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Klappentext Autorenkurzbiografie

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Willy Wimmer (geb. 1943) war 33 Jahre lang Abgeordneter der CDU im Deutschen Bundestag, daneben hatte er verschiedene Ämter inne, u. a. war er Parlamentarischer Staatsekretär des Bundesministerium der Verteidigung (1988–1992) und Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der KSZE/OSZE (1994–2000). Als ausgewiesener Experte für globale Sicherheitspolitik führte er rund um den Globus Gespräche auf höchster staatlicher Ebene. Im Zuge der deutschen Wiedervereinigung zeichnete er verantwortlich für die Integration der Nationalen Volksarmee in die Bundeswehr sowie für die Zusammenarbeit mit den in Deutschland stationierten sowjetischen Truppen. Während der völkerrechtswidrigen Kriege in Jugoslawien und im Irak erregte er durch pointierte öffentliche Stellungnahmen größere Aufmerksamkeit, ebenso durch eine Verfassungsklage im Streitfall Afghanistan, gemeinsam mit Peter Gauweiler.

Umschlagtext

Ein Vierteljahrhundert nach Ende des Kalten Krieges ist der Frieden in Europa wieder brüchig geworden. Die NATO – und mit ihr die linientreuen Medien – lassen keine Gelegenheit aus, Wladimir Putin eine aggressive Expansionspolitik zu unterstellen, um im gleichen Atemzug die eigenen Kräfte aufzurüsten und heikle Manöver an den Grenzen zur Russischen Föderation zu vollführen. In der jüngsten Fassung ihres Weißbuchs klassifiziert die Bundesregierung Russland gar als »Rivalen« und setzt es von der Bedrohung her dem IS gleich.

Willy Wimmer plädiert für einen anderen, nämlich partnerschaftlichen Umgang mit unserem östlichen Nachbarn, und das aus guten Gründen. Zwischen 1988 und 1992 – in einer Zeit, in der sich die Ereignisse überschlugen und staatliches Handeln geradezu ausgesetzt war –, erlebte er in einer Spitzenposition des Verteidigungsministeriums eine Form der Zusammenarbeit mit der zerfallenden Sowjetunion, die an Offenheit und konstruktivem Charakter kaum zu überbieten war bei der Gestaltung eines gemeinsamen »Hauses Europa«.

Über die vielen Reisen und Gespräche am Vorabend der deutschen Wiedervereinigung, vor allem hinsichtlich der Integration der Nationalen Volksarmee in die Bundeswehr, sowie die in jüngerer Zeit legt dieses Buch Zeugnis ab. Aber auch darüber, wie schon damals versucht wurde, die hoffnungsvollen Entwicklungen zu ignorieren, ja zu hintertreiben. »Die Akte Moskau« offenbart zudem, wie seinerzeit die Regieanweisungen für die heutigen Spannungen verfügt wurden.

Klappentext

»Ich erinnere … an unser bekanntestes Symbol, den Bären, der die Taiga beschützt. … Mir kommt manchmal der Gedanke: Vielleicht sollte unser Bär ruhig dasitzen, nicht die kleinen und großen Ferkel durch die Taiga treiben, sondern sich von Beeren und Honig ernähren. Aber wird man ihn dann in Ruhe lassen? Nein, wird man nicht! Weil sie immer danach streben werden, den Bär an die Kette zu legen. Und kaum ist das gelungen, werden sie ihm die Zähne und die Krallen ausreißen. Im heutigen Verständnis sind dies die Waffen der nuklearen Abschreckung. … Anschließend wird man uns die Taiga nehmen. Denn wir haben vielfach von hochrangigen Vertretern (des Westens, Anm. d. Übers.) gehört, wie ungerecht es ist, dass Sibirien mit seinen unendlichen Reichtümern allein Russland gehört. Wie – ungerecht? Aber Texas von Mexiko zu klauen, ist gerecht. Und dass wir auf unserer eigenen Erde wirtschaften, ist ungerecht, man muss teilen. … Später dann wird der Bär überhaupt nicht mehr gebraucht. Man wird eine Vogelscheuche aus ihm machen, und Schluss. Deshalb geht es nicht um die Krim. Es geht darum, dass wir unsere Selbstständigkeit, unsere Souveränität und unser Existenzrecht schützen.«

Wladimir Putin anlässlich der Pressekonferenz vom 18. Dezember 2014

DIE AKTE MOSKAU

VON WILLY WIMMER

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1. elektronische Ausgabe: Juli 2020

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Redaktionsschluss: Juni 2016

ISBN E-Book-Ausgabe: 978-3-943007-28-2

Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Zurück zu Napoleon und Hitler

Relikte des Kalten Krieges

Interview unter Tage

Geheimnisvolle Regierungsbunker

»Frenemies« und »Enefriends« – neue Herausforderungen

Moderner Kolonialismus und die Migrationsfrage

Politische Kehrtwende der USA

Immer wieder Belgrad

Ein muslimischer Staat auf dem Balkan?

Erst Belgrad, dann Moskau – RT lädt zum 10-jährigen Jubiläum

Eine besondere Ehre auf dem Petersburger Journalistenkongress

Nachdenken über Freund und Feind

Wiedervereinigung zwischen nationalem Überschwang und NATO-Begehr

Eine Denkschrift für Kanzler Kohl

Die Neuausrichtung der Bundeswehr

»Kollektive Sicherheit« versus geltendes Recht

Verständigung in turbulenten Zeiten

Ende September 1989: Flug in die Sowjetunion

Auf dem Weg zur staatlichen Einheit

Zu Besuch in Moskau

Gespräche mit sowjetischen Vordenkern

Taman – eine russische Kaserne öffnet ihre Tore

Marschall Achromejew – ein Sowjet kommt ins Grübeln

Admiral Crowe – Pendant im Pentagon

Ziemlich gute Freunde: Achromejew und Crowe

Nationale Interessen – auch innerhalb der NATO ?

Quo vadis, Germania?

Eine Rede sorgt für Aufsehen

Armeen lösen sich auf

Aufhören mit dem Abhören

Tunnelblick in Fort Meade

Zum Schutze von Müttcherchen Russland

»Ein Obervolta mit Nuklearraketen«

Peter der Große ist zurück

»Bedrohung« oder »Lage«?

Wer steuerte die Prozesse am Ende der DDR?

Neue Herausforderungen auf dem Weg zur Einheit

Unfreiwillige Liebe: Die Sowjetunion braucht die NATO

Transatlantische Beziehungen auf Augenhöhe?

Mediale Wahrnehmung gestern und heute

Stolperstein NATO-Mitgliedschaft

CDU in West und Ost: Der steinige Weg der Annäherung

Erster gemeinsamer Wahlkampf

Berufung in den engeren Zirkel des Bundeskanzlers

Nicht zuwarten – gestalten!

Ab morgen Kameraden

Erste Kontakte mit der NVA

Deutschland – einig Vaterland?

Eine neue DDR oder Wiedervereinigung?

Eine Welle der Verweigerung

Auf Distanz zur NVA

Empfang in Strausberg

Der »wilde Osten«

Perspektiven für NVA-Angehörige

Gemeinsam auf der Parlamentarierkonferenz der NATO

NATO oder EG als Friedensbündnis der Zukunft?

Ein »Westfälischer Friede« mit der NVA

Abruptes Ende für die Oststreitkräfte?

Im Wechselschritt zur »Armee der Einheit«

Peenemünde – Wendepunkt der Geschichte

Die deutsch-deutsche Zusammenarbeit trägt Früchte

Das Referat Militärpolitik schießt quer

Kompetenzgerangel und mangelnde Souveränität

Alte Wunden brechen auf

Mühsame Annäherung

Das Elend von Eggesin

Das Ende vom Anfang

Begegnung mit Lech Walesa in Danzig

Ein Büro in Berlin-Ost

Konfrontation mit der Realität in den neuen Ländern

Der Fall Storkow

Rettung ehemals militärischer Institutionen vor Massenentlassung und Auflösung

Vom Zivilschutz zum TÜV

Als »Feuerwehr« in den neuen Ländern unterwegs

Gefecht zwischen MiG-29 und Jäger 90

Alte Gewohnheiten im Überwachungsgeschäft

Besuche in Perleberg im September und Oktober 1990

Offener Aufstand gegen die ehemaligen »Freunde«

Deutsch-sowjetische Gespräche als Fanal gegen Hass und Gewalt

Kühle Atmosphäre in Magdeburg und Freundlichkeit in Dresden

Letzte Monate der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland

50 hohe Offiziere der Roten Armee zu Besuch am Rhein

Begegnung mit dem Papst

Deutsch-polnische Besuche in Danzig und Amberg

Persönlichkeiten, die eine wichtige Rolle bei der deutschen Wiedereinigung spielten

Der Autor

Anhang

Denkschrift vom 20. Dez. 1989 an Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl über die NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschland

Auszüge aus der Pressekonferenz des russischen Präsidenten Wladimir Putin vom 18. Dezember 2014

Verzeichnis der Abkürzungen

Bildquellen

Vorwort

Zurück zu Napoleon und Hitler

Nichts ist dem vergleichbar, was sich in dem Zeitraum zwischen der Grenzöffnung und dem Tag der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 abgespielt hat – 1989 war alles anders, und 1990 nahm uns den Atem.

Als Parlamentarischer Staatssekretär und Mitglied im engsten Führungskreis des Bonner Verteidigungsministeriums sowie als Vertreter des Verteidigungsministers im Deutschen Bundestag – dem ich zudem als Abgeordneter angehörte – war ich in jenen spannenden Jahren für die Belange der Bundeswehr zuständig.Sie umfasste damals fast 500 000 Soldaten und etwa 250 000 zivile Mitarbeiter. Aufgrund der Doppelfunktion in Ministerium und Bundestag hatte ich eine Sonderstellung inne. Mein Handlungsspielraum ergab sich aus Vereinbarungen mit den Verteidigungsministern Rupert Scholz und Gerhard Stoltenberg. Die innerdeutsche Zuständigkeit nach dem 9. November 1989 wurde mit Letzterem mündlich abgesprochen.

Der Fall der Mauer, in Deutschland und der Welt frenetisch bejubelt, eröffnete ganz neue Zukunftsperspektiven, denn alles lief schnurgerade auf die staatliche Einheit unseres Landes zu. Damit würden sich auch für uns im Ministerium neue Aufgabenfelder ergeben. Vor allem aber stellte sich eine zentrale Frage: Was geschah mit der Nationalen Volksarmee (NVA) und ihren gut 170 000 Soldatinnen und Soldaten? Sollten sie in die Bundeswehr integriert werden? Würde es in Zukunft also eine einheitliche deutsche Armee geben? Für mich war dies nie wirklich eine Frage – genau so hieß das Ziel!

Unterstützt durch Bundeskanzler Helmut Kohl, den CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Alfred Dregger und Gerhard Stoltenberg, die mir völlig freie Hand ließen, machte ich mich mit den Kollegen an die Arbeit, denn damit hieß es, die bis dahin in gegnerischen Lagern stehenden Soldaten in einer Truppe zusammenzuführen. Im Osten traf ich auf ein erstaunliches Entgegenkommen, daneben natürlich aber auch sehr viele Befürchtungen, was die berufliche Zukunft anbetraf. Hier musste vor allem viel informiert und gemeinsam besprochen werden, denn die Menschen wollten wissen, wohin die Reise ging. Zeitgleich fanden schließlich in Wien Abrüstungsverhandlungen statt, was aller Wahrscheinlichkeit nach die Reduzierung der Bundeswehr zur Folge hatte. Tiefe Einschnitte im Personalhaushalt waren zu erwarten. Und wir wollten ausgerechnet jetzt den Zufluss neuer Soldaten zulassen? In Westdeutschland waren die Bürgerinnen und Bürger dank der Medien in der Regel gut informiert, dennoch bestanden vielerlei Vorbehalte. So mancher konnte sich einfach nicht vorstellen, dass demnächst Angehörige der »Parteiarmee« NVA in der Bundeswehr mitmarschieren, vielleicht sogar den Ton angeben sollten, was bei Übernahme von hohen Offizieren, Admiralen und Generalen ja der Fall wäre. Konkurrenzgerangel kam zum Argwohn hinzu. Eine Gemengelage aus Euphorie, Hoffnung, Angst und Nervosität begleitete den Prozess in Deutschland.

»Ab morgen Kameraden!« – Als wir uns nach der Sommerpause 2015 zu einem ersten Gespräch über die ab Juli 2016 geplante Ausstellung zur Zusammenführung von NVA und Bundeswehr einfanden und sowohl Hans Walter Hütter, der Präsident des Bonner Hauses der Geschichte, als auch Hanno Sowade, dem Konzept und Umsetzung übertragen worden waren, mich um einen Bericht darüber baten, wie es damals war, glaubte ich mit dem Erzählen nicht mehr aufhören zu können. Die Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 haben sich bei mir eingebrannt, nicht nur weil ich an zentraler Stelle in parlamentarischer und staatlicher Verantwortung auf Regierungsebene den Prozess und die sich langsam herausschälenden Ergebnisse mitgestalten konnte, sondern auch weil das damalige Erleben an Intensität fast nicht zu überbieten war. Als wäre man Protagonist eines spannenden Films, dessen Ausgang man damals selbst noch nicht kannte, aber vom Happy End überzeugt war, obgleich mancherlei Überraschung und Actioneinlage das Gegenteil zu verkünden schien.

In der Ausstellung sollte es um nicht mehr und nicht weniger gehen als eine historische Wiedergabe der Abläufe und Entwicklungen, die schließlich die »Armee der Einheit« möglich machten.Hierzu hatte ich Dokumente und Bildmaterial nach Bonn mitgebracht und war dankbar für das Angebot, beides museumsgerecht, d. h. gegen Säure geschützt, im Haus der Geschichte für die Nachwelt erhalten zu wissen. Während ich mit den beiden Herren über die damaligen Geschehnisse sprach, war ich mir allerdings nicht sicher, ob ich ihnen wirklich zu vermitteln vermochte, dass – wie vielleicht in unserem ordentlichen deutschen Staatswesen zu vermuten – keineswegs alles seinen geregelten Gang nahm.Staatliches Handeln war ausgesetzt, vieles hing nun vom Zufall ab, davon, ob man sich in den Gesprächen und Verhandlungen mit dem Gegenüber verstand – ob »die Chemie stimmte« – alles in allem ein grandioses Erlebnis, zumal das Projekt »Armee der Einheit« erfolgreich abgeschlossen werden konnte.

Doch ohne dass dies in der allgemeinen Aufregung sogleich bemerkt wurde, lag im Jahr 1991 von einem Augenblick zum nächsten eine neue Filmrolle im Fach – das Drehbuch dazu war geheim, gleichsam eine »Akte Moskau«. Eben noch gegenseitiges Einvernehmen und Verbrüderung und nun plötzlich deutliche Abkühlung, der Kalte Krieg schien in eine zweite Runde zu gehen. Dabei hatte sich alles so hoffnungsvoll entwickelt … Im Frühsommer 1988 flog die Arbeitsgruppe Verteidigung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu einem Arbeitsbesuch nach Washington. Seit meiner Wahl zum Vorsitzenden trafen wir uns dort jährlich mit Vertretern des Kongresses und der amerikanischen Regierung, um über außen- und sicherheitspolitische Fragen zu konferieren. Die Gespräche waren stets intensiv und offen, darin stimmten wir uns in wichtigen Fragen der Bündnispolitik ab. In diesem Jahr aber erwartete uns eine Überraschung. Der Bus, in den wir am Flughafen gestiegen waren, fuhr nicht nach Downtown, sondern bog in Richtung Potomac River nach Westen ab. Die Fahrt ging direkt ins Hauptquartier der CIA nach Langley. Erstaunt hörten wir dort den Ausführungen zu, die eine völlig neue amerikanische Politik gegenüber der Sowjetunion zum Thema hatten: Wir sollten uns lösen – so die Botschaft in der großen Gesprächsrunde – von dem, was wir seit Jahrzehnten über militärische Potenziale und Strategien in der Auseinandersetzung zwischen Ost und West in Europa gehört hatten. Das Ergebnis einer Studie zu diesem Themenfeld sei eindeutig: Die Sowjetunion verfolge rein defensive Absichten. Es gehe einzig und alleine um Verteidigung zum Schutz von »Mütterchen Russland«. Die bisherige Strategie des Warschauer Pakts sei letztlich nur die konsequente Reaktion auf die mörderischen Angriffe von Napoleon und Hitler, mit Aggression habe das also rein gar nichts zu tun. Diese neue Sicht der Dinge wurde mir gegenüber auch vonseiten des Weißen Hauses lange Zeit beibehalten.

Drei Gespräche Ende September und Anfang Oktober 1989 bestärkten mich weiter darin, dass eine neue Zeit anbrach, die nicht mehr von Säbelrasseln, sondern von friedlicheren Tönen bestimmt wäre: zunächst in Washington, mit Admiral William Crowe, Generalstabschef der Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika, und anschließend in Moskau, mit Marschall Sergej F. Achromejew, ehemals Generalstabschef der Roten Armee und jetzt sicherheitspolitischer Berater von Michail Gorbatschow, sowie dem Leiter der internationalen Abteilung des Zentralkomitees der KPdSU, Valentin M. Falin. Tenor aller drei Treffen war, dass es gelte, im Buch der Geschichte ein »neues Kapitel« aufzuschlagen. Achromejew berichtete, wie sich die Belagerung Leningrads im Zweiten Weltkrieg auf ihn als einem Sohn der Stadt ausgewirkt habe. Aufgrund des unermesslichen Leides sei er überzeugt gewesen, dass sein Land nie mehr zu einem gutnachbarlichen Verhältnis zu Deutschland finden könne. Heute sei er in Übereinstimmung mit Gorbatschow der Ansicht, es müsse endlich zur Versöhnung kommen, Moskau sei bereit dazu.

Zurück in Deutschland, überschlugen sich die Ereignisse: Den Montagsdemonstrationen folgte die Öffnung der ungarischen und schließlich auch der deutsch-deutschen Grenze und damit Monate voller Zuversicht, dass die Zeit des Kalten Krieges tatsächlich beendet war, zumal politische und militärische Kräfte der noch bestehenden DDR keinerlei Anstalten machten dazwischenzugehen. Selbst die staatlichen Organe waren uns gegenüber höflich und konstruktiv, ja in besonderer Weise offenbar an unserem Erfolg interessiert. Auch NATO und Warschauer Pakt hielten sich zurück, die Entwicklung schien zumindest wohlwollend betrachtet, ja aus dem Hintergrund sogar gelenkt zu werden, wie wir im Rückblick zugeben müssen.

Plötzlich aber vollzogen die Vereinigten Staaten eine Kehrtwende.Dass sich nach der Wiedervereinigung etwas weltpolitisch und vor allem in unseren Beziehungen zu Washington geändert hatte, sollten wir bald genug erfahren. Während der Abrüstungskonferenz in Wien 1991 machte ein hoher amerikanischer Diplomat mir gegenüber deutlich, dass die Zeiten der engen, vertrauensvollen Abstimmung zwischen Washington und Bonn vorbei seien. Die Vereinigten Staaten würden nun ihre eigenen Wege gehen, darauf sollten wir uns einstellen.Was war die Ursache des Sinneswandels? Bereits 1989 hatten die USA angekündigt, in einem großen Studienpaket der amerikanischen Stardiplomaten Paul Nitze und Fred Ikle der Frage nachgehen zu lassen, wie sich die Welt nach Ende des Kalten Krieges entwickeln würde, dies sollte dann die Grundlage für künftige Strategien sein. Man sprach uns gegenüber von zehn und mehr Studienkomplexen. Wir dachten uns unseren Teil, als wir als Geste des Vertrauens ganze zwei Studien nach der deutschen Wiedervereinigung zu Gesicht bekamen.

Im Sommer 2016 wird das Buch mit dem »neuen Kapitel«, welches sich für uns im Frühsommer 1988 in der CIA-Zentrale in Langley geöffnet hatte, durch die NATO unter Führung der Vereinigten Staaten krachend zugeschlagen, in konsequenter Fortführung alter Aggressionspolitik – Napoleon und Hitler sind zurück. Wie anders sollen die nach Würgeschlangen und anderen Marterinstrumenten benannten NATO-Manöver an der russischen Westgrenze bewertet werden? Man weiß doch, wie sehr militärische Bewegungen in einer großen Region den Eindruck eines bevorstehenden Krieges erwecken! Dennoch beschlossen die NATO-Verteidigungsminister in Brüssel am 14. Juni 2016 eine dauerhafte Rotation von Großeinheiten in Grenznähe. Dass sich die Menschen in der Russischen Föderation, insbesondere in St. Petersburg, nun vor einer neuen Invasion fürchten, ist doch kein Wunder. Sie brauchen die Blickrichtung auch nicht ändern, im Westen stehen sie wieder, unsere Panzer, kaum 150 Kilometer von der Stadtgrenze entfernt, auf estnischem Gebiet wie im gesamten Baltikum, ebenso in Polen und in Rumänien.

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image Washington, Sommer 1988: Treffen mit Paul Nitze, dem Chefstrategen für Rüstung und Rüstungskontrollvereinbarungen der amerikanischen Regierung

Die Erinnerung an das unfassbare Leid der deutschen Hungerblockade zeigt sich eindrucksvoll auf dem gewaltigen Gräberfeld vor den Toren der Stadt, welches ich im Herbst 1987 zusammen mit Bundestagskollegen besuchte. Fast eine Million Menschen sind dort beigesetzt. Würden wir angesichts dieser Last, so fragten wir uns, beim vorsichtigen Herantasten an die Menschen hier in Russland jemals diese Hürden überwinden können? Unfassbar – aber gerade Veteranen aus der Zeit der Belagerung und des hunderttausendfachen Sterbens, mit denen wir während unseres Aufenthaltes in Leningrad zusammentrafen, versuchten uns diese Last von den Schultern zu nehmen! Wo wir eisiges Schweigen erwartet hatten, trafen wir auf Herzlichkeit und Aufgeschlossenheit, selbst beim Besuch einer sowjetischen Division der Roten Armee, die uns ermöglicht wurde – das erste Mal für Verteidigungspolitiker aus dem westlichen Bündnis.

Anfang Mai 2000 nahm ich an einer Konferenz in der slowakischen Hauptstadt Bratislava teil, hier erläuterte die Führungsspitze des amerikanischen Außenministeriums den anwesenden Regierungschefs das neue Konzept. Auf diese Konferenz bin ich bereits im Buch »Wiederkehr der Hasardeure« eingegangen. Ich glaubte meinen Ohren nicht trauen zu können: Die Vertrags- und Bündnisverbindungen zwischen Washington und den Staaten Mittel- und Osteuropas seien künftig so zu gestalten, dass zwischen den baltischen Staaten und dem ukrainischen Odessa eine »rote Linie« gezogen werde! Östlich davon befände sich die Russische Föderation oder ein anderer Staat, das sei unerheblich. Westlich der Linie sei alles amerikanisch bestimmt. Davon sei auch die Rechtsordnung betroffen, die von nun an über das Statut zum Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag mit seinen angelsächsischen Rechtsgrundsätzen aus der jahrhundertelangen Bindung Kontinentaleuropas an die römische Rechtstradition gelöst und umgebaut werden solle.

Die Konzepte, die in Europa zum Ende des Kalten Krieges und der Einheit Deutschlands führten, waren in jahrzehntelangen Verhandlungen zwischen Ost und West entstanden. Nach unserer Ansicht sollte die künftige europäische Sicherheitsarchitektur zwei Dinge verbinden: die historischen Erkenntnisse und Konsequenzen sowie das Versprechen der verantwortlichen Staats- und Regierungschefs der nördlichen Hemisphäre, Krieg auf Dauer aus Europa zu verbannen und Konflikte ausschließlich friedlich beilegen zu wollen. Diese Grundsätze wurden im gemeinsamen europäisch-transatlantischen Vertragswerk der »Charta von Paris« im November 1990 festgehalten und Europa somit zu einer Region des Friedens, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit erklärt.

Bereits am 20. Dezember 1989 hatte ich Bundeskanzler Helmut Kohl noch vor jeder öffentlichen Diskussion meine Vorstellungen darüber, wie die Wiedervereinigung Deutschlands mit einer fortgeführten NATO-Mitgliedschaft in Einklang gebracht werden könnte, in einem Grundsatzpapier zukommen lassen. Zu dieser Zeit gab es in Europa intensive Debatten über die mögliche Auflösung der Militärbündnisse, also von Warschauer Pakt und NATO.Damals wies die NATO einen eindeutigen Verteidigungscharakter auf, was auch nicht anders möglich war, weil die Parlamente – so auch der Deutsche Bundestag – dem Vertrag nur unter dieser Prämisse zugestimmt hatten. Zudem galten enge geographische Grenzen. So schlug ich vor, dass nach der Wiedervereinigung auf dem Gebiet der künftigen »neuen Länder« nur nationale deutsche militärische Verbände stationiert werden sollten. Denn bei den Bürgerinnen und Bürgern in der noch bestehenden DDR sollte nicht der Eindruck entstehen, dass mit der deutschen Einheit eine Osterweiterung der NATO einhergehe. Meine Vorschläge fanden später Eingang in den die deutsche Einheit besiegelnden »Zwei-plus-Vier-Vertrag«. Auch die Sowjetunion musste an stabilen Verhältnissen innerhalb Europas interessiert sein. Deshalb war es vorgesehen, die Instrumente der damaligen Europäischen Gemeinschaft in Anbetracht der ökonomischen Probleme östlich unserer Staatsgrenzen nur mit größter Vorsicht einzusetzen, um auf dem »Minenfeld der Historie« keinen Schaden anzurichten. Das war nicht nur deutsche Regierungspolitik, sondern gemeinsame Haltung Westeuropas und des Westens ganz allgemein.

Wir sollten uns gründlich täuschen. Nach dem Ausscheiden von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher aus dem Amt im März 1992 wurde aus der Bundesregierung die Forderung laut, die NATO nach Osten auszudehnen und ihr Vorrang vor einer Zusammenarbeit der Europäischen Gemeinschaft mit den Staaten Mittel- und Osteuropas einzuräumen. Das Vehikel für diese veränderte westliche Politik war schnell gefunden: die historisch bedingten Probleme zahlreicher Völker mit Russland und den Russen ganz allgemein. Sie dienten als Instrument, um erst gar nicht die Fragen nach unseren Interessen in diesem Zusammenhang aufkommen zu lassen. Fortan gab es einen »Rechtsanspruch auf Beitritt zur NATO« bei den Staaten, die in enger Abstimmung mit den Vereinigten Staaten standen. Keiner fragte, ob das überhaupt in unserem Interesse war.

Das Referendum in Großbritannien vom 23. Juni 2016 über den Verbleib des Landes in der Europäischen Union brachte nun ein Ergebnis, mit dem die bei Wahlen üblichen Auguren, zu denen auf der Insel auch die Wettmacher zählen, nicht gerechnet hatten.Das allein macht deutlich, in welchem Maße sich die staatlichen Institutionen und gewählten Repräsentanten in Großbritannien und vermutlich auch der EU von ihren Wählern und Bürgern entfremdet haben.Während man in der Schweiz nah am sogenannten »Volkswillen« ist und durch die »direkte Demokratie« zuverlässig über den Wählerwillen informiert wird, waren die Regierenden in Großbritannien hier offensichtlich ahnungslos. Und da keines der bei Wahlen üblichen Umfragemittel zur Verfügung stand, welche es den Regierungen erlauben, Schlüsse auf die Stimmung im Lande zu ziehen, mussten schweizerische Umfrageinstitute um Hilfe gebeten werden.

Diese Diskrepanz zwischen Wählerwillen und Regierungsentscheidungen, wie sie sich in England zeigte, stellt die größte innere Gefahr für die EU-Staaten dar. Es ist nicht mehr das Volk, das den Regierenden den Weg weist, sondern Gruppen mit vorher festgelegten Sonderinteressen haben den entscheidenden Einfluss. Man kann das Ergebnis des Referendums beklagen, dabei sollte aber festgehalten werden, dass es in erster Linie deshalb zustande kam, weil sich die Regierenden vom Souverän, dem Volk, grundlegend entfernt haben und die Staaten der EU von mächtigen Allianzen für ihre Zwecke instrumentalisiert werden. Die Einwanderung in unsere Staaten wirft für das jeweilige Volk zudem den Verdacht auf, dass sein Charakter als Staatsvolk substanziell zur Disposition gestellt ist. Die Gesetze, die im staatsrechtlichen Sinne dem Schutz des Staatsgebietes und des Staatsvolkes dienen und nicht nur dem Schutze unserer Grenzen, wurden am Wochenende des 4./5. Septembers 2015 durch die Bundeskanzlerin geradezu putschartig außer Kraft gesetzt. Seither überrollt uns eine kaum kontrollierbare Flüchtlingswelle aus Gebieten zwischen Afghanistan und Mali, die wir zuvor mit Krieg überzogen haben. Weite Teile der Welt machen sich auf den Weg nach Europa und dabei vor allem zu uns.

Mit dem nun beschlossenen Ausstieg Großbritanniens aus der EU ist nach dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, der am 24. März 1999 mit Bomben auf Belgrad begann, der zweite und vielleicht entscheidende Schlag gegen die europäische Friedensordnung gelungen, manifestiert in der hier schon genannten »Charta von Paris«. Mit der britischen Entscheidung wird der gemeinsame europäische Prozess endgültig verlassen, zugunsten eines britischen Sonderstatus.Großbritannien kehrt zu seiner Rolle zurück, die seit dem Wiener Kongress 1814/15 davon bestimmt war, gegen den Friedenswillen kontinentaleuropäischer Staaten seine Interessen auf dem Kontinent unter Einschluss von Kriegen durchzusetzen.

Selbst innerbritische Konsequenzen des Referendums bergen auf dem Gebiet der Sicherheit unkalkulierbare Gefährdungen unterschiedlicher Brisanz für die europäische Entwicklung: Das Abstimmungsergebnis machte – nicht unerwartet – deutlich, dass weder Schottland noch Nordirland die EU zu verlassen bereit sind. In Schottland ist es eine Frage der Selbstachtung, einen Weg in die staatliche Unabhängigkeit zu finden, um die gewachsenen Beziehungen zum politischen Europa aufrecht zu erhalten. In Nordirland steht die britische Kolonialherrschaft zur Disposition, ein baldiges Ende scheint mehr als gewünscht. Die Einbindung Englands und der Republik Nordirland in die EU ermöglichte staatsrechtliche Vereinbarungen innerhalb des Landes sowie zwischen der Republik und Großbritannien. Dieses Scharnier fällt jetzt weg. Aus der Zeit der massiven Auseinandersetzungen zwischen irischen und britischen Kräften in Nordirland in der Zeit des Kalten Krieges ist bekannt, in welchem Maße die Sowjetunion durch das massive Auftauchen nuklear bestückter U-Boot-Rudel vor den Küsten Großbritanniens drohend in den Konflikt Eingriff nahm. Auch andere Mächte könnten auf die Idee kommen, sich an einem zu erwartenden Konflikt beteiligen zu wollen.

Das Referendum in Großbritannien ist die logische Konsequenz der Konferenz von Bratislava mit der Ankündigung, Europa im amerikanischen Interesse erneut teilen zu wollen. Mit dem Ergebnis wird die innereuropäische Tendenz der Loslösung von Brüssel zugunsten engster Zusammenarbeit mit den USA seitens der baltischen Staaten, Polens, Rumäniens und Bulgariens verstärkt und damit das Europa der Europäischen Union de facto gegen die Russische Föderation militärpolitisch in Stellung gebracht. Sollten die bislang neutralen Staaten in die NATO inkorporiert werden, sind die amerikanischen Kriegsvorbereitungen in Europa abgeschlossen. Die NATO-Gipfelkonferenz in Warschau Anfang Juli 2016 wird dazu den Weg weisen.

Das Ende des Kalten Krieges sollte Europa eine friedliche Zukunft garantieren. Heute müssen wir sehen, dass wir einem neuen Weltkrieg und der Zerstörung unserer Länder so nah sind wie seit 1945 nicht mehr. Die NATO, wir und unsere Partner in diesem Bündnis haben unermessliches Leid über Nachbarregionen gebracht, und das Elend drängt nun über unsere Grenzen. Mit dem EU-Austritt verlässt Großbritannien das große europäische Friedensprojekt, es ist nicht mehr an die Friedenspflicht untereinander gebunden. Der britische Imperialismus hat sich in seinem Kerngebiet England wieder manifestiert, und es wird zum Schaden Europas sein, was uns jetzt bevorsteht.

Wir haben es anders versucht. Deshalb widme ich dieses Buch meiner Frau Renate, unserem Sohn Markus und meiner Mutter Hedwig, die ihrem Mann und meinem Vater seit seinem frühen Tod als Soldat der Deutschen Wehrmacht im Oktober 1945 in Liebe verbunden ist. Dabei denke ich auch an die Eltern meiner Frau, Annette und Peter Kelzenberg, welcher als junger Offizier während des Feldzugs gegen die Sowjetunion seinen linken Arm verlor. Mein Respekt gilt zudem Walter Breil, meinem guten Kollegen Dr. Bertram Wieczorek, Alfons Kranz und all denen, auf deren Tatkraft und Loyalität ich in jenen dramatischen Zeiten zählen konnte, vor allem General Viktor Schemetow, Irina Sorokina und Charles Weishar, Captain US Navy, der Henry Kissinger den Weg nach China vorbereitete, wodurch der amerikanische Präsident Richard Nixon es schaffte, ein neues Kapitel in den Beziehungen aufzuschlagen.

Relikte des Kalten Krieges

Interview unter Tage

Im Spätsommer 2015 plante das ZDF-Team von Frontal 21 einen Bericht über die im Raum stehende Modernisierung amerikanischer Atomwaffen für deutsche Kampfflugzeuge, die auf dem Luftwaffenstützpunkt Büchel in Rheinland-Pfalz stationiert sind. So wandte man sich mit der Anfrage nach einem Interview an mich, denn die Autoren Herbert Klar und Ulrich Stoll wünschten sich mit mir über die Rolle von Nuklearwaffen unter den heutigen Bedingungen zu unterhalten. Dafür gab es einen sachlichen Grund: Im Frühjahr 1989, während des letzten großen länderübergreifenden Stabsrahmenmanövers der NATO im Kalten Krieg – Wintex/ Cimex1 genannt –, in dessen Rahmen ich die Rolle des »übenden Verteidigungsministers«2 einnahm, hatte ich nach zwei Wochen empfohlen, das Ganze abzubrechen, und meine Bitte über den »übenden Bundeskanzler« Waldemar Schreckenberger an Helmut Kohl weitergeleitet. Denn es hatte sich herausgestellt, dass ein möglicher Einsatz nuklearer Waffen gegen Dresden oder Potsdam vonseiten der NATO einkalkuliert war, was meines Erachtens nicht verantwortet werden konnte, auch nicht im Rahmen einer Übung. Der Bundeskanzler entsprach umgehend meiner Bitte, und die Bundesrepublik Deutschland stieg aus diesem wichtigen Manöver aus.

Für mich gab es keinen besseren Ort für das Interview als den inzwischen zu einem Museum umgewandelten ehemaligen Regierungsbunker bei Marienthal an der Ahr. Und es hätte kein schönerer Tag für eine Fahrt von meinem Wohnort Jüchen aus sein können. Sie ging über die A 61, über die ich damals, während des Manövers, bei jeder Tages- und Nachtzeit mit gepanzerten Fahrzeugen gefahren wurde. Im September 2015 herrschte wunderbares Wetter: Die Sonne strahlte von einem knallblauen Himmel, und die spätsommerlichen Farben der Natur zogen kraftvoll den Blick hinüber zu den sanften Hügeln der Eifel. Das Navigationssystem ließ mich aufgrund der Routenempfehlung an seiner Funktionsfähigkeit zweifeln. Ich sollte die Autobahn nicht wie gewohnt bei Meckenheim verlassen, sondern die in Fahrtrichtung Koblenz liegende Abfahrt Grafschaft nehmen, wodurch mir dann aber der Blick auf ein liebliches Stück unseres Rheinlandes geschenkt wurde, kurz vor der herbstlichen Weinlese. Die Landschaft würde schon in wenigen Wochen andere Farben aufweisen.

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image Eingang zum Regierungsbunker nahe Ahrweiler, heute ehrenamtlich betriebene Dokumentationsstätte

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image Drucktor im Bunker

Das Navi führte mich, wie sich dann herausstellte, zu einem Nebeneingang des Bunkers, wo wir – inzwischen war auch das ZDF-Team eingetroffen – von der Leiterin der Erinnerungsstätte, der Museumspädagogin Heike Hollunder, begrüßt wurden, die mit ihren engelblonden Haaren schon durch ihr Erscheinungsbild vergessen machte, dass wir es hier mit einem Relikt aus dem Kalten Krieg zu tun hatten.

In diesen Tagen dämmert so manchem, mit welcher Wucht die Vergangenheit zurückzukehren droht: Wegen der derzeitigen politischen Differenzen, allem voran dem umstrittenen Verhalten gegenüber Russland, lebt der Kalte Krieg wieder auf, unter maßgeblichem Einfluss der Vereinigten Staaten, welche die Beziehungen zwischen den europäischen Mächten zu bestimmen suchen. Das Interview über ein für mich sehr wichtiges Ereignis der Vergangenheit war aber nicht nur vom erneuten Schatten des Krieges über Europa geprägt. In einer Zeit, in der die deutschen Fernsehanstalten fast nur Substanzloses im Angebot haben und die Zuschauer in der Regel zwischen »Glotzenkochen« und Tatort-Abenden wählen dürfen, war es mir ein Vergnügen, auf das Team von Frontal 21 zu stoßen. Hier musste man niemandem erklären, was es mit dem Kalten Krieg so auf sich hatte, und die aktuelle Sicherheitslage war allen voll präsent, wie sich dann auch in dem am 22. September 2015 ausgestrahlten Sendebeitrag zeigte.3

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image Dreharbeiten im Ahrtal-Bunker zum Frontal-21-Sendebeitrag »Stationierung neuer US-Atomwaffen in Deutschland«

In dem fast liebevoll restaurierten Teilstück des Regierungsbunkers stellte sich bei mir auf der Stelle wieder Beklemmung ein, welche uns alle in der Hochzeit des Kalten Krieges täglich begleitet hatte. Das lag nicht nur an dem rumpelnden Geräusch, als sich auf Knopfdruck von Frau Hollunder die gewaltigen Stahltore hinter uns schlossen. Genau wie damals hatte ich das Gefühl, der Willkürlichkeit und Vergeblichkeit menschlichen Tuns ausgeliefert zu sein. Ich hörte förmlich, wie sich der Schlüssel in der Türe, durch die man gerade eingetreten war, endgültig hinter einem umdrehte, sodass der Weg zurück vielleicht nicht mehr möglich war. Schon zu der Zeit, als die Bunkeranlage durch die Regierung Adenauer konzipiert worden war, bestand die Gewissheit, dass sie angesichts des militärischen Potenzials des Warschauer Paktes einem Angriff nicht hätte standhalten können. War also deshalb das Übungsgeschehen der NATO-Manöver im Grunde wertlos? Bestimmt nicht, denn allein die im Deutschen Bundestag stattfindenden Beratungen des sogenannten »Gemeinsamen Ausschusses«, welcher im Ernstfall eine Art Notfallparlament bildet und bei dem Regierung, Parlament und Bundesländer zusammenarbeiten, ergeben ein einzigartiges Bild kollektiven staatlichen Handelns.

Geheimnisvolle Regierungsbunker

Vermutlich bin ich der einzige Parlamentarier oder Besucher überhaupt, der noch vor der offiziellen Wiedervereinigung Deutschlands und Beendigung des Kalten Krieges gleich vier Regierungsbunker zu Gesicht bekommen hat: den bundesdeutschen im Ahrtal, die beiden US-amerikanischen sowie den Bunker der noch bestehenden DDR in Biesenthal-Prenden, in den mich mein Kollege aus dem Berliner Ministerium für Verteidigung und Abrüstung Bertram Wieczorek 1990 einlud. Über diese Anlage in der Schorfheide nördlich von Berlin ist in den letzten beiden Jahrzehnten ausführlich in der Presse berichtet worden, auch über den Umstand, dass er für einige Wochen für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich war. Bemerkenswert fand ich hier vor allem den deutlich erkennbaren Versuch, so etwas wie Wohnlichkeit für die Führungsspitze der DDR herzustellen. So ganz anders als die nackten Bunkerwände im Ahrtal! Und noch etwas überraschte mich in hohem Maße: Als wir im Verlies des Staatsratsvorsitzenden standen, wurde mir angeboten, mein Bonner Büro über das auf dem Tisch stehende Telefon anzurufen. Ich wählte, und siehe da: Meine Mitarbeiterinnen im Bundesministerium der Verteidigung, Frau Diercks und Frau Schneider, waren sogleich am Apparat. Der Bunker war also ans westdeutsche Telefonnetz angeschlossen! Unglaublich, wen Erich Honecker so alles hätte anrufen können – direkt natürlich.

Den US-amerikanischen NORAD-Bunker bei Colorado Springs besuchte ich zwischen 1985 und 1988 mehrfach. Natürlich waren auch diese Besuche etwas ganz Besonderes. NORAD steht für »North American Aerospace Defense Command« (zu Deutsch: Nordamerikanisches Luft- und Weltraumverteidigungskommando), von hier aus wird der Weltraum überwacht, um rechtzeitig vor Angriffen mit Interkontinentalraketen warnen zu können – so die offizielle Funktion. Denn man hat darüber hinaus einen wachsamen Blick auf die gesamte Welt, von hier und nach hier laufen den Globus umspannende militärische Befehls- und Kommandostränge; Bestimmungen durch den US-Präsidenten und die nachgeordneten Entscheidungsorgane der amerikanischen Regierung – einschließlich des Pentagons –, welche für den Ernstfall getroffen worden sind, werden hier umgesetzt.

Auch Regionen, die nicht von unterschiedlichen »Alarmstufen« bestimmt sind, werden von NORAD aus wie unter einer riesigen Lupe tagein, tagaus genau beobachtet. Nichts soll den Spähern und ihren Systemen entgehen. Die Kommandostelle muss man sich zusammen mit der Einsatzzentrale des strategischen Bomberkommandos der Vereinigten Staaten nahe Omaha im Bundesstaat Nebraska denken. In beiden Einrichtungen wurde ich im Rahmen meiner Besuche als Mitglied des Bundestags offen informiert, ja nachdrücklich ins Vertrauen gezogen. Riesige Bildschirme waren zu sehen, auf denen alle Daten und Statusmeldungen zusammenliefen – genau so, wie hinlänglich aus dem Kino oder Fernsehberichten bekannt: Viele Menschen kennen etwa die überdimensionierte Weltkarte aus War Games – Kriegsspiele (1983), die eine riesige Wandfläche im NORAD-Bunker bedeckt. Doch wenn man einmal die Gelegenheit hat, diesen Ort selbst aufzusuchen, entfaltet der amerikanische Spielfilm eine noch bedrückendere Wirkung, als dies ohnehin schon möglich war. Er zeigt eindrücklich die dramatische Wirkung von Computerspielen auf hochkomplexe militärische Systeme und was ablaufen kann, wenn dem Menschen Entscheidungen aus der Hand genommen werden.

Die Möglichkeit zu erhalten, als einer von ganz wenigen westlichen Politikern, ja Zivilisten überhaupt die beiden streng geheimen Orte, die Kommandostelle NORAD sowie die Einsatzzentrale Offutt Air Force Base bei Omaha, besuchen und die Erlebnisse mit Kinofilmen vergleichen zu können, das hatte schon etwas. Vor allem beeindruckte mich, mit welch unglaublicher Offenheit man mir Einblick gewährte in das globalstrategische Denken der US-Streitkräfte und wie freimütig man mit mir darüber diskutierte. Es zeugte vom Wunsch der Verantwortlichen vor Ort wie auch seitens der US-Regierung, einen Nachweis über eigene Anstrengungen und Fähigkeiten zu geben und auch die Verbündeten daran teilhaben zu lassen. Der Austausch sensibler Informationen ließ kaum etwas zu wünschen übrig. Zwar war es überhaupt nicht nach dem Geschmack der deutschen Bundesregierung, wenn wir, Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zu viel wussten, und so manche der Informationen wollte man als allein der Regierung zugängliches Wissen behandelt haben. Doch die vorzügliche Zusammenarbeit, die ich mit der amerikanischen Seite in jenen Jahren pflegte, sorgte für einen exklusiven Zugang zum weltumspannenden Wissen der US-Regierung, begründet in ihrem damaligen Einflussgebiet, welches von Washington über das amerikanische Oberkommando in Stuttgart, Somalia an der afrikanischen Ostküste und Honolulu auf Hawaii reichte. Damit ergab sich für uns in der Regel ein beachtlicher Wissensvorsprung dem eigenen Verteidigungsministerium gegenüber.

Die Gegend um den NORAD-Bunker verfügt über einen eigenen Charme, er liegt in einer spektakulären Gebirgslandschaft, den westlichen Ausläufern der Rocky Mountains, in denen in früheren Zeiten intensiv nach Gold geschürft wurde. Am Eingang hatte ich den Eindruck, meinen Blick fast bis nach New York schweifen lassen zu können, denn bis zu den Appalachian Mountains im Osten der Vereinigten Staaten gab es keine nennenswerte Erhebung mehr. Da war es nicht weit bis zu einer anderen Überlegung: Unser Schicksal wird bestimmt von den Auseinandersetzungen zwischen den Rocky Mountains und dem Ural, jenem Gebirgsmassiv, das sich quer über das sowjetische Gebiet erstreckt. Das war die eine Seite. Wandte man den Blick in die Gegenrichtung, gen Westen, zeigt er uns eine Welt zwischen den Rockys und dem Tienschan-Gebirge im westlichen China, inklusive der Himalaya-Abgrenzung zum indischen Subkontinent. Nun wanderten meine Gedanken zu Mitteilungen und Debatten über den globalen Rauschgifthandel. Verantwortliche Militärs ließen nie einen Zweifel daran, dass einer der wichtigsten Anbauorte die schöne Insel Hawaii mit ihren langen und unzugänglichen Tälern ist. Dies sorge für gewaltige Produktionsmengen an Drogen, die unkontrolliert von den Häfen der Inselgruppe auf das amerikanische Festland verschifft würden.

Der Weg in den Bunker war weniger spektakulär. Mit einem Militärbus und einem PKW ging es ein gutes Stück in den Berg hinein, bevor ein Abschnitt erreicht wurde, in dem sich die Aufzüge für die Mannschaften und Besucher befanden. Die Zutrittskontrollen waren im Vergleich zu heutigen Sicherheitschecks am Flughafen nicht der Rede wert – mehr »zivil« ging kaum. Das hing bestimmt auch mit der Gewissheit zusammen, dass jeder, der sich dem Eingangsbereich auch nur näherte, vorher bereits umfassend »durchleuchtet« worden war. Ich konnte mich abermals des Gedankens nicht erwehren, den ich auch beim Betreten des Regierungsbunkers im Ahrtal hatte: dass die sowjetische Nuklearrüstung sicher gerade diese zentralen Kommandoeinrichtungen im Visier hatte und Interkontinentalraketen mit präzisen Sprengköpfen zielgenau auf sie ausgerichtet waren, ungeachtet dessen, dass sich mehrere hundert Meter Gestein und ein massiver Berg darüber wölbten.

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image Blick in den NORAD-Bunker im »Cheyenne Mountain Complex« nahe Colorado Springs, in dem heute wieder 350 Militärangehörige arbeiten

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image Bunkerbeschäftigte des 721st Communications Squadron Systems Center vor Monitoren, die weltweit vor Raketenangriffen warnen

Was also hätten die Bunker im Ernstfall genutzt? Darüber wurde in der Zeit meiner Besuche bei NORAD diskutiert. An dem Bunker hat diese Diskussion nichts geändert, auch nicht die Möglichkeiten, die man an seine Überlebenschance bei dem von Nuklearexplosionen ausgelösten »EMP«, dem elektromagnetischen Puls, hätte knüpfen müssen. Fragen dazu stellte man im Bunker besser nicht, weil jeder davon ausgehen konnte, dass es darauf genau nicht angekommen wäre. Vielleicht war zumindest der Bunkerbereich vor dem Ausfall aller elektrischen Geräte im Falle eines Angriffs mit Nuklearwaffen geschützt, der Bevölkerung draußen aber wäre das keine Hilfe gewesen. Dabei war hier alles sehr sehenswert und die ursprüngliche Landschaft im Umfeld der Bunkeranlage genau das, was man mit dem Westen der Staaten verbindet. Wenn man von Colorado Springs aus etliche Meilen in das Bergmassiv der Rocky Mountains hineinfuhr, eröffnete sich dem Besucher der Zugang zu ehemaligen Goldgräbergemeinden, die sich über die Jahrzehnte gerettet hatten. Windschief vielfach, aber man konnte seinen Gedanken nachhängen, bevor man in der Halle des weltberühmten »Broadmore Hotel« verschwand.

Nachdem die gigantische amerikanische Bunkeranlage im Juli 2006 vorerst stillgelegt, genauer: in den Status »warm standby« versetzt wurde, durfte sie wegen der überschaubaren weltpolitischen Lage fast zehn Jahre lang ein »Dornröschenschlossdasein« genießen. Den mindestens fünfzehn Gebäuden – jeweils mindestens drei Stockwerke hoch und auf Stahlspiralen zur Abfederung stehend – schien keine Zukunft vergönnt zu sein. Nun aber wurde sie mit einem Aufwand von fast einer Milliarde Dollar auf eine neue Aufgabe vorbereitet, die scharfe Beobachtung des »neuen, alten Feindes«. Die Entscheidung der US-Regierung, »Cheyenne Mountain« zu modernisieren, basiert auf einer fatalen Gesinnungsänderung, denn die Russische Föderation liefert nach allgemeinem Urteil keinen hinreichenden Grund dafür. Da auch am Ausbau nuklearer Arsenale mit Hochdruck gearbeitet wird, macht sich Nervosität breit.

Meinem Empfinden nach war das zur Zeit meiner Besuche, alleine oder mit Verteidigungspolitikern der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, anders. Damals schien man durchaus bereit, sich auf den sich abzeichnenden Friedensprozess einzulassen, und betrachtete die europäische Entwicklung mitsamt der Annäherung von Ost und West, speziell im Brennpunkt Deutschland, mit Wohlwollen. Demgegenüber zeichnen die Äußerungen des inzwischen ehemaligen STRATFOR-Chefs George Friedman aus dem Frühjahr 2015 ein anderes Bild. In der aufgeheizten Stimmung des Ukraine-Konfliktes ließ er sich vor dem »Council on Foreign Relations« in Chicago dergestalt vernehmen, dass es seit der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 Ziel amerikanischer Politik gewesen sei, eine gedeihliche und gutnachbarschaftliche Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland nachhaltig zu hintertreiben. In einer engen und friedlichen Zusammenarbeit dieser beiden kontinentaleuropäischen Staaten sehen offenbar heute bestimmte amerikanische Kräfte eine der größten Bedrohungen für eine ausgreifende amerikanische Globalpolitik.

Beim Strategischen Bomberkommando der USA auf der Offutt Air Force Base in Omaha war der beunruhigende Gedanke an eine allzeit mögliche globale nukleare Vernichtung erschreckend präsent. Daneben stand für mich die Erinnerung an westfälisches Bier. Ein guter Freund hatte mich bei einem meiner dortigen Besuche mit zu den riesigen Arealen mitgenommen, wo aus dem Süden des Landes herangeschaffte Rinder zusammengetrieben wurden. Gatter, so weit das Auge blickte! In der Mitte des von Horizont zu Horizont reichenden Geländes ein einsames Gebäude, vermutlich eine Gaststätte zur Versorgung jener Menschen, welche die Rinder auf dem Weg zu den Schlachthöfen begleiteten. Nicht zu übersehen, stand in der Nähe eine übergroß dimensionierte Werbetafel: »Warsteiner Bier«. Näher konnte mir die Heimat kaum sein.

Als der Aufzug uns mit großer Geschwindigkeit in Richtung Erdinneres transportierte, war nicht abzuschätzen, welche Distanz er dabei zurückgelegte. Angaben über die Tiefe des Bunkers bei Colorado Springs aber wären höchst zweifelhaft gewesen, weil sie aus Geheimhaltungsgründen gar nicht gemacht werden durften. Es war jedenfalls tief genug, sodass der Bunker diesen Begriff auch verdiente, denn an diesem Ort taten sich Abgründe auf: Von hier aus wäre im Ernstfall der Untergang der Welt umgesetzt worden. Die Damen und Herren Offiziere gaben bereitwillig Auskunft, doch man wurde den Eindruck nicht los, dass sich in dem großen Saal ein anderes Bild zeigen würde, sobald wir den Raum wieder verlassen haben würden. Einige Zeit später ist es auf einem amerikanischen Manövergelände nur mit Mühe gelungen, die übergroßen Landkarten zu verhängen. Doch mein Büroleiter Walter Breil und ich hatten bereits darauf gesehen, wo die NATO in Europa, tief auf sowjetischem Gelände, die Verteidigung gegen den Warschauer Pakt übte. Die amerikanischen Bunker zeigten jedenfalls eine ganz andere Dimension als etwa der erweiterte Weinkeller im Ahrtal, um den man bei uns ein solches Aufheben macht.

Während der Besucher bei NORAD den Eindruck hatte, in einen der langgestreckten Tunnel der New Yorker U-Bahn einzufahren, wunderte man sich beim Betreten der ebenso hochgeheimen DDR-Anlage, welche von Wandlitz aus praktisch fußläufig erreichbar war, dass es sich um einen Regierungsbunker handeln sollte. Die Tarnung war so perfekt, dass niemand daran denken konnte. Da vermittelte der Zugang zur Bunkeranlage in Marienthal schon eher den Eindruck, es mit einer militärischen Anlage zu tun zu haben:

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image Kontroll- und Steuerraum im »Honecker-Bunker« bei Prenden, von wo aus die Anlage 36 Stunden autark hätte betrieben werden können