Dieses Buch folgt einer Sehnsucht: nach einer Sprache, die Menschen nicht auf Kategorien reduziert. Nach einem Sprechen, das sie in ihrem Facettenreichtum existieren lässt. Nach wirklich gemeinschaftlichem Denken in einer sich polarisierenden Welt. Kübra Gümüsay setzt sich seit langem für Gleichberechtigung und Diskurse auf Augenhöhe ein. In ihrem ersten Buch geht sie der Frage nach, wie Sprache unser Denken prägt und unsere Politik bestimmt. Sie zeigt, wie Menschen als Individuen unsichtbar werden, wenn sie immer als Teil einer Gruppe gesehen werden – und sich nur als solche äußern dürfen. Doch wie können Menschen wirklich als Menschen sprechen? Und wie können wir alle – in einer Zeit der immer härteren, hasserfüllten Diskurse – anders miteinander kommunizieren?

 

 

 

Kübra Gümüșay

 

Sprache und Sein

 

 

Hanser Berlin

 

 

Inhalt

 

Die Macht der Sprache

Zwischen den Sprachen

Die Lücke ist politisch

Individualität als Privileg

Wissen ohne Wert

Die intellektuelle Putzfrau

Die Agenda der Rechten

Der Absolutheitsglaube

Frei sprechen

Ein neues Sprechen

 

Dank

Nachweise und Anmerkungen

 

 

Für jene, die uns die Wege ebneten, die vorausgingen, ohne sein zu können.

Für das Kind, das mich sanft an der Hand nahm und durch die Welt führte.

 

 

Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort.

Dort treffen wir uns.

 

Rumi

 

 

Die Macht der Sprache

 

Ich führe die Gestalt hinüber – in die Welt des Es.

Martin Buber

 

 

Was war zuerst da: unsere Sprache oder unsere Wahrnehmung?

Es ist viele Jahre her. In einer warmen Sommernacht am Hafen einer Kleinstadt im Südwesten der Türkei tranken wir Schwarztee und entkernten gesalzene Sonnenblumenkerne in entspanntem Schnelltempo. Meine Tante schaute aufs Meer, in die tiefe, ruhige Dunkelheit, und sagte zu mir: »Sieh nur, wie stark dieser yakamoz leuchtet!« Ich folgte ihrem Blick, konnte aber nirgendwo ein starkes Leuchten entdecken. »Wo denn?«, fragte ich sie. Sie deutete erneut auf das Meer, doch ich wusste nicht, was sie meinte. Lachend schalteten sich meine Eltern ein und erklärten, was das Wort yakamoz bedeutet: Es beschreibt die Reflexion des Mondes auf dem Wasser. Und jetzt sah auch ich das helle Leuchten vor mir in der Dunkelheit. Yakamoz.

Seither sehe ich es bei jedem nächtlichen Spaziergang am Meer. Und ich frage mich, ob die Menschen um mich herum es auch sehen. Auch jene, die das Wort yakamoz nicht kennen. Denn Sprache verändert unsere Wahrnehmung. Weil ich das Wort kenne, nehme ich wahr, was es benennt.

Wenn Sie eine andere Sprache neben der deutschen sprechen, dann fallen Ihnen mit Sicherheit zahlreiche Begriffe ein, die Phänomene, Situationen oder Gefühle beschreiben, für die es im Deutschen keine exakte Übersetzung gibt.

So beschreibt das japanische Wort komorebi das Sonnenlicht, das durch die Blätter von Bäumen schimmert. Gurfa, ein arabisches Wort, steht für die Menge an Wasser, die sich in einer Hand schöpfen lässt. Das griechische Wort meraki beschreibt die hingebungsvolle Leidenschaft, Liebe und Energie, mit der sich jemand einer Tätigkeit widmet. Und kennen Sie diese Situation: Sie sind unterwegs in einer fremden Stadt, jemand gibt Ihnen eine Wegbeschreibung, Sie hören aufmerksam zu, und kaum, dass Sie loslaufen, haben Sie die Beschreibung wieder vergessen? Es gibt im Hawaiianischen ein Wort dafür: akihi.

Und es gibt das türkische Wort gurbet.

Es war vor Jahren, ich lebte damals in Oxford, Großbritannien. An einem Festtagsmorgen, an Bayram, hörte ich einen Radiobeitrag über das Bayramfest in Deutschland. Der Sprecher erzählte von Vätern, die sich im Morgengrauen auf den Weg in die Moschee machen, von der Aufregung, die in den Häusern herrscht, den letzten Vorbereitungen für das gemeinsame Frühstück und den Kindern, die in ihren neuen Kleidern und mit frisch gekämmtem Haar erwartungsvoll um die Geschenktüten herumtanzen.

Die vertrauten Geräusche aus dem Radio erfüllten unsere Küche – und ich spürte zum ersten Mal, seit ich im Ausland lebte und durch die Weltgeschichte reiste, die Leere, die dabei entstanden war. Ich merkte, dass mir die vertrauten Menschen fehlten: meine Eltern und Geschwister, meine Großeltern, Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins. Die Älteren der Gemeinde, die mich jedes Mal fest an sich drückten und davon erzählten, wie ich als Kind gewesen sei und wie schnell die Zeit doch vergehe. All die Menschen, die mich liebten, einfach so. Ich trauerte um ihre Abwesenheit.

Doch eigentlich waren nicht sie abwesend, sondern ich. Ich war fort, ich lebte im gurbet.

Als ich mich an meinen Schreibtisch setzte und versuchte, meine Gefühle in Worte zu fassen, tanzten meine Finger auf der Tastatur. Ich schrieb fließend, ganz natürlich. Erst viel später bemerkte ich überrascht, dass ich auf Türkisch geschrieben hatte. Dabei sprach und dachte ich in jenen Tagen meist auf Deutsch oder Englisch. Doch mein Gefühl, die große Sehnsucht in der Fremde, hatte am besten das türkische Wort gurbet erfasst. Würde ich es als »das Leben in der Fremde« übersetzen, könnte ich damit meinem Gegenüber nur unzureichend beschreiben, was dieses Wort in mir auslöst.1

Gurbet ist einer der vielen Begriffe, für die ich im Deutschen keine einfache Übersetzung finde. So wie ich umgekehrt manche auf Deutsch formulierte Gedanken in keinen einfachen türkischen Satz fassen kann. Manchmal will ich doch im Türkischen sagen. Ich will mein immer wiederkehrendes Fernweh erklären oder die Schadenfreude. Für jeden dieser Begriffe brauche ich in der Übersetzung ganze Sätze, bis mein Gegenüber ansatzweise versteht, was ich gedacht, gemeint oder gefühlt haben könnte. So leben manche Gefühle nur in bestimmten Sprachen. Sprache öffnet uns die Welt und grenzt sie ein – im gleichen Moment.

Wilhelm von Humboldt sagte einst, in jeder Sprache liege »eine eigenthümliche Weltsicht«2. Wenn dem so ist, wie sehr unterscheidet sich dann die Weltsicht von einer Sprache zur anderen? Dass unsere Sprache – also nicht nur Worte – unsere Wahrnehmung der Welt beeinflusst, ist nicht mehr strittig. Die Frage, an der sich die Geister scheiden, ist: Wie sehr beeinflusst die Sprache unser Wahrnehmen und Denken?3

Nehmen wir Zahlen. Es gibt Sprachen, die verwenden keine Zahlen. So wie die Sprache der Pirahã, einem Volk im Amazonasgebiet Brasiliens. Mit Ausnahme von »eins«, »zwei« und »viele«4 gibt es keine Begriffe zur Mengenbestimmung.5 Nehmen die Pirahã also die Welt anders wahr als wir? Um das zu untersuchen, unternahmen Wissenschaftler*innen folgenden Versuch: Vor Proband*innen der Pirahã wurden bis zu zehn Batterien auf den Tisch gestellt, dann wurden sie gebeten, ihrerseits die gleiche Anzahl Batterien aufzustellen. Bis zu zwei oder drei Batterien gelang es ihnen problemlos, doch ab vier Batterien, deren Menge sie exakt nachstellen sollten, wurden die Ergebnisse stetig ungenauer.

Die Pirahã nutzen außerdem keine genauen Bezeichnungen für Farben. Der Linguist Daniel Everett, der ihre Sprache über viele Jahre studierte, berichtete, sie hätten den Forschenden irgendwann einfach wahllose Begriffe für Farben genannt, um diese zufriedenzustellen. Was sie ebenfalls nicht nutzen: Vergangenheitsformen. Everett zufolge leben sie deshalb tatsächlich im Moment, fixiert auf die Gegenwart – das Lebensprinzip carpe diem ist ihnen sozusagen durch die Sprache vorgegeben. Nur wenige Pirahã erinnern sich an die Namen ihrer Großeltern. Und während andere Völker unter ähnlichen Lebensumständen beispielsweise Mehlvorräte für mehrere Monate produzieren, sorgen die Pirahã höchstens für einige Tage vor. Außerdem haben sie wie andere Amazonas-Völker keinen Schöpfungsmythos. Werden sie gefragt, was vorher war – vor den Pirahã, bevor der Wald existierte –, antworten sie, es sei alles schon immer so gewesen. Everett beschreibt ein Wort – xibipíío – als Schlüssel zum Verständnis der Vorstellungswelt der Pirahã:

 

Schließlich wurde mir klar, dass dieser Begriff das benennt, was ich als Erfahrungsschwelle bezeichne: den Vorgang, die Wahrnehmung zu betreten oder zu verlassen und sich damit an den Grenzen des Erlebens zu befinden. Eine flackernde Flamme ist eine Flamme, die immer wieder in den Erfahrungs- oder Wahrnehmungsbereich eintritt und ihn verlässt. (…) Deklarative Äußerungen in Pirahã enthalten nur Aussagen, die unmittelbar mit dem Augenblick des Sprechens zu tun haben, weil sie entweder vom Sprecher selbst erlebt wurden oder weil jemand, der zu Lebzeiten des Sprechers gelebt hat, ihr Zeuge war.6

 

Die ersten Jahre verbrachte Everett als evangelikaler Missionar unter den Pirahã. Doch seine Bemühungen, sie zu »bekehren«, schlugen immer wieder fehl. Sie hatten schlicht kein Interesse an den Geschichten aus der Bibel und fanden es merkwürdig, dass Everett immer wieder von einem Jesus erzählte, dessen Handlungen kein Lebender mehr bezeugen konnte. Ihre Kultur kennt nämlich nicht nur keine Schöpfungsmythen, sondern auch sonst keine Folklore oder Überlieferungen. Und so wurde schließlich Everett, der Missionar, unter dem Einfluss des Lebens mit ihnen zum Atheisten.

Sprächen wir eine Sprache, die keine Vergangenheit kennt, würden unsere Gedanken dann so sehr um das längst Vergangene kreisen, wie sie das tun? Könnten wir überhaupt in historischen Erzählungen schwelgen, in fremden Erinnerungen? Was würde das für Religionen, Bewegungen und Staaten bedeuten? Gäbe es keine kollektive Geschichte, könnte es dann überhaupt Nationalstaaten geben?

 

A nation that keeps one eye on the past is wise.

A nation that keeps two eyes on the past is blind.

Inschrift auf einer Wand in Belfast, Nordirland

 

Sprache beeinflusst auch unsere Wahrnehmung in der Gegenwart. In manchen Sprachen – etwa im Deutschen oder Spanischen – werden Substantiven grammatische Geschlechter zugeschrieben. So ist das Wort Brücke im Deutschen weiblich, im Spanischen männlich. Dies wiederum prägt die Beschreibungen von tatsächlichen Brücken jeweils »geschlechtstypisch«: Im Deutschen werden Brücken eher als »schön, elegant, fragil, friedlich, hübsch und schlank« beschrieben, im Spanischen eher als »groß, gefährlich, lang, stark, stabil und gewaltig«.7

In vielen anderen Sprachen – etwa im Indonesischen, Türkischen, Japanischen, Finnischen oder Persischen – gibt es hingegen gar keine geschlechtsspezifischen Pronomen, also kein er, sie oder es. So beschreibt die Kognitionspsychologin Lera Boroditsky ein Gespräch mit einer Person, deren Muttersprache Indonesisch ist. Sie unterhielten sich auf Indonesisch über eine mit Boroditsky befreundete Person. Ihr Gegenüber, dem diese Person unbekannt war, stellte ihr alle möglichen Fragen zu dieser Person. Doch erst in der 21. Frage ging es darum, ob diese Person ein Mann oder eine Frau sei.8

Boroditsky war erstaunt. Konnte sich ihr Gegenüber während der gesamten Unterhaltung einen Menschen ohne ein spezifisches Geschlecht vorgestellt haben?9 Wie ist das bei Ihnen: Könnten Sie der Geschichte einer Person folgen, Nachfragen stellen, sich die Person vorstellen, ohne den Drang zu verspüren, ihr Geschlecht wissen zu wollen?10

Besonders eindrucksvoll im Hinblick auf die Wahrnehmung von Raum und Zeit ist die Sprache der Thaayorre im Norden Australiens. Im Kuuk Thaayorre gibt es keine Wörter für links und rechts, stattdessen verwenden die Thaayorre Himmelsrichtungen, etwa so: Da ist eine Ameise an deinem Nordwest-Arm. Oder: Kannst du die Tasse bitte nach Südsüdost schieben? Schon im Alter von vier oder fünf Jahren können Thaayorre selbst in geschlossenen und überdachten Räumen zielgenau die Himmelsrichtungen benennen.11 Wenn sich zwei Thaayorre begegnen, fragen sie einander bereits bei der Begrüßung, wohin der andere geht – so sind die Sprechenden schon beim Smalltalk angehalten, die Himmelsrichtung zu benennen, die ein so elementarer wie selbstverständlicher Bestandteil ihrer Sprache und Wahrnehmung ist. Als Lera Boroditsky versuchte, Kuuk Thaayorre zu erlernen, erlebte sie Folgendes:

 

Ich hatte dort dieses coole Erlebnis, als ich versuchte, die Orientierung zu behalten, weil alle mich behandelten, als wäre ich ein bisschen dumm, weil ich mich nicht orientieren konnte, und das tat weh. Und so versuchte ich den Überblick zu behalten, welcher Weg wohin führt.

Und als ich eines Tages mit ihnen unterwegs war und nur auf den Boden schaute, merkte ich, wie plötzlich ein neues Fenster in meinem Kopf aufging, und mit einem Mal war es, als würde ich die Landschaft, durch die ich lief, von oben sehen, und ich war ein kleiner roter Punkt, der sich dort unten bewegte. Ich drehte mich um, und das kleine Fenster blieb auf die Gegend eingestellt, aber es drehte sich vor meinem inneren Auge. Und (…) ich dachte, oh, das macht es so viel einfacher. Jetzt kann ich die Orientierung behalten.

 

Als sie einem Thaayorre von dieser für sie merkwürdigen Erfahrung berichtete, lachte er und fragte, wie ein Mensch sich denn sonst orientieren sollte auf dieser Welt.12

Unsere Sprache mit ihren grammatischen Strukturen, Regeln und Normen hat nicht nur Einfluss auf unsere Wahrnehmung von Raum, sondern auch auf unsere Wahrnehmung von Zeit. Wie fließt Zeit für Sie? Würde ich Sie als Deutsch sprechende Person bitten, die Bilder eines Menschen von Geburt bis ins hohe Alter zeitlich zu sortieren, würden Sie vermutlich links mit Kindheitsbildern beginnen und nach rechts dem Alter nach sortieren. Im Deutschen und allen lateinischen Sprachen schreiben und lesen wir von links nach rechts, und entsprechend nehmen wir auch die Zeit wahr. Hebräisch- oder arabischsprachige Menschen würden das Gegenteil tun, also von rechts nach links sortieren. Wie aber würden die Thaayorre die Bilder sortieren? Die Antwort lautet: mal von links nach rechts, mal von rechts nach links, mal von vorne nach hinten, mal von hinten nach vorne – je nachdem, wie die Versuchsperson gerade sitzt. Zeit fließt für Thaayorre von Osten nach Westen. Säße die Versuchsperson also nach Norden ausgerichtet, würde sie die Bilder von rechts nach links sortieren. Würde sie sich in die entgegengesetzte Richtung drehen, würde sie auch andersherum sortieren.

Mich hat diese Wahrnehmung der Zeit und der Welt nachhaltig beeindruckt. Erst im Vergleich wird deutlich, welche Sicht auf diese Welt uns anerzogen wird. Alles dreht sich um uns – eigentlich sogar um das »Ich« und seine individuelle Wahrnehmung. Ich drehe mich und mit mir die Welt. Wie wäre es, wenn wir eine Sprache wie Kuuk Thaayorre sprächen, die uns ständig daran erinnert, dass wir nichts anderes sind als ein kleiner Punkt auf einer riesengroßen Karte; dass die Zeit über uns hinwegfließt, unabhängig vom Standpunkt des »Ich«? Mit welchen Grundsätzen, welcher Demut würden wir andere Menschen, Lebewesen, die Natur betrachten?

 

In unserer Sprache gilt die Regel: 99 Sängerinnen und 1 Sänger sind zusammen 100 Sänger.

Futsch sind die 99 Frauen, nicht mehr auffindbar, verschwunden in der Männerschublade.

Luise F. Pusch

 

Die Beschäftigung mit anderen Sprachen kann uns dabei helfen, den Blick auf die Grenzen der eigenen Sprache zu öffnen. Doch im Grunde braucht es diese Umwege nicht. Auch ohne den Blick von außen können Sie die Unzulänglichkeit von Sprache spüren, können Sie an die Grenzen Ihrer Sprache stoßen. Stellen Sie sich vor, Folgendes geschieht: Ein Vater und ein Sohn sind mit dem Auto unterwegs und haben einen Unfall, bei dem beide schwer verletzt werden. Der Vater stirbt während der Fahrt zum Krankenhaus, der Sohn muss sofort operiert werden. Bei seinem Anblick jedoch erblasst einer der diensthabenden Chirurgen und sagt: »Ich kann ihn nicht operieren – das ist mein Sohn!«13

Wer ist diese Person? Die Wissenschaftlerin Annabell Preussler verwendet dieses Beispiel, um zu verdeutlichen, welche Bilder sich aufgrund unseres Sprachgebrauchs in unseren Köpfen festsetzen. Die Antwort lautet: Es ist die Mutter.14

Warum sorgt diese Geschichte im ersten Moment für Irritation? Weil wir uns – wenn von einem »Chirurgen« die Rede ist – einen Mann vorstellen, keine Frau. Wir tun das, weil die deutsche Sprache nicht nur geschlechtsspezifische Pronomen kennt, sondern auch einen Genus, also ein grammatikalisches Geschlecht – anders als beispielsweise das Englische, in dem der teacher sich auf eine Lehrerin oder einen Lehrer beziehen kann. Trotz dieser Unterscheidungsmöglichkeit gibt es die Konvention des generischen Maskulinums, die dazu führt, dass die Berufsbezeichnung Lehrer Männer wie Frauen umfassen soll.

Der Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg argumentiert, dass mit einer solchen Sammelbezeichnung weder Männer noch Frauen gemeint seien, sondern eben alle, die lehren.15 Nur die Tätigkeit sei interessant. Damit wird jedoch der männliche Standpunkt als neutral universalisiert und die männliche Form als Standard vorgegeben. Wenn also weder Männer noch Frauen gemeint sind – warum dann nicht einfach die weibliche Form nehmen? Das schlägt Luise F. Pusch vor, Mitbegründerin der feministischen Sprachwissenschaft in Deutschland. Wenn also die Berufsbezeichnung Lehrerin lautete, ließe sich dann immer noch behaupten, es seien all jene gemeint, die lehren?

Das Gedankenspiel verdeutlicht die Unzulänglichkeit des generischen Maskulinums. Es reicht nicht aus, dass Frauen – womöglich – mitgemeint sind, wenn sie nicht auch von allen mitgedacht werden, die den Begriff verwenden.

Die Wissenschaftlerinnen Dagmar Stahlberg, Sabine Sczesny und Friederike Braun haben den Einfluss geschlechtergerechter Sprache auf unser Denken in folgendem Experiment aufgezeigt: Sie legten 50 Frauen und 46 Männern, unterteilt in drei Gruppen, jeweils einen Fragebogen vor. Die Fragebögen waren alle exakt gleich, sie unterschieden sich einzig in der Geschlechterbezeichnung. Während die einen nach ihren liebsten Romanhelden befragt wurden, wurde die zweite Gruppe nach ihren liebsten Romanfiguren und die dritte nach ihren liebsten RomanheldInnen befragt. Also mit männlicher, geschlechtsneutraler und schließlich männlich-weiblicher Begriffsform, dem Binnen-I.

Weibliche Romanheldinnen wurden am häufigsten in der geschlechtsneutralen und der männlich-weiblichen Begriffsform genannt, deutlich weniger dagegen in der ersten Gruppe, also jener, bei der die männliche Form vermeintlich Figuren beiderlei Geschlechts »neutral« umfasst. Viele ähnliche Studien, die sich mit dem Gebrauch der männlichen Sprachform beschäftigen, haben das gleiche Ergebnis erbracht: Frauen werden gedanklich weniger einbezogen.16

Wie lässt sich dieses Problem lösen? Darüber wird seit Jahrzehnten gestritten und debattiert. Sollen wir ein Binnen-I verwenden (und damit eine binäre Geschlechterdarstellung sprachlich zementieren)? Einen Unterstrich (und damit die weibliche Form als Anhängsel in weite Ferne vom männlichen Wortstamm rücken)? Einen Doppelpunkt? Ein Ausrufezeichen? Ein Sternchen? Ein X? Und wie sprechen sich diese Schreibweisen jeweils aus? Was würde sich im Sprachgebrauch durchsetzen?17 Trotzdem bleibt die Frage: Bekämpfen diese Vorschläge nur Symptome? Brauchen wir vielleicht eine neue, sichtbar nicht neutrale Endung für die männlichen Formen? Damit Lehrer tatsächlich all jene meint, die lehren? Damit der Mann nicht mehr der Standard ist? Oder brauchen wir eine Sprache, die gänzlich darauf verzichtet, Menschen nach ihrer Geschlechtsidentität zu kategorisieren? Bei Sprachen wie Swahili, Usbekisch, Armenisch, Finnisch oder Türkisch ist das der Fall.

Mit meinem Sohn spreche ich vor allem Türkisch. Statt er, sie oder es wird im Türkischen das o verwendet.18 Je mehr er Deutsch sprach, desto öfter ertappte ich mich dabei, wie ich ihn korrigierte, wenn er das »falsche« Geschlecht verwendete – natürlich, ich verbesserte eigentlich nur seine Fehler beim Sprachgebrauch. Andererseits: Warum erziehe ich ihn dazu, Menschen zu betrachten und sie als erstes, noch bevor wichtigere Qualitäten zur Geltung kommen können, der Kategorie Mann oder Frau zuzuordnen?19

Klar ist: Wir müssen uns mit der Architektur der Sprache beschäftigen, die unsere Realität erfassen soll. Damit wir aussprechen können, was ist. Damit wir sein können, wer wir sind. Damit wir sehen können, wer die jeweils anderen sind.

 

Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.

Ludwig Wittgenstein

 

Bei einem Abendessen in einer diversen Runde habe ich über dieses Thema gesprochen – darüber, wie Sprache Menschen ausgrenzen kann. Viele am Tisch stimmten mir zu und berichteten von eigenen Erfahrungen, bis sich eine Frau zu Wort meldete, die bis dahin geschwiegen hatte. Sie sagte, sie sei überrascht, dass ich und auch andere im Raum sich so für Ungerechtigkeiten in der Sprache interessierten. Sie selbst habe sich nie vom generischen Maskulinum ausgeschlossen, nie durch Sprache begrenzt gefühlt. Im Gegenteil, sie habe beigebracht bekommen, positiv auf die Welt zu schauen. Was könne ihr in diesem Leben schließlich passieren? Im schlimmsten Fall würde sie noch immer ein warmes Zuhause, Kleidung und genug zu essen haben.

Ein bisschen ratlos hörte ich ihr zu. Und dachte: Vielleicht kann sich ein Mensch, der noch nie gegen eine Mauer gelaufen, der noch nie hart auf den Boden der Machtlosigkeit, des Kontrollverlusts, der Demütigung, der Einsamkeit oder der Sprachlosigkeit geschlagen ist – vielleicht kann so ein Mensch sich die Mauern, die sich tatsächlich durch unsere Gesellschaft ziehen, gar nicht vorstellen. Vielleicht läuft dieser Mensch neben einer solchen Mauer entlang, ohne sie auch nur zu spüren. Ohne zu ahnen, dass sie für viele andere, deren Szenario des »schlimmsten Falls« ein ganz anderes wäre, real ist.

Eine inzwischen berühmte Analogie des US-amerikanischen Autors David Foster Wallace ist ein bildlicher Ausdruck dessen, was Sprache und ihre Macht für mich bedeuten: »Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: ›Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?‹ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: ›Was zum Teufel ist Wasser?‹«20

Sprache in all ihren Facetten – ihr Lexikon, ihre Wortarten, ihre Zeitformen – ist für Menschen wie Wasser für Fische. Der Stoff unseres Denkens und Lebens, der uns formt und prägt, ohne dass wir uns seiner in Gänze bewusst wären. Wenn ich dieses Bewusstsein herstelle, wenn ich die Grenzen meiner eigenen Wahrnehmung spüre, dann löst das Demut in mir aus. Demut vor der Welt, die ich nur aus meinem eingeschränkten Blickwinkel betrachte. Ich bin dankbar für das Bewusstsein um die Existenz dieser Grenzen – ich hoffe, sie bewahren mich davor, mit unwandelbaren Prämissen und Grundannahmen durch die Welt zu gehen. Das Bewusstsein für unsere Grenzen relativiert die Dinge, die wir ignorant voraussetzen. Die Dinge, die wir als universal postulieren – definieren sie doch nichts mehr als die Grenzen unseres Horizonts.

Die Begrenztheit meiner Wahrnehmung ist aber auch Antrieb – sie veranschaulicht mir, wie viel ich noch lernen, aufsaugen und verstehen kann. Wenn Sprache unsere Betrachtung der Welt so fundamental lenkt – und damit auch beeinträchtigt –, dann ist sie keine Banalität, kein Nebenschauplatz politischer Auseinandersetzungen. Wenn sie der Stoff unseres Denkens und Lebens ist, dann müsste es selbstverständlich sein, dass wir uns immer wieder fragen, ob wir einverstanden sind mit dieser Prägung.

Es lässt tief blicken, wenn ich beobachte, welchen Wert wir welchen Sprachen beimessen. Wie wir mit Perspektiven umgehen, die sich jenseits unseres sprachlichen Horizonts befinden. Welche Sprachen auf den Schulhöfen erwünscht, welche verpönt sind. Wie wir jene betrachten, die mit neuen Begriffen unsere Wahrnehmung erweitern, und andere, die Begriffe prägen, um Menschen zu entmenschlichen.

Sprache ist mächtig. Und Macht bedeutet Verantwortung.

Wie ließe sich mit dieser Macht umgehen? Das ist ein Moment, in dem ich das türkische Wort aciziyet vermisse.

Schwäche, Hilflosigkeit, Unfähigkeit – das sind die Wörter, die mir Übersetzungsmaschinen anbieten, wenn ich nach einem deutschen Pendant suche. Doch aciziyet bedeutet so viel mehr. Ein Wort, das mich dazu bringt, die Welt von unten zu betrachten. Von ganz unten. Machtlosigkeit und Kraftlosigkeit zu spüren, die Abwesenheit von Möglichkeiten, die Unerreichbarkeit von Dingen zu spüren – und auszuhalten. Dabei empfinde ich diesen Begriff nicht als negativ. Eine merkwürdige Freiheit ist mit ihm verbunden. Denn aciziyet evoziert auch das besonnene Wahrnehmen einer Situation, der ein Mensch ausgesetzt ist. Eine emanzipierte Akzeptanz der Umstände des Lebens. Keine demütigende Unterlegenheit, sondern respektvolle Achtung. Vielleicht ist das besonnene, emanzipierte Bewusstsein für unsere Nichtigkeit eine der wenigen Wahrheiten, die wir in ihrer Vollständigkeit erfassen können. Unsere aciziyet.

Doch wir spüren den Stoff unseres Denkens nicht, sehen die Architektur unserer Sprache nicht, wenn sie für uns funktioniert. Wir spüren die Mauern und Grenzen der Sprache erst, wenn sie nicht mehr funktioniert, wenn sie uns einengt. Uns die Luft zum Atmen nimmt.

In dem Moment, in dem Sprache für mich nicht mehr funktionierte, begann ich sie in ihrer Struktur wahrzunehmen. Ich erkannte, was mich in die Enge trieb und in mir das Gefühl des Erstickens erzeugte. Sprache ist genauso reich und arm, begrenzt und weit, offen und vorurteilsbeladen wie die Menschen, die sie nutzen.

In seinem Essay »Das hohle Wunder« aus dem Jahr 1960 schrieb der Literaturwissenschaftler, Philosoph und Holocaust-Überlebende George Steiner: »Alles vergißt – nur die Sprache nicht. Ist sie erst einmal infiziert mit Falschheit, Lüge und Unwahrheit, kann sie nur mit Hilfe der kräftigsten und vollsten Wahrheit gereinigt werden.« Steiner meinte die Sprache in Nachkriegsdeutschland, er beklagte, dass dieser Prozess ausgeblieben sei, dass die deutsche Sprache stattdessen »von Verstellung, Heuchelei und vorsätzlichem Vergessen gekennzeichnet war«.21 Doch es ging ihm nicht um die Sprache an sich, sondern darum, wie sie das Denken und Handeln prägt: um die »Wechselbeziehungen zwischen Sprache und politischer Unmenschlichkeit«22.

Die Wechselbeziehungen zwischen Sprache und politischer Unmenschlichkeit – um sie geht es mir in diesem Buch. Und darum, wie wir anders sprechen können, menschlicher. Kurt Tucholsky schrieb, dass Sprache eine Waffe sei. Ja, das kann sie sein, und das ist sie viel zu häufig, ohne dass sich die Sprechenden dessen bewusst wären. Aber das muss sie nicht. Sprache kann auch ein Werkzeug sein. Sie kann uns in der Dunkelheit der Nacht die helle Reflexion des Mondlichtes sehen lassen. Sprache kann unsere Welt begrenzen – aber auch unendlich weit öffnen.