image1
Logo

Die Autorin

Images

Dr. Christiane Thompson ist Professorin für Theorie und Geschichte von Erziehung und Bildung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Christiane Thompson

Allgemeine Erziehungswissenschaft

Eine Einführung

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

 

 

 

1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-026165-5

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026166-2

epub:    ISBN 978-3-17-026167-9

mobi:    ISBN 978-3-17-026168-6

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. Einleitung
  2. Kapitel 1: Eine kleine Geschichte der Wissenschaft und ihrer Theorie
  3. Kapitel 2: Zur Umstrittenheit der Erziehungswissenschaft
  4. Kapitel 3: Wissenschaftlich arbeiten
  5. Kapitel 4: Erziehung und die Herausforderung der Autonomie
  6. Kapitel 5: Bildung – im Horizont der Selbstbestimmung des Menschen
  7. Kapitel 6: Lernen aus pädagogischer Sicht
  8. Kapitel 7: Kompetenz – ein pädagogischer Begriff?
  9. Kapitel 8: Sozialisation – zum Erwerb »gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit«
  10. Kapitel 9: Wirksamkeit als Knotenpunkt der Pädagogik
  11. Kapitel 10: Ungleichheit, Differenz und Alterität
  12. Kapitel 11: Die Frage nach dem Menschen – (post-)humanistische Perspektiven
  13. Nachwort
  14. Literatur

Einleitung

 

 

 

Wie führt man am besten in die Erziehungswissenschaft ein? Diese Frage ist – wie überhaupt die Frage, wie wir uns eine Sache eröffnen können – gar nicht leicht zu beantworten. Meistens nehmen wir anfangs vor allem die Schwierigkeiten wahr, die wir mit dem haben, was wir bislang nicht kennen. Die Wege des Erkennens erscheinen verstellt und holprig. Später dann blicken wir auf den Anfang zurück und können uns nicht mehr so recht einen Reim darauf machen, wie wir zu Erkenntnis und Einsicht gelangt sind. In fernöstlichen Weisheitslehren sind viele Beispiele zu finden, in denen die Schüler ihre Meister nach dem Weg zur Erkenntnis und Erleuchtung befragen. Die Lehre, die sich aus diesen Unterhaltungen ergibt, lautet fast immer so: Der Weg von Wissen und Erkenntnis verläuft anders, als es sich die Schüler ausmalen. Derjenige, der die meiste Zeit einsetzen will, bekommt zum Beispiel vom Meister zu hören, dass er am längsten für seinen Weg benötigen wird.

Worauf die traditionellen Lehren anspielen, verweist auf eine pädagogische Einsicht: Um für sich Erkenntnisse zu eröffnen, können die bisherigen Vorstellungen und Denkraster nicht maßgeblich bleiben – beispielsweise die Einschätzung, wie lange etwas dauert. In Bildungs- und Lerntheorien wird die Bedeutung hervorgehoben, sich überhaupt auf das einzulassen, was es zu lernen oder zu erkennen gibt. Dies schließt die Bereitschaft ein, über das hinauszugehen, was bisher für selbstverständlich gehalten wurde.

Dieser Gedanke stellt die vorliegende Einführung vor eine Herausforderung. Sie will jenen, die mit der Erziehungswissenschaft anfangen, einen Einstieg in das Fach eröffnen. Zugleich kann es, den Eingangsgedanken aufgreifend, einen Einstieg nur geben unter der Bereitschaft, über den bisherigen Horizont hinaus zu kommen. Dies bedeutet, dass der Bruch zum vorausgehenden und schulisch organisierten Wissen unvermeidlich ist; denn wissenschaftliches Wissen ist durch eine Vielfalt von Wissensformen und Zugängen bestimmt, einen Gegenstand in den Blick zu bringen. Das macht es unmöglich, Gegenstände durch eindeutige Definitionen und Erklärungen still zu stellen, wie es häufig im Kontext schulischen Wissens passiert. Dieses Einführungsbuch will hingegen das erziehungswissenschaftliche Wissen als eine Bewegung des Denkens präsentieren. Es sollen gedankliche Linien gezogen werden, an denen entlang das eigene Denken in Gang kommen kann.

»Erziehungswissenschaft«, so also der zentrale Ausgangspunkt dieses Buches, wird nicht als festzustellender Wissensbestand betrachtet. Demgegenüber geht es um ein herausforderndes Nachdenken und Sich-Auseinandersetzen mit jenen Fragen, die das Werden des Menschen in einer Welt mit anderen betreffen. Wie können diese Veränderungen angemessen beschrieben werden? Was gerät durch bestimmte Herangehensweisen in den Blick, was nicht? Diese Fragen verweisen auch darauf, dass die Verhältnisse und Bedingungen beachtet werden müssen, unter denen Menschen ihr Leben führen: Es ist unverzichtbar, gesellschaftliche Zusammenhänge und historische Entwicklungen zu berücksichtigen, um erziehungswissenschaftliche Gegenstände angemessen in den Blick zu bringen.

Die Einsicht, dass Wissenschaft nicht im Sinne einer einfachen Sammlung eines letztgültigen und für wahr befundenen Wissens verstanden werden kann, verunsichert und irritiert. Die Hoffnung richtet sich darauf, eindeutige Kenntnisse und Empfehlungen zu erfahren, um pädagogisch ›alles richtig zu machen‹. Dass es derartige Empfehlungen nicht geben kann, wird oft mit Staunen wahrgenommen, welches in Enttäuschung münden kann. Enttäuschung gehört ebenso wie das Staunen zum Erfahrungsrepertoire, wenn deutlich wird, dass unsere bisherigen Vorstellungen von uns und der Welt sich anders darstellen, als wir dachten. Wie sich in einem der folgenden Kapitel zeigen wird, besteht die Herausforderung des Anfangens auch immer darin, dass wir etwas dafür hinter uns lassen müssen. Im Folgenden möchte ich ausgehend von einer Unterhaltung mit zwei Studierenden der Erziehungswissenschaft noch etwas mehr auf das Anfangen eingehen.

Wie kommt man in das Studium der Erziehungswissenschaft hinein? Ein Austausch mit Nikolett Trenka und Lukas Becker

Lukas Becker: »Wenn ich an den Beginn meines Studiums zurückdenke, kommt mir vor allem eine Erkenntnis in den Sinn. Es ist die Einsicht, dass die Lehrenden im Grunde dieselben Probleme haben wie die Studierenden. Wenn jemand im Seminar eine Frage stellte – ›Ich habe den Text da und da nicht verstanden‹ –, dann kam ganz oft die Antwort: ›Ja, die Stelle ist wirklich unklar.‹ Wenn man also merkt, dass man irgendwo hängen bleibt, dann ist es oft so, dass es aus wissenschaftlicher Perspektive umstritten ist. Das war für mich eine wichtige Erfahrung.

Ähnlich verhält es sich mit Fristen und Aufgaben, welche die Professor*innen häufig auch nicht einhalten, zum Beispiel bei ihren Texten. Das habe ich bei meiner Arbeit als Hilfskraft erfahren. Das zeigt, dass wissenschaftliches Arbeiten anstrengend ist – und es also nicht daran liegt, dass man irgendwie ein dummer Student ist. Die haben auch damit zu kämpfen. Für mich war das eine wichtige Erkenntnis, um Mut zu entwickeln. Ich kann mich trauen, eigene Gedanken aufzuschreiben.«

Nikolett Trenka: »Bei mir war es so, dass die Einsicht, dass in der Wissenschaft noch vieles ungeklärt ist, später im Studium kam, nicht am Anfang. Ich begann das Studium mit großer Aufregung und Neugierde. Ich wollte alles über diesen Bereich erfahren. Woran ich mich erinnere, dass es am Anfang so viele Informationen und Anregungen gab: viele Methoden des Arbeitens und Recherchierens, die vielen Hinweise zum Umgang mit Texten. Das war alles ganz schön viel am Anfang. Dann kam ein Essay, den man zur Soziologievorlesung schreiben musste. Ich hatte noch nie zuvor einen Essay geschrieben. Da habe ich bemerkt: Je mehr ich mich mit einem Thema beschäftige, desto mehr komme ich auf kritische Fragen und auf aktives Denken. Hier begann ich zu verstehen, was mit einem wissenschaftlichen Studium gemeint ist und wann etwas ›wissenschaftlich‹ ist. Alle diese Erkenntnisse waren für mich am Anfang sehr neu.«

Christiane Thompson: »Sie haben beide die offenen Fragen betont und dass wissenschaftliches Arbeiten auch Anstrengung ist. Was ist Ihrer Ansicht nach das Spannende an der Erziehungswissenschaft?«

Nikolett Trenka: »Ich habe oft darüber reflektiert, warum ich mich für Erziehungswissenschaft entschieden habe. Der Grund, den ich damals meinen Eltern genannt habe, war, dass ich mehr darüber lernen möchte, wie Leute sich entwickeln, wie sich eine Persönlichkeit ausbildet. Das war so die Begründung. Und ich muss sagen: Ich habe dazu echt viel gelernt im Studium: die Inhalte, die Diskussionen, die Texte. Alles zusammen hat mir geholfen zu verstehen, dass viele Faktoren in eine Sache hineinspielen, dass sie in sehr vielen Kontexten betrachtet werden kann. Was Menschen tun, kann sehr verschiedene Gründe haben. Diese Multiperspektivität fand ich sehr spannend.«

Lukas Becker: »Also, von der Motivation her, warum ich das Studium angefangen habe, ist das bei mir anders gewesen. Es gab einen sehr praktischen Grund. Ich war an einem Zeitpunkt in meinem Leben, wo ich mir vorstellen konnte, langfristig in einem pädagogischen Bereich zu arbeiten. Das bedeutete: Ich brauche auf jeden Fall diesen Abschluss. Das war so die Hauptmotivation. Das heißt aber nicht unbedingt, dass dies das Studium ausmacht, weil da würde ich mich eher Nikolett Trenka anschließen. Für mich ist der Hauptgesichtspunkt, den ich sowohl wichtig als auch interessant finde, dass man sich in der Pädagogik immer in Widersprüchen bewegt. Es gibt nie eine klare Antwort. Man muss immer genau gucken: Man kann es so sehen, man kann es aber auch anders sehen – und diese verschiedenen Perspektiven sind nicht vereinbar. Da muss man überlegen: Okay, wie gehe ich jetzt damit um? Wie findet man in dieser Kontroverse eine Position? Und das ist nach meiner Erfahrung auch das, was beim pädagogischen Handeln wichtig ist; ob man eben diese Fähigkeit hat, eben mit diesen Ungewissheiten und diesen ständig widerstreitenden Sachen umzugehen.«

Christiane Thompson: »Ein solcher Widerspruch ist beispielsweise, dass es in der Erziehung darum geht, dass Kinder und Jugendliche zu einem eigenständigen Denken befähigt werden sollen, dieses Ziel aber unter Vorgaben und Zwängen verfolgt wird – und damit gerade nicht im Sinne der Eigenständigkeit. Sind ›Widersprüche‹ daher für die Erziehungswissenschaft besonders spezifisch? Wahrscheinlich gilt doch für viele Wissenschaften, dass es widersprüchliche Perspektiven auf den Gegenstand gibt?«

Lukas Becker: »Ja und Nein. Die Arbeit mit unterschiedlichen und auch widersprüchlichen Erklärungsansätzen ist das, was Wissenschaft generell ausmacht. Für die Erziehungswissenschaft bedeutsam ist aber, dass es immer auch um die Frage des Handelns geht. Es gibt Widersprüche und Ungewissheit – und doch muss man handeln. Dies ist noch einmal eine widersprüchliche Situation, die in anderen Bereichen so nicht gegeben ist.«

Christiane Thompson: »Was denken Sie: Wir kommt man am besten in ein Studium der Erziehungswissenschaft hinein? Welche Hinweise hätten Sie für Mitstudierende im ersten Semester?«

Nikolett Trenka: »Ich wurde letzte Woche von einer Erstsemestlerin gefragt, wo ein Café ist, in dem man lange lernen kann, ohne rausgeschmissen zu werden – auf dem Campus. Leider konnte ich mit der Frage nicht weiterhelfen, weil ich in der Bibliothek oder zu Hause arbeite. Dann hat sie von ihrer Aufregung erzählt, und ich habe ihr gesagt, dass es ganz normal ist, aufgeregt und überfordert zu sein. Ich denke außerdem, es ist wichtig, dass die Erstsemestler verstehen, dass das Studium ein Prozess ist. Vieles wird noch nicht im ersten Semester passieren. Man braucht einfach Zeit. Daher würde ich für den Anfang sagen: Das wird schon! Außerdem hat man am Anfang so viel Motivation, die wahnsinnig wichtig ist. Das befördert die Neugierde.«

Christiane Thompson: »Interessant. Das klingt auch ein wenig so, dass nach der Anfangsmotivation auch Zeiten kommen, wo es mit der Motivation schwieriger wird.«

Lukas Becker: »Es gibt auf jeden Fall Durststrecken, sehr frustrierende Phasen, z. B. wenn innerhalb von drei Wochen eine Hausarbeit geschrieben werden muss und man weiß noch nicht, wie es passieren soll. Es gehört einfach dazu. Ansonsten würde ich die eben schon genannte Neugierde unterstreichen. Mir hat der ›Mut zur Lücke‹ sehr geholfen: Okay, ich habe jetzt so und so viel hineingesteckt. Es reicht oder eben nicht. Auch beim Schreiben: Ich habe jetzt diesen oder jenen Aspekt ausgelassen, weil es jetzt nicht machbar ist. Man sollte sich also zutrauen, das ein oder andere zu umschiffen. Es gibt ein gutes Sprichwort dazu: ›Ein gutes Pferd springt knapp.‹ Ein weiterer Hinweis von meiner Seite ist die Nutzung von Unterstützungsangeboten. Es gibt so viel zur Text- und Lektürearbeit, was wirklich hilfreich ist. Am Anfang des Semesters habe ich einige Workshops dazu besucht. Man sollte sich nicht schämen, Hilfe anzunehmen, wo man erkennt, dass man Schwächen hat.

Nikolett Trenka: »Da würde ich mich anschließen. Ich war auch in einem Workshop zum Verfassen von Hausarbeiten. Das hat mir sehr geholfen. Mit diesen Infos konnte ich auch anderen helfen.«

In den Äußerungen der beiden Studierenden kommt zum Ausdruck, dass das Anfangen mit der Erziehungswissenschaft bzw. das Studium überhaupt als ein »Arbeiten«, ein »wissenschaftliches Arbeiten« verstanden werden muss. Ursprünglich verweist auch das lateinische Wort »Studium« auf ein Arbeiten, ein Sich-Bemühen oder Sich-Einsetzen. Auch wenn Studienprogramme im Bachelor und Master mitunter den Eindruck erwecken, es gäbe klar abgesteckte Wissensbereiche, so verhält es sich doch eher so, dass das Studium ein sehr individueller Arbeitsprozess ist, in dem die Studierenden ihre Auseinandersetzung mit den Gegenständen selbst gestalten und verantworten müssen. Die gesamte Arbeits- und Zeitplanung vollzieht sich in Eigenverantwortung, ebenso wie die Schwerpunkt- und Themensetzungen. Zugleich aber ist es am Anfang sehr wichtig, sich überhaupt die Arbeitsformen des Studiums anzueignen: darunter Recherchieren, wissenschaftliche Lektüre und wissenschaftliches Schreiben. Das macht die besondere Herausforderung des Studiums aus: Im Hineinkommen mit vielfältigen neuen Anforderungen ist man damit konfrontiert, die Wege in das Studium für sich zu eröffnen und zu gestalten.

Nikolett Trenka und Lukas Becker verweisen nun beide darauf, dass sich die zuletzt genannte Herausforderung nicht einfach auflösen lasse. Es gebe keine einfachen Hinweise und Praxistipps. Beide formulieren, dass das Hineinfinden in ein wissenschaftliches Studium Zeit benötige. Die Zeit, die benötigt wird, ist dabei nicht nur auf eine Anfangserfahrung im Studium begrenzt. Sie prägt überhaupt das Studium bis zu seinem Ende. Lukas Becker berichtet von seinen Erfahrungen, dass die Anforderungen des wissenschaftlichen Arbeitens über die Studierenden hinaus auch die anderen (langjährigen) Mitglieder der Universität beträfen. Die Erfahrung, eine Sache nicht wirklich befriedigend aufgearbeitet zu haben oder zeitlich nicht gut eingeschätzt zu haben, würden alle teilen, die wissenschaftlich arbeiten. Das drückt sich ebenfalls in Nikolett Trenkas Ratschlägen an ihre Mitstudierenden aus.

An diesem Punkt ist auch erkennbar, dass Wissenschaft als kommunikativer Prozess zu begreifen ist. Wissenschaftliches Wissen ist in Bewegung und Gegenstand von Überprüfung und kritischer Diskussion. Es wird ergänzt, erweitert, differenziert – oder auch in Zweifel gezogen und widerlegt. Wenn es aber strukturell so ist, dass es nie einen einfachen Bestand des wissenschaftlichen Wissens gibt und dass Wissenschaft auf die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Positionen angewiesen ist, dann muss sich auch die Haltung gegenüber dem Nicht-Verstehen und dem Nicht-Wissen entwickeln bzw. verändern.

Unser Nicht-Verstehen begreifen wir gemeinhin als etwas Negatives. Wir sagen zum Beispiel: Dies und das haben wir nicht begriffen und meinen damit ein Versagen. Wie aber Lukas Becker und Nikolett Trenka argumentieren, gehören die Probleme oft zur Sache. Sie können in einem Gespräch geteilt und diskutiert werden. Wissenschaft bedeutet nun genau diese geteilte Kommunikation über das Wissen im Lichte von Verstehensgrenzen. Mit diesem Gedanken stehen wir bei dem, was »Allgemeine Erziehungswissenschaft« heißt.

Zur »Allgemeinen Erziehungswissenschaft«

Zunächst einmal stellt die »Allgemeine Erziehungswissenschaft« ein Teilgebiet der Wissenschaftsdisziplin »Erziehungswissenschaft« dar. Es gibt Wissenschaftler*innen, welche die Aufgabe haben, dieses Fachgebiet in Forschung und Lehre zu vertreten. Wenn man sich konkret deren Forschungs- und Lehrgebiete anschaut, findet sich häufig eine Bezugnahme auf fachlich-theoretische Grundlagen der Erziehungswissenschaft: Es geht um grundlegende Theorien und Konzepte der Erziehungswissenschaft, einschließlich wissenschaftstheoretischer und methodischer Grundlagen, aber auch anthropologische1 und theoriegeschichtliche Zugänge.

Eine andere Beschreibung zur Allgemeinen Erziehungswissenschaft lautet, dass dieses Teilgebiet – anders als andere erziehungswissenschaftliche Teildisziplinen (wie z. B. die Schulpädagogik oder die Frühpädagogik) – nicht schon mit einem spezifischen Handlungsfeld verbunden ist. Es erscheint dann so, als würde die Allgemeine Erziehungswissenschaft vor allem für jenes Wissen zuständig sein, was Grundlage für alle erziehungswissenschaftlichen Teilgebiete und pädagogischen Handlungsfelder wäre. Allerdings ist dazu zu sagen, dass die Rede von »fachlich-theoretischen Grundlagen« eher missverständlich ist.

Die Allgemeine Erziehungswissenschaft ist nämlich nicht für das Festlegen eindeutiger Grundlagen zuständig. Es geht ihr vielmehr darum, die bestehenden Auseinandersetzungen und Differenzen, die durch unterschiedliche wissenschaftliche Herangehensweisen entstehen, zu sichten, zu überprüfen und miteinander ins Gespräch zu bringen. Nutzt man die Metapher des fachlichen Gebäudes, wären Ort und Aufgabe der Allgemeinen Erziehungswissenschaft nicht mit dem »Fundament«, sondern eher mit den Verbindungstüren, Schwellen, Durchgängen, aber auch den vermauerten Zugängen beschrieben. Die Pluralität von Wissenschaftsbezügen in der Erziehungswissenschaft und die enorme fachliche Breite machen die Allgemeine Erziehungswissenschaft zu einem Gelenkstück, wodurch fachliche Verständigung und Auseinandersetzung zustande kommen.

Norbert Ricken hat diesbezüglich von den Aufgaben bzw. Funktionen der Allgemeinen Erziehungswissenschaft gesprochen (Ricken 2010). Dazu gehört eine »Vermittlungs- und Diskursfunktion«, auf die ich etwas genauer eingehen möchte. Dadurch, dass die Allgemeine Erziehungswissenschaft pädagogische Problemstellungen umschreibt (ohne dass sich dafür leichthin Lösungen angeben ließen), kann sie verschiedene Parteien und Ansätze zueinander in ein Verhältnis setzen. Sie ermöglicht »Kooperation, Moderation und Diskussion« (ebd.: 24) zwischen verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen.

Dieser von Ricken genannte Punkt ist für die hier vorliegende Einführung zentral. Ihr geht es um das Aufzeigen von Problemstellungen, die in die Mitte des Faches hineinführen, weil ohne sie das Werden von Menschen nicht beschrieben oder verstanden werden kann. Zugleich ist einer der Dreh- und Angelpunkte dieses Buches die Einsicht, dass die Pädagogik bzw. die Erziehungswissenschaft von Widerstreit geprägt ist, der nicht einfach aufzulösen ist. Anspruch und Herausforderung des Faches Erziehungswissenschaft bestehen gerade darin, dass man bei den Fragen, wie Lernen zu begründen ist, worin ein gelungenes Leben zu sehen ist, was ein angemessenes pädagogisches Handeln ausmacht etc. etc., kaum Aussicht darauf hat weiterzukommen, wenn man sich nicht mit der Vielfalt der Antworten konfrontiert, die dazu formuliert worden sind.

Wenn in diesem Buch also von »Problem«, »Problemstellung« oder »Herausforderung« die Rede ist, so ist also nicht dasjenige gemeint, was aufzulösen oder zu überwinden ist. Der Vergleich mit einem Knoten ist womöglich hilfreich: Bei Knoten geht es sehr oft überhaupt nicht darum, sie aufzulösen. Im Gegenteil: Sie stellen wichtige Verbindungen her (z. B. zwischen Schnürsenkeln), sie bewahren Verwicklung und Komplexität auf (z. B. in der Mathematik) oder sie behalten für uns etwas ein (wie der Knoten im Taschentuch). Mit »Problemstellungen« lässt sich für die Erziehungswissenschaft Relevantes beschreiben und dem Denken zugänglich machen. So gesehen ist die Problemstellung das ABC erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung. Sie hält die Sache im Visier, die zu bearbeiten ist. Die Entwicklung eines solchen Fokus ist Ziel dieser Einführung – und nicht das auflösende Erklären.

Zum Aufbau des Bandes

Der Band ist in drei Teile gegliedert, die aufeinander verweisen und dennoch unabhängig voneinander gelesen werden können.

Der erste Teil trägt den Titel »Aspekte wissenschaftlicher Grundlegung«. Er verbindet wissenschaftsgeschichtliche und wissenschaftstheoretische Gesichtspunkte. Das erste Kapitel geht auf die Geschichte der Wissenschaft ein und rekapituliert wichtige Zäsuren und Entwicklungen rund um die abendländische Wissenschaftsvorstellung. Im zweiten Kapitel kommt die Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft genauer in den Blick. Es werden einige Aspekte zur Geschichte und Herausbildung des Faches beschrieben, insbesondere auch die Frage diskutiert, um was für eine Wissenschaft es sich eigentlich bei der Erziehungswissenschaft handelt. Das dritte Kapitel geht auf das wissenschaftliche Arbeiten ein im Hinblick auf die Frage, welche Operationen und Tätigkeiten des Denkens für dieses Arbeiten von besonderer Bedeutung sind. Der Fokus liegt daher auf der Bildung der Argumentationsfähigkeit.

Im zweiten Teil werden jene Begriffe vorgestellt, die im Fach als »Grundbegriffe« herangezogen bzw. diskutiert werden: »Erziehung«, »Bildung«, »Lernen«, »Kompetenz« und »Sozialisation«. Insgesamt zielt die Darstellung weniger darauf ab, mit diesen Begriffen einen fertigen erziehungswissenschaftlichen Grundbestand vorzustellen, als vielmehr deutlich zu machen, dass mit diesen Begriffen spezifische Problemstellungen formuliert werden (s. o.). Diese Problemstellungen sind es, welche die Erziehungswissenschaft vor beständige Reflexions- und Praxisaufgaben stellen. Dazu gehört selbst auch die Frage, in welcher Weise sich die Begriffe als »pädagogisch« begreifen lassen. Es ließen sich mit guten Gründen auch weitere Begriffe anführen (z. B. Beratung), die aus Gründen des Umfangs hier nicht berücksichtigt worden sind.

Für den Begriff der Erziehung im vierten Kapitel besteht eine zentrale Problemstellung darin, dass mit ihr ein widersprüchlicher Prozess von Freiheit und Zwang beschrieben wird. Im fünften Kapitel wird der Begriff der Bildung als humanistischer und moderner Begriff vorgestellt, der für das Versprechen der Verbesserung und Kultivierung des Menschen steht. Es wird aber auch gezeigt, dass und wie – aus historischer Perspektive – die Idee der Bildung selbst Prozesse der Modernisierung unterlaufen hat. Das sechste Kapitel hebt einen pädagogischen Begriff des Lernens von objektivistisch orientierten Lernbegriffen ab, indem insbesondere auf Aspekte der Sinngeladenheit und des Erfahrungsbezugs im Lernen eingegangen wird. Ausgehend von den PISA-Studien wird im siebten Kapitel die Frage aufgeworfen, inwiefern es sich beim Begriff der Kompetenz um einen pädagogischen Begriff handelt. Diese Frage wird im Horizont der Kritik diskutiert, die am Begriff der Kompetenz vorgebracht worden ist. Im achten Kapitel wird der Begriff der Sozialisation thematisiert. Im Zentrum steht, wie in Theorien der Sozialisation der Erwerb gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit beschrieben wird – und welche Vorstellungen von »Gesellschaft« darin impliziert sind.

Der dritte Teil greift wichtige erziehungswissenschaftliche Problemfiguren auf, die einen Einblick in allgemein erziehungswissenschaftliche Diskurse geben und zu denen es jeweils umfängliche Auseinandersetzungen und Debatten gibt. Das neunte Kapitel befasst sich mit der erziehungswissenschaftlichen Problemfigur der Wirksamkeit. Kern des Kapitels ist die Einsicht, dass sich pädagogisches Handeln nicht in technologischer Manier vollzieht. Auseinandergelegt wird, was dies für erziehungswissenschaftliches Wissen und seine Übersetzung in Handlungszusammenhänge heißt.

Das zehnte Kapitel spannt einen Bogen von der Differenz zur Alterität – der Andersheit des Anderen oder Fremdheit. Ausgangspunkt ist, dass das Erziehungs- und Bildungssystem in Deutschland von Ungleichheiten geprägt ist. Was bedeutet dies für pädagogisches Denken und Handeln? Wie lässt sich vermeiden, dass wir unser Gegenüber in Raster einordnen, die wir uns von ihm gemacht haben? Das elfte Kapitel greift die Frage nach dem Menschen auf: Pädagogische Ansätze und Theorien sind mit bestimmten Menschenbildern verbunden, die immer auch machtvoll und begrenzend sind. Wie eine kritisch-anthropologische Reflexion vorzunehmen ist, wird im Kapitel einerseits anhand eines klassischen anthropologischen Ansatzes und andererseits an jüngeren transhumanistischen Ansätzen nachvollzogen. Zum Ende des Kapitels wird anknüpfend an jüngste kritisch-posthumanistische Debatten gefragt, wie der Begriff der Bildung in Zeiten der Klimakatastrophe und anderer Weltprobleme gedacht werden kann.

Wie anhand des knappen Überblicks deutlich werden kann, legt diese Einführung die Aufmerksamkeit auf grundlegende Problemstellungen der Pädagogik und Erziehungswissenschaft. Sie stellt unterschiedliche Deutungsangebote vor, wie mit diesen Problemstellungen umgegangen werden kann – wie diese gedacht werden können. Dabei finden klassische Positionen wie gegenwärtige Ansätze Berücksichtigung. Das Ziel besteht darin, Gedankengänge zu entwickeln, welche die Unterschiedlichkeit von wissenschaftlichen Denkweisen oder sogar den Widerstreit innerhalb der Erziehungswissenschaft sichtbar machen. Das ist es, was die Bezugnahme auf eine »Allgemeine Erziehungswissenschaft« ausmacht: die Arbeit an pädagogischen Vorstellungen, Begriffen und Theorien, so dass Kommunikation und Auseinandersetzung darüber möglich werden, welche Folgen es zum Beispiel hat, wenn wir einen Sachverhalt als »Bildung« oder als »Kompetenzentwicklung« beschreiben.

Die Allgemeine Erziehungswissenschaft übernimmt damit die Funktion, Statthalter unterschiedlicher Denkwege innerhalb des Faches zu sein. Indem sie vergangene und gegenwärtige Ansätze miteinander ins Gespräch bringt, eröffnet sie außerdem die Möglichkeit, neue pädagogische Deutungen und Theoretisierungen aufzunehmen.

1     Das Wort »Anthropologie« stammt aus dem Griechischen. Es umschreibt die wissenschaftlichen Beiträge, die sich mit der Frage »Was ist der Mensch?« auseinandersetzen.

Kapitel 1: Eine kleine Geschichte der Wissenschaft und ihrer Theorie

 

 

 

Wann haben Menschen damit begonnen, wissenschaftlich zu denken und zu fragen? Wie lässt sich ein solcher Zeitpunkt überhaupt bestimmen? Was macht allgemein eine wissenschaftliche Betrachtungsweise aus? Hier haben wir drei Fragen, die sich auf den Anfang von Wissenschaft beziehen. Nun: Wer solche Fragen stellt, hat sich schon in ein ›wissenschaftliches Fahrwasser‹ begeben; denn dazu gehört an erster Stelle, dass sich eine Frage auftut – dass man sich mit dem bisher Gedachten nicht zufriedengibt. Fragen führen das Denken über das hinaus, was zuvor gedacht worden ist. Zugleich steht das Fragen für ein Streben und Suchen nach Wissen. Man kann diese Suche nach Wissen als den Anstoß von Wissenschaft begreifen, die nur durch ein geordnetes und systematisches Verfahren erfolgreich verlaufen kann. Im Folgenden soll an drei Stationen der Wissenschaftsgeschichte dieser zentrale Gesichtspunkt des abendländischen Wissenschaftsprojekts beleuchtet werden.

Drei »Anfänge« der Wissenschaft

Für die Anfänge der wissenschaftlichen Betrachtungsweise blicken wir zurück auf die Antike, auf die vorsokratischen2 Naturphilosophen zwischen 600 und 350 vhZr3. Die Vorsokratiker waren darum bemüht, die Natur als Ganzes zu erfassen und den Grund der sichtbaren Welt aufzuklären. Thales (um 600 vhZr.) beispielsweise hielt das Wasser für den Urgrund aller Dinge und Wesen. In diese Erklärungsformel ging sicherlich die große Bedeutung des Wassers für den Erhalt des Lebens ein. Die Vorsokratiker lösten sich von den vielen konkreten Fragen und Interessen des praktischen Alltags. Mit dem Blick auf das Ganze etablierten sie eine neue Vorstellung von Wissen. Nicht konkrete Einzelphänomene standen im Vordergrund, sondern die grundlegenden Zusammenhänge der Welt.

Der griechische Philosoph Platon (427–347 vhZr.) formulierte diesen Begriff des »Wissens« nach den uns überlieferten Schriften als erster philosophisch aus (vgl. Platon 1990). Das griechische Wort dafür lautet »episteme«, und es ist in die deutsche Sprache in Wortbildungen um »Epistemologie« eingegangen, was »Erkenntnistheorie« bedeutet. Die »episteme« richtet sich auf ein Wissen unabhängig von situativen Eindrücken. Episteme beschreibt, wie eine Sache »von sich aus« ist. Dem steht die Orientierung an der so genannten »doxa« gegenüber, die beschreibt, wie eine Sache in einer konkreten Situation erscheint. Das Wort wird häufig mit »Meinung« übersetzt, weil wir damit kundtun, wie uns eine Sache erscheint. Die Orientierung an der Doxa kritisierte Platon an den so genannten Sophisten seiner Zeit. Diese zogen als Wanderlehrer umher, um ihre Schüler im freien Reden auszubilden; denn die Fähigkeit des Redens hatte in den aufblühenden demokratischen Stadtstaaten Griechenlands eine hohe politische Bedeutung. Im Kampf der Überzeugungen setzten die Sophisten auf ein situationsbezogenes Wissen, das sich am Erscheinen der Sache orientierte (also eine Ausrichtung an der Doxa).

Demgegenüber kann laut Platon nur das als Wissen gelten, was unabhängig von konkreten Einzelsituationen eine Sache oder einen Gegenstand kennzeichnet. Platon prägte damit die Vorstellung, dass das, was eine Sache ausmacht, unveränderlich ist, und er nannte dies »Idee« (griech.: »idea«). Mit Platon ließe sich in etwa so argumentieren: Nur wenn wir die Idee eines Kugelschreibers vor uns haben, können wir Kugelschreiber erkennen. Das Erkennen ist ein Wiedererkennen – und das funktioniert auch bei unterschiedlichen Größen, Fabrikaten und Farben. Die Ideen bilden nach Platon Grundlage und Ziel des Erkennens. In seinem berühmten Höhlengleichnis in der Staatsschrift »Politeia« beschreibt Platon den Weg der Bildung als Aufstieg aus dem Reich der Meinungen in das Reich des Wissens oder der Ideen (Platon 1990; vgl. dazu das Kapitel zu »Bildung«).

Um den Blick zu einem zweiten Anfang zu bahnen, müssen wir das Augenmerk darauf richten, wie in der Antike, aber auch im Mittelalter die Suche nach Erkenntnis noch in einer übergreifenden Ordnung eingebettet war (die am Übergang zur Neuzeit nach und nach ihre Geltungskraft verlor). In den übergreifenden und unveränderlichen Weltordnungen hatte der Mensch einen festen Platz. Im vom Christentum dominierten Mittelalter Europas war es die Schöpfungsordnung, die jedem Wesen und Ding seinen Platz in der Welt zuwies. Die Wissenschaft hatte darin die Funktion, diese als vollkommen verstandene göttliche Ordnung zu betrachten und zu bewundern. Abbildung 1 versinnbildlicht diese Vorstellung einer natürlichen Ordnung in Form einer Treppe, auf deren oberster Stufe Gott (»deus«) platziert ist. Der Mensch (»homo«) ist unter den Engeln und den Himmelskörpern positioniert. Nach ihm folgen die Tiere, Pflanzen und die unbelebte Materie. In diesem Schöpfungsmodell ist alles schon an seinem Platz, so dass die Funktion der Wissenschaft allein darin besteht, die göttliche Ordnung zur Geltung zu bringen. Erst zu Beginn der Neuzeit änderte sich das. An dieser Stelle können wir einen weiteren Anfang von Wissenschaft ausmachen.

Zu Beginn der Neuzeit vollzieht sich eine Radikalisierung der Wahrheitssuche, indem der Mensch in den Mittelpunkt des Erkennens einrückt. Das lässt sich beispielhaft an einem berühmten Buch von René Descartes zeigen. In seinen »Meditationen über die erste Philosophie«4 spielt Descartes (1596–1650) durch, woran man alles zweifeln kann (Descartes 1986). Man kann an seiner Wahrnehmung zweifeln (z. B. vor dem Hintergrund optischer Täuschungen) oder man kann an seinem Wachzustand zweifeln: Vielleicht träume ich gerade nur? Im Durchgang

Images

Abb. 1: Eine natürliche Ordnung aller Dinge und Wesen (Holzschnitt nach Lullus 1512)

durch alle möglichen Zweifel endet Descartes bei der Einsicht, dass ungeachtet allen Zweifels eines unbezweifelbar ist: dass es im Moment des Zweifelns ein zweifelndes Ich gibt. Im Nachdenken erfährt sich das Ich als Grund des Erkennens.

Die philosophischen Betrachtungen von Descartes lassen die immense Aufwertung erahnen, welche fortan in die menschliche Verstandestätigkeit gelegt wird. Der Mensch rückt in das Zentrum des Erkennens. Ihm ist es möglich, durch den systematischen Einsatz seines Verstandes die Gesetze der Natur zu erforschen. Dafür aber muss er bereit sein anzuzweifeln, was er bisher als Wissen ansah, und sich der Welt prüfend annähern. Als eindrückliches Beispiel hierfür lassen sich die Experimente anführen, die Galileo Galilei (1564–1641) zur Ermittlung der Schwerkraft bzw. der Fallgeschwindigkeit durchführte. Durch das Hinabrollen einer Kugel auf einer schiefen Ebene ermittelte Galilei unter Variation der anderen Versuchsgrößen (Winkel der Ebene und Länge der Rollfläche) den systematischen Zusammenhang von Fallstrecke und Fallzeit.

Galileis Versuche sind ein gutes Beispiel dafür, wie der Mensch unter Einsatz seiner Verstandestätigkeit die Naturgesetze erschließt. Galilei prägte dabei eine Form und Vorgehensweise, die bis heute für das wissenschaftliche Arbeiten relevant ist: Im Experiment wird eine Versuchsanordnung erstellt, so dass verschiedene Verläufe des Versuchs vergleichbar werden. In Galileis Experiment zeigte sich dies am Verhältnis von Rollzeit und Rollstrecke. Diese beiden Größen korrelierten (unter Beibehaltung aller anderen Parameter, wie z. B. des Winkels der schiefen Ebene). Als Ergebnis aus seinen Versuchen formulierte Galilei das Fallgesetz, nachdem sich die Fallstrecke proportional zum Quadrat der Fallzeit verhält. Diese Forschungen markieren einen wichtigen Moment der Wissenschaftsentwicklung im Sinne einer systematischen empirischen5 Erforschung der Natur.

Für die Wissenschaftsentwicklung sind die Experimente von Galilei noch in einer anderen Hinsicht bedenkenswert. Wie erwähnt steht am Ende des Experiments die mathematische Beschreibung der Natur, die einen wichtigen Schritt ihrer technologischen Nutzung darstellt. Man denke an die zahlreichen Anwendungen aus der Mechanik, z. B. zur Bewegung von Lasten. Galileis Erforschung der Fallgesetze hatte überdies unmittelbare Folgen für Waffentechnologie und Kriegsführung. Allgemein zeigte sich, dass der Mensch durch wissenschaftliche Forschungen ›praktische Probleme‹ lösen konnte, die sich vormals nicht genau beschreiben ließen. Mehr noch: Durch wissenschaftliches Forschen konnte der Mensch ganz neue Lösungen entwerfen, die vormals nicht im Visier waren. Damit aber drängen sich andere Probleme auf.

Mit dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt bestimmen sich die Möglichkeiten des menschlichen Handelns fortan immer weniger von den gegebenen Verhältnissen her. Der Mensch denkt nun von dem her, was alles möglich ist. Anders gesagt: Der Mensch erweitert beständig das Spektrum des Denkmöglichen, ohne schon durchdrungen zu haben, was diese Möglichkeiten implizieren. Die Atomenergie ist ein markantes Beispiel: Ihre Entwicklung und Nutzung vollzogen sich, ohne dass der Umgang mit den Gefahren und Nachwirkungen dieser Technologie geklärt war. Ein wichtiger Hintergrund für diese Vorstellung des menschlichen Fortschrittsdenkens ist, dass der Mensch eine Position der Herrschaft und Verfügung über die Welt einnimmt.6 Die Folgen dieser (von Europa ausgehenden) Selbstermächtigung sind weltgeschichtlich gravierend und haben längst ihre zerstörerische Seite sichtbar werden lassen.

Einen dritten Anfang oder Anstoß des wissenschaftlichen Nachdenkens können wir in der »Kritik der reinen Vernunft« (1781/1787) des Königsberger Philosophen Immanuel Kant (1724–1804) ausmachen, ein Buch, das ebenfalls als Klassiker der Wissenschaftstheorie gilt (Kant 1990). Kant stellte sich in diesem Buch die folgende Aufgabe: Die Philosophie sollte ein für alle Mal bestimmen, wie weit das Erkenntnisvermögen des Menschen reicht. Nach Auffassung Kants neigt der Mensch dazu, immer wieder nach Erkenntnissen zu streben, die sein Vermögen übersteigen. Es kommt dadurch zu Fehlschlüssen und Verwirrung. Aus diesem Grund muss nach Kant die Grenze bestimmt werden, wozu die menschliche Vernunft fähig ist und wo die Grenzen ihrer Erkenntnisfähigkeit liegen. Diese klärende kritische Darlegung der Reichweite des menschlichen Erkenntnisvermögens ist der Gegenstand von Kants Buch: Nachdem die Naturwissenschaft große Fortschritte erreicht hat, soll auch die Philosophie beginnen, ihre Forschung auf einen verlässlichen Boden zu stellen. Wenn einmal die Erkenntniswerkzeuge des Menschen richtig bestimmt sind, sollte sich ein Fortschritt der philosophischen Wissenschaft und Forschung abzeichnen.

Kant unternimmt sozusagen eine »Instrumentenanalyse«: Wie arbeitet der menschliche Verstand und was kann er leisten? Diese Frage wird auch als »kopernikanische Wende« bezeichnet. Gemeint ist damit: Wenn wir Wissen und Erkenntnis überprüfen wollen, müssen wir uns von den Gegenständen des Erkennens weg – dem erkennenden Subjekt zuwenden. Was wir erkennen, richtet sich nach unserer Ausstattung zu erkennen.7

Im Zusammenhang seiner Analyse arbeitet Kant heraus, dass der Mensch nur auf der Grundlage von Erfahrung erkennen kann. Das impliziert beispielsweise, dass der Mensch niemals wird Gott erkennen können. Zugleich stellt Kant im Rahmen seiner umfänglichen Untersuchung fest, dass der Mensch beim Erkennen Begriffe und Konzepte einsetzen muss, die selbst nicht aus der Erfahrung stammen. Dazu gehört der Begriff der Kausalität (also die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung). Dass etwas eine Folge aus etwas anderem ist, kann nicht der Erfahrung entnommen werden. In der konkreten Erfahrung können wir immer nur jeweils feststellen, dass sich zwei Dinge zeitlich in Abfolge ereignen. Wir können natürlich Galilei folgend Fallexperimente durchführen und von hier aus Fallgesetzlichkeiten formulieren. Dessen ungeachtet, so Kant, stammt der Begriff der Kausalität nicht aus der Erfahrung, sondern ist Bestandteil unseres Denkens.

Kants philosophisches Programm macht darauf aufmerksam, dass »Kritik« eine wichtige Dimension von Wissenschaft und wissenschaftlicher Erkenntnis ist. Es ist nicht ausreichend, den Blick nur auf das zu richten, was erkannt werden soll. Eine weitere bedeutsame Dimension von Wissenschaft ist zu reflektieren, unter welchen Bedingungen und auf welchen Grundlagen das Erkennen sich vollzieht. Kant zeigt, dass wir uns bei unserem Erkennen immer durch Kategorien und Konzepte leiten lassen, die unser Wahrnehmen und Erkennen vorstrukturieren oder ausrichten. Wissenschaft darf also nicht nur als Prozess gedacht werden, der allein die »Erweiterung« von Wissen und Erkenntnissen betrifft. Sie zielt auch auf die Reflexion der Bedingungen, unter denen Wissen gebildet wird.

Die drei hier vorgestellten Anfänge – die Bildung eines Wissens in Abgrenzung von der Meinung bei Platon, die systematische und empirische Erforschung der Natur an der Schwelle zur Neuzeit wie auch die menschliche Vernunftkritik nach Kant – sind für die Entwicklung von Wissenschaft stark bestimmend gewesen. Dass alle diese Schritte auch für die Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft hoch relevant sind, wird unmittelbar deutlich, wenn man nach dem Weg der Einzelnen in die Wissenschaft fragt. Das ist die Frage danach, wie wir lernen und dieses Lernen und das aus ihm generierte Wissen überprüfen – eine genuin pädagogische Frage. Es wird nun nicht verwundern, dass die im vorausgehenden Abschnitt genannten philosophischen Figuren vielfach in der Erziehungswissenschaft diskutiert worden sind. Wie sich die Geschichte der Philosophie und der Pädagogik überlagern, wird im zweiten Kapitel weiterverfolgt werden. Im Folgenden soll die Geschichte der Wissenschaft im 20. Jahrhundert näher beleuchtet werden.

Das Projekt der Wissenschaftstheorie

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Ruf nach einer verbindlichen Wissenschaftstheorie laut. Es war der Ruf nach einer Theorie, die systematisch klar und eindeutig die Bedingungen bestimmt, wie wissenschaftliche Erkenntnisse und Wahrheiten gewonnen werden können. Mit den vorausgehenden Antworten der großen philosophischen Systeme, darunter auch der Philosophie Kants, war man nicht zufrieden. Es wurde kritisiert, dass es immer noch keine verbindliche theoretische Beschreibung von Wissenschaft gibt. Gottlob Frege (1848–1925) und Ludwig Wittgenstein (1889–1951), zwei wichtige Denker der Zeit, behaupteten sogar, die vorausgehende Philosophie hätte eher Hürden aufgebaut, indem sie die Sprache in unsinniger Weise verwendet habe. Wer zum Beispiel vom »Sein« oder vom »Nichts« spreche, der erzeuge durch diese Substantive rätselhafte Gegenstände. Die Philosophie schaffe sich damit eher Probleme, als dass sie welche löse. Außerdem bestehe das Problem der Sprache darin, dass sie sehr unterschiedliche Sachen mit dem gleichen Begriff bezeichne (z. B. »Bank« als Sitzmöbel oder Institution der Finanzwirtschaft), was die Klarheit des Denkens zusätzlich unterlaufe. Um den Weg der Wissenschaft zu bahnen, war nach Auffassung von Frege und Wittgenstein die Verwendung der Sprache zu reglementieren. Was nun als Projekt folgte, war die Entwicklung einer »Wissenschaftstheorie«, die solche Probleme vermeiden wollte. Diese Entwicklung soll im Folgenden knapp nachvollzogen werden. Dabei wird sich allerdings zeigen, dass das Projekt der Wissenschaftstheorie nicht zu dem beabsichtigten Ziel führte.

Mit dem Projekt der Wissenschaftstheorie ist eine Gruppe von Wissenschaftlern verbunden, die man als »Wiener Kreis« bezeichnet (vgl. Stöltzner/Uebel 2006). Diese Gruppe um den Philosophen und Physiker Moritz Schlick (1882–1936) ist im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts anzusiedeln. Die Mitglieder des Kreises stammten aus verschiedenen Disziplinen (insb. aus der Philosophie, der Mathematik und der Physik). Was sie trotz ihrer unterschiedlichen Bezugspunkte einte, war das Anliegen, eine Fundierung der Wissenschaft durch die Logik und die Bindung an strenge methodische Verfahren voranzutreiben.

Die Position des Wiener Kreises wird als »Logischer Positivismus« beschrieben. Mit dem Namen ist schon der enge Bezug zur Logik als einer Formalisierung8 des Denkens festgehalten. Der »Positivismus« steht für eine Position, die Wissen und Wissenschaft auf die Gegebenheit von Gegenständen begrenzt. Damit werden jene Gegenstände und Bereiche des Wissens außen vor gelassen, die sich nicht über Logik, Mathematik und naturwissenschaftliche Untersuchung beschreiben lassen. Der Wiener Kreis forderte überdies, sich in den Verfahren an vorhandenen (»positiven«) Methoden zu orientieren, um den gesamten Prozess der Untersuchung »kontrollieren« zu können und so zu verhindern, dass ein verwendeter Begriff die Untersuchung in unvorhersehbarer Weise ›beeinflusst‹.

An der »Protokollsatzdebatte« lässt sich das wissenschaftstheoretische Programm des Wiener Kreises nachvollziehen. Wie schon gesagt orientiert sich die Position streng an einer genauen Verwendung der Sprache und an logischen Verfahren. Ein Kernanliegen ist dann, in möglichst genauer Weise festzuhalten, was der Fall ist. Moritz Schlick (1930, in Stöltzner/Uebel 2006) setzt bei »Beobachtungssätzen« an, die sich nur auf die je konkrete Situation, die beobachtet wird, beziehen sollen: »Dieses Glas Wasser hat eine Temperatur von 22°C« – wäre ein typischer Beobachtungssatz. Vor allem allgemeine Alltagsbeschreibungen und Begriffe, welche die je einzelne Beobachtung übersteigen, sollen dabei ausgeschlossen werden. Mit dieser Strategie soll die Wahrheit und Geltung von Beobachtungssätzen über Verifikation (Wahrheitsprüfung) an den beobachteten Situationen überprüfbar gemacht werden. Den eben angegebenen Beobachtungssatz könnte ich überprüfen, indem ich ein Thermometer in das Glas halte.

Es zeigte sich allerdings recht bald, dass die enge Bindung von Wahrheit an Beobachtungssätze Probleme aufwirft; denn die Begriffe, die verwendet werden, um eine vorliegende Situation zu beschreiben, übersteigen letztlich immer schon die singuläre Beobachtung. In Beobachtungssätzen ist immer schon mehr enthalten, als die Beobachtung hergibt. Das schlichte Beispiel des Wasserglases bezieht immer schon eine physikalische Vorstellung ein, die sich auf eine Temperaturskala, Normaldruckverhältnisse etc. bezieht. Alle diese Aspekte sind nicht Teil der Beobachtung selbst. Dementsprechend argumentiert Otto Neurath (1882–1945), dass jede Beobachtung immer auf eine Beobachterposition bezogen bleibt (vgl. Neurath 1932, in Stöltzner/Uebel 2006). Für die Erforschung von Wahrheit und Geltung muss dann die Beobachterposition als Teil der Beobachtung festgehalten, »protokolliert« werden. Dann aber kann die Beobachtung nicht mehr als Gewissheitsgrundlage betrachtet werden. Dass es mehrere Beobachterpositionen gibt, macht es nach Neurath vielmehr notwendig, die Operationen der Beobachtung in die Theoretisierung von Wissenschaft einfließen zu lassen. Die Lücke zwischen Sachverhalt und Beschreibung lässt sich also nicht einfach schließen.

Es ist immer wieder hilfreich, an diese Debatte des Wiener Kreises zu erinnern. Sie verdeutlicht, dass die Vorstellung, es gebe einen ›Boden der Tatsachen‹, problematisch ist. Genau dies ist dann der Ausgangspunkt des Wissenschaftsforschers Karl Popper (1902–1994), dessen Position als »Kritischer Rationalismus« bezeichnet wird. Popper wendet sich kritisch gegen den Versuch, Wissenschaft als Erkenntnisgewinn durch Verifikation – also zum Beispiel die Feststellung einer Übereinstimmung von Beobachtung und Beobachtungssatz – zu bestimmen (Popper 1996, 1997). Nach Popper hat das wissenschaftliche Forschen, aber auch der Alltagsverstand viel stärker zu berücksichtigen, dass der Mensch sich irren kann (Fallibilismus). Der Mensch sollte vielmehr, so Popper, seine Überzeugungen und Problemlösungen permanent kritisch überprüfen. Genau dieser Aspekt wird nun zum Grundzug des wissenschaftlichen Forschens: Wissenschaft richtet sich nicht auf eine Verifikation von Theorien, Sachverhalten etc. Vielmehr geht es darum, das eigene Nachdenken verschiedenen Situationen auszusetzen, mit denen herausgefunden werden kann, ob ein Irrtum vorliegt. Versuch und Irrtum sind nach Popper die angemessenen Instrumente, um wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt zu erlangen, weil wir niemals in den Besitz eines sicheren Wissens gelangen können. Poppers Position wird als »Falsifikationismus« bezeichnet.

Ein Beispiel, das immer wieder angeführt wird, um die Denkweise des Falsifikationismus zu erläutern, ist die Hypothese: »Alle Schwäne sind weiß.« Wir können uns vorstellen, dass ein solcher Satz von jemandem geäußert wird, der schon sehr viele Schwäne gesehen hat und nun versucht, diese Beobachtungen zu verallgemeinern. Popper kritisiert die Auffassung, man könnte durch Verallgemeinerung9 der Wahrheit auf die Spur kommen. Nach Popper ist der Weg der Wissenschaft der Weg der Falsifikation – und das bedeutet, nach einem Schwan Ausschau zu halten, der nicht weiß ist. Sobald man auf nur einen schwarzen Schwan trifft, ist der Satz widerlegt.

Nach Popper hängt das Fortschreiten der Wissenschaft maßgeblich davon ab, dass sich die wissenschaftlich Forschenden kritisch mit dem bestehenden Wissen auseinandersetzen und dass sie dazu bereit sind, dieses Wissen im Prozess der Falsifikation wieder aufzugeben. Nun