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Deutsche Erstausgabe (ePub) November 2019

 

 

© 2019 by Raik Thorstad

 

 

Verlagsrechte © 2019 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

Lektorat: Anne Sommerfeld

 

ISBN-13: 978-3-95823-790-2

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


 

 

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Teil I


 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

vielen Dank, dass Sie dieses eBook gekauft haben! Damit unterstützen Sie vor allem den Autor des Buches und zeigen Ihre Wertschätzung gegenüber seiner Arbeit. Außerdem schaffen Sie dadurch die Grundlage für viele weitere Romane des Autors und aus unserem Verlag, mit denen wir Sie auch in Zukunft erfreuen möchten.

 

Vielen Dank!

Ihr Cursed-Team

 

 

 

 

Klappentext:

 

Als Soldat einer römischen Eliteeinheit nach Germanien entsandt zu werden – davon träumt Ciaran seit Beginn seiner Ausbildung. Doch die Aussicht auf Ruhm und Ehre entpuppt sich schnell als Trugbild, als Ciaran und seine Kampfgefährten mit der Realität des germanischen Winters und dem Widerstand des wilden Volkes konfrontiert werden. Schließlich wird Ciaran damit beauftragt, den Kriegsgefangenen Kjell davon zu überzeugen, auf ihre Seite zu wechseln und sein Volk zu verraten, um den römischen Truppen zum Sieg zu verhelfen. Kein leichtes Unterfangen, denn die Kluft zwischen ihnen scheint unüberwindbar zu sein. Wäre da nicht die stetig wachsende Anziehung, die vor allem Kjells Weltbild vollkommen auf den Kopf stellt. Sind die Gefühle der beiden Männer stark genug, um für sie zu kämpfen, oder werden sie weiterhin nur Figuren im ewigen Würfelspiel der Götter sein?

 


 

 

 

 

Gewidmet denen, die dieses Buch von Kindesbeinen an begleitet und den Protagonisten über Jahre die Treue gehalten haben.

Ihr seid zu viele, um euch alle beim Namen zu nennen, aber ihr wisst, wer ihr seid. Und ich weiß es auch.

 

 


 

Kapitel 1

 

 

Surrend raste die Speerspitze an Ciarans Oberarm vorbei. Der Angriff warf ihn aus dem Gleichgewicht, sodass er knurrend einen Fußbreit des hart erarbeiteten Bodens preisgeben musste. Schweiß perlte ihm von der Stirn und drohte, ihm in die Augen zu rinnen.

Sein gedrungener Gegner tänzelte auf dem sandigen Untergrund. Immer wieder wirbelte er Staub in Ciarans Richtung auf, zweifelsohne, um ihn zum Husten zu bringen und sich damit einen Vorteil zu verschaffen.

Ein langer Schritt nach links, eine schnelle Drehung, zwei Speere, die wuchtig aufeinandertrafen und doch voneinander abglitten, ohne Schaden zu verursachen. Der mit dünnem Leder umwickelte Griff vibrierte in Ciarans ermüdenden Fingern.

Ausfallschritt, eine ungeschickte Schrittfolge und da, eine Lücke in der Deckung? Vielleicht aber auch nur eine vorgetäuschte Schwäche, die ihn leichtsinnig machen sollte.

Erneut eine Finte, eine schnelle Abfolge von Schlägen ohne Stich, doch mit Druck auf seinen linken Arm.

Ciaran wusste, was sein Gegner vorhatte: Er wollte ihn zwingen, sich mit ihm zu drehen, bis ihm das Sonnenlicht in die Augen stach. Aber er hatte zu viel Erfahrung, um auf solche Spielereien hereinzufallen. Auch wenn ihn die langen Stunden ermüdet hatten, in denen er sich mit Speer und Gladius gegen immer neue Angreifer verteidigen musste, war er noch lange nicht so erschöpft, dass er sich in einen so offensichtlichen Fehler locken ließ und durch eine ungünstige Position seinen größten Vorteil aufgab.

Es gab nicht viele Männer, die es mit seinem hohen Wuchs aufnehmen konnten. Den meisten wurden seine Reichweite und seine angeborene Beharrlichkeit zum Verhängnis. Und auch von diesem Jungspund würde er sich nicht in den Staub der Arena schicken lassen.

In den Augen seines Gegenübers blitzte Triumph auf, als sich Ciaran vermeintlich schwer atmend mit der Tunika das Gesicht trocknete. Es war kaum mehr als ein Fingerzeig, und doch ließ sich der Junge verführen. Den sicheren Sieg vor Augen sprang er auf Ciaran zu und hob den Speer, um ihn in seine linke Schulter zu stoßen.

Das geschliffene Holz zeichnete einen Kreis in die vor Hitze flirrende Luft und traf mit ungebrochener Wucht auf eine ungeschützte Kniescheibe. Mit einem überraschten Aufschrei ging der Junge zu Boden.

Ciaran trat einen Schritt nach vorn, setzte einen Fuß auf die Waffe des Angreifers und bohrte die stumpfe Speerspitze zielsicher in die verletzliche Kehle.

Er gestattete sich ein Lächeln. »Das war gute Arbeit. Aber fall niemals auf Anzeichen von Schwäche oder Müdigkeit herein. Bei zehn Feinden magst du vielleicht im Vorteil sein und mit dem Leben davonkommen, aber spätestens der elfte schneidet dir das Herz heraus«, erklärte er dem gefallenen Gegner.

Frustration ließ die Augen des Jungen tiefschwarz werden und damit dieselbe Farbe annehmen wie der Schopf krauser Haare auf seinem unförmigen Schädel. Bevor er etwas entgegnen konnte, dröhnte der Gong durch die Arena und beendete die täglichen Kämpfe. Ein vielstimmiges Klappern setzte ein, als sich überall auf dem Platz Soldaten von ihren Waffen befreiten, ihre leichten Übungsrüstungen ablegten und den Zuschauern, die auf überdachten Rängen die Übungen verfolgt hatten, scherzhafte Bemerkungen zuriefen.

Auch Marcus Ciaran Vergilius ließ den Speer neben sich in den Sand fallen. Obwohl er den ganzen Morgen über von verschiedensten Gegnern gefordert worden war und jedem einzelnen eine Lektion erteilt hatte, die ihnen vielleicht eines Tages das Leben retten würden, ging sein Atem so ruhig, als läge er entspannt beim Essen. Der Schweiß, der ihm über das Gesicht und die nackten Beine rann, stand in einem merkwürdigen Widerspruch dazu.

Ciaran kratzte sich das sorgfältig rasierte Kinn und schielte zur Sonne hinauf. Es waren Tage wie diese, an denen er Rom aus tiefstem Herzen verabscheute. Das lag weniger an der Stadt selbst, sondern vielmehr an der Hitze, die zur Mittagszeit über den sieben Hügeln stand, und ihn immer wieder daran erinnerte, dass er nicht gänzlich hierhergehörte.

Er war in einem fernen Land nördlich der Alpis geboren worden und hatte daher mit dem römischen Sommer weit mehr Schwierigkeiten als seine Freunde und Kampfgefährten. Dennoch liebte er die weitläufige Stadt mit ihren prächtigen Statuen, Aquädukten, Schenken, Märkten, pompösen Theatern, Badehäusern und Tempeln. Sie war die einzige Heimat, die er kannte.

Für den Moment konnten ihm die zahlreichen Möglichkeiten der Zerstreuung jedoch gestohlen bleiben. Er sehnte sich nach der Kühle unter den Rängen. Dort verbargen sich die Katakomben, in denen nicht nur die Waffen lagerten, sondern auch die Pferde der Reitersoldaten untergebracht waren.

Mit langen Schritten strebte Ciaran dem steinernen Torbogen zu, durch den bereits viele seiner Gefährten eilten. Ein schlanker Mann mit breiten Schultern tauchte an Ciarans Seite auf und stieß ihm spielerisch in die Flanke, nur um ihm gleich darauf den Arm um die Mitte zu schlingen.

»Wie sieht es aus, mein Freund? Kann ich dich heute endlich überreden, mit mir in die Taverne zu kommen, von der ich dir schon seit Wochen erzähle? Sie haben dort nicht nur den besten Wein der Stadt, sondern auch die schönsten Sklavinnen, um ihn auszuschenken. Mein Wort darauf.«

Ciaran lachte leise in sich hinein und legte Silvius den Arm um die Schulter, bevor er grinsend erwiderte: »Du gibst wirklich nie auf, nicht wahr? Ich glaube dir ja, dass die Frauen dort wunderschön sind. Aber ich ziehe es trotzdem vor, meine Zeit in der verdorbenen Schenke neben dem Bacchus-Tempel zu verbringen, wo die Sklaven mindestens genauso hübsch, aber an den richtigen Stellen besser ausgestattet sind.«

Ciaran konnte nicht genau sagen, wie lange sie dieses Spiel schon spielten. Silvius, der mit seinen auffälligen blauen Augen und dem verschmitzten Lächeln der Traum so mancher jungen oder auch älteren Frau war, versuchte seit Jahr und Tag, ihm das weibliche Geschlecht schmackhaft zu machen. Er stellte ihm die hübschesten Mädchen vor und suchte die exotischsten Sklavinnen aus, doch Ciaran konnte nichts mit ihnen anfangen. Und obwohl Silvius genau um seine Neigungen wusste, hielt er dennoch daran fest, ihn damit zu necken, eines Tages sein Glück mit einer Frau zu versuchen.

Schon früh hatte sich gezeigt, dass Ciaran nicht die Abwechslung liebte, sondern einzig und allein die Berührung seiner Geschlechtsgenossen brauchte. Damit war er ein Außenseiter, denn die meisten Männer, die seine Neigung teilten, vergnügten sich auch mit Frauen, hatten häufig ein Eheweib und Kinder.

»Komm schon, Ciaran«, versuchte Silvius ihn zu locken, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war. »Das Mädchen, das ich für dich ausgesucht habe, hat Hüften, die einen versiegten Fluss wieder zum Sprudeln bringen könnten.«

Ciaran warf Silvius einen warnenden Blick zu. So sehr er es auch vorzog, wenn ihn seine Freunde und Vertrauten Ciaran nannten, so bewusst war ihm, dass viele es nicht gutheißen würden, dass er sich bei seinem Geburtsnamen rufen ließ.

Solange er die lederne Rüstung trug, die ihn als Mitglied der fünften Legion Roms, Kavallerieeinheit, erste Turma, auszeichnete, war er Marcus Vergilius: anerkannter Bürger des Reiches, herausragender Kämpfer am Boden und zu Pferd, Grundbesitzer im Osten der Stadt und der fähigste Krieger mit dem mächtigen Breitschwert der Kelten, den Rom je gesehen hatte.

Doch wenn er erschöpft nach Hause ritt, die Nächte mit seinen Freunden in Wein ertränkte, die Angelegenheiten seines Handelshauses regelte oder nachdenklich im Atrium seiner Villa saß, war er einfach nur Ciaran. Sohn einer keltischen Sklavin namens Eila, die er nie kennengelernt hatte, aber die das Herz seines Ziehvaters so sehr für sich eingenommen hatte, dass er nach ihrem Tod ihr Kind als sein eigenes aufzog.

»Schon gut, ist doch niemand in der Nähe.« Silvius zwinkerte ihm zu und folgte ihm durch einen niedrigen Gang in die Stallungen.

»Das hast du beim letzten Mal auch gesagt, und hinterher hatte ich alle Hände voll zu tun zu erklären, was du dir dabei gedacht hast«, erinnerte Ciaran ihn.

»Du hast es überlebt, würde ich sagen. Also jammer nicht wie ein Esel, und sag mir lieber, ob ich heute Abend mit deiner geschätzten Anwesenheit rechnen kann.«

»Nur, wenn du vorhast, mir im Badehaus Gesellschaft zu leisten, denn ich weiß nicht, ob ich das Wasser heute noch einmal verlassen werde«, erwiderte Ciaran und zupfte angewidert an der weißen Tunika, die sich schmatzend von seiner Haut löste.

»Bei Bacchus, bist du langweilig. Dann nimm dir wenigstens ein paar schöne Jungen mit ins Wasser, damit du nicht vollkommen versauerst.« Silvius verdrehte die Augen, lachte aber schon wieder, als Ciaran ihn in den Oberarm zwickte.

»Dafür sorgt im Zweifelsfall schon der gute Augustus.« Ciaran seufzte. Er musste sich ducken, um sich nicht den Kopf an dem Torbogen über dem Zugang zu den Ställen zu stoßen. »Wenn er wirklich diesen Erlass durchsetzt, nachdem es die Pflicht eines jeden guten Römers sein soll, sich eine Frau zu nehmen und Kinder in die Welt zu setzen, bin ich in Schwierigkeiten.«

Silvius betrat den Stellplatz seines unruhigen Rappens, dessen kleiner, eleganter Kopf auf eine persische Abstammung hindeutete. »Selbst wenn, dann fällt dieses Gesetz spätestens wieder, wenn er seine letzte Wanderung antritt. Seitdem er mit seiner Gesundheit zu kämpfen hat, ist er ein wenig sonderlich geworden. Wenn du mich fragst, wird er nicht mehr lange unter uns weilen. An deiner Stelle würde ich mir keine Sorgen machen.«

»Nicht?«, entgegnete Ciaran und sah nach, ob das Breitschwert, mit dem er so viel lieber kämpfte als mit dem schmalen Gladius der Legionen, noch an seinem Platz war: in einer ledernen Scheide am Sattel seines breit gebauten, gedrungenen Apfelschimmels. »Ich mache mir aber Sorgen. Er hat neuerdings begonnen, den Dichtern und Philosophen das Leben schwer zu machen, wusstest du das? Er will sie verbannen lassen, wenn sie weiterhin Schriften über freie Liebe verbreiten.«

»Vermutlich will seine kaiserliche Männlichkeit nicht mehr so wie er, und deswegen will er allen anderen auch das Leben schwer machen«, lästerte Silvius.

Obwohl Ciaran wusste, dass so respektlose Bemerkungen einen unter Umständen in böse Schwierigkeiten bringen konnten, musste er lachen. Silvius' trockener Humor war nur einer von vielen Gründen, warum er ihn so gern um sich hatte.

Er wickelte sich die Zügel ums Handgelenk und gab seinem Pferd einen freundlichen Klaps auf die Schulter. »Wenn es wirklich so weit kommt, werde ich wohl der Legion den Rücken kehren und eine meiner Karawanen nach Osten begleiten.«

»Um dir eine Frau zu suchen oder weil du hoffst, dass Augustus in den zwei oder drei Jahren deiner Reise das Zeitliche segnet?« Silvius band seinen Rappen los, der sofort anfing, unruhig mit den Hufen zu scharren und versuchte, gegen die niedrige Decke der Katakomben zu steigen.

»Letzteres«, gab Ciaran unumwunden zu. »Oder ich baue darauf, dass wir endlich einmal in die Schlacht geschickt werden.«

Die Hufe der ungleichen Pferde klapperten auf dem gepflasterten Boden, als die Freunde sie aus der Dunkelheit der Stallungen auf den fast weißen Sand des Vorplatzes führten.

Silvius strich sich die halblangen braunen Haare hinter die Ohren. »Diese Hoffnung kannst du getrost aufgeben. Wir sind schließlich der Stolz der römischen Armee.« Er schnaubte abfällig. »Muss ich dich tatsächlich daran erinnern? Wir sind die, die jedes Mal gerufen werden, wenn der Kaiser Eindruck schinden will. Aber niemals dann, wenn es eine Schlacht zu gewinnen gilt. Augustus möchte schließlich nicht riskieren, dass die Welt erfährt, dass seine ehrenwerten Haustiere genauso bluten und sterben wie jeder andere Legionär.«

Ciaran sprang vom Boden ab, lehnte sich über den Sattel und zog sich mithilfe des Sattelknaufs auf den Pferderücken. Im Stillen dachte er, dass es eine Schande war, dass noch niemand einen Weg gefunden hatte, bequemer auf ein Pferd zu gelangen.

Als er aufrecht saß, warf er Silvius einen finsteren Blick zu. »Es ergibt einfach keinen Sinn. Einhundertzwanzig handverlesene Männer, die fast jeden Gegner im Zweikampf besiegen können und dank ihrer Pferde beweglicher und schneller sind als jeder Fußsoldat, und statt uns endlich auf das Schlachtfeld zu lassen, müssen wir in Rom zurückbleiben. Alles nur, um einen Mythos zu bewahren.«

»So ist es nun einmal. Wir sind die Unbesiegbaren«, erwiderte Silvius dumpf. »Unsere Aufgabe als Vorbild für die Legionen und Abschreckung für unsere Gegner ist wichtiger als unser Wunsch, die Welt zu sehen und wahren Ruhm zu ernten.«

»Du sagst es, Bruder, du sagst es.« Ciaran befingerte den mit silbernen Einlegearbeiten versehenen Griff seines Schwertes. »Nur einmal will ich aus der Stadt herauskommen, statt alberne Vorführungen zu geben, wenn Augustus jemanden mit der Stärke seiner Armee beeindrucken will.«

»Vielleicht kommt unsere Zeit, wenn der neue Kaiser eingesetzt wird.« Silvius schwang sich auf seinen Rappen. »Wir sehen uns morgen?«

»Morgen bei Sonnenaufgang. Wie immer«, gab Ciaran zurück, bevor sie ihre Pferde in unterschiedliche Richtungen davontrieben.

Ciarans Apfelschimmel fiel unaufgefordert in einen schaukelnden Galopp, als wüsste er genau, dass sein Herr so rasch wie möglich nach Hause wollte. Mehr als eine in fadenscheinigen Stoff gekleidete Gestalt musste den donnernden Hufen ausweichen, denn weder Tier noch Reiter achteten auf die Passanten, die die schmalen Gassen um die Arena bevölkerten.

Erst am Tor unterhalb der Hügel zügelte Ciaran den Schimmel. Zu viele Sklaven drängten sich dort, um die Einkäufe ihrer Herren nach Hause zu bringen, von den Karren der Händler ganz zu schweigen. Sobald er die Engstelle passiert und freies Gelände erreicht hatte, jagte er durch die Olivenhaine und an den niedrigen Katen der Schäfer entlang, die ihre Tiere auf den Weiden innerhalb der äußeren Stadtmauern grasen ließen.

Die Sonne hatte ihren höchsten Stand bereits hinter sich gelassen, als endlich die ersten Ausläufer seines Zuhauses vor ihm auftauchten. Lorbeerbäume säumten einen mit roter Erde aufgefüllten Pfad, der sich von einer breiten Torfahrt ausgehend den Hügel hinaufzog. Die Mauer, die das Anwesen mit den gepflegten Gärten, Stallungen und Nebengebäuden in weiten Windungen umrahmte, war hoch genug, um Dieben ernsthafte Schwierigkeiten zu bereiten. Sollte sie dennoch jemand überwinden, so würde derjenige in die Arme der Wachen laufen, die Ciaran zum Schutz seines Grunds und Bodens angeheuert hatte.

Die Villa selbst thronte auf der Kuppe des Hügels, eingerahmt von Säulen und Statuen der Gottheiten, die den Einwohnern Glück, Gesundheit und Wohlstand schenken sollten. Der sandfarbene Stein von Haupthaus und Nebengebäuden war weithin zu sehen und in den Wassergräben, die das Grundstück in gleichmäßigen Abständen durchzogen, glitzerte selbst während der störrischsten Dürre Wasser.

Fester Stein, rote Erde und ein endloser Zustrom an sauberem Wasser. Das war wahrer Reichtum.

Ciaran lächelte in sich hinein, als ihm die Anspannung der vergangenen Stunden von den Schultern glitt. Wie sehr liebte er diesen Ort, an dem er eine so unbeschwerte Kindheit verbracht hatte.

Gaius Vergilius war ihm ein guter Vater gewesen und hatte ihn nie spüren lassen, dass er nicht sein leibliches Kind war. Und obwohl sie manche ernsthafte Auseinandersetzung gehabt hatten, war Ciaran in dem sicheren Wissen aufgewachsen, dass ihn der alte Mann mit den traurigen Augen aufrichtig liebte.

Wie gut er es tatsächlich getroffen hatte, war ihm allerdings erst später bewusst geworden. Gaius Vergilius war ein ausgesprochen wohlhabender Mann gewesen. Ciaran hatte die gebildetsten Lehrer und mehr Freiheiten gehabt, als er ausnutzen konnte. Hunger, Armut und eine harte Hand hatte er nie kennengelernt. Selbst als er verkündet hatte, dass er Soldat werden wolle, hatte sein Ziehvater nach langen und zähen Debatten seinen Wünschen nachgegeben. Die Akademie hatte ihn nur zu gern aufgenommen.

Anfangs hatte Ciaran geglaubt, dass er in erster Linie wegen seines offenkundigen Talents und seiner körperlichen Eigenschaften seiner Turma zugeteilt worden war. Doch mit der Zeit hatte er begriffen, dass es den Römern schlicht gefiel, ein Exempel an ihm zu statuieren. Er war der lebende Beweis, dass ein jeder Mann, egal, woher er kam, egal, wer seine Vorfahren gewesen waren, seines eigenen Glückes Schmied war und ein wertvoller Teil der römischen Gesellschaft sein konnte. Er war der kultivierte Wilde, das Gegenstück zu all den störrischen Volksstämmen, die sich gegen die ordnende Hand des Römischen Reiches wehrten. Und so stolz er auch war, zu den erlesensten Kämpfern des Reiches zu gehören, war er nicht sicher, wie gut es ihm gefiel, seine Herkunft in den Vordergrund gestellt zu sehen.

Roter Staub wirbelte auf, als Ciaran im Schatten der Lorbeerbäume auf den Vorplatz der Villa zutrabte. Sklavenkinder tauchten an seiner Seite auf und rannten lachend einige Schritte mit ihm mit, bevor sie sich, wechselhaft wie das Meer, interessanteren Dingen zuwandten. Offenbar waren sie für heute ihren Lehrern entkommen.

Die meisten Großgrundbesitzer hielten es für gefährlich, Sklaven das Lesen, Rechnen und Schreiben beizubringen, von Philosophie und Götterkunde ganz zu schweigen. Doch der alte Vergilius war stets der Meinung gewesen, dass es weder gerecht noch göttergefällig war, Menschen absichtlich dumm zu halten und ihnen dadurch die Möglichkeit zu nehmen, sich weiterzuentwickeln.

Ciaran teilte die Ansichten seines Vaters. Auch der Gedanke, dass viele Römer ihre Sklaven regelmäßig schlugen und nach Gutdünken hungern ließen, gefiel ihm nicht. Nicht, dass er sich grundsätzlich gegen die Sklaverei gestellt hätte, aber er verlor niemals aus den Augen, dass sie Menschen waren. Es lag in seiner Verantwortung, sich um ihr Wohlergehen zu kümmern und darauf zu achten, dass sie gesund, wohlgenährt und – soweit es möglich war – zufrieden waren. Vielleicht seine anspruchsvollste Aufgabe.

Schaumflocken lösten sich vom Maul des Apfelschimmels, als Ciaran ihn vor dem Brunnen in der Mitte des Vorplatzes zügelte und aus dem Sattel sprang. Augenblicklich tauchte einer der Stallburschen neben ihm auf und nahm ihm das Pferd ab.

»Gib ihm erst in ein paar Augenblicken zu trinken. Ich bin schnell geritten, und ich will nicht, dass er sich verschluckt«, wies er den Jungen an.

Anschließend strebte Ciaran hastig auf die weit offen stehende Haustür zu, um der Hitze der Mittagssonne zu entkommen. Im Rahmen tauchte eine korpulente Frau in einem blauen Unterkleid mit hellem Überwurf auf. Obwohl sie kampflustig die Arme vor der Brust verschränkt hatte, lächelte sie ihm entgegen.

Deborah war in die Sklaverei hineingeboren worden und hatte nie etwas anderes kennengelernt. Als Gaius Vergilius starb, hatte sie sich geweigert, sich von ihrem neuen Herrn, für den sie die einzige Mutter war, die er je gekannt hatte, in die Freiheit schicken zu lassen. Das Band aus gehärtetem Silber, das um ihren faltigen Hals lag, war ein Symbol für den Kompromiss, den sie geschlossen hatten. Es machte ihren Stellenwert sichtbar, änderte aber nichts an ihrer Position als Sklavin, die sie mit Klauen und Zähnen verteidigte.

Die mit Henna gefärbten und locker im Nacken zusammengefassten Haare umrahmten Deborahs von feinen Runzeln überzogenes Gesicht. Drohend hob sie den Zeigefinger, als Ciaran auf sie zukam, und verkündete mit schnarrender Stimme: »Ich habe drei Jahre lang gesehen, wie du deinen Vater angefleht hast, weil du unbedingt dieses Pferd ausbilden wolltest. Dieses und kein anderes. Wenn du es nun zu Schanden reitest, komm hinterher bloß nicht zu mir, um dich auszuweinen.«

Ciaran spürte, dass sich seine Mundwinkel zu einem frechen Grinsen hoben. Er sprang die Stufen hoch und umarmte die ältere Frau. »Er kann das verkraften. Ich glaube, er hat heute weniger geschwitzt als ich.«

Deborah tätschelte seine Wange. »Dann wird es dich sicher freuen zu hören, dass ich die Mädchen Wasser habe aufwärmen lassen. Dein Bad müsste bereit sein.«

Dankbar küsste Ciaran Deborahs Stirn, bevor er ohne ein weiteres Wort die Villa betrat. Er durchquerte den kühlen Flur, nur um das Gebäude auf der anderen Seite wieder zu verlassen. Rasch ließ er das gepflegte Atrium mit seinen Schatten spendenden Bäumen hinter sich, um das Badehaus zu betreten.

Der Duft von ätherischen Ölen schlug ihm entgegen, als er die aus geflochtenen Holzstreben gefertigte Tür aufstieß. Seine feuchte Tunika und die Sandalen landeten innerhalb weniger Augenblicke auf einer steinernen Bank unterhalb eines aufwendigen Mosaiks. Auch das großzügig bemessene Becken war mit winzigen, Sagengestalten bildenden Steinchen ausgelegt, die in Bewegung gerieten, als Ciaran sich ins Wasser gleiten ließ.

Er setzte sich auf eine der eingelassenen Stufen und legte den Kopf auf den Beckenrand. Die Wärme lockerte seine Muskeln und breitete sich nach und nach in seinem Körper aus. Er wusste nicht, ob es der Wahrheit entsprach, dass häufiges Baden der Gesundheit zuträglich war, aber für sein Wohlbefinden war es mehr als förderlich.

Lange ruhte er mit geschlossenen Augen im Wasser und dachte an die einzelnen Kämpfe zurück, die er am Morgen bestritten hatte. Erst dann griff er nach dem Handstriegel und begann, sich zu reinigen.

Das Geräusch von nackten Füßen auf Stein ließ ihn aufblicken. Shahab, einer der Haussklaven, mit denen Ciaran als Kind gespielt hatte, war an den Beckenrand getreten. Er trug nicht mehr als ein dünnes Tuch um die Hüften. Elegant ließ er sich neben Ciaran nieder und fragte mit leiser, rauchiger Stimme: »Kann ich etwas für dich tun, Herr?«

Sie wechselten einen Blick. Ciaran bemerkte das winzige Lächeln, das um Shahabs Mundwinkel spielte.

»Im Augenblick nicht«, erwiderte er, während er die Seife unter seinen Armen verteilte. »Aber wenn ich hier fertig bin, darfst du mich massieren.«

Er wählte bewusst diese Formulierung, denn er wollte bei aller Zuneigung verhindern, dass Shahab vergaß, dass es ein Privileg war, ihm nahe zu kommen. Wenn Ciaran nackt auf der niedrigen Pritsche im Nebenraum lag, war er verletzlich; ein Zustand, der dem Soldaten in ihm übel aufstieß, den er als Mann aber sehr genoss.

In dem sicheren Wissen, dass Shahab stumm neben ihm warten würde, bis er sich gewaschen hatte, brachte Ciaran sein Bad zu Ende. Als er aus dem Becken trat, hielt Shahab ihm schweigend eine Bahn weichen Stoffes entgegen, damit er sich abtrocknen konnte.

Anschließend gingen sie gemeinsam in den Nebenraum, wo sich Ciaran mit dem Bauch voran auf die breite Pritsche legte. Er genoss die Ruhe, die Shahab verbreitete, und auch, dass er ihn nicht nach seinen Wünschen fragte, sondern seiner Intuition vertraute.

Geschickte Hände legten sich in Ciarans Nacken und begannen, die Verspannungen zu lockern, die sich während des Morgens gebildet hatten. Mehr als einmal trafen sie auf feste Knoten, die besonderer Aufmerksamkeit bedurften. Erst als Ciarans Rücken so geschmeidig war, dass es ihm vorkam, als wären all seine Knochen zu Wachs geworden, ging Shahab vorsichtig, fragend zu seinem Gesäß über.

Ciaran nickte kaum merklich und schloss die Augen. Es gab weit unangenehmere Arten, seine Mittagszeit zu genießen, als mit Shahab in die Kissen zu sinken.

 

 

 

 


 

Kapitel 2

 

 

Eine neblige Wand umgab den Hügel und schmiegte sich um Mauern und Buschwerk. Sie ließ die Beine der Bänke im Atrium verschwinden, bis nur noch die aus Marmor geschlagenen Sitzflächen zu sehen waren. Ciaran rieb sich die Augen und warf einen flehentlichen Blick zum Himmel, als wollte er Apoll überreden, seine Reise mit dem Sonnenwagen ausnahmsweise etwas später anzutreten.

Die Nacht war zu kurz gewesen. Die Zeit, die er mit Shahab im Badehaus verbracht hatte, hatte ihm am Ende des Tages bei der Prüfung der Bücher gefehlt. Als er lange nach Mitternacht in sein Bett gefallen war, in dem drei erwachsene Männer bequem schlafen konnten, hatte Luna bereits in all ihrer Pracht am Himmel gestanden und über die Schlafenden gewacht.

Trotz seiner Müdigkeit hatte Ciaran keine Ruhe gefunden, denn mit der Dunkelheit hatten ihn auch die Sorgen übermannt – und mit ihnen die latente Einsamkeit, die so oft an ihm nagte. Er mochte ein angesehener Soldat und ein geschickter Händler sein, ein gerechter Herr für seine Sklaven, aber genau wie sein Pflegevater vor ihm war er in den Augen der Öffentlichkeit nicht das, was ein Mann seiner Position sein sollte: das Oberhaupt einer Familie.

Bisher hatte es ihn selten gestört, dass er keine leiblichen Kinder haben würde, und das Miteinander mit seinen engsten Vertrauten ersetzte ihm die leibliche Familie. Aber seitdem Augustus angekündigt hatte, dass er sich – und mit ihm Rom – nach langen Jahren der Unruhen wieder auf Werte wie Enthaltsamkeit und Familie besinnen wollte, war Ciaran unruhig.

Er fürchtete sich vor einer Welt, in der ihm seine Neigungen zum Verhängnis werden mochten. Seit ein paar Jahren wurde Ehebruch wieder ernsthafter verfolgt. Der Fokus ruhte in erster Linie auf untreuen Frauen, aber wenn Augustus weiter dieser neuen Moral anhing...

Viele der Fremden, mit denen sich Ciaran in Tavernen und Thermen vergnügte, waren verheiratet und es wurde allmählich zum Risiko, sich mit ihnen einzulassen. Das war jedoch nicht der Hauptgrund seiner Sorge. Als wohlhabender Mann hatte er die Mittel, sich gewisse Freiheiten zu erkaufen und sich von bestimmten Vorwürfen zu befreien.

Nein, was ihn umtrieb, war die Frage nach seiner persönlichen Zukunft. Je mehr Männer Augustus in die Ehe zwang, desto unwahrscheinlicher wurde es, dass Ciaran einen Gleichgesinnten fand, mit dem er sich dauerhaft zusammentun konnte. Natürlich konnte er weiterhin mit verheirateten Männern verkehren. Aber nach einer weingetränkten, lustvollen Nacht würden sie stets nach Hause zu ihren Frauen zurückkehren; immer nur sein Lager teilen, niemals sein Leben.

Im Atrium wurden die Stimmen der Sklavinnen laut und rissen Ciaran unsanft aus seinen düsteren Überlegungen.

Nun reiß dich zusammen, befahl er sich innerlich. Vom Grübeln allein hat sich noch nie etwas getan. Das hatte sein Vater immer gesagt.

Er straffte die Schultern und griff nach der schlichten Tunika, die auf einer Kleidertruhe für ihn bereitlag. Der weiße Stoff roch nach den Kräutern, die die Frauen ins Wasser gaben, bevor sie die Kleidung einweichten.

Kaum, dass er sich angekleidet hatte, näherte sich leise eine Sklavin – es war die Neue mit den ausdrucksstarken Mandelaugen – und deutete fragend auf den hohen Wandspiegel, der Ciarans ganzer Stolz war. Obwohl winzige dunkelbraune Stoppeln sein Kinn und seine Wangen bedeckten, entschied er sich gegen eine Rasur. Dank seiner Grübelei lief ihm die Zeit davon, und er hatte noch einen Götterdienst zu absolvieren, bevor er frühstückte und zu den Übungen ritt.

»Danke, ich verzichte heute«, erklärte er, woraufhin das Mädchen lautlos wie eine Waldnymphe verschwand.

Nachdem er einen letzten Blick in den Spiegel geworfen hatte, folgte Ciaran ihr, ging jedoch nicht in die Küche, aus der er Deborah bellend lachen hörte, sondern betrat den prächtig geschmückten Raum neben seinem Schlafgemach. Respektvoll neigte er den Kopf, als er sich den fünf Altären näherte, die jeweils einer Gottheit des Pantheons gewidmet waren. Wie jeder gute Römer glaubte er an alle Götter, aber Altäre gab es in seinem Haus nur für diejenigen, die ihm besonders am Herzen lagen.

Er griff nach einem Korb mit Früchten und Blütenblättern und schritt gemessen auf den ersten Altar zu. Er war Apoll geweiht, dem Gott der Schönheit. Großzügig füllte Ciaran die Opferschale mit reifen Weintrauben und bedeckte sie mit den weißen Blüten des Jasmin, bevor er das bereitstehende Räucherwerk anzündete.

Auch den Altar des Bacchus ehrte er mit Trauben und Blüten. Doch da dieser neben Ekstase, Freude und rauschenden Festen der Schirmherr des Weins war, verzichtete Ciaran auf das Räucherwerk und gab stattdessen Rebensaft in den bereitstehenden Bronzekelch.

Der mittlere Altar war der größte im Raum. Sein Gott verlangte nicht nach Blumen oder Obst. Stattdessen legte Ciaran ein Stück blutigen Fleisches auf den Opferteller. Demütig kniete er nieder, bevor er seine Gebete an Mars Ultor richtete, der als Gott des Krieges der wichtigste Patron eines jeden Soldaten war.

Anschließend schenkte er den beiden Altären links von ihm seine Aufmerksamkeit. Links, weil diese Seite dem Herzen am nächsten lag.

Ciaran verehrte Apoll und Bacchus glühend und Mars Ultor würde einst sein Schutzherr auf dem Schlachtfeld sein, aber seine Liebe galt Venus und ihrem Sohn Cupido. Sie repräsentierten die Liebe, aber auch die Lust und das Vergnügen zwischen den Menschen. Besonders Cupido bewunderte Ciaran zutiefst, da er eine gewisse Wildheit verkörperte, die mit sinnlicher List, bis hin zu sanfter Boshaftigkeit verbunden war. In einer Zeit, in der man ihm das Recht nehmen wollte, seine Bedürfnisse auszuleben, fielen seine Gebete an Mutter und Sohn besonders lang und seine Gaben für sie am großzügigsten aus.

Als er wenig später die geräumige Küche betrat, stieg ihm der Duft von frisch gebackenem Brot in die Nase.

»Du bist spät dran«, sagte Deborah streng, während sie mit einem finsteren Blick einen Krug Ziegenmilch auf den breiten Holztisch setzte. Zwei junge Sklavinnen mahlten am Tisch Korn. »Du solltest früher aufstehen, du Faulenzer.«

Ciaran verzog das Gesicht. Es wäre angebracht gewesen, seine Ziehmutter für ihren respektlosen Tonfall zurechtzuweisen. Besonders, wenn sie mit ihm sprach, als hätte sich noch kein einziges Barthaar auf seinem Kinn gezeigt. Aber er schwieg. Zum einen hatte sie recht und zum anderen wusste er, dass sie gern ein wenig auf ihn achtgab, obwohl er mit seinen zwanzig Jahren längst ein erwachsener Mann war.

»Mädchen, du musst dir mehr Mühe geben, wenn das etwas werden soll«, tadelte Deborah ihr nächstes Opfer. Das Sklavenmädchen duckte sich und gab sich mehr Mühe, dem störrischen Korn zu Leibe zu rücken. Kopfschüttelnd beobachtete die heimliche Hausherrin die kläglichen Bemühungen, bevor sie sagte: »Ach lass nur, iss erst einmal etwas. Du hast ja gar keine Kraft in den Händen. Ciaran, setz dich endlich hin.«

In den meisten römischen Haushalten wäre es undenkbar gewesen, dass Herren und Sklaven gemeinsam an einem Tisch aßen. Doch Ciaran war pragmatisch veranlagt. Entweder er gesellte sich in die Küche zu den Sklaven oder er aß allein. Er hatte sich vor langer Zeit für Gesellschaft entschieden.

Rittlings setzte er sich auf die dunkle Holzbank und griff nach dem mit Olivenöl angereicherten Brot, riss es in Stücke und bestrich es mit salziger Butter. Dazu gönnte er sich eine Handvoll Feigen und ein Stück Melone und spülte alles mit stark verdünntem Wein herunter, bevor er auch schon wieder aufsprang.

Wenig später sah man Ciaran den Hügel in einem Wettrennen mit der Sonne hinunterreiten, die viel zu schnell aufging.

 

***

 

Ciaran seufzte, als ein Hagelschauer aus Übungsbolzen kreuz und quer durch die Arena schoss und in einem Fall sogar auf den Rängen einschlug. Der vierschrötige Veteran namens Decius Valerius, der die Übungen überwachte, brüllte die Soldaten an, als wäre er der Donnergott persönlich. Man konnte es ihm nicht verdenken.

Die Armbrust war eine unförmige Waffe, die dank ihrer anfälligen Mechanik und ihres Gewichts nur schwer zu meistern war. Sie alle hatten ihre Schwierigkeiten mit ihr gehabt. Aber die jungen Hunde unten in der Arena stellten sich wirklich ausnehmend dumm an und weckten zu Recht Valerius' Zorn.

Ciaran machte es sich auf dem Rang bequemer, die Beine lang von sich gestreckt und den Rücken an den warmen Stein der nächsten Stufe gelehnt. »Wenn ich gewusst hätte, dass sie heute mit der Armbrust anfangen wollen, hätte ich mich weniger beeilt«, murrte er.

»War es wieder mal knapp, ja?« Silvius grinste ihn frech von der Seite an. Er wusste besser als jeder andere, wie sehr Ciaran es hasste, vor Sonnenaufgang aufzustehen, und zog ihn liebend gern damit auf. »Aber du hast recht. Ich wüsste auch Besseres mit meiner Zeit anzufangen.« Wieder flogen ein Dutzend Bolzen durch die Arena, ohne auch nur in die Nähe der Strohziele zu gelangen. Silvius zog eine Grimasse und fuhr fort: »Andererseits verstehe ich, warum uns der alte Sklaventreiber auf die Ränge geschickt hat. Wer möchte schon wie ein Igel aussehen, wenn er nach Hause kommt? Aber dass wir schon wieder dumm herumsitzen müssen...«

Er beendete den Satz nicht. Das war auch gar nicht nötig.

Seit ihrem zwölften Lebensjahr übten sie sich im Rund dieser Arena in der Kampfkunst und warteten auf den Tag, an dem sie sich endlich beweisen durften. Zur Untätigkeit verdammt zu sein und anderen bei ihren Übungen zusehen zu müssen, fütterte die Rastlosigkeit, die die Männer der Turma miteinander verband.

»Schau dir den Kleinen da hinten an«, murmelte Ciaran und dehnte träge den Hals von rechts nach links. »Er kann die Armbrust nicht einmal gerade halten. Wie soll er mit ihr zielen, geschweige denn treffen?«

»Wenn wir ehrlich sind, trifft mit diesen Ungetümen doch sowieso niemand das Ziel, auf das er angelegt hat. Und ich weiß immer noch nicht, warum wir damit umgehen lernen müssen.«

»Damit der Feind uns gegenüber keinen Vorteil hat, weil wir seine Waffen nicht kennen«, betete Ciaran herunter. »Bei den Göttern, ich hasse Armbrüste und Bögen. Es ist so feige, einen Gegner aus der Ferne anzugreifen. Aufrechte Männer stellen sich ihrem Feind und sehen ihm in die Augen, statt ihn mit Stöckchen zu beschießen.«

Ein Lächeln huschte über Silvius' Züge, aber er verzichtete dankenswerterweise darauf, Ciaran wieder einmal daran zu erinnern, dass auch die römische Armee Fernkampfwaffen einsetzte, wenn sie es für nötig hielt. Sie hatten diese Debatte schon oft geführt, aber Ciaran beharrte eisern auf seinem Standpunkt: Bögen und Armbrüste ließen sich nicht mit seinem Verständnis von Ehre in Einklang bringen, auch wenn Silvius ihn tausendmal auf ihren strategischen Mehrwert hinwies.

Eine weitere Salve schlug fehl. Valerius schrie die jungen Rekruten mit hochrotem Kopf an, während er wild zwischen ihnen und den Zielen hin und her deutete. Er sah aus, als wollte er vor Wut in die Unterwelt fahren. Ein paar der kindlichen Anwärter machten dagegen den Eindruck, als würden sie am liebsten ihre Waffen fallen lassen und zurück nach Hause laufen, um sich mit süßem Honigkuchen trösten zu lassen.

»Na, was meint ihr? Wie viele brechen dieses Jahr ab?«, rief plötzlich eine vertraute Stimme zu Ciaran und Silvius hinüber.

Als Ciaran sich umdrehte, bemerkte er, dass drei weitere Soldaten ihrer Turma über die Ränge auf sie zukamen. Er nickte ihnen grüßend zu, als sie es sich um sie herum bequem machten. Auch diese Männer kannte er schon lange und war froh, sie seine Freunde nennen zu dürfen.

Bei Quintus und Tiberius handelte es sich um gebürtige Römer, deren Familienzweige weit in die Vergangenheit der Stadt reichten. Sie waren dunkelhaarig und klein, ihre Haut tief gebräunt, die Nasen groß und scharf geschnitten. Beide waren wenig redselig: Quintus, weil er dazu neigte, sich in seinen Gedanken zu verlieren, Tiberius dagegen, weil er von schlichtem Gemüt war, wie Silvius es nannte, und manchen Gesprächen rund um Politik und Philosophie nicht recht folgen konnte.

Der Dritte im Bunde war Gwydion. Ciaran fühlte sich ihm besonders verbunden, da er wie er selbst keltische Vorfahren hatte. Der schlaksige Rothaarige mit den zahlreichen Sommersprossen war nie in die Verlegenheit gekommen, einen römischen Namen annehmen zu müssen. Ciaran beneidete ihn darum, sah aber ein, dass es ein Unterschied war, ob man der Sohn eines Ziegenhirten und nur dank seiner unmenschlichen Ausdauer an der Akademie aufgenommen worden war, oder ob man wie er der Spross eines Kaufmanns war, der in der strengen Hierarchie des Reichs nur eine Stufe unter den mächtigen Patriziern stand.

»Fünfzehn«, beantwortete Silvius die im Raum stehende Frage und streckte sich wie ein Hund, der sich die Sonne auf den Bauch scheinen ließ.

»Ich wette, es werden mehr. Mindestens zwanzig«, hielt Tiberius dagegen und zerrte an dem schmalen Verband, den er um den Oberarm trug. Darunter verbarg sich eine hässliche Wunde, die er sich vor wenigen Tagen eingehandelt hatte. Ein Speer war im Kampf geborsten, sodass sich ein Splitter von der Länge eines Oberschenkelknochens durch Tiberius' Arm gebohrt hatte.

Ciaran legte den Kopf schief und betrachtete die Jungen in der Arena. »So viele werden es dieses Mal nicht sein. Ich halte die Wette und sage, nicht mehr als zehn.«

Die Männer tauschten verschmitzte Blicke. Gwydion war der Erste, der nach seinem Geldbeutel griff, und einen Augenblick später handelten sie auch schon die Wetteinsätze aus. Das war besser, als gelangweilt und zum Nichtstun verdammt auf den Stufen der Arena zu sitzen.

Quintus sammelte gerade das Geld von allen ein, als draußen vor der Arena Unruhe entstand. Anfangs waren nur vereinzelte Rufe zu hören, die auf einen Streit hindeuteten und die Freunde nicht weiter aus der Ruhe brachten, doch nach und nach wurden sie zahlreicher, lauter, und hallten in das Rund hinein.

»Was ist denn da los?«, murmelte Ciaran, ohne eine Antwort zu erwarten.

»Ein Feuer vielleicht?«, mutmaßte Quintus sichtlich beunruhigt. Seine Familie besaß Lagerhäuser am Fluss, die von Bränden stets schwer getroffen wurden.

Silvius schüttelte den Kopf. »Das würde man doch riechen, wenn es nah genug wäre, um eine solche Unruhe auszulösen.«

Bevor sie weitere Überlegungen anstellen konnten, öffnete sich eines der Tore zu den Katakomben. Ein Centurio stürzte über den Sand auf Valerius zu und redete eindringlich auf ihn ein. Selbst auf die Entfernung konnte Ciaran erkennen, dass der Mann kalkweiß im Gesicht war.

Plötzlich ließ ihr Ausbilder achtlos die Armbrust, die er zuvor einem Rekruten aus der Hand genommen hatte, in den Sand fallen. Eine gefühlte Ewigkeit schien er sich nicht zu rühren, dann wandte er sich ruckartig zu den Rängen um und gab das Zeichen zum Sammeln.

Ciarans Rücken versteifte sich. Er hatte es bisher nur zweimal erlebt, dass die morgendlichen Übungen abgebrochen worden waren. In beiden Fällen waren Großbrände der Grund gewesen. Nie aber hatte er erlebt, dass Valerius wie betäubt ins Leere starrte, offensichtlich überwältigt von den Neuigkeiten, die man ihm überbracht hatte. Dahinter musste etwas Ungeheuerliches stecken; der Angriff einer Großmacht vielleicht.

»Die Ägypter?«, fragte Gwydion leise, während sie sich hastig erhoben, und bewies damit, dass seine Gedanken dieselbe Richtung eingeschlagen hatten.

Keiner der Freunde gab sich die Mühe, ihm zu antworten. Sie wussten genauso wenig wie er.

Gemeinsam rannten sie die Treppen hinunter. Hinter Ciarans Stirn arbeitete es fieberhaft. Innerlich ging er die möglichen Angreifer durch, die ein Interesse daran haben könnten, gegen Rom in den Krieg zu ziehen. Derer gab es viele, aber ihm fiel kein einziger Gegner ein, der für einen solchen Aufruhr infrage gekommen wäre. Niemand war in diesen Tagen mächtig genug, um es mit ihnen aufzunehmen. Sie besaßen überlegene Strategen, die fortschrittlichsten Waffen und schlicht mehr Soldaten als jedes andere Reich. Sie waren unbesiegbar. Wer sollte es wagen, sich mit ihnen anzulegen?

Während sich die Soldaten in Reihen im Sand aufstellten, löste sich Valerius aus seiner Starre. Der bleiche Centurio, der an seiner Seite geblieben war, begleitete ihn, als er vor die Männer trat. Zum ersten Mal, solange Ciaran ihren Ausbilder kannte, wirkte Valerius nicht kampferprobt und erfahren, sondern schlicht alt.

»Männer«, begann er, den Blick zu Boden gerichtet, unterbrach sich und sah dann auf. Seine Augen wirkten stumpf. »Soldaten«, brüllte er unvermittelt, als wäre Gewalt der einzige Weg, die Worte aus seiner Kehle zu zwingen. »Wir sind verraten worden!« Er hielt erneut inne. Doch als er fortfuhr, klang er schneidiger denn je. »Man hat mir gerade zugetragen, dass der germanische Statthalter Varus mit seinen Legionen in einen Hinterhalt geraten und vernichtend geschlagen worden ist.«

Ein Ächzen ging durch die Arena. Ciaran hätte nicht sagen können, ob sich auch seine Stimme zu dem Aufstöhnen seiner Kameraden gesellt hatte.

»Ich weiß, Männer, ich weiß!« Valerius' Gesicht war inzwischen dunkelrot angelaufen und er schien zu zittern. Er sah zum Centurio hinüber, doch der hatte den Helm abgenommen und starrte ausdruckslos über die Köpfe der Soldaten hinweg. »Der Name des Verräters lautet Arminius. Er ist der Sohn eines Cheruskerfürsten, in Rom aufgewachsen und hat lange Zeit unsere Hilfstruppen betreut. Wir haben ihn für einen Freund gehalten! Nach den bisherigen Berichten heißt es, dass sich dieser Arminius…« Er spuckte vor sich in den Sand. »… sein Wissen über unsere Heerbewegungen zunutze gemacht und Varus' Legionen an günstiger Stelle in Sumpflage abgefangen hat. Die Verluste sollen…« Er stockte kurz. »… grauenhaft sein.«

Die Kälte umfing Ciaran nur ganz allmählich, aber als sie endgültig in ihn eingedrungen war, nahm sie ihm die Luft zum Atmen. Er hatte schon oft das Marschgepäck geschultert, das ein Soldat mit sich tragen musste, wenn sich eine Legion in Bewegung setzte. Zwar gehörte er zu den berittenen Truppen, aber das hatte die Ausbilder nicht davon abgehalten, ihn wie alle anderen mit dem über zwölf Stein wiegenden Ballast die Hügel um Rom auf und ab zu jagen. In einem Sumpf musste das immense Gewicht des Gepäcks einen Mann geradezu in die Tiefe zerren und wie ein Tier ersäufen.

Aus der Menge erklang eine schrille Stimme: »Aber die Germanen sind doch nur ein paar Wilde, die sich dauernd gegenseitig bekriegen. Wie konnten ausgerechnet sie Varus' Legionen schlagen?«

Valerius suchte in der Menge nach dem Sprecher, gab jedoch schnell wieder auf. »Nach allem, was wir bisher wissen, ist es Arminius gelungen, die germanischen Fürsten zu vereinen. Dadurch stand Varus nicht einzelnen Kampfverbänden gegenüber, die er trotz der heiklen Lage leicht hätte besiegen können, sondern einer ganzen Armee. Einer Armee, die genau wusste, wie man sich in den endlosen Wäldern Germaniens bewegt. Und glaubt mir, diese Wälder sind so tief und dunkel, dass man glaubt, nie wieder das Tageslicht zu Gesicht zu bekommen, wenn sie einen einmal verschlungen haben«, erwiderte er gedämpft.

Niemand wunderte sich mehr als Ciaran selbst, als plötzlich seine eigene Stimme durch die Arena hallte: »Wie hoch sind die Verluste?«

Diese Frage schien ihm wichtiger als jede andere. Rom kämpfte an vielen Fronten. Sie waren Verlustmeldungen gewohnt. Was war dieses Mal anders? Wie viele Tote brauchte es, um einen altgedienten Veteranen zum Zittern zu bringen? Viertausend, vielleicht fünftausend?

Der bohrende Blick des Ausbilders fand Ciarans und er glaubte, Bitterkeit darin zu erkennen. Bitterkeit und vielleicht auch Resignation, weil er eine Frage gestellt hatte, die Valerius nicht beantworten wollte.

»Uns fehlen noch verlässliche Zahlen«, erklang auf einmal eine neue Stimme hinter ihnen.

Dutzende Köpfe wandten sich um. Die Soldaten bildeten eine Gasse, als ein älterer, in eine seidene Toga gekleideter Mann auf sie zuschritt. Finsterer Schmerz und Entsetzen standen in seinem Gesicht, als er sie mit erhobenem Kopf passierte. Der Name des Neuankömmlings wollte Ciaran nicht einfallen, aber er kannte dessen Gesicht und wusste, dass es sich um einen der Senatoren handelte. Um einen Mann, der Augustus sehr nahestand.

Als der Senator Valerius erreicht hatte, drehte er sich zu den Soldaten um und musterte die langen Reihen, die sie bildeten. Ein winziges Lächeln umspielte seinen Mund, aber es lag keine Fröhlichkeit darin.

»Wir hoffen, dass noch versprengte Truppen zurück in die Lager finden oder dass die Germanen Gefangene genommen haben, die wir befreien können. Aber derzeit müssen wir davon ausgehen, dass die siebzehnte und die achtzehnte Legion vollständig aufgerieben worden sind, die neunzehnte mindestens zur Hälfte. Varus selbst ist angeblich ebenfalls gefallen«, erklärte er schlicht.

Ciaran zog scharf die Luft ein. Der Boden unter ihm schien zu wanken. Er wünschte, er könnte seine Frage zurücknehmen. Obwohl er ein schneller Rechner war, verweigerte ihm sein Gehirn dieses Mal die Arbeit. Und doch dämmerte ihm allmählich, warum ihr Ausbilder so erschüttert und der Zenturio so bleich war.

»Was ist denn mit den Hilfstruppen geschehen? Haben sie uns etwa auch verraten?«, rief jemand aus der hintersten Reihe.

Kaum, dass die Stimme verklungen war, schrie schon ein anderer: »Und was ist mit dem Tross?«

Da wusste Ciaran, dass jeder seiner Kameraden stumm seine eigenen Berechnungen anstellte, dass sich jeder von ihnen verzweifelt fragte, ob die vor Ort rekrutierten Soldaten – noch einmal ebenso viele Männer wie jede Legion an Berufssoldaten stellte – ihre Bündnispartner im Stich gelassen hatten. Sie versuchten, das Unfassbare zu begreifen, es in Zahlen zu kleiden und damit greifbar zu machen. Selbst wenn sie sich an ihnen schneiden würden.

Der Senator hob eine Hand und bedeutete den Männern zu schweigen. »Die Hilfstruppen«, begann er. »… haben ehrenvoll an unserer Seite gekämpft und sind ebenfalls gefallen. Dem Tross wurde keine Gnade gezeigt«, erklärte er so sanft, als würde er zu einer Gruppe Kinder sprechen.

Endlich verstand Ciaran. Es ging um mehr als einen Angriff auf ein Reich, das sich unbesiegbar gefühlt hatte. Um mehr als den Verrat durch einen angeblichen Verbündeten.

Es ging um das Requiem für über zwanzigtausend Tote.