Durch Eiswüsten und Flammenmeere

Durch Eiswüsten und Flammenmeere

Eine märchenhafte Anthologie

Hrsg. Christian Handel

Drachenmond Verlag

Inhalt

Vorwort

Das Herz hinter dem Spiegel

Gehasst

Das einsame Herz

Die Seele der Bestie

Schwarz wie Ebenholz

Die Goldspinnerin

Ladon & Herakles - Götterbalg

Schicksalsweberin

Ende gut, alles gut

Der Schnee flüstert meinen Namen

The Madness begins: Die Stadt der verlorenen Herzen

Der Fluch der Rose

Der bestrafte Ehrgeiz des Mondes

Der Brunnen im Hof

Das Lied der Banshee

Shahrazad und das Königreich der sieben Berge

Notes

Vorwort

Herzlich willkommen zu unserer vierten Märchenanthologie. Egal, ob ihr Wiederholungstäter seid oder zum ersten Mal mit uns in das Reich hinter den Spiegeln reist, wir freuen uns sehr, dass ihr dabei seid.

Durch Eiswüsten und Flammenmeere ist wie seine Vorgänger eine Märchen­anthologie. Diesmal gesellen sich allerdings auch einige Sagen­adaptionen dazu. Neben dem Spiel mit Märchenmotiven hat auch das Neuinterpretieren von Sagen und Mythen in der Phantastik eine lange Tradition. Im Kielwasser von Marion Zimmer Bradleys zeitlosem Artus-Roman Die Nebel von Avalon (1982) erlebte das Subgenre gar eine Blütezeit. Im neuen Jahrtausend ist es um Sagenadaptionen zwar ruhiger geworden – sieht man einmal von Jugendbüchern wie Percy Jackson & Co. ab. Sie sind jedoch nie ganz verschwunden. Ich wäre nicht überrascht, wenn sie bald wieder sehr beliebt würden.

Unsere diesjährigen Autorinnen zeigten sich jedenfalls begeistert davon, mit diesen Stoffen zu spielen. So tummeln sich neben Rapunzel, Rotkäppchen & Co. die Zauberin Circe, der Magier Merlin, eine keltische Todesfee und der Sohn der Medusa auf den nachfolgenden Seiten.

Noch etwas ist diesmal anders als in den Vorjahren: Noch nie gab es so viele Kurzgeschichten aus der Sicht der vermeintlichen Bösewichte. Denn jede Geschichte hat zwei Seiten. Mindestens. Wir fanden es an der Zeit, den Brunnennixen und Wolfsbestien, den Stiefmüttern, Goldspinnern und Schicksalsweberinnen die Möglichkeit zu geben, ihr Schweigen zu brechen.

In diesem Buch findet ihr ihre Geschichten.


Christian Handel, Sommer 2019

Das Herz hinter dem Spiegel

Fabienne Siegmund

Fabienne Siegmund

Fabienne Siegmund, Jahrgang 1980, lebt in der Nähe von Köln und bezeichnet sich selbst als »Architektin von Luftschlössern, Traumgebilden und anderen zumeist fantastischen Stoffen aus Buchstaben.«

Wie ich ist Fabienne ein großer Märchenfan. Fast allen ihren Geschichten haftet etwas Märchenhaftes an, seien es ihre Novellen wie Alissa im Drunterland und Der Karusselkönig oder ihre Romane wie Namiria oder Winterträne.

Neben ihren eigenen Erzählungen hat sie zudem bereits zahlreiche Anthologien herausgegeben. Ihr nächstes Buch, Die Herbstlande 2 Verklingende Farben, ist eine Kollaboration mit den AutorInnen Stephanie Kempin, Vanessa Kaiser und Thomas Lohwasser. Und als wäre sie nicht mit all diesen Geschichten vollauf beschäftigt, engagiert sie sich zudem ehrenamtlich als Mitglied des Vorstands des PAN e.V., dem Netzwerk für deutschsprachige PhantastikautorInnnen.

Wer unsere erste Märchenanthologie gelesen hat, kennt Fabiennes Märchen Das Rosenkind. Darin erzählt sie – wie übrigens Asuka Lionera in diesem Jahr – die Vorgeschichte der Fee aus Die Schöne und das Biest. Diesmal hat sie sich für die Vorgeschichte einer anderen faszinierenden Frauenfigur entschieden:

»Ich habe die Schneekönigin gewählt, weil ich das Märchen in seiner Form liebe, die verschiedenen Stationen und Unterkapitel«, verrät sie. »Vor allem aber, weil die Figur in ihrer Kälte so großartig ist und ich mich immer gefragt habe, wie sie zu der wurde, die sie ist.«

Auf den folgenden Seiten findet ihr Fabiennes Antwort.


www.facebook.com/FabienneSiegmundWortjongleurin

Das Herz hinter dem Spiegel

1

Kein Herz ist von Beginn an aus Eis.

Die Kälte kommt erst mit der Zeit, zugefügt von der Welt. Bedeckt das Herz zunächst nur mit einer dünnen Schicht Raureif, leicht fortzuwischen. Doch manchmal gibt es keine Wärme, und irgendwann wird die Kälte zum vertrauten Gefühl. Das Herz gefriert gänzlich, und passt man nicht auf, zerspringt es.

Ganz selten aber, vielleicht einmal in einer Million Jahre, auf einem der Abermillionen von Sternen, gibt es jemandem, der sich dieses gefrorenen Herzens annimmt. Es in warmen Händen birgt, dass man fast zu glauben beginnt, all das Eis könne schmelzen.

Hoffnung jedoch ist keine leichte Kost und man sollte sie mit Vorsicht genießen. Weil Spiegel zerbrechlich sind und die Ewigkeit mehr ist als ein Wort. Und weil die Leere, die dann bleibt, sich allein mit Winter füllt.

Ich bin der weiche Schnee, der in die Welt wirbelt, die klirrende Kälte, die die Luft klingen lässt. Ich bin in den Winden, die schreiend durch die Dörfer wüten, und in dem Eis, das alles erstarren lässt.

Ich bin die Schneekönigin. Doch einst war ich ein Mädchen.

Leise hallen meine Schritte durch die hohen, leeren Hallen meines Schlosses. Es ist still hier. Wo nichts ist, kann nichts klingen. Für fremde Augen wäre all das Weiß, das mich umgibt, gefährlich blendend, aber ich sehe die Farben in Eis und Schnee, die verschiedenen Nuancen von Blau, das schimmernde Aquamarin und das tiefdunkle Saphir. Für mich tanzen glänzende Schleier über das Weiß, flirrendes Glitzern wechselt sich mit grauen Schatten ab. Ich erkenne die glatten Flächen und scharfen Kanten, wo sie anderen Augen verborgen bleiben. Unzählbar viele Tropfen Blut haben sich im Eis verfangen, wie Statuen stehen all jene nun in den Gängen des Schlosses.

Mir tun Schnee und Eis nichts. Meine Hände spüren weder ihre tröstliche Kälte noch die Schnitte, die sie anderen zufügen. Ich blute nicht. Einzig die silberglänzenden Spiegelscherben, die vor dem leeren Standrahmen liegen, kann ich nicht berühren.

Andere müssen es tun, müssen meine Aufgabe erfüllen.

Ich habe vergessen, wie der Junge heißt, der es gerade versucht.

Die Kälte hat seine Fingerspitzen und Lippen tiefblau gefärbt, aber er spürt keinen Schmerz, der Splitter in seinem Herzen betäubt seine Sinne. Es ist die einzige Gnade, die ich ihm zuteilwerden lassen kann, denn gegen den zweiten Splitter, der in seinem Auge, kann ich nichts tun, obwohl ich an ihm ebenso Schuld trage wie an dem in seinem Herzen.

Kay.

Warum fällt mir sein Name wieder ein? Sicher. Das Mädchen hat geschrien. Nicht alle Menschen wenden sich ab, wenn das Herz zu Eis wird.


Jan hat es auch nie getan …

Der Junge hebt den Kopf. Er kniet zwischen Spiegelscherben, ein diffuses Muster vor sich. Die Splitter in seinen Augen macht ihn blind. Wut überkommt mich, ich stürze zu ihm, trete das sinnlose Spiegelmuster auseinander. Glas knirscht unter meinen Füßen und die Schreie, die ich auf Kay herabprasseln lasse, gelten eigentlich mir – der feine Scherbenstaub macht es zusehends unmöglich, die Aufgabe zu erfüllen.

Der Junge reagiert nicht einmal. Sein Herz ist so kalt, wie meines einst war. Als ich es noch hatte.

Nun ist es verloren. So, wie Jan es ist.


2

Lange bevor mich der Winter küsste, war ich nichts als ein Mädchen, das mit goldenen Zöpfen durch das ihm bekannte Stückchen Welt gehüpft war. Da war der Hof meiner Eltern, das kleine Dörfchen und die Wiesen um ihn herum, ja, sogar die ersten Ausläufer des dunklen Waldes, dessen Geheimnisse mich und andere Kinder im Dorf stets gelockt haben.

Doch das Schicksal vermag ein grausamer Dieb zu sein, und eines Sommers raubte es mir die Eltern. Sie ertranken im Fluss, der unter schweren Sommergewittern zu einem reißenden Strom angeschwollen war.

Damals lernte ich, dass Einsamkeit ein Ort ist, dem man mitunter nur schwer entkommen kann. Ich hatte keine Anverwandten und die Zeiten waren hart – niemand nahm mich auf. Im Gegenteil, ich wurde wie ein räudiger Hund überall davongejagt. So lief ich fort, weiter noch, als meine Beine mich trugen. Ich lernte zu betteln und zu stehlen, bis ich alt genug war, für meinen Lebensunterhalt zu arbeiten.

Ich war menschenscheu, Schichten aus Raureif waren zu Mauern aus Eis geworden – wer zu oft abgelehnt wird, hört auf zu vertrauen; wer zu oft verletzt wird, bleibt lieber allein. Die Bauernfamilie, in deren Diensten ich stand, schätzte dies an mir. Still und fleißig, bescheiden und belastbar. Dass ich nie lächelte, störte ebenso wenig wie der Umstand, dass ich mich stets schnell von gemeinsamen Mahlzeiten zurückzog, selbst im Winter, wenn die große Küche der einzig beheizte Raum war.

Doch ich liebte den Winter, das Gefühl, dass die Welt erstarrte und so viele Dinge unter der Decke aus Schnee verschwanden. All die Kälte war mir so viel näher als die sengende Hitze des Sommers, die sich nur allzu oft in Gewittern entlud. Donner, Blitz und Wetterleuchten trugen dann die Erinnerungen zu mir zurück, als Mutter und Vater nicht wiedergekommen waren.

Der Winter fügte mir nie ein solches Leid zu.

Vielleicht war durch diese Liebe alles vorherbestimmt. Doch vielleicht ist ein wankelmütiges Wort, Möglichkeiten und Entscheidungen sind immer mannigfaltig.


Und im Frühling, der diesem Winter folgte, änderte sich alles. Jan kam auf den Hof, mit seinen neunzehn Jahren nur einen Winter älter als ich, die dunklen Haare kinnlang und von einem ernsten und schüchternen Wesen. Seine Augen waren immer irgendwie traurig, und die Bäuerin befand, dass er dies mit mir gemein hatte.

Jan sah tatsächlich mehr in mir als andere. Ihm war es nicht genug, dass ich arbeitete und die Mahlzeiten mit den anderen einnahm.

Er fragte mich Dinge. Woher ich kam. Was mit mir geschehen war. Zunächst blieb ich stumm, aber an dem Tag, an dem er sich um ein verletztes Rotkehlchen kümmerte und ich ihm half, fand ich meine Worte. Erzählte von meinen Eltern, erfuhr, dass unsere Schicksale einander glichen. Auch er war eine Waise, nur dass er das Glück hatte, wenigstens für kurze Zeit noch ein liebendes Zuhause bei seiner Großmutter gehabt zu haben, bis der Tod auch sie aus dem Leben gerissen hatte.

Er fluchte über den Winter, der ihr mit seiner Kälte zugesetzt hatte, wie ich über den Sommer.

Wir waren jung und dumm und wussten nichts vom Gleichgewicht der Welt. Doch zum ersten Mal spürte ich, dass die Kälte in meinem Herzen ein wenig verschwand. Ich hörte den Klang meines eigenen Lachens, das sich mit dem Jans zu einer Melodie verband.

Der Frühling ging und reichte dem Sommer die Hand, die Arbeit auf dem Hof wurde mehr, doch Jan und ich fanden immer noch Zeit füreinander, spazierten im Mondschein, tanzten unter Sternen und eines Abends hauchte er mir einen zarten Kuss auf die Wange. Die Schmetterlinge, die ich in mir zu spüren meinte, schafften es fast, meinen Zorn auf den Sommer zu vertreiben.

Womöglich hätten wir sogar geheiratet. Heute weiß ich, dass dies das größte Geschenk von allen gewesen wäre. Zu jener Zeit aber war das Eis stärker und Ereignisse, die mich zur Schneekönigin machten, kamen ins Rollen, noch ehe das zarte Band zwischen mir und Jan fester werden konnte.


Denn ein einzelner Funke vermag nicht das Eis von Jahren zu schmelzen. Und als der Mann kam, der gelbgoldene Butterblumenblütenblätter vor meinen Augen in weiße Schneesterne verwandelte, erlag ich der Magie des Winters, die mir offenbart wurde. Ich folgte dem Fremden, von dem ich nicht mehr wusste, als dass er nach tiefstem Eis roch und seine Augen die Farbe von glitzerndem Schnee hatten. Er führte mich zum Rand eines Waldes, dunkle Tannen wachten an seiner Grenze, tiefe Schatten lagen zwischen ihnen.

»Den Weg zu mir musst du selbst finden«, sagte der Fremde. »Aber ich sehe in deinem Herz, dass du den Weg seit langer Zeit kennst. Ich lese es in deinen Augen, die wie tiefblaue Eiskristalle funkeln. Du bist ein Kind des Winters, du kannst mir ebenbürtig sein.« Seine Stimme klirrte leise in der Luft und malte glitzernde Sterne in die Dunkelheit. Ich spiegelte mich in seinen schneeklaren Augen.

»Das Wort Ewigkeit sollst du legen«, schreie ich Kay an. Er sieht nicht einmal auf, seine vor Kälte tiefblauen Hände greifen schon automatisch nach den Scherben. Manchmal, wenn ich ganz genau hinsehe, kann ich ein Gesicht darin erkennen. Dann lasse ich einen Wirbel aus Schnee und Wind erscheinen, der das Bildnis zerreißt, weil es einen Schmerz gibt, der sogar Herzen aus reinem Eis zerbricht. Denn manche Erinnerungen sind mächtiger als alles, was man für das Vergessen auf sich nimmt.


3

Der Fremde sagte nichts weiter, er strich mir nur durch das goldene Haar, und dort, wo seine Finger es berührten, floss das Gold aus ihnen heraus wie Wasser. Fünf schlohweiße Strähnen blieben.

»Das wird es dir leichter machen, den Weg zu finden. Er ist schwer, selbst für ein Winterkind wie dich, und du musst ihn allein und aus freien Stücken gehen. Ich darf dich nicht begleiten. Aber bist du dann bei mir, mache ich dich zu meiner Königin.«

»Wer bist du?«, brachte ich über die Lippen. Seine einzige Antwort war ein Lächeln gewesen, ehe er verschwand. Ich blinzelte, glaubte kurz an einen Traum. Aber da waren die weißen Strähnen im Gold meines Haares und der Schneestern, der sich in der Luft vor mir glitzernd drehte. Kaum dass ich ihn wahrnahm, wehte ihn ein Luftzug in den Wald hinein.

Mit klopfendem Herzen sah ich ihm hinterher, drehte mich dann unsicher um, dorthin, wo der Hof lag, wo Jan war.

Ein Tschilpen erklang, und dort, auf einem Felsen, saß das Rotkehlchen, das Gefieder aufgeplustert, das Köpfchen zur Seite geneigt.

»Nein, geh nicht«, schien mir sein Zwitschern zu sagen, es flatterte sogar auf mich zu, pickte mit seinem Schnabel nach meinen Haaren, zog an einer Strähne, ließ dann wieder los, um wild um mich herumzuflattern und zu zetern. Jan!, meinte ich zu hören, obgleich das unmöglich war.

Unsicher drehte ich den Kopf hin und her, blickte abwechselnd zum Hof und in den Wald hinein, wo der Schneestern schwebte. Sein Leuchten wurde stärker. Plötzlich war der Fremde zurück, hielt das Licht in seinen Händen.

»Er wird dir wehtun«, sagte er leise, ein Flüstern im Sommerwind. »So ist es immer. Menschen bleiben nicht. Immer ist nur ein Augenblick. Ich aber schenke dir die Ewigkeit.«

So schnell er gekommen war, so schnell löste er sich wieder in Dunkel­heit auf, nur der Schneestern blieb, verheißungsvoll schimmernd.

Ich dachte an den Tod meiner Eltern und den Schmerz, der nie ganz gehen wollte. Wie verlockend war da eine Ewigkeit im tröstenden Winter, wo mir kein Leid mehr geschehen konnte?

Schon machte ich einen Schritt auf den Waldrand zu, dann einen zweiten. Das Rotkehlchen stieß einen warnenden Ruf aus. Ich ging einfach weiter, drehte mich nicht einmal um.

Die Schatten, in die ich trat, waren tiefer und dunkler als alles, was ich bis dahin gekannt hatte. Allein das Licht des Schneesterns blieb mir, reichte in der Finsternis kaum eine Armlänge weit. Ich stolperte dem Stern hinterher. Manchmal fiel ich, dann nahm ich Geräusche aus dem Dunkel um mich herum wahr. Schnauben und Kratzen, Brummen und Ächzen, Knirschen und Knacken. Die Angst raubte mir den Atem und heftete meine Blicke an den Stern. So ging es, bis die Nacht endete. Mit dem Morgen endete auch der Wald. Ich trat auf eine Schneefläche hinaus, so weit und weiß, dass ich die Augen geblendet schließen musste.

Aber schon war der Fremde da, in einem Schlitten aus glitzerndem Eis, gezogen von Wölfen aus Schnee. Er reichte mir die Hand und ich stieg mit einem Lächeln zu ihm.

Die Fahrt berauschte mich. Wir flogen durch das allgegenwärtige Weiß, das von Abermillionen glitzernder Diamanten bedeckt zu sein schien, bis ein Schloss vor uns aus dem Nichts auftauchte, gebaut aus Schnee und Eis, tiefblau und hellweiß strahlend. Nie in meinem Leben hatte ich etwas so Schönes gesehen.

»Dies ist mein Palast«, sprach der Fremde. »Denn ich bin der Winterkönig, und wenn du willst, wirst du meine Königin sein. Nichts wird dich hier jemals verletzen, denn ich kann dich vergessen lassen, was Schmerz ist.«

Ich wollte, nichts ersehnte mein Herz so sehr, und so sagte ich Ja, vergessend, dass da nur wenige Stunden zuvor noch Menschen gewesen waren, die mir nie wehgetan hatten. Die Bauernfamilie, die mir ein Heim gegeben hatte. Und Jan. Vor allem Jan.

Der Winterkönig lachte, ich glaubte, vor Glück. Mit einem Handkuss führte er mich in die prächtige Eingangshalle, die ausladende Treppe hinauf, und zeigte mir Raum für Raum mein neues Zuhause, dann die Ländereien, die das Schloss umgaben.

»Hier gibt es keine Jahreszeiten, hier ist stets Winter. Niemand kann uns erreichen, solange in der Welt nicht Winter ist. Bis dahin führt nur ein gefahrvoller Weg in mein Reich.«


Ich schlief in dieser Nacht in einem weichen Bett, auf daunengefüllten Kissen und unter warmen Fellen.


4

Mundlose Bedienstete kleideten mich in feinste Kleider, Roben aus eiskristallbesetzter Spitze und federleichtem Satin. Ein Diadem aus Schneediamanten zierte mein langes Haar, das mit jedem Tag weißer wurde.

Ich war glücklich.

Mein König trug mich auf Händen, zeigte mir, wie man aus Wolken Schneesterne schneiderte, zarte Regentropfen in eisige Nadelstiche verwandelte und Bilder aus Eis malte. Ich tanzte mit ihm durch klirrend kalte Nächte, ritt auf Wölfen und ließ mich von seinem Schlitten durch die Welt ziehen, die ich nun mein Zuhause nannte. Scharfkantige Gletscher berührten den Himmel, tiefe Eishöhlen gruben sich in die Tiefen und Wälder wechselten sich mit weißen Ebenen ab.

Nie verspürte ich Kälte, wenn mein König bei mir war. Seine eisige Liebe wärmte und schützte mich. Wie er gesagt hatte, vergaß ich allen Schmerz, doch nicht nur ihn.

Und trotz allem Vergessen weinte ich in manchen Nächten, die Tränen verbrannten mir fast die Wangen.


Eines Tages kam der Winterkönig zu mir und schenkte mir einen riesigen Spiegel.

»Das Glas vermag dir die Welt zu zeigen, aus der du kommst, dein altes Leben. Schau es dir an, wenn dir danach ist.«


Ich tat es. Sah den Hof, von dem ich kam. Die letzten Tage des Sommers waren angebrochen, die Sonne hatte die Ähren gold gefärbt, Wiesen lagen in sattem Grün da und die mir vertrauten Gesichter schienen glücklich und zufrieden. Ich suchte nach Jan, fand ihn in seiner Stube, über seinen kleinen Tisch gebeugt, tief in eine Arbeit versunken, die ich nicht erkennen konnte. Auf dem Fenstersims hockte das Rotkehlchen und zwitscherte.

Schatten lagen unter Jans Augen, Traurigkeit in seinen Zügen. Kurz fragte ich mich, ob mein Verschwinden der Grund dafür war, doch die Stimme des Winterkönigs erklang und ich lief zu ihm.


An diesem Tag ließ ich es zum ersten Mal über dem Palastgarten schneien. Ich lachte, nie zuvor hatte sich mein Herz so leicht angefühlt. Der Winterkönig küsste mich und ich küsste ihn und in der Nacht hüllte mich seine wahre Kälte das erste Mal ein. Ich schrie vor Lust, aber auch vor Schmerz, denn ich spürte, dass ich mehr verlor als meine Jungfräulichkeit.


Als ich das nächste Mal in den Spiegel blickte, war die Welt herbst­golden geworden, und der junge Mann, der begleitet von einem Rotkehlchen durch die Wälder lief, um gelbe Blätter zu sammeln, hatte keinen Namen mehr. Ich wusste, dass ich ihn eigentlich kennen müsste, nur war da keine Erinnerung mehr, die es mir verriet.


5

Es muss das Rotkehlchen gewesen sein, das Jan auf meine Fährte brachte. Jan, der mich vermisste und der nicht glauben wollte, dass ich mich davongestohlen hatte, mitten in der Erntezeit, ohne ihn.

Für mich war der junge Mann nicht mehr als ein bewegtes Bild ohne Ton. Fasziniert beobachtete ich, wie er aus gesammelten Blättern, Nüssen und Blüten – allesamt golden, bernsteingelb und ockerbraun – einen Vogel erschuf. Er flatterte raschelnd mit den Flügeln, sein Schnabel klackerte und kaum etwas ließ darauf schließen, dass dieses Tier nicht echt war.

Nur wenn man es wusste, konnte man das Geflecht aus dünnen Ästen und getrockneten Halmen erkennen, an dem all das befestigt und durch dünne Fäden miteinander verbunden war.

So schön das Tier aber war, für mich war es nichts als eine Belang­losigkeit, ein goldener Fleck in meinen Tagen. Es war mir Unterhaltung, den jungen Mann aus der Ferne einer Welt zu beobachten. Wie er sich augenscheinlich mit den Menschen auf seinem Hof stritt, immer in die Ferne zeigend; wie er im Herbst bei der Ernte half und im Anschluss dem Bauern zur Hand ging, alles für den Winter zu lagern und abzudichten.

Da lachte ich das erste Mal, weil mir das alles so sinnlos erschien, kannte ich doch die Kraft des Winters. Ich freute mich abgöttisch, bald selbst all die Winde, die Schneeflocken und das Eis auf die Welt loszulassen, ihre Macht zu spüren. Manchmal ließ ich nur so zum Spaß eine kleine Schneewehe durch meine Gemächer wirbeln, um den Spiegel herum, durch die Vorhänge meines Bettes. Längst schon brauchte ich die Felle kaum mehr, mein Körper war selbst aus Kälte gemacht, wie der meines Königs.

Es war so wundervoll, den Winter zu machen. Der König und ich ließen die eisigen Winde um die Wette jagen, sodass Mensch und Tier Schutz suchen mussten. Wir schnitten so dicke Schneeflocken aus den Wolken, dass sie sich Meter um Meter auftürmten, in den Bergen zu reißenden Lawinen wurden und in den Tälern alles lähmten. Am liebsten aber war mir das Eis. Ich legte es über Seen, ließ das Plätschern von Bächen ebenso verstummen wie das Rauschen von Flüssen. Und der Winterkönig nährte mein kaltes Feuer, seine Liebe legte sich Eisschicht um Eisschicht um mein Herz.

Doch Eis bricht, manchmal ebenso leicht, wie Herzen es tun. Gerade noch wiegt man sich in Sicherheit und schon stürzt man ein.


Eines Tages stand ich wieder vor dem Spiegel. Längst hatte ich das Leben, aus dem ich kam, ganz und gar vergessen, und oft blieb das silberne Glas reglos, zeigte nichts als meine eigene Gestalt.

In jenem Moment aber war da wieder dieser junge Mann mit den traurigen Augen. Der erste Schnee hatte ihren Hof erreicht, die Flocken waren noch zart. Er trug ein Bündel auf dem Rücken, offenbar war er im Begriff, fortzugehen. Das Rotkehlchen umflatterte ihn, seine Brust leuchtete wie eine winzige Sonne, die den Tag begrüßte.

Zu meiner Überraschung gingen sie in den Wald, durch den auch ich damals hergekommen war. Anders als ich, stand der junge Mann jedoch nicht unter dem Schutz des Winterkönigs, und so setzten ihm Schnee und Kälte zu. Trotzdem ging er unermüdlich weiter, machte kaum Rast und wenn, teilte er das Wenige, das er hatte, mit dem kleinen Vögelchen.

Manchmal holte er aus dem Bündel den Vogel aus goldenem Blatt- und Blütenwerk hervor.

Neugierig verfolgte ich seinen Weg, beobachtete, wie ihm ein Fuchs begegnete, und zu meiner Überraschung sprach das Tier mit dem Fremden, mehr noch, ich konnte es hören.

»Einen schönen Goldvogel hast du da«, schmeichelte der Fuchs. Sein rotes Fell leuchtete wie Feuer in der weiß-schwarzen Winternacht.

»Danke. Er ist ein Geschenk für meine Liebste. Ich habe ihn aus dem Sommer und den ersten Momenten des Herbstes gemacht.«

Bellend nickte der Fuchs.

Der junge Mann richtete sich auf. »Kannst du mir sagen, wo ich den Winter finde?«

Listig blitzten die Fuchsaugen auf. »Der Winter ist hier überall.«

»Das meine ich nicht. Ich meine das Schloss des Winterkönigs.«

»Ich will es dir sagen, und auch, wie du deine Liebste retten kannst. Doch dafür gib mir den Vogel.«

Der junge Mann schüttelte vehement den Kopf, das Rotkehlchen tschilpte empört. »Das kann ich nicht. Es sind ihre Erinnerungen. Ich gebe dir, was du willst, aber nicht diesen Vogel.«

Darauf nickte der Fuchs und verlangte das Lachen des Mannes. Er gab es ihm.


Mir schwindelte. Der Fremde wollte zum Schloss, seine Liebste zu retten! Aber hier gab es niemanden, nur mich, und ich wusste nicht, wer er war.

Zwei Tage später traf der junge Mann auf einen gewaltigen Hirsch. Auch dieser verlangte den goldenen Vogel, dafür wolle er ihn bis zu den Toren des Schlosses tragen. Aber der Fremde lehnte ein weiteres Mal ab, bot ihm jedoch alles andere an, ausgenommen sein Lachen, denn das gehörte bereits dem Fuchs.

Der Hirsch willigte ein und verlangte seine Stimme.

Der junge Mann gab sie ihm.


Er ahnte nicht, dass es dadurch schwerer wurde. Denn es war die Stimme, die vor allem anderen Geschichten erzählte und Erinnerungen wachrufen konnte, und es war das Lachen, das einem oft das größte Zeichen von Glück war.


So trug ihn also der Hirsch bis zu der Brücke, die sich als weißer Regenbogen über die Tiefen der Welt spannte. »Den Rest des Weges«, sprach der Hirsch, »musst du allein gehen.«

Der junge Mann nickte stumm, das Rotkehlchen war es, das schwach einen Abschiedsgruß sang. Die Kälte setzte dem kleinen Vögelchen zu, es saß fast immer unter der warmen Kapuze des Mannes.


Atemlos sah ich zu, wie der Fremde die Brücke betrat. So gebannt war ich, dass ich nicht bemerkte, wie der Winterkönig zu mir trat. »Er kommt wegen dir, meine Liebste.«

Ich wandte mich um. Kälte lag in den Augen meines Königs. »Warum sollte er das tun?«, fragte ich. Mein Geliebter schwieg wissend, starrte nur in den Spiegel.


Draußen umgarnten die wildesten Winterwinde den jungen Mann, rissen an ihm, zerrten ihm die Kapuze vom Kopf. Scharfkantige Schneesterne schnitten ihm in die Haut und trafen die weichen Federn des Rotkehlchens. Er nahm es von der Schulter, um es schützend in seinen Händen zu bergen. Aber so konnte er sich selbst nicht mehr festhalten, als das Eis unter seinem Gewicht brach und er in die Tiefe fiel.

Auf dem Gesicht des Winterkönigs lag ein Lächeln, als ich mich umdrehte. »Bitte«, flüsterte ich leise. »Darf ich sehen, ob er noch lebt?« Da war ein drängendes Gefühl in mir, und auch wenn ich das Missfallen in den Augen des Königs sah, ließ er mich gehen.


6

Ich erreichte das schwere Schlosstor, öffnete es mit einer Brise. Das Rotkehlchen flog hindurch, die Brise nahm es auf und spielte mit ihm, bis ich das kraftlose Tierchen auffangen konnte. Nur schwach hob und senkte sich die rostrot gefärbte Brust.

Der Funke einer längst vergessenen Erinnerung flackerte in mir auf. Ein geschienter Flügel; Hände, die das Tier gehalten hatten.

Jan. Wie ein Schrei war der Name in meinen Erinnerungen, und ich befahl den wilden Winden auf der Brücke, mich in die Tiefen zu tragen.


Wie durch ein Wunder lebte Jan, und auf einen zweiten Befehl brachten die Winde ihn in meine Gemächer, wo die mundlosen Diener seine Verletzungen versorgten. Endlich schaffte ich es, das Rotkehlchen loszulassen, das tot in meinen Händen lag. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen, als ich Jans Namen ausgerufen hatte.

Mit einer längst vergessenen Traurigkeit legte ich das kleine Tier in ein Nest aus Eis. Da war ein Ziehen in meiner Brust, und aus meinen Augen rann eine einzelne eisige Träne.

Jan erwachte, doch da war kein Lächeln auf seinen Lippen. Der Fuchs besaß sein Lachen, aber er holte mühsam den goldenen Vogel hervor und reichte ihn mir. Das Tier flatterte auf meine Hände. Der Duft von Sommer stieg in meine Nase, mischte sich mit einer Prise Herbst. Ich sah mich, ich sah Jan und hörte, wie das Eis um mein Herz einen kleinen Riss bekam.

Jans Augen sprachen mit mir, weil seine Lippen es nicht konnten. »Ich bin gekommen, dich zu holen.«


Da regte sich hinter uns in den Schatten des Raumes der Winterkönig. Seine Augen sprühten Funken, die Luft knisterte vor Kälte. Selbst ich spürte, wie das Eis nach mir griff.

»Du kannst sie nicht haben. Sie ist mein!« Seine Stimme donnerte durch den Raum, Eiskristalle fielen klirrend von den Wänden.

Jan aber schüttelte den Kopf. Deutete auf den Vogel, auf sein Herz und auf meines und dann auf den Spiegel.

Ja, er kannte das Geheimnis, das mir bis dahin nicht einmal bewusst gewesen war.

Der Winterkönig wurde blass. »Das würdest du tun?«

Jan nickte.

Ich starrte die beiden Männer an, verstand nicht, was zwischen ihnen vorging.

»Dann muss ich dich den Weg gehen lassen«, sprach der König, half Jan persönlich von seinem Lager auf und trat mit ihm zu dem Spiegel.

»Was geschieht hier?«, verlangte ich zu wissen. In mir tobten Eis und Schnee, aber da war auch dieser Funke Wärme, der alles verändert hat.

Der Winterkönig sah mich an. »Hinter diesem Spiegel, meine Liebste, ruht dein Herz. Ich nahm es dir, denn in meinem Reich hättest du damit nicht überleben können. Ich schenkte dir dafür ein Winterherz und sperrte deines hinter Spiegelglas. Dort ist es sicher. Doch nun ist dieser Mann gekommen, dein Herz hinter dem Spiegel zu bergen. Er ging einen langen Weg, und du selbst hast ihn gerettet. Deswegen muss ich ihn gehen lassen.«

Sprachlos sah ich zu, wie seine Hand das silberne Glas berührte und darin verschwand, wie Jan hineintrat und der König das Glas wieder zu Glas werden ließ, nur dass wir jetzt Jan darin sahen.

Wie schnell er mein Herz fand. Und wie ich plötzlich wieder Hoffnung in mir spürte, mich an die Liebe zu Jan erinnerte, die vielleicht nie perfekt, aber immer ehrlich gewesen war. Und ich erkannte den Unterschied zur Liebe des Winterkönigs mit seiner Kälte und der Macht, die er mir geschenkt hatte, nur um mich zu besitzen, wie ein Spielzeug.

Gleich würde Jan wieder aus dem Spiegel treten, gleich würde ich gehen können.

Kein Pfad ist so schmal wie der, der aus Hoffnung besteht. Jan legte gerade seine Hand gegen das Innere des Spiegels, da zerschlug der Winterkönig ihn mit einem Schlag in Abermillionen von Scherben. Sie vermischten sich mit dem wütenden Schneesturm, den er heraufbeschwor, flogen in alle Himmelsrichtungen.

»Nie mehr soll jemand die Schönheit der Welt sehen, wenn er in diesen Spiegel blickt! Dein Herz gehört mir!«, schrie er, außer sich vor Zorn. »Und willst du es wiederhaben, so musst du das Wort Ewigkeit aus diesen Scherben legen.«

Damit verschwand er. Ohne ein weiteres Wort, er überließ mir einfach den Winter.

Ich weiß, dass manche glauben, es sei der Teufel gewesen, der den Spiegel erschuf und ihn zerschlug. Doch der Teufel trägt viele Gesichter. Für mich ist der Winterkönig der Teufel. Denn er sagte mir nicht, dass ich die Scherben nicht berühren konnte, dass mein Herz mit jedem Mal mehr zu Eis gefror, wenn ich es versuchte, sodass ich Jan abermals vergessen würde. Doch das darf ich nicht. Ich muss ihn befreien. Muss mich befreien.


7

Manche Scherben sind bis zu den Menschen gefallen, haben sich in ihre Körper gebohrt und sie verändert. Der Fluch des Winter­königs lässt sie erfrieren.

Sie fühlen nur noch jene kalten Gefühle, zu denen er selbst fähig ist.

Bei Kay steckt eine Scherbe im Herz, eine andere in seinem Auge. Sie lassen ihn nichts mehr empfinden und nichts Schönes mehr sehen.

Nie wird er das Wort Ewigkeit legen können.

Schritte erklingen. Das Mädchen. Adler und Wölfe haben mir von ihrer Ankunft berichtet. Sie hat einen anderen Weg genommen, nicht weniger schwer als der Jans. Sie war im Haus des Sommers gefangen und fast dem Vergessen ausgesetzt, dann ist sie in die Hände der Herbsträuber geraten. Nun kommt sie in Begleitung eines Rentieres, um Kay zu retten.

So wie Jan damals mich retten wollte.


Mit geschlossenen Augen trete ich zurück. Lasse die Dinge geschehen, die geschehen müssen.

Ein anderer wird kommen, und vielleicht kann er das Wort legen, in dem der Winterkönig mich und Jan gefangen hat.

In meinen Gemächern sitzt der goldene Vogel in einem Käfig aus Eis. Er welkt nur langsam, aber seine Blatt- und Blütenfedern fallen. Ich glaube, er zeigt das Verrinnen der Ewigkeit.

Vor dem Schloss heult ein Wolf. Ich mache mich bereit, eine Decke aus Eis und Schnee über die Welt zu legen.

Denn ich bin die Schneekönigin.