Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

info@mvg-verlag.de

Originalausgabe

1. Auflage 2020

© 2020 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Nadine Lipp

Umschlaggestaltung: Marc Fischer

Umschlagabbildung: Anna Lisicki-Hehn

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print 978-3-7474-0156-9

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-521-8

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-522-5

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de


Wir widmen dieses Buch den Müttern unserer Kinder,

die uns das größte Glück unseres Lebens beschert haben.

Inhalt

Vorwort: Liebe ist Leben und Leben ist bunt

1. Wir sind zu viert!

2. Die Kinder entscheiden

3. »Silvergieter Hoogstad.« – »Wie bitte?«

4. Unser Kinderwunsch

5. Zwei Männer wollen eine Familie gründen

6. Ehe für alle

7. Pflegeeltern, die Theorie

8. Pflegeeltern, die Praxis

9. Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr

10. Der Kontakt zur leiblichen Mutter

11. Ein zweites Pflegekind?

12. Wir bekommen ein Mädchen!

13. Vom Leben in der Kleinstadt und der Suche nach Vorurteilen

14. Eltern werden, Paar bleiben

Epilog: Warum Familie auch anders geht

Vorwort

Liebe ist Leben und Leben ist bunt

Dieses Buch ist entstanden, weil es Menschen gibt, die über den Tellerrand blicken. Menschen, die sich für andere interessieren, die aufgeschlossen sind, tolerant und offen. Offen für Ideen, die vor nicht allzu langer Zeit allenfalls fabulöse Promigeschichten in Klatschblättern waren, Geschichten, die man sich lückenhaft und hinter vorgehaltener Hand erzählt hat.

Dass zwei Männer heiraten und zwei Kinder großziehen, ist für sich genommen schon ungewöhnlich. Dass wir dabei ganz normal leben, in einem liebevollen sozialen Umfeld von Familie, Freunden und wohlwollenden Menschen, ist für uns beide wie ein Sechser im Lotto. Unser Weg dahin war ein spannender, schwieriger, kurioser, rührender und sehr bewegender. Ihn aufzuschreiben, darum hat uns eine dieser aufgeschlossenen Personen gebeten, und wir danken ihr von ganzem Herzen, dass sie uns gefördert und gefordert hat, unsere Geschichte für andere zugänglich zu machen. Wir haben es mit Freude getan und mit der Gewissheit, dass es auch in diesen guten Zeiten wichtig ist, das Gute zu benennen und die Toleranz zu pflegen und zu ­mehren, die unser wunderbares Leben möglich macht. Dass diese Toleranz in einigen Teilen unserer Gesellschaft fehlt, ist eine Gefahr für uns und unsere Familie.

Familie kann heute viel mehr sein als die alte Vorstellung von Mutter-Vater-Kind. Familie geht auch anders. Vieles hat sich verändert in den letzten Jahrzehnten und so vieles davon ist gut. Familie kennt heute viele Konstellationen, und das hat oft damit zu tun, dass Ehepartner nicht mehr auf Gedeih und Verderb aneinander gebunden sind und dass Frauen das Recht haben, ihr Leben selbstverantwortlich zu gestalten. Kinder werden heute davor geschützt, ohne die notwendige Zuwendung und Pflege aufzuwachsen. Aus all diesen meist hart erkämpften Entwicklungen entstand das, was man Patchworkfamilien, Pflegefamilien und in unserem Fall Regenbogenfamilien nennt.

Von diesem anderen, bunten, liebevollen Leben wollen wir in diesem Buch erzählen. Wenn wir an einigen Stellen die Wörter »Norm« oder »normal« verwenden, soll dies nicht, wie oft im alltäglichen Sprachgebrauch üblich, eine Wertung beinhalten. Wir verwenden diese Wörter lediglich, um das zu beschreiben, was zahlenmäßig der Mehrheit entspricht, im Unterschied zu dem, was heraussticht. Auch möchten wir dringend darauf hinweisen, dass wir keinen Anspruch auf Richtigkeit bei der Erklärung gesetzlicher Bestimmungen erheben, auf die wir im Laufe unserer Geschichte gestoßen sind. Wir erzählen in diesem Buch unter anderem, was wir vor vier Jahren erlebt haben. Gesetze und Rechtsprechung können sich seitdem verändert haben und unsere Erfahrungen und Beschreibungen sind die von Laien.

Wer sich von unserem Buch angeregt fühlen mag, den Weg der Pflegeelternschaft zu begehen, der wird bei seinem zuständigen Jugendamt alle aktuellen Bestimmungen finden. Wir würden uns in der Tat freuen, wenn sich liebende Eltern durch unsere Geschichte ermutigt fühlen, diesen Weg zu wählen und einem Kind ein neues Leben zu ermöglichen. Allen anderen wünschen wir einfach viel Freude beim Lesen.

Wir danken euch allen, die ihr die Neugier habt und euch die Mühe macht, über den Tellerrand zu blicken.

Kevin und René

1.

Wir sind zu viert!

Papa, Papi, Tommy und Annika

Kevin

»Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb, guten Appetit.« Wir halten uns alle vier an den Händen, schütteln sie leicht auf und ab und auch Annika spricht den Vers schon ein wenig mit. Annika sitzt neben mir in ihrem Hochstuhl, René sitzt mir gegenüber und Tommy sitzt zwischen uns am Kopfende des Tisches. »Durte habeeee«, sagt Annika, und zeigt dabei auf die Schale mit den Gurken. »Ich auch«, ruft Tommy und nimmt sich gleich drei Scheiben auf einmal.

»Keine Sorge, es ist genug für alle da. Und wenn die Schale leer ist, kann ich auch noch mehr Gurke aufschneiden«, sagt René liebevoll und reicht Annika eine Gurke. »So lecker«, sagt Annika und verschlingt die Gurke auf einmal. »Danke«, erwidert Tommy, »danke, dass ihr unsere Eltern seid.« – »Und ich bin froh, dass ihr unsere Kinder seid«, sage ich. René streichelt Tommy sanft über den Kopf und sieht so glücklich und verliebt aus.

Tommy war dreieinhalb Jahre alt, als er am 3. September 2015 zu uns kam, Annika war gerade acht Monate geworden, als sie am 15. August 2018 bei uns einzog.

Da sitzen René und ich mit zwei Kindern am Tisch und ich sehe in seinen leuchtenden Augen, dass auch er es immer noch nicht glauben kann. Wir haben wirklich zwei Kinder. Wir sind Papa und Papi. Ich werde mich wohl nie daran gewöhnen. Und das möchte ich, offen gestanden, auch nicht. Denn ich mag diesen Zauber, der sich hinter dem Nichtgewöhnen verbirgt. Beide bleiben für uns immer etwas Besonderes, und das ist wundervoll.

2.

Die Kinder entscheiden

Wenn »Mama« kein Geschlecht, sondern ein Gefühl ist

Kevin

»Maamaaaaa«, rief Tommy so laut über den Spielplatz, dass es die anderen Eltern hören mussten.

»Du musst genau da stehen bleiben und mich auffangen. Und dich drehen. Und mich küssen. Und ganz feste drücken. Ganz schnell.« Mit dieser ehrlichen Freude und Liebe rannte Tommy auf mich zu und rief so laut, dass es wirklich jeder hörte, und ich, ich überlegte nicht mehr, was die anderen Menschen auf dem Spielplatz denken könnten oder wie sonderbar es schien, dass ein Mann »Mama« genannt wurde. Ich war so stolz und berührt von seiner aufrichtigen und so weitreichenden Liebe, dass er mich nicht nur Mama nannte, sondern mich auch als seine Mama fühlte.

Er kam auf mich zugerannt, mit seiner überschwänglichen Freude, mit weit aufgerissenen Augen und ausgebreiteten Armen. Er wusste ganz genau, was gleich passierte, und ich auch. So viele Male hatten wir dieses kleine Ritual schon vollzogen. Ich ging leicht in die Hocke, fing Tommy auf, als er bei mir ankam, drehte ihn im Kreis und gab ihm einen Kuss auf den Kopf.

»Mama, meine Mama«, sagte mein Sohn, und ich genoss seine Nähe und sein Vertrauen in mich.

Mein Sohn, mein Pflegesohn nennt mich Mama. Das hätte ich nie für möglich gehalten und anfangs auch nicht gewollt. Denn die Bezeichnung »Mama« gilt der Frau, die das Kind geboren hat. Das war für mich so klar und so selbstverständlich wie der Sonnenaufgang am Morgen. Wie unwissend ich war und wie wenig ich von den Gefühlen und der Beziehung zwischen Kind und Elternteil wusste. Und was dieses Wort »Mama« für ein Kind bedeutet: Ein starkes Gefühl von Angenommensein, Zuhause, Zugehörigkeit und Liebe. Doch da stand ich auf dem Spielplatz, mit all den Frauen und Männern, den Mamas und Papas, und es hätte sich richtiger nicht anfühlen können, dass mein Sohn seinen Papi »Mama« nannte.

Ich erinnere mich noch an eines der ersten Gespräche mit unserer damaligen Sachbearbeiterin vom Jugendamt, Frau Müller. Kurze graue Haare, Jeans und Turnschuhe. Sie hatte einen etwas herben Charme, der manchmal an Schroffheit grenzte, und strahlte eine förmliche Autorität aus. Das führte dazu, dass ich mich in ihrer Gegenwart manchmal wie ein kleiner Schuljunge fühlte.

»Wie ist das dann mit der Unterscheidung? Ich meine, wir sind zwei Männer, wie ist das für die Kinder?«, fragte ich.

Frau Müller schmunzelte, schaute mich über ihre Brille hinweg an und antwortete: »Also bei dem einen Männerpaar, das wir betreuen, nennt das Pflegekind einen der Väter Mama.«

Aus ihrem Schmunzeln wurde ein verhaltenes Lächeln, und ich war mir nicht sicher, ob sie sich amüsierte, mir mit ihrer Aussage einen gezielten Vorschlag machen wollte oder schon meine Reaktion erahnte und darüber erheitert war.

René und ich mussten fast lachen. Also bei allem Verständnis von Liberalität und dem Wunsch nach Gleichberechtigung, das fühlte sich dann doch sehr komisch an. Dass ein schwuler Mann zulässt, Mama gerufen zu werden, fand ich nicht nur befremdlich, sondern gleichzeitig ein entsetzliches Klischee.

»Ich würde dann die Unterscheidung Papa und Papi bevorzugen«, erwiderte ich.

»Manche Pflegeeltern, vor allem bei heterosexuellen Paaren und bei Kindern, die älter und länger in ihrer Herkunftsfamilie gelebt haben, kommt es auch vor, dass die Pflegeeltern nur mit dem Vornamen angesprochen werden. Oder später das Wort Mama beziehungsweise Papa vor den Vornamen gesetzt wird. Also Mama Renate und Papa Herbert zum Beispiel.«

Puh, das klang auch wild und fühlte sich komisch an, denn ich komme aus einer Familie, in der Mama und Papa gesagt wird. Mit diesen Worten verbinde ich Geborgenheit, Familie, zu Hause sein, Vertrauen, Sicherheit und unendlich viel Liebe. Ich weiß gar nicht, wann ich mir zum ersten Mal darüber bewusst wurde, wie die Vornamen meiner Eltern lauteten.

Aber gut, hier geht es nicht um mein Ego oder um meinen Wunsch nach Anerkennung und Liebe eines mir noch fremden Kindes, und erst recht nicht darum, Papa genannt zu werden. Es geht hier um ein fremdes Kind. Und dieses braucht Hilfe in Form von neuen sozialen Eltern. So werden Eltern genannt, die nicht die leiblichen Eltern sind, also auch Pflegeeltern. Menschen, die Verantwortung übernehmen können und wollen, und das am besten schon gestern.

Hier geht es um Kinder, die nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen werden, sondern bei zunächst völlig fremden vom Jugendamt ausgewählten Menschen. Bei uns kommt noch hinzu, dass sie mit zwei Männern groß werden, ein Thema, über das wir uns von Anfang an Gedanken gemacht und immer wieder überlegt haben, wie das für die Kinder sein wird.

Braucht ein Kind eine weibliche Mama-Figur? Sicher, gäbe es nicht beide Geschlechter, wäre kein Leben möglich, und es wäre auch wünschenswert, dass Kinder bei ihren leiblichen Eltern groß werden. Mit ganz viel Liebe und Anerkennung, Aufmerksamkeit und Geborgenheit. Das ist aber nicht jedem Kind vergönnt und nicht jedem leiblichen Elternteil ist es in die Wiege gelegt worden, all das seinem Kind zu geben. Oft haben Eltern in ihren Kindertagen nicht die Liebe und Zuwendung erfahren, die es ihnen ermöglicht hätte, diese weiterzugeben.

Auch in der Tierwelt kommt es immer wieder mal vor, dass ein Junges verstoßen wird, dass Eier im Nest verlassen werden oder Eltern bei der Futtersuche selbst der Nahrungskette zum Opfer fallen – und nicht selten springen dann Tierpflegeeltern und Tierregenbogenfamilien ein.

Gerade bei Albatrossen und Pinguinen kommt es häufiger vor, dass zwei männliche Tiere, ein Leben lang verbunden, sich um ein fremdes Ei oder Küken kümmern und als ihres annehmen. Dazu fällt mir ein zauberhaftes Kinderbuch mit dem Titel »Zwei Papas für Tango« ein, das von einem homosexuellen Pinguinpaar im New Yorker Zoo erzählt und auf einer wahren Geschichte beruht.

Egal ob Tier oder ob Mensch, alle Lebewesen brauchen in erste Linie Liebe. Das ist meine feste Überzeugung. Und Liebe ist ein Gefühl, das wir alle in uns tragen können.

Die Bezeichnungen Mama und Papa sind mit ganz bestimmten Menschen verknüpft und an aufrichtig empfundene Gefühle gebunden. Denn erst mit der Liebe einer Mama oder eines Papas lernt ein Kind sich sicher zu fühlen. Sicher genug, um irgendwann auf eigenen Beinen zu stehen und dann, mit noch mehr Sicherheit, auch alleine gehen zu können.

Unser Sohn und auch unsere Tochter nannten mich beide, bevor sie den Begriff Papi kannten und konnten, Mama. Dabei war es aber nicht so, dass wir ihnen diese Option angeboten hätten. Sie mussten »Mama« auf dem Spielplatz, beim Einkaufen oder bei Freunden gehört und auch die Verbindung von Wort und Person beobachtet haben und sie für sich auf mich übersetzt haben.

Mama ist kein Geschlecht, Mama ist ein Gefühl. Ob eine Frau ein Papa ist oder ein Mann eine Mama oder ob ein alleinerziehender Elternteil beides zugleich ist, liegt vor allem an den Kindern selbst. Die Kinder entscheiden, wen sie mit welchem Gefühl in Verbindung bringen und wen sie wie benennen.

Wie viele alleinerziehende Mütter sorgen sich, dass ihren Söhnen die Vaterfigur fehlt? Auch wir hatten anfangs diese Bedenken, dass unseren Kindern eine weibliche Bezugsperson fehlen könnte. Unsere Sorgen waren aber unbegründet, denn die meisten Erzieherinnen und Lehrerinnen sind Frauen, und in unserer Familie gibt es Tanten und Cousinen und Omi und Oma. Kinder finden ihre Rollenvorbilder im Laufe ihres ­Lebens, und dies oftmals fernab unserer starren Vorstellungen davon, wie diese auszusehen haben. Denn es gibt Mädchen, die lieber Fußball spielen oder Autos reparieren, und es gibt Jungs, die gerne mit Barbies spielen oder Tänzer werden wollen – und dies alles völlig losgelöst von der sexuellen Orientierung.

Eigenschaften wie immer da zu sein, zu behüten, zu wärmen, zu halten, lösen das »Gefühl Mama« aus. Wenn ich Tommy abends ins Bett bringe, ihm eine Geschichte vorlese, ihm noch sein für ihn gedichtetes Lied vorsinge und ihm lange übers Haar streichele, sagt er immer und immer wieder, dass ich seine Herzmama sei. Das ist ein Begriff, der Kinder den Unterschied zwischen der leiblichen Mutter, sozusagen der Bauchmama, und der Pflegemutter, also der Herzmama, erklären soll.

Natürlich macht mein Mann auch alles ganz liebevoll und großartig. Doch ich bin es, zu dem Tommy kommt, wenn er etwas aus der Schule erzählt: »Papi, ich werde bald Luisa heiraten.« Eine Woche später erzählt er mir dann genauso selbstbewusst, dass er Louis heiraten möchte. Er bittet mich, Papa nicht zu verraten, dass er wieder die Gartenschere nicht in den Schuppen zurückgelegt hat, da er weiß, dass Papa ihm das schon so oft gesagt hat und eher mal genervt ist. Zu René geht er, wenn er Hammer und Nägel aus der Werkstatt holen möchte, Hausaufgaben machen oder etwas im Übungsheft schreiben möchte oder wenn er toben und Ballspielen möchte. Obwohl sowohl René als auch ich die jeweils beim anderen eingeforderten Bedürfnisse erfüllen könnten, sucht sich Tommy die Person aus, die er mehr mit der jeweiligen Aufgabe in Verbindung bringt.

Auch als er es noch nicht besser verstehen konnte, folgte er seinem Gefühl und machte mich damit gesellschaftlich gesagt zu seiner Mama. Mit diesem Mama-Gefühl geht auch einher, dass sich ein Kind bei dem Mama-Menschen so sicher und geborgen fühlt, dass es vielleicht eher mal kracht. Mit Mama reiben sich Kinder mehr, wie die ein oder andere leidgeplagte Mutter sicher bestätigen kann.

»Würdest du bitte deine Zähne putzen?«, sagte ich zu Tommy.

Tommy blickte aus dem Fenster und ich war mir nicht sicher, ob er mich schon bewusst ignorierte oder wirklich mit seinen Gedanken in der Kreidezeit steckte und in einen Tyrannosaurus verwandelt einem Triceratops hinterherrannte.

»Ich hatte dich gebeten, deine Zähne zu putzen, hast du mich gehört?«, wiederholte ich.

Tommy antwortete mit einer Mischung aus Ertapptsein und ehrlicher Vergessenheit: »Ups.«

»Ich würde mir wünschen, dass du deine Zähne jetzt auch putzt. Das bedeutet, dass sich die Zahnbürste auch bewegt.«

Tommy sah mich wütend an, hob den Zeigefinger, grummelte missbilligende Geräusche vor sich hin und stampfte, wahrscheinlich war er immer noch ein T-Rex, ins Badezimmer. René hat solche Gespräche mit Tommy nicht, wenn er ihn bittet, etwas zu tun, macht er es in der Regel sofort oder viel schneller als bei mir.

Das Papa-Gefühl haben Kinder bei der Person, die sie als den Beschützer der ganzen Familie wahrnehmen, die das Geld nach Hause bringt, den Kindern Fahrradfahren und Schwimmen beibringt und mit ihnen zu Weihnachten etwas aus Holz für die Omas bastelt. Oder auch für mich, die Mama. Ich habe letzte Weihnachten von beiden Kindern ein Herz aus Holz mit ihrem Handabdruck darauf bekommen. René erzählte mir hinterher, dass er eine gute Stunde gebraucht hat, bis keine Farbe mehr an den Kinderhänden klebte. Doch für das Strahlen in Tommys Augen und für Annikas Quieken war es das wert. Wie können Eltern denn immer von Stolz sprechen, wenn ihre Kinder etwas getan haben? Das haben ja die Kinder gemacht und nicht die Eltern – das habe ich oft gedacht, bevor ich selbst dieses Glück erleben durfte, stolz auf meine Kinder zu sein. Wie seltsam kinderlose Menschen doch manchmal denken.

Mir sind die Tränen in die Augen geschossen vor Stolz und so schnell konnte ich mich gar nicht zusammennehmen, da liefen sie mir schon die Wangen runter, so verliebt war ich in diesem Moment in meinen Mann und unsere Kinder. Zunächst fühlt sich das an wie althergebrachte und doch eigentlich ausgediente Rollenbilder. Doch es geht hier eben nicht um Geschlechter, sondern um Gefühle. Nur dass sich in einer heteronormalen Familie mit Mann und Frau und leiblichen Kindern die wenigsten Menschen über die Begriffe Mama und Papa Gedanken machen.

Auch bei uns haben sich einzelne Aufgaben und Rollen zugeordnet. So bin ich derjenige, der zwangsläufig mehr Zeit mit den Kindern verbringt und auch den Überblick über alle Nachmittagstermine hat. Und ich bin es, der versucht, den Kindern gerecht zu werden, und deshalb den Haushalt gerne mal vernachlässigt, was meinen von der Arbeit nach Hause kommenden Mann regelmäßig sprachlos macht und verzweifeln lässt. Ich hätte doch so viel Zeit. Und ich hoffe, dass mir auch in diesem Punkt viele Mamas zustimmen, denn mit Kindern misst sich die Zeit nicht mehr in Minuten und Stunden, sondern in gelesenen Büchern und in leeren Schalen gekochter Spielsuppen. Zeit mit Kindern wird nicht mehr auf der Uhr abgelesen, sie misst sich an der ständig vollgestellten und schmutzigen Küche und den immer überquellenden Wäschekörben oder an den Bergen sauberer, noch nicht zusammengelegter und wegsortierter Wäsche.

Jeder von uns kann die Gefühle und Eigenschaften, die mit Papa und Mama verbunden sind, in sich tragen. Und jeder Mensch, jedes Kind baut eigenständige und unabhängige Beziehungen zu anderen Menschen auf. So kann es auch sein, dass in einer Familie mit zwei Kindern das eine Kind mehr Mama-Geborgenheit bei der Mutter findet und das andere vielleicht beim Vater.

Die Bezeichnungen sind einfach schon seit so vielen Generationen an das Geschlecht gebunden, dass es von Anfang an so selbstverständlich ist, dass die Mutter auch die Mama und der Vater auch der Papa ist. Normalerweise* leben Kinder nun mal bei Mutter und Vater und in intakten Familienverhältnissen, sodass sich über die Frage nach der Zugehörigkeit von »Mama« und »Papa« keine Gedanken gemacht wird.

Als meine Kinder mich Mama nannten und sich das gut und richtig anfühlte, fing ich an zu überlegen und spürte in mich hinein: »Elternsein ist in erster Linie diese Liebe zu unseren Kindern und ihre Liebe zu uns.« Also fragte ich mich, was für beide Kinder der Unterschied zwischen meinem Mann und mir bedeutet. So ist mein Mann zum Beispiel der geduldigere Hausaufgabenbegleiter für Tommy und der konsequentere Einschlafbegleiter unserer Tochter. Ich merkte beim Spielkontakt mit Schulkameraden oder beim Warten in der Sportumkleide, dass ich die gleichen Herausforderungen bei meinen Kindern teile wie alle anderen Mütter, und mein Mann eben ganz klassisch die »leichtere« Papa-Rolle hat. Er bittet die Kinder, das Zimmer aufzuräumen, und muss selten ein zweites Mal das Zimmer betreten, bis seiner Bitte nachgekommen wird.

Nicht selten höre ich von anderen Müttern: »Tja, du bist eben die Mama.« Manches Mal sagen sie es belustigt und andere Male mit großem Staunen darüber, wie Kinder fühlen und ihre Gefühle einfach aussprechen. Auch unsere Familientherapeutin, die viel mit Pflegefamilien zusammenarbeitet, sagte in einer Sitzung lachend: »Ich hoffe, Sie sehen es mir nach, Herr Silvergieter, aber Sie sind eben die Mama.«

Ich sehe es ihr nicht nur nach, sondern ich bin der festen Überzeugung: Ich bin die Mama. Und das macht mich heute unendlich stolz.


* Normal bedeutet nicht gut oder schlecht, normal ist die Mehrheit.

3.

»Silvergieter Hoogstad.« – »Wie bitte?«

Eine Kennenlerngeschichte

René

Laut Statistik lernen sich sechzig Prozent aller Paare auf der Arbeit kennen. Als ich am 27. April 2009 in den Briefingraum kam, um meine Crew vor dem Abflug zu treffen, saß Kevin schon da. Ich dachte bei mir: »Herrje, wieder so viel junges Gemüse heute. Das wird bestimmt anstrengend.«

Kevin sah ganz nett aus. Aber es war mir gleich klar, dass das geparkte Bobbycar vor der Tür seins sein musste. Wie alt war er? Vielleicht zwanzig oder zweiundzwanzig? Keine Ahnung. Nachdem sich jeder Flugbegleiter seine Arbeitsposition im Flugzeug ausgesucht hatte, ergab es sich, dass wir am selben Ende des Flugzeuges arbeiteten und so die nächsten Stunden zusammen verbringen würden. Für einen so jungen Hüpfer war er sehr charismatisch, hegte respektvollen Umgang mit Kunden und Kollegen und war überraschend charmant. Sehr charmant. Hm. Ich war wahrscheinlich schon zu lange Single, und nur deshalb fühlte ich mich in seiner Umgebung so wohl. Dachte ich.

Nur sechs Stunden später waren wir in Jeddah, Saudi-Arabien. Das Abendessen mit der Crew fand in einem typischen, saudischen Restaurant statt. Unter freiem Nachthimmel, mit dem Geruch des Meeres in der Luft, vermischt mit dem Duft der Wasserpfeifen, die die wenigen Männer um uns herum rauchten. Immerhin saßen wir in der »Family Section«, da wir weibliche Crewmitglieder bei uns hatten. In der »Men Section« saßen weitaus mehr Männer. Aber eben auch nur Männer. Dort brauchte man ein Nebelhorn, um die Schwaden der Wasserpfeifen zu durchdringen. Dort hatten Frauen keinen Zutritt. Andere Länder, andere Sitten. Ich war als Flugbegleiter angetreten, die Welt zu bereisen, nicht, sie zu verändern. Auch wenn es ab und an schwerfällt.

Wir genossen das köstliche Essen mit den exotischen Gewürzen der arabischen Welt, plauderten über Belangloses und lachten viel. Zum Ende bestellten wir uns einen Milkshake, und da sich die Crew auflöste und die meisten zurück ins Hotel gingen, blieben wir zu zweit zurück. Wir schlenderten mit unserem Getränk die Corniche entlang, eine befestigte Uferpromenade. Wir begannen, uns gegenseitig Geschichten zu erzählen. Von unserem Leben, unseren Familien, unserem Zuhause. Ich fragte nach seinem Nachnamen. Wir duzen uns ja alle an Bord und ich kannte ihn nur als Kevin.

Er antwortete: »Silvergieter Hoogstad.«

Ich darauf: »Gesundheit! Wer kommt denn auf so einen Namen?« Wie hätte ich damals erahnen können, dass ich ihn einmal freiwillig selbst tragen würde?

Wir liefen weiter und regten uns gemeinsam über Kinder auf, die kleine Böller zwischen die umherstreunenden Katzen warfen. Kevin erzählte von seiner Hündin Dusty, die vom bösen Schäferhund des örtlichen Metzgers gebissen wurde, und davon, wie schwer es war, in einer eher konservativen, leicht rechtsradikal angehauchten Umgebung aufzuwachsen. Wir erzählten von unseren geschiedenen Eltern. Von den Opfern, die unsere Mütter erbracht hatten, um uns eine glückliche Kindheit zu bescheren. Von der großen Dankbarkeit, die wir für sie empfanden. Von unserem Coming-out, unseren vergangenen Beziehungen.

Wir hatten einiges gemeinsam, obwohl wir so viele Jahre auseinander waren. Ich genoss die Gespräche mit diesem aufgeschlossenen und charmanten jungen Mann. Ich mochte das Verantwortungsbewusstsein und die für sein Alter ungewöhnliche Klarheit, mit der er viele Dinge sah. Und ich war bezaubert von seiner Offenheit, die manchmal an Naivität grenzte, sodass ich ihn am liebsten im Wechsel belächelt oder umarmt und beschützt hätte. Beschützen durfte ich ihn dann auch am Ende dieses Abends, als er nämlich beim Überqueren der Straße beinahe vor ein Auto gelaufen wäre. Ich hielt ihn am Arm fest. Eine erste Berührung. Okay, vielleicht war das Auto noch nicht ganz so nah. Aber hey, ich war immerhin sein Vorgesetzter und hatte dementsprechend Fürsorgepflicht.

Am nächsten Morgen hatten wir uns alle verabredet, um gemeinsam zum Beach Club zu fahren. Dies war eine abgeschlossene Strandanlage, in der wir uns alle frei bewegen durften. Die Damen gar im Bikini, fern aller Gottesfürchtigen, die um den Verderb der Moral bangten. Ich fühlte den Biss der Enttäuschung, als Kevin nicht auftauchte. Na ja. Jung und unzuverlässig halt. Also zog ich mit den Damen los, um Sonne und Meer zu genießen. Die Seeluft war herrlich, das Wasser glasklar. Ich las mein Buch, genoss den sanften Wind auf meiner Haut und bewegte mich drei Stunden später träge zum Mittagessen mit allen anderen. Wir speisten, wie es in den Geschichten aus »1001 Nacht« beschrieben wird. Es wurde arabische Mezze serviert und der Tisch war gedeckt mit kleinen Schälchen voller Köstlichkeiten wie Hummus, Tabouleh oder Moutabal. Dazu Lamm oder Huhn in orientalischen Gewürzen mariniert, zart und saftig auf Spießen gegart. Der Genuss dieser Speisen erhöht sich durch die Art, sie zu essen. Man reißt frisch gebackenes Fladenbrot in Stücke und nimmt mit diesen die verschiedenen Gerichte auf. Man isst mit den Händen, was die Sinnlichkeit des Erlebnisses erhöht. Und jeder bedient sich an allen Schüsseln. Dadurch entsteht ein Gefühl der Gemeinschaft, eine ganz andere Art des gemeinsamen Speisens. Zugegebenermaßen ist es nichts für Hygienefanatiker. Aber ich liebes es und ich liebe unter anderem deshalb meinen Beruf. Nach zwanzig Jahren noch immer wie am ersten Tag. Und Liebe geht ja bekanntlich durch den Magen.

Nach dem Mittagessen schlüpfte ich in einen flachen Glasbau, der ein kleines Business Center beherbergte, um mich an den dort vorhandenen Computern um meinen Dienstplan für den nächsten Monat zu kümmern. Es war Abgabeschluss der Flugwünsche. Wir Flugbegleiter haben das Glück, unseren Dienstplan zumindest in Teilen selbst bestimmen zu können. Wir können unsere Prioritäten setzen und uns einen Flug zu einem bestimmten Ziel wünschen. Oder an einem bestimmten Tag. Oder auch bestimmte Tage im Monat frei wünschen, an denen wir gerne zu Hause sein möchten. Damals ging das alles noch nicht auf dem Handy oder dem Tablett, wie heute. Das ist heute kaum mehr nachvollziehbar. Wie sehr sich die Technik verändert hat allein in den fast fünfzig Jahren, die ich auf der Erde bin.

Ich saß also im Beach Club am Computer hinter einer Glasscheibe und bastelte hoch konzentriert an meinem Dienstplan, als sich draußen ein junger, attraktiver Mann zu meiner Crew gesellte. Kevin. Er war mit dem Mittagsbus nachgekommen und stand nun bei meiner Crew, die noch ihren starken, arabischen Kaffee genoss. Es ist keine leichte Übung, wie von der Tarantel gestochen loszurennen und dabei ganz lässig auszusehen. Ich sprang also aus meinem Stuhl, rannte zur Tür, riss sie auf und … ging ganz gemächlichen Schrittes Richtung Sitzgruppe, um dort – der Übung zweiter Teil – ganz überrascht festzustellen, dass Kevin ja auf einmal auch da war.

»Ich habe dich gar nicht kommen sehen. Schön, dass du da bist«, sagte ich und verkniff mir den schwierigen dritten Teil der Übung: ihn so unauffällig wie möglich in die Nähe meiner Liege zu lotsen. Die Blöße wollte ich mir vor meinen Mädels nicht geben. Die hätten das sofort geschnallt und Kevin wahrscheinlich nicht. Dachte ich. Ich sagte also nur, ich ginge wieder zu meiner Liege, und er sagte darauf ebenso einfach, er käme mit. Dieser wunderschöne, liebevolle und liebenswerte Mensch folgte mir. Freiwillig. Zugegebenermaßen war ich sicher in einer der unzähligen Blüten meiner Jahre und auch ein klein wenig ansehnlich.

Ich hatte mich ein wenig abseits der Gruppe gelegt, weil ich gerne Ruhe beim Lesen habe und die immer ähnlichen Gespräche über unsere Arbeit manchmal ermüdend sein können. Da Kevin die für rothaarige Männer typische, sehr helle Haut hat, ermahnte ich ihn, sich gut einzucremen.

Erwähnte ich bereits, dass ich sie liebe, diese sanfte, helle Haut? Die auf eine ganz eigene Weise das Wunder des Lebens ins rechte Licht rückt? Adern, Sehnen und die angeschlossenen Muskeln bewegen sich wie hinter einer Milchglasscheibe und man kommt nicht umhin, fasziniert zuzuschauen oder sich zu einer sanften Berührung hinreißen zu lassen. Noch heute beobachte ich meinen Mann ab und an, wenn er schläft. Sauge jedes Detail seines starken und gleichwohl feinen Körpers auf.

Unnötig zu erwähnen, dass ich ihm damals also anbot, seinen Rücken zu salben. Er hat einen muskulösen, langen Rücken und ich nahm mir ausreichend Zeit, damit er sich auch ganz sicher nicht verbrennen würde. Ich hatte, als sein Vorgesetzter, ja immerhin eine gesetzliche Fürsorgepflicht zu erfüllen, wie bereits erwähnt. Das Ergebnis war dann auch höchst zufriedenstellend. Als ich ihn nämlich fragte, ob wir ein wenig zum Wasser schlendern wollen, sagte er: »Sehr gerne. Ich kann nur leider grad nicht aufstehen.« Breites Lächeln auf meinem Gesicht. Irgendwann beruhigte sich sein höchst erfreuter Körper wieder und er konnte aufstehen, ohne einen Verlust des Tragekomforts seiner Bademode zu riskieren – und den damit sicherlich verbundenen Tumult unter allen weiteren Badegästen.

Nach nur knapp einer Stunde des romantischen Flirtens lief ich schon Gefahr, meinen heutigen Ehemann das erste Mal zu ermorden. Ich konnte ja nicht ahnen, dass er sich so … ungeschickt anstellen würde. Er hatte mir zwar versichert, noch nie in seinem Leben geschnorchelt zu sein. Aber ich hatte auch noch nie jemanden gesehen, der sich den Schnorchel so gründlich voller Wasser sog und infolgedessen auch den Mundraum und Teile seiner weiterführenden Atemwege flutete. Als er also um sich schlagend, abwechselnd Wasser spuckend und nach Luft japsend wieder aus dem Wasser auftauchte, blieb mir nur, ihn mit meinen Armen zu umschlingen und über Wasser zu halten, bis er sich wieder beruhigt und einen halbwegs normalen Atemrhythmus hatte.

Der zweite Versuch gelang ihm dann schon deutlich besser und bald glitten wir nebeneinander durch die faszinierende Unterwasserwelt Saudi-Arabiens. Ein felsiger Abhang erstreckte sich unter uns und der Reichtum an Fischen und anderen Meeresgeschöpfen war unbeschreiblich. Eine Explosion der Farben und Formen. Als ich einen besonders farbenfrohen Kofferfisch erspähte, ergriff ich Kevins Hand, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, und zeigte mit der anderen in Richtung der schillernden Kreatur. Es war wieder einmal er, der Mut und Willen bewies, ohne Angst vor der Zurückweisung. Seine reine und unbedarfte Art, die ich noch heute so liebe. Er hielt meine Hand einfach fest. Er hielt mich fest und ließ mich nicht mehr los. Und so schwammen wir nicht mehr nebeneinander, sondern miteinander durch das Rote Meer, Hand in Hand, mit klopfenden Herzen. Es war einer der schönsten Momente meines Lebens.

Mein zweiter Versuch, Kevin zu meucheln, fand übrigens ein gutes halbes Jahr später statt. Er hatte eine Magenverstimmung, und ich kochte ihm als liebender Partner einen wohltuenden Kamillentee. Als er diesen zum Mund führen wollte, verzog er das Gesicht und klärte mich darüber auf, dass er gegen Kamille hochgradig allergisch sei. Und gegen Walnüsse. Und Honig. Und Kiwis. Und Laktose. Und Hausstaub. Aber hey, immerhin nicht gegen mich.

Am jenem Nachmittag in Saudi-Arabien fuhren wir vom Beach Club gemeinsam zum Hotel zurück, da wir abends einen sogenannten »Shuttle« fliegen mussten. Das heißt, man fliegt von einem Flughafen im Ausland zu einem anderen und wieder zurück, um dann einer anderen Crew den Rückflug nach Frankfurt zu übergeben. Als ich die Uniform anzog und an den vor mir liegenden Flug dachte, spürte ich eine Aufregung in mir, die ich zunächst gar nicht richtig einordnen konnte. Ja, der Nachmittag war sehr schön gewesen. Und ja, Kevin hatte mir mit seinen sehr klaren Signalen und dem Suchen meiner Nähe sehr geschmeichelt. Aber ich konnte doch nicht ernsthaft aufgeregt sein, weil ich gleich mit ihm arbeiten durfte. Dachte ich.

Vor Beginn des Fluges, als noch keine Gäste an Bord waren, und Kevin in der Flugzeugküche vor mir stand, legte ich meine Hand sanft auf seine Wange. Ich weiß gar nicht mehr, was wir gesprochen hatten. Oder ob wir überhaupt gesprochen hatten. Aber es war ein sehr zärtlicher Moment. Und zur Abwechslung war ich es, der sich traute. Ich hatte mit großer Wahrscheinlichkeit einen Sonnenstich, dass ich mich zu so etwas hinreißen ließ. Dachte ich.

Die beiden kurzen Flüge in den Sudan und zurück verliefen ruhig. Und ich genoss seine Nähe. Und die Leichtigkeit, mit der wir arbeiteten. Oftmals ohne Dinge aussprechen zu müssen. Wir waren einfach auf einer Wellenlänge.