter Fahrzeuge. In der Nähe des Kinos lag ein nagelneuer Mercedes stumpf und schmachvoll auf dem Dach. Herausgeputzte Männer in Sturmhauben und Jeans stolzierten über den Mittelstreifen auf der Great Victoria Street, Ecke Glengall Street.

Ich schaute mich nach der RUC um und entdeckte sie weit außerhalb des Unruhegebiets hinter einem Kordon aus Land Rovern an der Belfast City Hall. Dort standen mit glitzernden Schilden und Helmen die bis an die Zähne bewaffneten thebanischen Legionen auf den dürren Feldern von Leuktra.

Ich musste über diesen romantischen Einfall lächeln, doch war die Szene durchaus verstörend.

Wenn die Polizei dort hinten stand, wer kontrollierte dann die Straßen?

Das sollte ich bald herausfinden.

Ich ging zum mehrstöckigen Parkhaus neben dem Kino, stellte fest, dass die Sicherheitsschranke abgebrochen worden war; der Typ hinter dem Schalter war schon längst verschwunden, und offenkundig waren mehrere Fahrzeuge von der ersten Etage geklaut worden. Autodiebe auf der ganzen Welt liebten BMWs, deshalb war ich ziemlich erleichtert, meinen schwarzen 325i, Baujahr 1991, unversehrt vorzufinden. Ja, ich weiß schon, andauernd rede ich über den 3er BMW, aber dieses Monster brauchte von 0 auf 100 nur siebeneinhalb Sekunden und brachte es auf dem Motorway auf 240 km/h, und manchmal war es in schwierigen Situationen schon gut zu wissen, dass man auf dem Motorway 240 fahren konnte.

Ich schaute unter dem Wagen nach einer Quecksilberzündvorrichtung, fand keine und stieg ein.

Ich drehte den Schlüssel im Zündschloss, Motor und Radio gingen an. Aus den Lautsprechern kam Nirvana. Man kann ja über Nevermind sagen, was man will, ein schwaches Punkalbum mit Riffs, die nach Pixies, Rainbow und Boston klingen, aber es war gut, nach einem Jahrzehnt voller musikalischer Finsternis aus Synthesizern und Bubblegum-Pop mal wieder ordentliche Musik auf BBC Radio 1 zu hören. Zwar waren die meistverkauften Alben in Großbritannien immer noch die von Simply Red, Annie Lennox und Michael Bolton, aber es hatte schon was zu bedeuten, dass Nevermind in den USA Michael Jackson vom ersten Platz der Billboard Charts verdrängt hatte.

Nach einer halben Meile auf der Great Victoria Street stieß ich auf die erste Straßensperre der Paras. Ein Dutzend Männer mit Sturmhauben hatten brennende Reifen auf die Straße gelegt und hielten Fahrzeuge an, die nach Norden wollten. Sie trugen passende Jeansjacken und waren mit Aluminium-Baseballschlägern, Messern und Macheten bewaffnet, und mindestens zwei von ihnen hielten abgesägte Schrotflinten in den Händen.

Ich konnte nicht genau erkennen, was da vor sich ging, doch war es offenkundig. Die Paras befragten an der Straßensperre jeden Fahrer: Gefielen ihnen die Antworten, ließen sie ihn weiterfahren, wenn nicht, dann zwangen sie ihn auszusteigen, nahmen ihm den Wagen weg und ließen ihn zu Fuß nach Hause gehen.

Ich schaute mich um, ob ich wenden konnte, aber die Straße hinter mir war dicht.

Alle versuchten, die Stadt zu verlassen.

Polizei und Armee waren nirgendwo zu sehen.

Ich saß in der Klemme.

Handelte es sich um protestantische Paras und sie bekamen mit, dass ich Katholik war, würden sie mir befehlen auszusteigen und vielleicht versuchen, mich umzubringen. Handelte es sich um Männer der IRA und sie fanden heraus, dass ich ein katholischer Polizist war, würden sie mir befehlen auszusteigen und ganz bestimmt versuchen, mich umzubringen.

Belfast im Juli: eine Dichterlesung, ein gemütliches Pint von dem schwarzen Zeug, ein Lynchmob mit Baseballschlägern und Gewehren …

Der Wagen vor mir rollte auf die Straßensperre zu. Der beißende Gestank der brennenden Reifen drang durch die Lüftung.

Wahrscheinlich hätte ich aussteigen, eine Szene machen und den ganzen Haufen verhaften sollen. Und wenn ich einer dieser Bullen aus dem Fernsehen gewesen wäre, die sich immer auf dem Kreuzzug befinden, dann hätte ich wohl genau das getan. Aber das war nicht meine Rolle.

Der Wagen vor mir wurde durchgelassen, und nun kam ich an die Reihe.

Ein untersetzter Kerl mit Sturmhaube klopfte mit behandschuhten Fingern an die Scheibe auf der Fahrerseite. Er hielt ein Armalite-Sturmgewehr in der Hand. Sein Kumpel hatte eine Pistole Kaliber 9mm.

»Kurbel mal die Scheibe runter!«, befahl er mir.

Ich tat wie geheißen und machte das Radio aus.

»Ja bitte?«, fragte ich.

»Wo willst du hin?«, fragte der Mann.

»Und wer will das wissen?«

Der Mann drehte sich zu einer schemenhaften Gestalt in grauer Jeansjacke hinter sich um, der eine Repetierflinte in den Händen hielt.

»Er fragt, wer das wissen will«, sagte der Mann.

»Was ist denn das für einer, dass er uns Fragen stellt?«, wollte der Mann mit der Flinte wissen.

»Ich will nur wissen, ob Sie von der IRA oder der UVF sind. Dass Sie nicht die Polizei sind, sehe ich«, sagte ich.

Der Mann mit der Flinte trat vor und schlug gegen die Windschutzscheibe. »Wir stellen hier die Fragen, verdammt noch mal!«

Alle Männer an der Straßensperre drehten sich um und schauten mich an.

Himmel, mit meinem losen Mundwerk hatte ich alles versaut.

Die Arme des Mannes mit der Flinte waren mit Tattoos übersät, die zu schlecht gemacht waren, um sie lesen zu können. An seinem dicken, schmalzfarbenen Hals baumelte allerdings ein Goldkettchen, auf dem die Buchstaben ULSTER prangten. Es handelte sich also um einen loyalistischen Para. Und das waren sie alle. UVF oder UDA. Ein köstlicher Schauder blanker Angst fuhr mir langsam die Wirbelsäule hinunter. Wenn sie besonders schlechter Laune waren und Ausschau nach einem beliebigen Katholiken hielten, den sie umlegen konnten, dann war ich vielleicht ihr Mann des Tages.

Ich war natürlich bewaffnet, aber eine sechsschüssige Pistole gegen ein Dutzend Männer mit Schrotflinten und M16-Sturmgewehren? Das sah nicht gut aus.

Falls sie mich mitnahmen, hatte ich noch eine Karte im Ärmel. Fast buchstäblich.

Seit dem Zwischenfall vor zwei Jahren, als eine Zelle der IRA versucht hatte, mich auf dem Hochmoor zu exekutieren, hatte ich eine Rasierklinge und einen Dietrich im linken Ärmel meiner Lieblingslederjacke stecken; in einer extra dafür angefertigten Tasche. Wenn sie mir Handschellen anlegen und mich mitnehmen würden, hatte ich zumindest eine klitzekleine Chance. Wenn sie beschlossen, mich einfach auf der Straße umzunieten wie einen tollwütigen Hund, hatte ich gar keine Chance.

»Also, Kumpel, beantworte uns mal die Frage, wohin du willst«, sagte der erste Mann, setzte seinen großen, dreckigen Stiefel auf die glänzende blaue Motorhaube meines BMW und richtete seine Flinte auf mich.

Ich streckte die Hand nach meiner Waffe aus. Scheiß auf die klitzekleine Chancewenn der Kerl weiter so an meinem Wagen herumsaute, würde ich das Arschloch abknallen.

»Carrickfergus«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

»Carrickfergus?«, wiederholte der Mann mit der Flinte.

»Aye.«

»Ein Drecksloch«, verkündete die Flinte.

Darauf erwiderte ich nichts.

»Und, was hast du dazu zu sagen?«, hakte der Mann nach.

»Selbst wenn ich für die Handelskammer arbeiten würde, würde ich den Teufel tun, einem Mann zu widersprechen, der eine Schrotflinte auf mich richtet«, sagte ich in die freudlose Stille hinein.

»Wo in Carrickfergus?«, wollte der erste Mann wissen.

»Coronation Road, Victoria Estate«, antwortete ich.

»Victoria Estate? Kennst du Bobby Cameron?«

»Den kenne ich gut.«

»Wie sieht er aus?«

»Wie ein fetter Brian Clough.«

»Ha! Ja! Das ist er. Also gut. Du kannst fahren. Ach übrigens, nettes Auto«, sagte der Mann mit der Flinte.

»Danke sehr«, sagte ich und fuhr langsam durch den Korridor aus brennenden Reifen.

Ein Kerl aus Carrickfergus, der Bobby Cameron kennt? Nicht gerade das ideale Opfer. Wenn sie meinen Wagen klauten, würde ich mich vielleicht bei Bobby beschweren und die Beschwerde würde die Befehlskette entlang weitergereicht …

Das alles ging mir durch den Sinn, als ich zweihundert Meter weiter an einer weiteren Straßensperre der Paras angehalten wurde.

»Wo wollen Sie hin?«, fragte ein maskierter Mann mit Axt.

»Carrickfergus.«

»Carrickfergus? Alles Irre da«, sagte er mit einem Hauch von Neid in der Stimme. »Woher haben Sie den Wagen?«

»Ayr BMW in Schottland.«

»Schottland«, sagte er ungläubig, als hätte ich einen weißen Fleck auf einer Landkarte des 16. Jahrhunderts benannt, der mit der Anmerkung »allhier seind Dragone« versehen war.

»Schottland«, wiederholte ich zur Vergewisserung.

»Schottland, hm? Was arbeiten Sie denn so?«

»Ich bin Buchhalter.«

»Buchhalter? Ein langweiliger Sesselpuper?«

Seine Angewohnheit, das letzte Wort, das ich gesagt hatte, zu wiederholen, hatte komische Qualitäten, aber ich wusste, wenn ich mir irgendeinen Witz erlauben würde, dann würde das nicht gut für mich enden, oder letzten Endes für ihn.

»Ja. Ich bin ein langweiliger Sesselpuper.«

Der Axtmann lachte. »Sesselpuper. Das hier ist doch bestimmt das Aufregendste, was Sie das ganze Jahr über erlebt haben, hm?«

»Ja«, antwortete ich.

»Aye. Wusste ich’s doch. Na, fahren Sie schon, bevor Sie sich in die Hose machen!«, sagte er, und all die anderen Maskierten lachten. Das war wahrscheinlich auch für sie das Aufregendste, was sie das ganze Jahr über erlebt hatten. Eine Gelegenheit, Macht über Männer und Frauen auszuüben, die von der Arbeit nach Hause fuhren, Männer und Frauen, die tatsächlich eine Arbeit hatten, Männer und Frauen, die tolle Autos fuhren …

Nach der dritten Straßensperre beschloss ich, die Stadt nach Westen zu verlassen, nicht nach Norden. Also durch die katholischen Viertel, wo die UVF nicht den Mut hatte, brennende Reifen auf der Straße aufzureihen.

Ich fuhr die Divis Street und die Falls Road entlang.

Dann die Sebastopol Street und die Odessa Street hoch.

Hier war es ruhiger. Diese Gegend wurde von Männern in langen Mänteln bewacht, die in den Hauseingängen standen …

Über mir war plötzlich ein Lärm, als würde sich Lemmy von Motörhead räuspern; tatsächlich handelte es sich um einen Chinook-Armeehubschrauber, der tief über die Dächer flog. Das war nur eine Machtdemonstration. Auf gar keinen Fall würde die Armee gegen dieses Pack auf der Great Victoria Street aufziehen. Das Pack würde vielleicht die Soldaten angreifen, die Soldaten würden zurückschießen, und schon gäbe es ein verfluchtes Blutbad.

Schließlich kam ich auf die Springfield Road, von der aus es jede Menge Möglichkeiten gab, die Stadt hinter sich zu lassen. Das Straßenlabyrinth, die Straßensperren und die Aggressivität hatten ihre Spuren hinterlassen. Mir zitterten die Hände. Ich betrachtete mich im Rückspiegel. Angst stand in diesen graublauen Duffy-Glubschern. Du hast doch sonst nie Angst gehabt, oder? Das kommt davon, wenn man ein Kind hat. Plötzlich geht es um etwas. Man hat etwas zu verlieren.

Ich schaltete das Radio ein, doch ein Song mit dem Titel »Achy Breaky Heart« von jemandem namens Billy Ray Cyrus regte mich derartig auf, dass meine Angst beim zweiten Refrain verflogen war.

Schließlich entkam ich Belfast auf der guten alten Crumlin Road ganz im Westen der Stadt. Ich fuhr durch die relativ ungefährlichen nördlichen Vororte und hielt bei einem friedlich wirkenden Pub aus Porenbetonsteinen in Jordanstown an.

Der Schuppen wurde nur von Ortsansässigen frequentiert; zähen Burschen, die sich an Pints mit Harp festhielten (immer ein schlechtes Zeichen) und sich Folk auf einem uralten Tonbandgerät anhörten.

Trotzdem, ich brauchte einen Drink, um meine Nerven zu beruhigen und den Durst zu stillen. Ein halbes Pint Bass würde schon langen.

Ich setzte mich auf den Barhocker und weckte die Aufmerksamkeit des Barkeepers.

Es handelte sich um einen großen Kerl mit Schnurrbart und einem abgeschnittenen weißen T-Shirt, das seine Knasttattoos noch betonte. Die Tattoos verrieten mir, dass er seine Mutter liebte, ein Mädchen namens Denise, Manchester United und Ulster.

»Alles okay, Kumpel? Nur ein kleines Halbes Bass, bitte, ich muss noch die Fähre kriegen«, sagte ich und legte einen Fünfer auf den Tresen. Ein paar Männer schauten von ihren Gläsern auf und schauten wieder weg.

In der Bar gab es einen Zigarettenautomaten, aber ich hatte seit über einem Jahr nicht mehr geraucht, und ich wollte diesen Strolchen hier nicht das Vergnügen bereiten, miterleben zu dürfen, wie ich rückfällig wurde.

»Die Zeiten ändern sich, hm?«, fragte der Barkeeper und wischte den Tresen ab.

»Was meinen Sie damit?«

»Wenn früher ein Fremder ins Pub gekommen wäre und sich ein kleines Halbes bestellt hätte, dann hätte ihn jeder als Schwuchtel beschimpft.«

»Aye, und heutzutage erntet man nur ein paar schmutzige Blicke und eine nervige Unterhaltung mit dem Barkeeper. Ein halbes Pint, Mann, und zwar zackig, ich muss die Fähre noch kriegen«, entgegnete ich.

Der Barkeeper legte sich das Putztuch über die Schulter.

»Dann sollten Sie sich vielleicht aus dem Staub machen und die Fähre nehmen, Mann«, sagte er.

Ich seufzte. Warum kostete in dieser Stadt eigentlich alles eine solche Mühe?

Ich war nicht in der Stimmung dafür. Vielleicht wäre ich ja nach einem Vormittag, an dem ich nichts anderes getan hätte, als ein paar Tassen Kaffee zu trinken und Strafzettel wegen Falschparkens zu sortieren, in der Stimmung für ein wenig Hickhack gewesen, aber doch nicht bei abklingendem Adrenalinspiegel.

Ich fragte mich, wie ich diese Szene in der düsteren Komödie meines Lebens am besten anlegen sollte. Am einfachsten wäre es zu gehen. Nimm dein Geld und verschwinde. Am zweiteinfachsten wäre es, meinen Dienstausweis zu zücken und ihn zu zwingen, mir das verfluchte Bier zu zapfen. Doch wie der alte Marc Aurel schon sagte: »Πρὸ ἔργου γίνεται τὸ τοῦ ἔργου τούτου ἐφεκτικὸν καὶ πρὸ ὁδοῦ τὸ τῆς ὁδοῦ ταύτης ἐνστατικόν.« Ja, ich weiß, das kommt einem leicht von der Zunge, oder? Schlagen Sie es doch mal nach. Marc Aurel hat eine Menge von sich gegeben, aber im Grunde heißt das: Was im Weg steht, wird zum Weg.

Also beschloss ich, weder meinen Ausweis zu zücken noch zu gehen. Nein, der Barkeeper und seine Kumpane waren gerade zu einem meiner Sonderprojekte geworden.

Ich schob den Fünfer näher zu ihm hin und beugte mich über den Tresen.

»Sie müssen mich mit jemand anderem verwechselt haben, Mann.«

»Das hier ist mein Lo…«

»Tun Sie mir einen Gefallen, schauen Sie mir in die Augen und sagen Sie mir, was Sie da sehen«, sagte ich langsam und deutlich.

»Wie bitte?«

»Schauen Sie mir in die Augen, aber richtig, und sagen Sie mir, was Sie da sehen.«

»Sind Sie so eine Art Schwuchtel?«

»Schauen Sie.«

Zögernd blickte er auf und schaute mir in die Augen. Grünblaue Iris mit einer Spur von etwas Dunklem. Doch sein Dunkles konnte sich mit meinem nicht messen. Ich war niemand, der sich gewohnheitsmäßig vergackeiern ließ, und für heute reichte es schon lange.

Ich ließ ihn einen Blick auf all die Männer werfen, die ich verfolgt hatte, die ich hinter Gitter gebracht hatte und die ich umgebracht hatte.

Man wird nicht Barkeeperauch in einem solchen Schuppen nicht –, ohne ein wenig über die Natur des Menschen zu lernen.

Er sah.

Er wusste Bescheid. Ich mochte vielleicht über vierzig sein, ich mochte vielleicht nur ein Teilzeitpolizist sein, ich mochte vielleicht einen weichen Kern haben, ich mochte vielleicht seit einem Jahr nicht mehr an einem Fall gearbeitet haben, aber ich war der am meisten Schrecken einflößende Mistkerl, dem er seit Langem begegnet war.

Ich lächelte ihn an und entspannte mich.

Der Film meines Lebens wechselte von Nahaufnahme zur Zwei-Personen-Einstellung. Der Barkeeper tat einen Schritt zurück, nahm ein leeres Glas aus dem Regal und zapfte ein halbes Pint.

»Geht aufs Haus«, sagte er.

»Vielen Dank«, sagte ich und trank es in einem Zug leer.

Ich ging hinaus zum BMW, schaute nach einem Sprengsatz und stieg ein.

Ich schaltete Radio 1 an. »Und als nächstes Michael Bolton, Kylie und Simply Red.«

So viel zur musikalischen Revolution. Ich machte das Radio aus und gab dem BMW auf der A2 in Richtung Polizeirevier Carrickfergus Zucker, wo unglaublicherweise ein Mordfall auf mich wartete, falls ich ihn denn haben wollte.