Erik Kirsch­baum

 

ROCKING THE WALL
-
BRUCE SPRINGS­TEEN
in OST-BER­LIN 1988
DAS LE­GEN­DÄ­RE KON­ZERT

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INHALT

VOR­WORT

EIN­LEI­TUNG

Ka­pi­tel 1:  KÖ­NIG DER WELT

Ka­pi­tel 2:  TRÄU­ME IN DER MAU­ER­STADT

Ka­pi­tel 3:  VER­LO­RE­NE KIN­DER

Ka­pi­tel 4:  ÜBER SIE­BEN BRÜ­CKEN

Ka­pi­tel 5:  SON­DER­ZUG NACH PAN­KOW

Ka­pi­tel 6:  ICH STEH‘ AUF BER­LIN

Ka­pi­tel 7:  VÖL­KER, HÖRT DIE SI­GNA­LE

Ka­pi­tel 8:  GE­SCHICH­TE WIRD GE­MACHT

Ka­pi­tel 9:  AM FENS­TER

Ka­pi­tel 10:  VER­DAMP LANG HER

NACH­WORT

LI­TE­RA­TUR­HIN­WEI­SE

Bü­cher, Fern­seh­sen­dun­gen, Ar­chi­ve und Zei­tungs­ar­ti­kel

In­ter­views mit dem Au­tor

Aus­ge­wähl­te Ar­ti­kel aus dem In­ter­net


Im­pres­s­um


DANKE!

Ich möch­te mich bei al­len be­dan­ken, die ge­hol­fen ha­ben, die „ver­rück­te Idee“, ein Buch über ein ein­zi­ges Kon­zert zu schrei­ben, zu re­a­li­sie­ren, vor al­lem Jon Land­au, Bruce Springs­teens Ma­na­ger und Freund, der mir Ein­bli­cke hin­ter die Ku­lis­sen des Kon­zerts gab. Dave Marsh dan­ke ich für sei­ne fort­wäh­ren­de Un­ter­stüt­zung. Ein be­son­de­res Dan­ke­s­chön geht an Dave Gra­ham, Da­ni­el Remsper­ger, Ka­rin Scan­del­la, Dean Grant, In­g­rid Kirsch­baum, Ste­phen Brown, Axel Han­sen, Chris­ti­an Rütt­ger, Tom Wag­ner, Tho­mas Kru­me­n­acker, Scott Reid und Ste­ven Kirsch­baum, die ge­dul­dig Ent­wür­fe des Ma­nu­skripts la­sen und es ver­bes­sern ha­l­fen.

Ich hät­te die­ses Buch nicht schrei­ben kön­nen, wenn nicht vie­le Men­schen ihre Er­in­ne­run­gen an das größ­te Er­eig­nis der DDR-Mu­sik­ge­schich­te mit mir ge­teilt hät­ten. Ob als Kon­zert­be­su­cher, jour­na­lis­ti­sche oder wis­sen­schaft­li­che Be­ob­ach­ter, als Or­ga­ni­sa­to­ren auf DDR-Sei­te oder Mit­a­r­bei­ter im Springs­teen-Tross: Herz­li­chen Dank an Cher­no Jo­ba­tey, Jo­chen Staadt, Pe­ter Schwen­kow, Ge­rald Po­nes­ky, Yvon­ne Wag­ner, Ge­org Ker­win­ski, Con­ny Gün­ther, Bir­git Wal­ter, Her­bert Schul­ze und Ro­land Claus.

Mein Dank gilt Craig Wer­ner, Tho­mas Wil­ke, Phi­lip Mur­phy, Matt­hi­as Döpf­ner, und be­son­ders Da­nae Grant. An­er­ken­nen möch­te ich auch, dass mei­ne Vor­ge­setz­ten bei Reu­ters, Olaf Zap­ke und Ste­phen Brown, mir den Frei­raum ge­währt ha­ben, die­ses Buch zu schrei­ben. Ein gro­ßer Dank geht an Det­lef Kess­ler und Axel Müt­ze vom OS­NA­TON Ver­lag, die das Pro­jekt vor­an­ge­trie­ben ha­ben. Be­dan­ken möch­te ich mich auch bei al­len, die ge­hol­fen ha­ben, das Pro­jekt zu ver­wirk­li­chen, al­len vor­an Jane Dris­coll und Bri­an J. Boh­ling. Und auch, wenn ich nicht ein­mal sei­nen Na­men ken­ne: Mei­ne herz­li­che Dank­bar­keit gilt je­nem lang­haa­ri­gen Ber­li­ner Taxi-Fah­rer, des­sen gren­zen­lo­ser En­thu­si­as­mus noch mehr als ein Jahr­zehnt nach dem Kon­zert mich in­spi­riert hat, die­ses Buch zu schrei­ben. Viel­leicht er­fährt er ja auf die­sem Wege da­von.

Erik Kirsch­baum

Ber­lin, im Mai 2016

 

Für mei­ne El­tern, Da­nae und Do­nald

VOR­WORT

Zum ers­ten Mal hör­te ich von der gan­zen Sa­che in ei­nem Taxi in Ber­lin. Nach ei­nem mit­rei­ßen­den Springs­teen-Kon­zert 2002 in der Haupt­stadt ließ ich mich müde, aber zu­frie­den nach Hau­se chauf­fie­ren. Ich hat­te ge­ra­de noch einen Kor­re­spon­den­ten­be­richt für die Nach­rich­ten­agen­tur Reu­ters über das Kon­zert und über Springs­teens har­sche Wor­te über den da­ma­li­gen US-Prä­si­den­ten Ge­or­ge W. Bush ab­ge­setzt. Der hat­te Deut­sch­land ge­schol­ten, weil es nicht beim Irak-Krieg mit­mach­te. Nun woll­te ich ein we­nig ent­span­nen und das Kon­zert in mei­nen Ge­dan­ken nach­wir­ken las­sen.

Aber das ging ein­fach nicht. Denn der Ta­xi­fah­rer re­de­te in ei­nem fort auf mich ein und sprach über ein Kon­zert, das mehr als ein Jahr­zehnt zu­vor statt­ge­fun­den hat­te. Springs­teen, ja, der habe im Juli 1988 das bes­te Kon­zert al­ler Zei­ten ge­ge­ben. In Ost­ber­lin! Der „Boss“ habe nicht nur die DDR in ih­ren Grund­fes­ten er­schüt­tert mit sei­nem Auf­tritt vor 300.000 Men­schen. 300.000! Nein, das gan­ze kom­mu­nis­ti­sche Sys­tem hat er zum Wan­ken ge­bracht, sag­te der lang­haa­ri­ge und voll­bär­ti­ge Fah­rer voll Über­zeu­gung.

„Ja“, ant­wor­te­te ich ihm matt. „Springs­teen-Kon­zer­te sind im­mer Su­per-Er­eig­nis­se, der Mann hat’s drauf, die Mas­sen mit­zu­neh­men. Ich hab‘ auch schon vie­le Springs­teen-Kon­zer­te ge­se­hen.“

„Nein, Nein, Nein“ – der Ta­xi­fah­rer war jetzt nicht nur en­thu­si­as­tisch, son­dern schon leicht auf­ge­bracht. „Du ver­stehst nicht, es war nicht ir­gend­ein gu­tes Kon­zert“, be­harr­te er und wand­te sich mir zu. Dann er­zähl­te er wei­ter: 300.000 Leu­te hät­ten es live ge­se­hen, Mil­li­o­nen im Fern­se­hen, das gan­ze Land sei in Auf­ruhr ge­we­sen. Er dreh­te den Kopf wie­der in mei­ne Rich­tung und mit knob­lauch­ver­setz­tem Atem sag­te er fei­er­lich: „Es war das Un­glaub­lichs­te, was je­mals in der DDR statt­ge­fun­den hat.“

Für Mil­li­o­nen von Men­schen, die in den 60er-Jah­ren auf­wuch­sen, ist die Mu­sik von Springs­teen so et­was wie der So­und­track ih­res Le­bens. Die Tex­te sei­ner Songs aus vier Jahr­zehn­ten sind fest im kol­lek­ti­ven Ge­dächt­nis ei­ner gan­zen Ge­ne­ra­ti­on ver­an­kert, so wie: „It’s a death trap, it’s a sui­ci­de rap, we got­ta get out whi­le we’re young, cuz tramps like us, baby, we were born to run“, aus Born to Run, oder: „It ain’t no sin to be glad you’re ali­ve“, aus Bad­lands. Die gren­zen­lo­se Be­geis­te­rung je­nes Ber­li­ner Ta­xi­fah­rers war an­ste­ckend, und ich be­gann mich zu fra­gen: Spiel­te sich an je­nem Som­mer­abend 1988 im kom­mu­nis­ti­schen Ost­ber­lin wirk­lich et­was ganz Be­son­de­res ab, et­was, das weit über ein gu­tes Springs­teen-Kon­zert hin­aus Be­deu­tung hat­te?

Je mehr ich über je­nes Kon­zert er­fah­ren habe, des­to stär­ker fes­sel­te mich die Ge­schich­te. Etwa, als ich zum ers­ten Mal hör­te, dass Springs­teen den Mut hat­te, eine kur­ze Rede ge­gen die Mau­er zu hal­ten – in Ost­ber­lin! Mich fas­zi­nier­te auch zu er­fah­ren, dass sich 300.000 Men­schen – mehr als je­mals zu­vor und da­nach bei ei­nem Springs­teen-Kon­zert – auf­ge­macht hat­ten, den ame­ri­ka­ni­schen Rock­star live zu er­le­ben, ganz ab­ge­se­hen von den Mil­li­o­nen von Zu­schau­ern am Fern­se­her. Und na­tür­lich war ich er­grif­fen und be­geis­tert, als ich er­fuhr, wie Zehn­tau­sen­de ein­fach die Ab­sper­run­gen ge­stürmt hat­ten, um auf das Ver­an­stal­tungs­ge­län­de zu ge­lan­gen. Das al­les im ab­ge­schot­te­ten, au­to­ri­tär be­herrsch­ten Ost­ber­lin, der „Haupt­stadt der DDR“.

Ir­gend­wann däm­mer­te mir, dass der Springs­teen-Auf­tritt am 19. Juli 1988 mehr als nur ein mu­si­ka­li­sches High­light ge­we­sen sein könn­te. Er spiel­te im Som­mer 1988, und kei­ne 16 Mo­na­te spä­ter soll­te die Mau­er fal­len. Gab es einen Zu­sam­men­hang zwi­schen dem Kon­zert, der fried­li­chen Re­bel­li­on, die sich nur Mo­na­te spä­ter Bahn bre­chen soll­te und dem Fall der Mau­er am 9. No­vem­ber 1989? Die­se Fra­ge be­schäf­tigt mich seit­dem. Für mich steht fest, dass es eine enge Ver­bin­dung gibt zwi­schen der Be­geis­te­rung, die Springs­teens Auf­tritt in Ost­ber­lin aus­lös­te, zwi­schen der Er­mu­ti­gung an die Ju­gend der DDR durch sei­nem Ap­pell, alle Bar­rie­ren zu über­win­den und der Auf­bruch- und Wech­sel­stim­mung, die das Land in den Mo­na­ten da­nach er­griff und an des­sen Ende der Mau­e­r­fall stand.

Ich woll­te mehr über die Er­eig­nis­se im Juli 1988 in Ost­ber­lin her­aus­fin­den, als Springs­teen auf die an­de­re Sei­te des Ei­ser­nen Vor­hangs reis­te. Aber wür­de ich ein Vier­tel­jahr­hun­dert spä­ter noch je­man­den fin­den, der mir aus ers­ter Hand be­rich­ten konn­te? Die­se Sor­ge er­wies sich als völ­lig un­be­rech­tigt, es war viel ein­fa­cher, als ich dach­te und das hat­te einen gu­ten Grund: Das Kon­zert hin­ter­ließ einen so blei­ben­den Ein­druck, dass es bei mei­nen Re­cher­chen schien, als könn­ten sich wirk­lich alle an das er­in­nern, was sie da­mals er­lebt hat­ten. Es schien, als sei die gan­ze DDR ent­we­der live beim Kon­zert da­bei ge­we­sen oder habe es zu­min­dest am Fern­se­her ver­folgt. Es war wie ei­ner je­ner his­to­ri­schen Mo­men­te, bei de­nen man auch nach Jahr­zehn­ten noch ge­nau weiß, was man da­mals ge­macht hat.

Ich habe für die­ses Buch mit zahl­lo­sen Au­gen­zeu­gen ge­spro­chen – mit Fans und pro­fes­si­o­nel­len Be­ob­ach­tern, His­to­ri­kern und So­zio­lo­gen –, im­mer auf der Su­che nach der Ant­wort auf die eine Fra­ge: Hat­te die Vier-Stun­den-Vor­stel­lung Springs­teens, hat­te sein furcht­lo­ser Ruf nach ei­nem Ende der Mau­er et­was mit der fried­li­chen Re­vo­lu­ti­on zu tun, die bald da­nach folg­te?

Ob man Springs­teen einen Bei­trag zur Wen­de in der DDR und ih­rem Ende zu­bil­ligt oder nicht, hat auch da­mit zu tun, wie viel re­vo­lu­ti­o­näre Spreng­kraft man der Rock­mu­sik ge­ne­rell zu­ge­steht, ob man an die Macht von Rock ’n’ Roll glaubt oder nicht.

Zu de­nen, die an die po­li­ti­sche Kraft der Rock­mu­sik glau­ben, ge­hört Phi­lip Mur­phy, lang­jäh­ri­ger US-Bot­schaf­ter in Deut­sch­land und be­geis­ter­ter Springs­teen-Fan. Auch wenn er selbst da­mals nicht in Ost­ber­lin war, be­schei­nigt Mur­phy sei­nem Lands­mann aus New Jer­sey be­acht­li­chen Ein­fluss auf die Stim­mung in der da­ma­li­gen DDR. „Ich ken­ne und lie­be die Mu­sik Springs­teens und kann mir vor­stel­len, wel­che Wir­kung das Live-Kon­zert auf ein ost­deut­sches Pu­bli­kum ge­habt ha­ben muss, auf Men­schen, die un­ter ei­nem au­to­ri­tä­ren Re­gime leb­ten und lit­ten und sich so sehr nach Wan­del sehn­ten.“ Noch deut­li­cher for­mu­liert es Jörg Be­ne­ke, der als Zu­schau­er da­bei war: Das Kon­zert sei „der Sar­g­na­gel“ für die DDR ge­we­sen, der An­fang vom Ende der kom­mu­nis­ti­schen Herr­schaft, des­sen ist er sich noch heu­te si­cher.

Ohne je­den Zwei­fel ist das Springs­teen-Kon­zert in Ost­ber­lin ein her­aus­ra­gen­des Bei­spiel für den Ein­fluss, den Rock­mu­sik auf ge­sell­schaft­li­chen Wan­del ha­ben kann, wenn sie auf ein Pu­bli­kum trifft, das hung­rig auf und be­reit zu Ver­än­de­run­gen ist. Dies ist die bis­lang un­er­zähl­te Ge­schich­te ei­nes ein­zig­ar­ti­gen Kon­zerts in Ost­ber­lin und die Rol­le, die Bruce Springs­teen – viel­leicht un­wis­sent­lich – ge­spielt hat, als er eine Re­bel­li­on, die sich be­reits warm­lief, wei­ter an­heiz­te und einen Auf­stand be­feu­er­te, der schließ­lich die Mau­er weg­fe­gen soll­te.

Erik Kirsch­baum


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Das ori­gi­na­le Kon­zert­ti­cket mit „Ni­ka­ra­gua“-Auf­druck

Foto: Ge­rald Po­nes­ky

EIN­LEI­TUNG

You can’t start a fire wi­thout a spark

Dan­cing in the Dark

 

Bruce Springs­teen be­rei­te­te sich back­s­ta­ge auf das viel­leicht wich­tigs­te Kon­zert sei­ner Kar­rie­re vor, ein­ge­pfercht in ein Ka­buff, das pro­vi­so­risch als Um­klei­de­ka­bi­ne her­ge­rich­tet war. Auch die Büh­ne, vor der sich das rie­si­ge Ge­län­de der ein­s­ti­gen Ost­ber­li­ner Trab­renn­bahn an die­sem 19. Juli 1988 zu­neh­mend mit Hun­dert­tau­sen­den Men­schen füll­te, war ei­lig und reich­lich im­pro­vi­siert er­rich­tet wor­den. Springs­teen war mit 38 Jah­ren auf dem Hö­he­punkt sei­ner Kar­rie­re. Un­ter­wegs auf sei­ner „Tun­nel of Love Ex­press“-Tour durch Eu­r­o­pa hat­te sich über­ra­schend die Mög­lich­keit er­ge­ben, ein Kon­zert hin­ter dem Ei­ser­nen Vor­hang in Ost­ber­lin zu ge­ben. Und so wur­de der Ab­ste­cher in die DDR nur we­ni­ge Wo­chen vor dem Kon­zert in den Tour­plan auf­ge­nom­men. Trotz al­ler Im­pro­vi­sa­ti­on und feh­len­der Per­fek­ti­on: Die­se Ge­le­gen­heit woll­te sich Springs­teen nicht ent­ge­hen las­sen, und so saß er nun in sei­ner Ka­bi­ne auf dem rie­si­gen Feld im Ost­ber­li­ner Stadt­teil Wei­ßen­see – in der „Haupt­stadt der DDR“.

Die Luft war an­ge­spannt mit Vor­freu­de und Auf­re­gung über den Be­such ei­nes der größ­ten west­li­chen Rock­stars sei­ner Zeit. Springs­teen mag die In­spi­ra­ti­on für sei­ne Songs über die Flucht der Un­ter­pri­vi­le­gier­ten aus der Trost­lo­sig­keit, den Kampf der ein­fa­chen Leu­te um Wür­de und Ge­rech­tig­keit aus sei­nen Er­leb­nis­sen in sei­nem Hei­mat­staat New Jer­sey ge­won­nen ha­ben. Aber die Bot­schaft sei­ner Songs, die mal me­lan­cho­lisch, mal ex­plo­siv-kraft­voll vor­ge­tra­ge­ne Sehn­sucht nach Frei­heit und Ge­bor­gen­heit, nach Lie­be und Auf­bruch, die Mi­schung aus Ver­zweif­lung und Auf­be­geh­ren – die­se Bot­schaft war uni­ver­sell und sie ver­fing auch und ge­ra­de bei ei­nem Pu­bli­kum in der DDR, der Deut­schen De­mo­kra­ti­schen Re­pu­blik, das von ei­nem au­to­ri­tä­ren Re­gime al­ter Män­ner drang­sa­liert und hin­ter der Mau­er und dem Ei­ser­nen Vor­hang ein­ge­sperrt wur­de. Und so wälz­te sich ein nicht en­den wol­len­der Strom von Men­schen schon seit dem frü­hen Nach­mit­tag die­ses mil­den Som­mer­ta­ges auf das re­gen­nas­se Wie­sen­ge­län­de, das ein­mal die tra­di­ti­ons­rei­che Ber­li­ner Pfer­de­renn­bahn ge­we­sen war.

Trotz der er­war­tungs­vol­len und fried­li­chen At­mo­sphä­re auf dem Feld war die Stim­mung hin­ter der Büh­ne an­ge­spannt, als der Kon­zert­be­ginn nä­her rück­te, und die Men­ge auf dem Ge­län­de we­ni­ger als fünf Ki­lo­me­ter von der Mau­er ent­fernt auf 300.000 Men­schen – viel­leicht so­gar eine hal­be Mil­li­on – an­ge­wach­sen war.

An den Ein­gän­gen hat­te es ein der­ar­ti­ges Ge­drän­ge ge­ge­ben, dass die Ver­an­stal­ter der FDJ (Freie Deut­sche Ju­gend), des Ju­gend­ver­ban­des des kom­mu­nis­ti­schen Lan­des, kur­zer­hand die Ab­sperr­git­ter bei­sei­te räum­ten und die Leu­te fast un­kon­trol­liert auf das Ge­län­de strö­men lie­ßen. Al­lein das war eine be­mer­kens­wer­te Ka­pi­tu­la­ti­on in ei­nem strikt au­to­ri­tär struk­tu­rier­ten Land wie der DDR. Die Sze­ne hat im Nach­hin­ein et­was Vi­si­o­näres, glei­chen die Bil­der doch frap­pant je­nen beim Fall der Mau­er im No­vem­ber 1989.

Die Men­ge war be­geis­tert, vie­le konn­ten noch nicht recht glau­ben, dass der „Boss“ wirk­lich in ihr ab­ge­schot­te­tes Land ge­kom­men war, um ih­nen für ein paar wun­der­ba­re Stun­den eine Vor­stel­lung von der Frei­heit zu ge­ben, die für die al­ler­meis­ten trotz der geo­gra­fi­schen Nähe zum Wes­ten un­er­reich­bar war.

Auch für Springs­teen selbst er­füll­te sich mit dem Auf­tritt in Wei­ßen­see ein lang ge­heg­ter Wunsch. Seit er 1981 als ganz nor­ma­ler Tou­rist erst­mals einen Blick auf die öst­li­che Sei­te der Mau­er ge­wor­fen hat­te, woll­te er für die Men­schen dort spie­len, ih­nen eine sei­ner le­gen­dä­ren Vier-Stun­den-Non­stop-Shows lie­fern, die ihn auch im Os­ten be­rühmt ge­macht hat­ten.

Aber nun, kurz vor Kon­zert­be­ginn, war die Stim­mung hin­ter der Büh­ne ge­dämpft, und dies lag an ei­ner über­ra­schen­den Ent­de­ckung, die Springs­teen und sein Tross am Vor­tag ge­macht hat­ten. Als die Band in Ost­ber­lin ein­traf, muss­ten sie fest­stel­len, dass die Kon­zert­kar­ten mit dem La­bel „Kon­zert für Ni­ka­ra­gua“ ver­se­hen wa­ren. Un­ab­hän­gig da­von, ob Springs­teen Sym­pa­thi­en für die san­di­nis­ti­sche Re­gie­rung in La­tein­ame­ri­ka heg­te oder nicht, war ihm so­fort klar: Hier han­del­te es sich um einen Ver­such, sein Kon­zert und vor al­lem ihn per­sön­lich für die po­li­ti­schen Zwe­cke der DDR-Füh­rung zu in­stru­men­ta­li­sie­ren. Und wenn es et­was gab, was Springs­teen nicht ausste­hen konn­te, dann war es ge­nau das: Das Aus­schlach­ten sei­ner Be­rühmt­heit und sei­ner Wer­te für eine be­stimm­te po­li­ti­sche Ab­sicht.

Um die gan­ze Trag­wei­te der Pro­vo­ka­ti­on er­mes­sen zu kön­nen, muss man dar­an er­in­nern, dass Ni­ca­ra­gua zu je­ner Zeit ein Sym­bol für eine er­folg­rei­che so­zi­a­lis­ti­sche Re­vo­lu­ti­on war. Die lin­ken San­di­nis­ten hat­ten ein re­ak­ti­o­näres Re­gime ge­stürzt – und die USA un­ter Prä­si­dent Ro­nald Re­a­gan setz­ten über Jah­re hin­weg al­les dar­an, mit ei­nem heim­li­chen Kon­tra-Krieg nun wie­der­um eben die­se Re­gie­rung zu stür­zen. Auch vie­le Lin­ke im Wes­ten pil­ger­ten da­mals nach Ni­ca­ra­gua, um die San­di­nis­ten zu un­ter­stüt­zen oder tran­ken nur noch Kaf­fee aus dem mit­tel­ame­ri­ka­ni­schen Land, um dem er­folg­rei­chen, vom Volk ge­tra­ge­nen So­zi­a­lis­mus wirt­schaft­lich bei­zu­sprin­gen. Vor al­lem aber in den kom­mu­nis­ti­schen Län­dern wur­de „So­li­da­ri­tät mit Ni­ka­ra­gua“ (so die da­ma­li­ge Schreib­wei­se im Os­ten) zu ei­nem Syn­onym für den Kampf ge­gen die Vor­herr­schaft der USA, für die Kon­fron­ta­ti­on der Macht­blö­cke, zur Glei­chung So­zi­a­lis­mus ge­gen Ka­pi­ta­lis­mus.

Vor dem Hin­ter­grund die­ser auf­ge­heiz­ten Sym­bo­lik muss­te Springs­teen die De­kla­rie­rung sei­nes Auf­tritts als „Kon­zert für Ni­ka­ra­gua“ als das se­hen, was sie war: den Ver­such, den US-Star, der selbst längst zum ame­ri­ka­ni­schen Sym­bol ge­wor­den war, ge­gen sein ei­ge­nes Land in Stel­lung zu brin­gen, ihn für die Sa­che des So­zi­a­lis­mus zu ver­ein­nah­men, ihm den Stem­pel des Klas­sen­kamp­fes auf­zu­drü­cken. Das woll­te und konn­te Springs­teen nicht ak­zep­tie­ren, wie sehr er auch Ro­nald Re­a­gan und die Po­li­tik sei­ner Re­gie­rung ab­leh­nen moch­te.

Noch weit mehr em­pört über den plum­pen Ver­ein­nah­mungs-Ver­such zu­guns­ten of­fi­zi­el­ler DDR-Po­li­tik war Springs­teens lang­jäh­ri­ger Ma­na­ger und en­ger Freund Jon Land­au. „Es war eine Aus­nut­zung sei­nes Na­mens und eine kom­plet­te Fehl­in­ter­pre­ta­ti­on der Ab­sicht, die wir mit un­se­rem Kom­men ver­folg­ten“, sagt Land­au, noch heu­te ver­är­gert. Schnell war man sich ei­nig: Kei­nes­falls wer­de Springs­teen sich un­wi­der­spro­chen für eine kom­mu­nis­ti­sche Pro­pa­gan­da her­ge­ben. Den FDJ-Or­ga­ni­sa­to­ren wur­de dies rasch klar­ge­macht. Nach ei­ni­gem Hin und Her – die FDJ fürch­te­te schon, das gan­ze Kon­zert kön­ne ab­ge­sagt wer­den – wur­den die meis­ten der schon an­ge­brach­ten Trans­pa­ren­te ei­lig ent­fernt.

Zwar war der Alb­traum ei­nes in letz­ter Mi­nu­te ab­ge­sag­ten Kon­zerts ver­mie­den wor­den, doch Springs­teen woll­te nach all der Pro­pa­gan­da im Vor­feld ein paar di­rek­te Wor­te an das Pu­bli­kum rich­ten, um kla­r­zu­stel­len, war­um er nach Ost­ber­lin ge­kom­men war. Da­bei hat­te er nur Land­au ein­ge­weiht, was er sei­nen ost­deut­schen Fans sa­gen woll­te.

Um die Bot­schaft auch un­miss­ver­ständ­lich zu ver­mit­teln, ent­schied sich Springs­teen, auf Deutsch zu spre­chen. Also wand­te er sich an den ein­zi­gen Deut­schen in sei­nem di­rek­ten Um­feld, sei­nen Fah­rer und ge­le­gent­li­chen Dol­met­scher, einen jo­vi­a­len Bay­ern na­mens Ge­org Ker­win­ski. Ker­win­ski hör­te sich an, was Springs­teen sa­gen woll­te und skiz­zier­te einen Vor­schlag für die deut­sche Über­set­zung. Springs­teen dank­te ihm und ver­schwand ei­lig in Rich­tung Büh­nen­trep­pe. Se­kun­den spä­ter er­tön­te der ge­wal­ti­ge Er­öff­nungs­ap­plaus der größ­ten Men­schen­men­ge, vor der der Rock­star je­mals ge­spielt hat­te. Springs­teen be­gann ein Kon­zert, das Ge­schich­te schrei­ben soll­te.

Er woll­te of­fen­bar kei­ne Zeit ver­lie­ren, um dem Pu­bli­kum mäch­tig ein­zu­hei­zen und leg­te mit ei­ner oh­ren­be­täu­ben­den Ver­si­on von Bad­lands los, je­nem Auf­schrei ei­nes jun­gen Man­nes, der sich nach ei­nem bes­se­ren Le­ben sehnt – viel­leicht schon die ers­te Mes­sa­ge des im­mer noch auf­ge­brach­ten US-Stars an die DDR-Füh­rung. Das Pu­bli­kum re­a­gier­te fre­ne­tisch, selbst vie­le der zur Si­che­rung ab­ge­stell­ten zahl­lo­sen Sol­da­ten und Si­cher­heits­leu­te be­wahr­ten nur kur­ze Zeit ihre Di­stanz, dann er­la­gen auch sie der schie­ren Kraft der Springs­teen-Mu­sik und der über­bor­den­den Stim­mung und san­gen und tanz­ten mit.

Hin­ter der Büh­ne al­ler­dings be­schlich Ker­win­ski ein un­gu­tes Ge­fühl. War es wirk­lich eine so gute Idee, heim­lich ei­nem pro­mi­nen­ten US-Ame­ri­ka­ner da­bei zu hel­fen, eine – wenn auch kur­ze – Rede ge­gen die Mau­er auf Deutsch zu for­mu­lie­ren? Eine An­spra­che, die vie­len Men­schen mäch­tig Är­ger ein­brin­gen konn­te? Ker­win­ski lieb­te Springs­teen, sei­ne un­ge­teil­te Loy­a­li­tät ge­hör­te aber sei­nem ei­ge­nen Boss. Und so wand­te sich der baye­ri­sche Chauf­feur und Re­den­schrei­ber an sei­nen Bröt­chen­ge­ber, den Kon­zert­ver­an­stal­ter Ma­r­cel Avram.

Avram war ein er­fah­re­ner west­deut­scher Kon­zert­ma­na­ger, und ihm war so­fort klar, dass Är­ger droh­te. Ent­geis­tert wand­te er sich an Land­au: Der Ame­ri­ka­ner müs­se ver­hin­dern, dass Springs­teen sich an die Men­ge wand­te und da­bei Din­ge sag­te, die sie alle noch be­dau­ern könn­ten, for­der­te Avram ein­dring­lich. Das Kon­zert war mitt­ler­wei­le schon in sei­ner zwei­ten Stun­de und Land­au war auch selbst über­zeugt, dass er et­was un­ter­neh­men muss­te. Nie­mand wuss­te, wann sich Springs­teen an die Men­ge wen­den woll­te, die Bom­be konn­te je­den Au­gen­blick hoch­ge­hen! Land­au eil­te an den Büh­nen­rand und wink­te, um Springs­teens Auf­merk­sam­keit zu er­ha­schen. Schließ­lich kam der Sän­ger die kur­ze Trep­pe von der Büh­ne in den Back­s­ta­ge-Be­reich her­un­ter zu sei­nem Freund und Ma­na­ger. Auch Ker­win­ski wur­de her­bei­ge­ru­fen. Oben auf der Büh­ne spiel­te die Band der­weil wei­ter. Land­au mach­te Springs­teen deut­lich, dass sie die Rede leicht ab­wan­deln müss­ten. Ker­win­ski schrie sich die Keh­le aus dem Leib, um dem US-Sän­ger, der kein Wort Deutsch konn­te, in Laut­spra­che die neue For­mu­lie­rung bei­zu­brin­gen. Bei­de konn­ten sich we­gen des Lärms von der Büh­ne kaum ver­ste­hen.

Aber nach ei­ner Wei­le reck­te Springs­teen den Dau­men nach oben und lä­chel­te – er hat­te ver­stan­den und eil­te wie­der die Trep­pe hin­auf ins Ram­pen­licht. Nur Mi­nu­ten spä­ter, nach ei­ner phä­no­me­na­len und auf­peit­schen­den Ver­si­on von Born in the USA trat Springs­teen einen Schritt zu­rück, griff nach sei­nem Zet­tel und hielt sein flam­men­des Plä­doy­er für die Frei­heit.


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Ost­deut­sche Fans hal­ten ein Trans­pa­rent mit ei­ner hand­ge­mach­ten ame­ri­ka­ni­schen Flag­ge hoch.

Foto: Her­bert Schul­ze