Über das Buch

Ein literarisches Geschenk — geteilte Kindheitserinnerungen von Lars Gustafsson und seiner Frau Agneta Blomqvist

In diesem letzten gemeinsamen Buch erzählen Lars Gustafsson und Agneta Blomqvist sich von ihrer Kindheit im Schweden der 40er und 50er Jahre. Die Gegensätze einerseits: Junge und Mädchen, Genossenschaftswohnung und große Villa, Västeras und Stockholm, Einzelkind und vier Geschwister. Die Gemeinsamkeiten andererseits: eine liebevolle, aber strenge Erziehung, viel Zeit zum Spielen, die »Wassersuppe« fader Jugendbücher und die »materiell verdichtete Langeweile« der Schule, die Lars zu ersten Schreibversuchen treibt. Das persönliche und poetische Porträt einer versunkenen Zeit, mit Originalfotos illustriert — klug, liebenswürdig und berührend.

Lars Gustafsson

Agneta Blomqvist

Doppelleben

Aus dem Schwedischen von Verena Reichel

Carl Hanser Verlag

Vorwort

Seit 1958 kennen wir einander. Einander zu vergessen, haben wir nie richtig geschafft. Auf das Abenteuer zu heiraten ließen wir uns im Jahr 2005 ein.

Wir sprechen viel miteinander. Ein amerikanischer Lyriker, der bei einem Busausflug in Slowenien zufällig hinter uns saß, meinte, er hätte noch nie ein verheiratetes Paar in unserem Alter getroffen, das sich ununterbrochen so ausdauernd und intensiv miteinander unterhalten habe.

Worüber sprechen wir? Praktisch über alles — und wir sind wirklich nicht immer einer Meinung. Aber die Kindheit ist ein zentrales Thema. Wir vergleichen unsere Erlebnisse und entdecken — oft mit einer gewissen Faszination — überraschende Ähnlichkeiten. Was wir beispielsweise in der Schule erlebt haben und für normal hielten, dass man in der Volksschule in Västerås misshandelt werden konnte oder dass man in Bromma von den Blaufaltern — einer Art Pfadfinder für Mädchen zwischen sieben und zehn — ausgeschlossen werden konnte.

In beiden Elternhäusern gab es viele Bücher, und es wurde oft vorgelesen, mit dem Unterschied, dass es in Västerås in einer kleinen Genossenschaftswohnung geschah und in Bromma in einer Villa. Aber das war nicht alles. Lars hatte keine Geschwister, Agneta hatte vier, ein gewaltiger Unterschied! Und natürlich der zwischen Junge und Mädchen. Dieses Thema war für Agneta wichtiger — männlich zu sein ist ein Existentialmodus —, vermeiden wir den Begriff Geschlecht, denn das ist eigentlich nur die biologische Ausstattung, die zu großen Privilegien führen kann und selten dem weiblichen Modus zugutekam.

Wie beschreibt man Kindheiten? Wie funktioniert das Gedächtnis? Was sind authentische Erinnerungen, und was ist eine Mixtur aus Rekonstruktionen, Wunschdenken, den Erzählungen anderer, der Deutung alter Fotos?

Und dann diese Berliner Mauer der Erinnerungen, die in psychologischer und psychoanalytischer Theorie und Praxis bezeugte Kluft oder Barriere zwischen dem Alter von vier Jahren und dem Rest des Lebens. Der früheste Beitrag von Lars zu diesem Thema ist ein Frosch aus grünem Blech. Warum war er so wichtig? Warum gerade er? Es muss doch noch andere Spielsachen gegeben haben.

Wir haben uns entschieden, uns auf die Kindheitserlebnisse zu beschränken, bis zur Pubertät mit ihrem herben Schweißgeruch sind wir nicht gelangt. Das hätte ein anderes Buch werden können!

Für dieses Buch haben wir eine dialogische Form gewählt. Das hat, glauben wir, viele Vorteile. Es ist gleichsam ein Gespräch zwischen uns, mit zwei ziemlich unterschiedlichen Stimmen. Das kann möglicherweise, hoffen wir, aus einem kulturhistorischen Blickwinkel interessant sein, denn so konnte es sich anfühlen, wenn man ein kleiner Junge in den dreißiger und ein Mädchen in den vierziger Jahren war. Die Lebenswelten einer entschwundenen Zeit geraten so leicht in Vergessenheit!

Tegelviksgatan 2016

Agneta Blomqvist & Lars Gustafsson

Sehr früh

Lars mit seinen Eltern 1937

Wie weit kann man sich zurückerinnern?

Ich überquere eine Straße — es ist die Frankegatan in Västerås — und trage ein Nudelholz. Es ist ein verantwortungsvoller Auftrag. Die Straße ist mit Kies bestreut, und wenn man hinfällt, tut es weh. Das Nudelholz ist sehr groß, sehr schwer. Ich bin nicht allein, es sind noch andere dabei, aber ich weiß nicht genau, wer. Ich ahne, es ist meine Mutter, die meinen Beitrag zum Umzug aus der Wohnung der schrecklichen Familie Andersson (es hatte sich gezeigt, dass es dort Wanzen gab) in das neugebaute und viel feinere Zweifamilienhaus in der Frankegatan 12 ängstlich überwacht. Dort bezogen wir ein Zimmer mit Küche und Flur bei Baumeister Nyberg.

Das Interessante ist, dass ich diesen waghalsigen Übergang von der 8 in die 12 datieren kann. Es kann nicht später als 1939 gewesen sein. Da war ich also drei Jahre alt.

Dann verdichten sich die Erinnerungen. Sie werden von einer anderen Art der Begriffsbildung geprägt — der des sehr kleinen Kindes. Ein Einfamilienhaus, das von unserem Treppenhausfenster aus zu sehen ist, schmeckt lecker. Das weiß ich, ohne daran geschleckt zu haben, denn es hat genau dieselbe Farbe wie das Fruchtbonbon, das so schmeckt. Die krummen Pfähle, die das Djuphamnsgebiet einzäunen und den Stacheldraht an seinem Platz halten, haben eine Verwandtschaft mit dem Haken, der sich an der elektrischen Nähmaschine meiner Mutter auf und ab bewegt. (Es ist Krieg, und es gibt Bereitschaftsdienst. Innerhalb des hohen Zauns patrouilliert ein Wachtposten mit Stahlhelm und Mausergewehr, dazu verdammt, dort zu patrouillieren. Er geht und geht immerzu.)

Er ist ein Wächter und ein erschreckender Teil dieses Krieges, von dem die Eltern sprechen.

Die Frankegatan ist eine Schotterstraße, Asphaltierung gibt es nicht so oft im Västerås der dreißiger Jahre. In der einen Richtung mündet sie in den Köpingsvägen, der gepflastert ist und dann zur Stora Gatan wird. Von dort, an dem jäh abfallenden Oxbacken, wo die Bürgersteige erhöht sind und man die Maschinen der Kristallschleiferei hören kann, von dort kommen die liebevoll gehüteten Weingläser der Eltern.

In der anderen Richtung verliert sich die Frankegatan hinunter zum Hafen und der Hütte, Letztere ein eigentümliches Fabrikgebäude, das etwas von Kafkas Schloss hat.

Es geschieht allerlei. Krähen hüpfen durch die Bäume. Der Fotograf Krassling, bekannt aus der Vestmanlands Läns Tidning, bekommt einen Herzinfarkt und stirbt. Ein Auto bleibt in der Garagenauffahrt des Nachbarhauses stecken.

Es ist eine Welt voller Bewegung und Leben. Ein Erwachsener hätte sie vermutlich als nahezu stillstehend empfunden.

Lars

Frühe Kindheit

Agneta und ihr kleiner Bruder Christian 1948

Meine ganz frühe Kindheit war glücklich. Dass ich Papa liebte, stand außer Frage. Ich nannte ihn Herr Ylander, denn so nannte man ihn im Vorstand der Seemannsfürsorge am Norr Mälerstrand. Dorthin durfte ich Papa manchmal in seinem kastenförmigen grünen Chrysler begleiten. Später wurde der gegen einen sahneweißen DeSoto eingetauscht. Wenn Papa eine Schwäche hatte, dann für schnelle Autos. Mama war liebevoll, vielleicht ein wenig abwesend, aber irgendwo in der Villa war sie immer. Oft hatte sie sich mit Kopfschmerzen ins Schlafzimmer zurückgezogen. In der zweiten Klasse der Volksschule beschrieb ich sie so: »Mama hat weiße Haare, blaue Augen und mittelgroße Füße.« Als ich geboren wurde, war sie schon zweiundvierzig Jahre alt. Ich hatte drei wesentlich ältere Geschwister, eine Art Schutzwall zwischen mir und den Eltern.

Nur in unserem Haus wohnten Jesus und Gott. Nur wir durften am Karfreitag nicht zum Spielen hinaus. Die fröhlichen Stimmen der anderen Kinder hallten zwischen den Wänden, aber es hatte keinen Sinn zu fragen, ob wir hinausdürften. Wir sollten mit Jesus leiden.

Eine frühe Erinnerung? Ich stand auf der Treppe zur »Mittelhalle« und schaute zu einer Krankenschwester hoch, die eine Hasenscharte hatte. Sie sollte sich um den kleinen Bruder Christian und um Mama kümmern, die mit fünfundvierzig Jahren ihr fünftes Kind bekommen hatte. Mama hörte, dass ich es zu fragen wagte: »Wie lange wird die Schwester hierbleiben?« Ich wünschte mir, dass sie bald wieder wegfährt, ich mochte sie überhaupt nicht.

Wenn ich nicht schlafen konnte oder mich irgendwie elend fühlte, schlich ich mich ins Schlafzimmer und legte mich zu Mama in ihr schönes warmes Bett, dicht an sie gedrückt. Da träumte ich den Großen Traum. Ich wurde in etwas unendlich Großes hineingeführt, umgeben von einer Menge weißer Gestalten, und irgendwie wusste ich, dass es das Universum war, das Weltall, und dass ich unterwegs zum Himmel war. Es fühlte sich warm und beschützend an. Eine unfassbare Menge von weißen Flügeln bewegte sich um mich her, streifte mich, nah und in großer Ferne. Ich hörte das leise Rauschen und spürte eine leichte Berührung. Ich wurde hinaufgeführt, hinauf zu einem großen Licht. Papa, der Mystiker, konnte nicht genug von diesem Traum hören. Für ihn war es eine Art Beweis.

Bevor mein kleiner Bruder und ich einschliefen, sprachen wir immer das Abendgebet. Anfangs waren Mama und Papa dabei, aber mit der Zeit beteten wir leise für uns selbst. »Gott, der du die Kinder liebst, und uns Kleinen Obhut gibst …« »Es geht ein Engel um unser Haus, er hat sieben goldene Kerzen …«, und dann die Abschlusslitanei: »Gott-behüte-Mama-Papa-Lasse-Hasse-Monica-Agneta-und-Christian.« Dieses Ritual vermittelte immerhin Geborgenheit, und danach schliefen wir sofort ein.

Ja, ich glaube, meine frühe Kindheit war glücklich. Ich war ein Wunschkind, Mama hatte zuvor eine Fehlgeburt gehabt. Fast alle meine frühen Erinnerungen sind hell, ich war umgeben von den Eltern und drei älteren, liebevollen, lustigen und bewunderten Geschwistern. Als der kleine Bruder Christian geboren wurde, habe ich mich uneingeschränkt gefreut — er war so süß, wenn er schlief. Wir konnten recht früh miteinander spielen und erlebten in unseren gemeinsamen Jahren vieles zusammen. Ich konnte zwar meinem kleinen Bruder gegenüber, der ein liebes und geduldiges Kind war, ziemlich tyrannisch sein, aber wenn es wirklich darauf ankam, verteidigte ich ihn. Einmal wurden wir von ein paar älteren Jungen durch den Park gejagt. Ich hielt den weinenden, ängstlichen Christian an der Hand und lief so schnell ich konnte. Ich schleifte ihn richtig mit, bis zu unserem Zaun, hob ihn hinüber und warf mich selbst hinterher. Ich erinnere mich an den Triumph und die Erleichterung, als wir auf unserem Grundstück in Sicherheit waren und die Plagegeister abzogen.

Wenn die allerersten Jahre glücklich sind und die elementaren Bedürfnisse befriedigt werden, schenkt einem das vielleicht eine Art grundsätzlicher Geborgenheit, die man das ganze Leben lang mit sich trägt, was auch immer später geschieht.

Agneta

Agneta und ihre Mutter 1943

Die Villa am Thaliavägen

Agneta 1946

Nachts bin ich wieder in der großen Villa am Thaliavägen. Es ist fünfzig Jahre her, seit ich da gewohnt habe, aber dennoch statte ich dem Kindheitshaus zahlreiche Besuche ab. Die Urszene. Ich kann von Zimmer zu Zimmer gehen und erinnere mich an alles, was es dort in Ecken und Winkeln und Schubladen gab. Ich wurde als viertes Kind im Schlafzimmer entbunden, mit Hilfe von Doktor Svahnlund, der schräg gegenüber von uns wohnte, und der Hebamme Frau Kimell, sie wog das neugeborene Kind mit einer Laufgewichtswaage. Mama erzählte später, Doktor Svahnlund hätte mich »in Empfang genommen«. Vollgestopft mit Erzählungen aus der Bibel und Geschichten meines Vaters, bar jeglicher Kenntnis der Realität, glaubte ich, Doktor Svahnlund hätte seine Arme durch das Schlafzimmerfenster gestreckt und mich, die Gott aus dem Himmel herabgelassen hatte, empfangen. Ein Glück, dass Doktor Svahnlund mich nicht auf die Straße fallen ließ!

Wie konnte Gott das Fenster am Thaliavägen so punktgenau bestimmen? Und warum bekam Fräulein Danielsson, die bei uns nähte und so nett zu meinem kleinen Bruder und mir war, keine eigenen Kinder? Meine Mutter sah ein wenig ratlos aus, sprach aber bald über etwas anderes, und da verstand ich, dass man über solche Dinge wohl nicht sprechen sollte. Aber irgendetwas war komisch daran.

Eine große Villa am Thaliavägen in Bromma? Der diskrete Charme der Oberschicht oder eher der Mittelschicht? Tatsächlich war es bei uns mit Papas Gehalt und fünf Kindern am Anfang recht knapp. Das Haus wurde 1931 vom Architekten P. M. Hällner gebaut. Alle Häuser der Straße wurden in dieser Epoche von verschiedenen Architekten entworfen, waren also ganz individuell gestaltet. In unserem Haus gab es im Keller eine »nordische Bauernstube«. So steht es in Groß-Stockholms Villenvororte in Wort und Bild über die Villa Nummer 644. Im Keller gab es auch noch andere Räume zu sonderbaren und unklaren Zwecken. Eine kleine Gepäckkammer, in der Papas Koffer aus Libau standen, sowie eine Speisekammer, in der Winteräpfel, frisch eingekauftes Gemüse, eingelegte Pilze und Kompottgläser lagerten, manches davon etwas schimmelig. Die guten Gerüche meiner Kindheit!

In einer Ecke des Kellers stand ein Eckschrank, den man nicht öffnen durfte, darin wurde auch Mate aufbewahrt, ein Tee aus Misiones in Argentinien, den eine Missionarin mitgebracht und Papa geschenkt hatte. Er stand da jahraus, jahrein und roch merkwürdig und fremd. Keiner trank den Tee, aber nichts wurde weggeworfen! Viel später erfuhr ich von einem deutschen Mädchen, das ein Jahr lang im Haushalt arbeitete, dass Papa dort auch ein Glas und eine Flasche Schnaps bunkerte. Wir wunderten uns immer, warum er oft zu spät zum Essen kam und dann aus dem Keller rief: »Ich komme! Ich komme!« Er hätte das ruhig offen machen können und vor allem Mama auch einen Schnaps anbieten sollen! Das hätte ihr gutgetan. Meine Mama war ausgebildete Sportlehrerin, und ihre drei Schwestern besaßen auch alle eine Ausbildung, im Schweden der zwanziger Jahre sonst kaum üblich. Aber da Papa so eifersüchtig war, durfte sie ihren Beruf nicht ausüben.

In der geräumigen Garderobe im Obergeschoss hingen eine Menge Kleider. Jedes Frühjahr wurden sie auf den Balkon gebracht und gebürstet, der Duft von Mottenpulver stach uns in die Nase. Es gab Kartons mit uralten Klamotten, Mamas brüchige Kleider aus den Zwanzigern und alte Hüte, damit konnte man sich verkleiden. Ganz hinten standen ein paar Kinderbetten mit Matratzen und Decken, ein außerordentlich günstiger Schlupfwinkel zum Verstecken spielen. Oder wenn es ein Gewitter gab. Auch sonst sehr praktisch: Der Nachbarjunge kam eines frühen Morgens zusammen mit einem etwas verlegenen Mädchen dort heraus, als die Eltern verreist waren und ich eins meiner ersten elternfreien Feste gab. Aber das war viel später.

Meine schöne und trotzige große Schwester wurde dort zur Bestrafung mal drei Tage lang eingesperrt — das war vor meiner richtig bewussten Zeit —, und einer der Brüder musste sie bewachen. Ihre Freundinnen reichten ihr Essen, Süßigkeiten und anderes durch die kleinen Fenster, wenn Papa im Vorstand der Seemannsfürsorge arbeitete. Wenn sie zum Abendessen herauskommen durfte, war es Ehrensache für sie, nichts zu essen, was Papa bestimmt etwas nervös machte.

Von der oberen Halle führte eine Art Marmorbrüstung die Treppe hinunter, dort hing Lucas Cranachs Bild von Martin Luther. Man durfte sich auf keinen Fall über das Geländer lehnen, man hätte ja stolpern und sich wehtun können, im schlimmsten Falle das Genick brechen, Papa nahm das sehr genau. »Wenn du dich da drüber lehnst oder aus einem Fenster im Obergeschoss, kommt Gravi dich holen«, sagte Papa. Das zeigte tatsächlich Wirkung. Gravi muss Papas Name für Gravitation gewesen sein. Ich dachte, Luther sei der Gravi.

Im Badezimmer wohnte Herr Sprudelmann, man hörte ihn rumoren, wenn das Wasser durch die Rohre floss. Er war nur zwanzig Zentimeter groß und wohnte mit seiner Familie irgendwo im Inneren der Villa. Wenn Papa sich mit dem Rasiermesser, dem Streichriemen und einer Menge Schaum rasierte, schnitt er immer lustige Grimassen, hielt sich die Nase und tat so, als ob er sie zuschraubte, dabei erzählte er endlose Geschichten von der bösartigen Malka, der schönen Louise und ihrer strengen Großmutter, die immer Reithosen trug. Ich stand daneben und sperrte die Ohren auf.

In meiner Kindheit lebten mein kleiner Bruder und ich, besonders nach dem Auszug der viel älteren Geschwister, in einer Welt, in der wir viel Freiheit hatten, aber auch streng erzogen wurden. Es gab eigentlich niemanden, der tagsüber nach uns schaute, wir waren draußen, spielten und machten manchmal ziemlich gefährliche Sachen.

Wenn die älteren Geschwister nach Hause kamen, füllte sich die Villa mit Leben. Mama und Papa waren gutgelaunt, und es gab bei uns jede Menge Familienwitze. Als Lars Gustafsson sich viel später mit meinem Bruder Hasse anfreundete, verstand und schätzte er mit der Zeit genau diesen Humor und nannte ihn den »Ylanderhumor«. Er sagte, es sei, wie wenn man auf eine Harke tritt, so dass der Stiel einen von hinten und ganz überraschend trifft.

In der frühen Kindheit fühlte ich mich zumeist sicher, unglücklich und ausgeliefert war ich nur, wenn Papa ins Ausland fuhr, um eine Seemannskirche einzuweihen, und Mama ihn begleitete. Dann sprangen ein paar Frauen ein, die Frau des Pfarrers, Frau B. oder die Schneiderin Fräulein Danielsson, die ein paar Tage bei uns wohnten, und nichts mehr war wie zuvor. Frau B. war sehr streng, fasste einen hart an. Wir hatten noch lange Mühe einzuschlafen, wenn sie uns beide hellwach im Dunkeln zurückgelassen hatte. Ich kroch dann zu Christian ins Bett, und wenn die Eltern wieder nach Hause kamen, war die Erleichterung groß.

Während ich das schreibe, kommt es mir so vor, als sei ich eigentlich nie richtig aus der Villa am Thaliavägen ausgezogen. Als sei, egal was mir später im Leben geschah, das Wirklichste meine erste Familie. Obwohl die meisten aus dieser Zeit ja schon lange fort sind. Sich zurückzusehnen ist aber Selbstbetrug, wie José Valente in einem Gedicht schrieb. Ich sehne mich nicht zurück, aber ich merke immer mehr, wie wichtig meine frühesten Jahre gewesen sind.

Agneta

Die Chance zu spielen

Lars 1938

»… im Alter von fünf Jahren eintreten in die Garnspinnerei, oder sonstige Fabrik, und von Dem an erst 10, dann 12, endlich 14 Stunden täglich darin zu sitzen und dieselbe mechanische Arbeit zu verrichten, heißt das Vergnügen, Athem zu holen, teuer erkaufen. Dies aber ist das Schicksal von Millionen, und viele andere Millionen haben ein analoges.«

Arthur Schopenhauer, der Philosoph des Leidens und des Mitgefühls, schreibt dies in dem bekannten Buch Die Welt als Wille und Vorstellung