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Das Buch

Das Schattenreich will ihre Seele und nur einer kann sie beschützen – leidenschaftliche Romantasy.

Ohne ihren besten Freund Tim hätte Angel den Unfalltod ihrer Mutter kaum verwunden. Sie selbst hat auf unerklärliche Weise überlebt, aber seit dem Unglückstag wird Angel von dunklen Visionen heimgesucht. Tim scheint ihr nicht zu glauben, denn je mehr sie ihm davon erzählt desto abweisender reagiert er. Irritiert versucht Angel, auf eigene Faust herauszufinden, was eigentlich los ist, und gerät zwischen die Fronten einer uralten Fehde. Sie ahnt nicht, dass sie auf der anderen Seite nur einer beschützen kann …

Die Autorin

© privat

Nadine Stenglein lebt mit ihrer Familie in Bayern. Schon als Kind liebte sie es, sich Geschichten auszudenken und diese niederzuschreiben. In ihren Romanen verarbeitet die Autorin auch gerne Beobachtungen und Szenen, die aus dem Leben gegriffen sind. Auch auf ernste Themen aufmerksam zu machen, nicht wegzusehen, ist ihr wichtig. Schreiben ist für die junge Autorin pure Leidenschaft.

Mehr über die Autorin auf:
www.instagram.com/nadinestengleinautorin

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Nadine Stenglein

Dark Crows
Seelenbegleiter

So fern und doch so nah,
wie sich das weite Meer
und der endlose Himmel sind,
wenn sie am Horizont
ineinanderzufließen scheinen,
so eng verbunden
und doch so weit entfernt
sind Diesseits und Jenseits,
sichtbare und unsichtbare Welt.
So fern und doch so nah
sind die Menschen,
die uns verlassen mussten
und doch immer zu uns gehören.


Irmgard Erath

Prolog

Ich fühlte mich leicht und schwerelos.

Aus dem Augenwinkel sah ich eine schwarze, in Nebel gehüllte Gestalt, die langsam näher kam. Sie war wie ein Schatten, ohne feste Konturen. Ich spürte eine sanfte Berührung an meinem Arm, dann ergriff jemand meine Hand.

Es war befremdlich, aber gleichzeitig hatte ich mich noch nie so geborgen gefühlt. Ein milder Windhauch strich über meinen Körper und vertrieb allmählich die Kälte, die mich bis dahin umfangen hatte.

Dann drückte etwas auf meine Brust, immer wieder. Mein Körper schien sich zu erheben, als würde ich aus einem tiefen Loch nach oben gezogen.

Eine kleine Ewigkeit später explodierte etwas in mir und hämmerte heftig gegen meine Rippen. Da begriff ich, es war mein Herz, das wiedererweckt worden war. Ein paar Wortfetzen und Sirenengeheul drangen dumpf zu mir durch. Leute beugten sich über mich, auch sie wirkten schattenhaft. In mir spürte ich ein Kribbeln, als würden in meinen Adern Tausende Ameisen einen Weg in die Freiheit suchen – so wie ich selbst mich aus diesem Nebel befreien wollte. Ich konnte mich nicht bewegen, aber langsam wurden meine Gedanken ein bisschen klarer. Blitzartig überkam mich wieder diese Angst: Gerade eben saß ich doch noch im Wagen neben meiner Mutter. Wo war sie, was war passiert? Die Leute über mir redeten auf mich ein. Ich wollte sie nach ihr fragen, doch ich brachte keinen Ton heraus und verstand auch gar nicht, was sie zu mir sagten. Ihre Stimmen klangen verzerrt, aber sanft, als wollten sie mich beruhigen. Doch dann drang er langsam zu mir durch, dieser Satz, den ich lange nicht wahrhaben wollte: „Alles wird gut, Angela.“

In beiden Welten

Drei Jahre später

Die Nacht brach herein. Unaufhaltsam legte sie sich über die kleine Scheune, in der ich mit ein paar Leuten aus der Highschool ein kleines Fest feierte. Sommerferien, endlich! Ausgelassen tanzte ich über den strohbelegten Boden und ließ die Welt um mich kreisen. Wie lange war es her, dass ich mich so gut und nahezu unbekümmert gefühlt hatte? Die Erinnerung reichte weit zurück, als wäre sie aus einem anderen Leben. Der Gedanke brannte sich unwillkürlich in mir fest. Ja, es war definitiv ein anderes Leben gewesen, als Mom noch gelebt hatte. Ich hörte ihr Lachen in der Erinnerung, Lichtjahre entfernt. Und dennoch spürte ich sie in meinem Herzen. Tim ging an mir vorbei und zwinkerte, was mich zum Schmunzeln brachte. Wieder einmal nahm er die dunklen Gedanken mit sich, ohne dass es ihm überhaupt bewusst war. Zumindest glaubte ich das.

Ich genoss seine Nähe, seine Berührungen, wenn wir tanzten, und seine Blicke auf meinem Körper. Ich liebte ihn – so sehr. Vom ersten Augenblick an hatte er mich in seinen Bann gezogen.

Mein Schmunzeln wurde zu einem Grinsen, wenn ich an unser erstes Aufeinandertreffen dachte. Tim war zwanzig und damit zwei Jahre älter als ich. Er und seine Freunde waren vor knapp zweieinhalb Jahren in unsere Kleinstadt Roseline gekommen, einer Quäkergemeinde im Herzen Indianas. Seitdem wohnten Tim und seine Clique in dem alten Haus der Meyers, die damals in ein Seniorenheim gezogen waren. Das Haus hatte das Ehepaar ihnen zu einem Spottpreis überlassen. Kein Wunder, es ächzte und knackte in vielen Ecken.

Dass Tim und seine Freunde ursprünglich aus Schweden kamen, merkte man ihnen kaum an. Sie hatten sich sogar unseren Akzent binnen kurzer Zeit angeeignet, als wären sie nie woanders gewesen. Über seine Heimat sprach Tim so gut wie nie, vielleicht weil die Erinnerungen zwangsläufig mit dem Tod seiner Eltern verbunden waren. Ein eiskalter Schauder überlief mich, wenn ich daran dachte. Er wollte nicht über den Flugzeugabsturz reden, bei dem sie ums Leben kamen, und ich wollte nicht nachbohren. Ich war sicher, dass er irgendwann von sich aus davon erzählen würde.

Unsere erste Begegnung fiel auf einen schwülen Sommernachmittag. Dad hatte mir Rollerskates mitgebracht, die ich gleich ausprobieren wollte. Die kleine abschüssige Straße in unserer Kleinstadt erschien mir ideal dafür, aber ich unterschätzte das Ganze genauso wie das Abbremsen und rauschte direkt auf Tim und seine Freunde zu, die am Ende der Straße standen und sich mit einem Nachbarn unterhielten. Mit einem hellen Aufschrei sauste ich Tim direkt in die Arme und riss ihn mit mir zu Boden. Peinlich und schmerzhaft! Wir trugen beide ein paar blaue Flecken davon. Aber es war auch das erste Mal, dass sich unsere Blicke trafen. Was für strahlend grünblaue Augen er doch hatte. Er nahm meinen Auftritt gelassen, für den ich mir auch Tage später noch gedankliche Ohrfeigen verpasste. Paps nahm mir die Skates sofort weg, er befürchtete, ich würde mir sonst vielleicht das Genick brechen - oder anderen.

Von da an ging Tim mir nicht mehr aus dem Kopf. Schwärmereien für Jungs waren mir natürlich nicht unbekannt, aber diese Art Kribbeln hatte bislang nur er in mir ausgelöst.

Während ich weiter in der Scheune tanzte und noch in Gedanken schwelgte, ergriff jemand meine Hand und zog mich in Richtung der kleinen Bar, die mit bunten Glühbirnen beleuchtet war. Ich blinzelte und sah Tim vor mir herlaufen. Erst an der Bar ließ er mich los. Meine Wangen erhitzten sich noch einmal mehr, als ich ihn ansah. Ich atmete den Duft des Strohs ein, den ich so liebte, und bestellte mir noch einen dieser Sektcocktails.

„Das ist doch schon …“, setzte Tim an.

„… ja, mein Dritter“, ergänzte ich schnell.

Aber Tim konnte man nicht so leicht übers Ohr hauen.

„Dein Fünfter trifft es wohl eher“, bemerkte er und zog die Brauen lächelnd nach oben.

Ich winkte ab. „Da ist mehr O-Saft als Alkohol drin“, beruhigte ich ihn. Das stimmte wirklich!

Kopfschüttelnd nippte ich an meinem Drink und genoss das leicht schummrige Gefühl, das er in meinem Kopf auslöste, und das ja genaugenommen weniger am Alkohol lag. Schon zog Tim mich weiter, zurück zur Tanzfläche. Mira, meine beste Freundin seit dem Kindergarten, hatte uns entdeckt und heftete sich an unsere Fersen. Wie so oft war sie in Begleitung ihres schneeweißen Pudels Susi, den sie auf den Armen trug.

Die Musik aus der Stereoanlage wummerte durch die Scheune. Ich spürte den Bass in mir. Mira wippte leicht hin und her, während Susi wild hechelte. Kurzerhand drückte sie Tim die Hundedame in die Arme und begann mich anzutanzen. „Nur kurz“, bat sie Tim und zwinkerte ihm zu. Der verdrehte die Augen, nickte und begann Susi zwischen den Öhrchen zu kraulen. Ich versuchte mir meine kleine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

Mira war ein echter Wirbelwind, der mich mit sich riss. Wir begannen zu lachen, Tim sah uns zu, bis ein paar Jungs zu ihm stießen und ihn auf einen Drink einluden.

„Na komm schon, Alter. Du wolltest schon vor einer halben Stunde bei uns gewesen sein“, sagte Mitch, ein Junge aus der Nachbarschaft.

Keinesfalls wollte ich, dass er meinetwegen seine Freunde vernachlässigte.

„Geh ruhig. Wir können ja später noch eine Runde tanzen“, sagte ich deshalb und schenkte ihm ein ehrliches Lächeln.

Kurz zögerte er mit einer Antwort. Dann fand er einen Kompromiss: „Also gut. Bin bald zurück.“

Ich nickte und er hauchte mir einen Kuss auf die Stirn, der mich erneut aus der Bahn warf. Überrascht sah ich ihm hinterher und befühlte die Stelle, an der er mich eben berührt hatte. Mit diesen weichen, wundervollen Lippen!

Doch bald wich das aufregende Kribbeln in meinem Magen einem seltsamen Grummeln, während Mira unaufhörlich neben mir kicherte, als hätte sie gerade den besten Witz der Welt gehört. Ihre blonden, schulterlangen Locken wippten dabei wie kleine Schaukeln im Wind und ihre Wangen glänzten rot wie ein Sonnenuntergang. Der Grund dafür war nicht schwer zu erraten: Neben ihr stand ein junger, sportlich aussehender Mann, der sie anhimmelte, als wäre er von ihr verzaubert worden.

Ich beschloss, ihr den Flirt zu gönnen und sie ein wenig allein zu lassen. Ich wusste ja, wie sehr sie sich einen Freund wünschte, aber noch war der Richtige nicht dabei gewesen. Also ging ich nach draußen, setzte mich nahe der Scheune auf eine Holzbank und blickte in den sternenklaren Nachthimmel. Tief atmete ich die frische Luft ein und hoffte, dass sich dieses seltsame Gefühl in meinem Magen bald verflüchtigen würde. Fehlanzeige! Mit der Zeit wurde es immer schlimmer.

„Da bist du ja. Ist alles okay mit dir?“, wollte Mira hinter mir wissen und scannte mich regelrecht.

Ich winkte ab. „Ja, ich brauch nur etwas frische Luft.“

Stirnrunzelnd setzte sie sich neben mich und zupfte an ihrer weißen Strickjacke, während Susi aufgeregt vor uns hin und her lief.

Hast du den süßen Typ vorhin gesehen?“, fragte Mira.

Ich lächelte schief. „Meinst du den, den du verhext hast?“

Ihre Augen weiteten sich und sie kicherte. „Ja, das hoffe ich. Der ist die Wucht. Voll süß … Er kommt aus dem Nachbarort. Schade nur, dass wir morgen Mittag schon fliegen. Aber er sagte, er wartet auf mich … Stell dir das vor. Wir werden einen ganzen Monat lang eine Fernbeziehung führen. Wenn das geschafft ist, dann schaffen wir alles.“

Ich schüttelte den Kopf. „Moment, ihr habt euch doch gerade erst kennengelernt. Du bist echt ein verrücktes Huhn.“

„Du wirst sehen. Das ist der Richtige. Ich fühle es ganz genau“, entgegnete Mira überzeugt. Keine Frage, es hatte sie richtig erwischt, was mich für sie freute. Ich hoffte nur, dass dieser Junge wirklich wusste, welch kostbaren Schatz er da bekam.

„Und du und Tim?“, fragte Mira dann wie nebenbei.

Mein Magen rührte sich wieder. „Was soll mit uns sein?“

Mira verzog einen Mundwinkel. „Ja was, das frag ich mich eben … schon ewig.“

Ich seufzte. „Keine Ahnung.“

Mira stöhnte. „Na, dann frag ihn halt einfach. Das habe ich dir schon tausendmal gesagt. Ich glaube, ihr seid beide nur zu feige, um euch einzugestehen, dass ihr mehr als Freunde seid.“

Als wenn es so einfach wäre!

„Jetzt redest du wie Mom früher, als …“, rutschte es mir heraus.

Ich hielt inne und Miras Lächeln verschwand. Schweigen legte sich zwischen uns.

Unwillkürlich ergriff ich das Goldkettchen mit dem aufklappbaren Medaillon, auf dem ein silbernes Kleeblatt eingraviert war. Es war ein Geschenk meiner Mutter Emma. Ein Kloß schob sich in meine Kehle. In dem kleinen Anhänger bewahrte ich eine Locke ihres Haares auf, die ich ihr heimlich am offenen Sarg abgeschnitten hatte. Sie war ein Glücksbringer für mich, der mir Kraft gab.

„Sag es ihm … bevor es zu spät ist“, bemerkte Mira sanft, strich mir über den Arm und erhob sich. Dann zwinkerte sie mir zu. „Kommst du mit? Tanzen? Das vertreibt so manchen Kummer.“

Sie streckte mir eine Hand entgegen. Leicht schüttelte ich den Kopf.

„Ich bleib noch. Nicht böse sein. Okay?“

„Okay. Ich warte drinnen auf dich.“ Nach ein paar Schritten drehte sie sich noch mal nach mir um. „Und böse könnte ich dir eh nie sein. Obwohl, wenn du Tim nicht bald -“

„Hau schon ab“, rief ich und musste lachen. Ihre kleine weiße Pudeldame folgte ihr.

Auch nach weiteren zehn Minuten fühlte ich mich nicht besser. Das komische Magengrummeln hielt sich hartnäckig, aber wenigstens schien es nicht schlimmer zu werden. Schließlich kam Tim zu mir. Er war guter Laune, und die wollte ich ihm nicht verderben. So gut es ging, straffte ich die Schultern und versuchte gut gelaunt auszusehen.

„He, hab dich vermisst. Kommst du wieder mit rein?“, fragte er.

„Ich brauch noch etwas frische Luft und Ruhe.“ Tim runzelte die Stirn und wollte gerade noch etwas erwidern, da rief Leon, einer seiner Freunde, nach ihm.

„Tim, komm mal schnell. Ist dringend!“

„Geh schon. Ich komm nach“, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln. Verdammter

Alkohol!

„Aber …“

„Komm schon. Ist wirklich nicht schlimm.“

Er hob einen Finger. „Na gut. Aber ich komme zurück und hole dich, wenn du nicht in fünf Minuten drin bist.“

Nun musste ich lachen. Es war rührend, dass er so besorgt war. „Ja, ist gut!“

Sobald er weg war, erhob ich mich langsam und beschloss, ein Stück zu laufen. Ein paar Meter von der Scheune entfernt erstreckte sich ein kleines Waldstück. Der Duft von Holz, Erde und Gras umhüllte mich, als ich den schmalen Weg betrat. Sobald ich die erste Lichtung passiert hatte, hüllte der Wald einen dunklen Mantel um mich. Dennoch konnte ich noch genug sehen, denn der Vollmond warf seinen silbernen Schein durch das Blätterdach der Bäume. Irgendwie zog mich die Magie der Nacht an. Ich dachte an das, was Tim vorhin gesagt hatte - er hätte mich vermisst. Mein Herz schlug ein wenig schneller. Vielleicht fühlte er ja wirklich das Gleiche für mich wie ich für ihn. Während ich so wanderte und meinen Gedanken nachhing, kam ich bald zu einer neuen Lichtung.

Mein Vater würde toben, wüsste er, dass ich zu dieser Zeit hier draußen allein umherlief. Seit dem Tod meiner Mutter war er überängstlich geworden.

Eine Wiese erstreckte sich jenseits der Lichtung, in der Nähe hörte ich einen Raben. Sein Krächzen ging mir durch und durch. Allmählich fühlte ich mich etwas besser und beschloss umzukehren. Mit etwas Glück hatte Tim sich schon nach mir umgesehen.

Gerade als ich zurück in den Wald laufen wollte, spürte ich einen Windhauch an meiner Seite und hörte das Geräusch eines Flügelschlags, als plötzlich der Rabe direkt an mir vorbeiflog. Vor Schreck sog ich scharf Luft ein, meine Haut begann am ganzen Körper unangenehm zu prickeln. Etwas Spitzes streifte meinen Hals, wobei mein Kettchen riss. Lautlos verschwand der Vogel danach über die Wiese.

Ein paar Sekunden stand ich wie versteinert da, dann bückte ich mich und befühlte hektisch das Gras. Die Kette, sie musste doch hier sein. Wieder und wieder tastete ich den Boden mit meinen Händen ab, aber ich fand sie nicht.

Abermals hörte ich den Vogel krächzen. Kurz darauf kam er zurück und ließ sich einen Meter von mir entfernt auf der Wiese nieder. Ich konnte kaum glauben, was ich sah. In seinem Schnabel baumelte mein Kettchen und das Licht des Mondes verfing sich in dem goldenen Anhänger. Das durfte doch nicht wahr sein! Was für ein frecher Vogel!

„Bleib bloß sitzen … ja, so ist brav, braver Rabe“, sagte ich sanft und machte ganz langsam einen Schritt auf ihn zu. Tatsächlich blieb er an Ort und Stelle. Ich ging also einen Schritt weiter. Leicht neigte er den Kopf zur Seite. Allmählich kam es mir vor, als wollte er mich auf den Arm nehmen. „Alles gut … alles gut. Du hast da nur was, das ich wiederhaben will.“

Auch kam mir seltsam vor, dass er tatsächlich stillhielt. Es schien, als wäre er Menschen gewohnt. Ich ging in die Hocke. Nur noch eine Armlänge war ich von ihm entfernt. Ganz langsam beugte ich mich etwas nach vorne und bewegte meinen Arm auf ihn zu, woraufhin seine schwarzen Knopfaugen funkelten.

Es war verrückt. Ich saß hier mitten in der Nacht auf einer Wiese und versuchte, einem ausgefuchsten Raben eine Kette aus seinem Schnabel zu ziehen. Ganz kurz berührten meine Fingerspitzen den Anhänger, woraufhin der Vogel mit den Flügeln flatterte und sich in die Lüfte erhob.

„Nein!“, schrie ich und eilte ihm hinterher. „Bleib hier … Komm zurück … Bitte, komm zurück! Was ist denn los mit dir? He!“

In Erinnerung sah ich meine Mutter vor mir, wie sie mir das Kettchen umlegte und ich mich damit stolz im Spiegel betrachtete. „Es soll dir immer Glück bringen“, hatte sie damals gesagt. Danach verabschiedeten wir uns von meinem Vater und stiegen in dieses verdammte Auto. Ich musste die Kette unbedingt wiederhaben.

In der Seite spürte ich ein leichtes Stechen, aber es war mir egal. Der Rabe flog einen Halbkreis und kam wieder auf mich zu. Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten, als er wenig später über mich hinwegflog. Gerade als ich ihm etwas zurufen wollte, stieß ich mit den Füßen gegen etwas Hartes und verlor das Gleichgewicht.

Mein Gehirn malte sich aus, auf dem Wiesenboden zu landen. Aber es kam anders. Wasser, da war Wasser. Ich tauchte unter, tiefer und tiefer. Als würde mich etwas nach unten ziehen. Meine Gedanken explodierten. Ich musste mich zusammenreißen, auftauchen und hinausklettern. Bleib ruhig, alles wird wieder gut. Ich bewegte mich, doch der Schock saß so tief in meinen Knochen, dass sie schwer wie Blei wirkten. Das kann doch nicht sein. Es ist doch nur ein Teich. Mit aller Kraft stieß ich nach oben, als das Licht des Mondes, welches die Oberfläche durchbrochen hatte, erlosch. Irgendetwas hatte sich davorgeschoben, es schwebte dicht über dem Wasser und bedeckte dieses beinahe gänzlich. Meine Finger durchdrangen die Wasseroberfläche und bohrten sich in etwas, das sich anfühlte wie weicher Flaum. Ich tastete hektisch abwechselnd nach rechts und links, doch das Ding über dem Wasser bewegte sich keinen Millimeter. Was um alles in der Welt war das nur?

Schließlich schaffte ich es nicht mehr, die Luft in meinen Lungenflügeln zu halten und mein Mund öffnete sich wie von selbst.

Modriges Wasser flutete meine Kehle. Ein paar Sekunden konnte ich die Lippen nochmals aufeinanderpressen, während meine Lunge vor Schmerz stach. Ich musste einsehen, dass ich den Kampf verloren hatte. Ich fühlte mich schwerer und sank. Die Oberfläche entfernte sich immer weiter und ich hatte das Gefühl, mein Herzschlag würde aussetzen. Die Konsistenz des Wassers kam mir schwammiger vor, flüssigem Beton gleich, der langsam zu erhärten und mich einzumauern schien. Ich war allein und mir war eiskalt vor Angst.

Ich sank und sank, und je tiefer ich fiel, desto vertrauter wurden die Bilder, die vor meinen Augen auftauchten. Erst schwach, dann stärker. Es waren Schnappschüsse aus meinem Leben. Mein Gehirn spuckte sie aus wie eine Datei. Doch wer hatte sie geöffnet und warum? Plötzlich begannen sie sich zu bewegen, wurden deutlicher.

Ich sah mich als Baby auf den Armen meiner Mutter. Tränen tropften in ihr braunes Lockenhaar, während sie mich anlächelte. Oh Mom!

Eine milde Welle umspielte meinen Körper wie aus dem Nichts, als wolle sie mich beruhigen. Ich versuchte mich zu wehren, zu kämpfen, aber alles an mir blieb starr. Ich wollte nach Hause zu meinem Vater, doch diese unheimliche Diashow nahm kein Ende.

Mein Herzschlag schien einzufrieren und die Bilder vor mir wurden zeitweise undeutlicher. Auf einem von ihnen tauchte das Gesicht meines Vaters auf und ein unendlicher Schmerz überkam mich. Was würde aus ihm werden, wenn ich nun …?

Ein besorgter Ausdruck lag auf seinem Gesicht, die grauen Augen wirkten wie von einem Schleier überzogen matt, seine Falten schienen tiefen Einschnitten gleich und das kurze Haar weißer. Ich musste zurück. Noch nicht, noch nicht, das konnte nicht das Ende sein.

Dann ein weiterer Film, der Schlimmste von allen. Meine Mutter und ich im Auto. Ihre aufgerissenen Augen, als sie den Lkw bemerkte. Sie sah ihn zuerst. Und bremste sofort, aber es reichte nicht.

Sie starb noch an der Unfallstelle, während ich mit schweren inneren Verletzungen ins Krankenhaus kam. Die Ärzte hatten mich fast aufgegeben, sie bezeichneten mein Überleben später als Wunder.

Würde ich Mom jetzt wiedersehen? Die Frage allein tröstete mich. Ich würde ihr sagen, wie leid mir alles tat. Es war doch meine Schuld, ohne mich würde sie noch leben. Ich hätte sie nicht ablenken dürfen.

Die Bilder wurden schwächer. Das restliche Leben floss aus meinem Körper und schien eins mit dem Wasser zu werden. Bevor ich die Besinnung verlor, hörte ich ein grässliches Kreischen und bemerkte, wie die Oberfläche des Wassers aufgepeitscht wurde, auch wenn ich von dieser schon weit entfernt sein musste. Meine Lider waren schwer wie Blei, sodass ich es nur noch wenige Sekunden schaffte, sie halbwegs offen zu halten. Dann spürte ich, dass etwas unter mich griff und ich emporgehoben wurde.

Nach einer Weile fühlte ich meinen Herzschlag wieder. Es war wie eine Art Déjà-vu, denn es erinnerte mich an das Erlebnis, das ich nach dem Unfall gehabt hatte.

Der Boden unter mir war weich und kein bisschen kalt. Ein sanfter Windhauch streifte meine Wange. Ich fühlte mich kaum vorhanden, einer Wolke gleich. Das Streicheln wurde intensiver, es tat gut. Langsam öffnete ich die Lider. Ein Schleier lag über meinen Augen, den ich wegzublinzeln versuchte.

Über mir strahlte der silbrige Vollmond, sonst war niemand zu sehen. Ich stemmte meine Hände in den Wiesenboden und richtete mich auf. Die nasse Kleidung klebte an meiner kühlen Haut. Vor mir entdeckte ich den Teich, in den ich gefallen war. Wer hatte mich gerettet?

Direkt hinter mir hörte ich ein Krächzen und wandte mich erschrocken um. Viele kleine, runde Augen, in denen sich das Licht des Mondes spiegelte, verfolgten jede meiner Bewegungen. Sie gehörten bestimmt mehr als hundert Raben, die sich in unmittelbarer Nähe niedergelassen hatten.

Hastig erhob ich mich, doch meine Beine zitterten so stark, dass ich gleich wieder auf die Knie sank. Erneut durchbrach das Krächzen der Raben die Nacht. Zwischen ihnen entdeckte ich den Vogel, der mir die Kette gestohlen hatte. Sie baumelte um seinen Hals. Er kam nach vorne und stolzierte vor den anderen auf und ab, als wollte er damit angeben. Am liebsten hätte ich mich auf ihn gestürzt und ihm die Kette entrissen. Seine Freunde begannen zu krächzen. Ihre dunklen Rufe trafen mich bis ins Mark. Waren sie es etwa gewesen, die sich über dem Teich getummelt hatten? Wollten sie mir das Leben aushauchen? War das alles überhaupt real oder nur ein Traum?

Nochmals versuchte ich auf die Beine zu kommen, was mir nur halbwegs gelang. So schnell wie möglich wollte ich hier weg. Da bemerkte ich, dass es dunkler wurde, als hätte sich eine Wolkenbank vor den Mond geschoben. Aber dem war nicht so.

Wind kam auf und das Geschrei der Raben verhallte allmählich. Sekunden später drang ein neues Geräusch zu mir, was mich instinktiv nach oben blicken ließ. Etwas näherte sich in raschem Tempo. Was um alles in der Welt war das? Es hatte mächtige schwarze Schwingen und schwebte über mich und die Raben hinweg, direkt auf den Wald zu, in dem es verschwand. In meinem Kopf braute sich ein Gewitter zusammen. Die Raben kamen mit gespreiztem Gefieder trappelnd näher, während ich etwas zurückwich. Die Wipfel der Waldbäume wogten sanft hin und her.

Wieder begannen die Vögel ihr dunkles Lied und schritten aufgeregt durcheinander. Es schien mir, als suche jeder einen bestimmten Platz. Ich konzentrierte mich auf das Laufen, ich musste laufen. Nach ein paar weiteren Versuchen schaffte ich es endlich, mich auf den Beinen zu halten.

Silbriges Licht drang aus dem Wald. Die Raben standen nun still, sie hatten eine Art Weg gebildet, den sie rechts und links säumten. Langsam bündelte sich das Licht und floss auf mich zu. Mir stockte der Atem und ich erstarrte, während ich dem Lichtfluss zusah, der immer näher kam und kurz vor meinen Füßen innehielt. Er glitzerte, als wäre das Licht des Mondes auf die Wiese gekrochen.

Die Raben schlugen aufgeregt mit den Flügeln. Die Blätter des Waldes rauschten wie ein Meer im Sturm, während unter den Bäumen eine Gestalt auf den Lichterteppich trat.

Das Herz schlug mir bis zum Hals. Sie glich einem menschengroßen Raben, in dessen schwarzen Augen ein silberner Schimmer lag. Der Körper wirkte verschwommen, als würde er sich auf einem Teich spiegeln. Je näher sie kam, desto mehr formte sie sich zu einer Frauengestalt in einem bodenlangen, schwarzen Mantel. Ihre Schritte waren elegant, kein Makel schien sie zu behaften. Das Gesicht wie aus Porzellan, die Lippen dünn und dunkelgrau. Langes schwarzes Haar umrahmte ihr Antlitz und floss gleichmäßig über ihre Schultern.

Die Luft schien gefüllt mit Eiskristallen, die meine Lungenflügel langsam gefrieren ließen. Das konnte doch nicht wirklich passieren.

Ich presste eine Hand auf meinen Brustkorb und öffnete die Lippen. Dieses Wesen strahlte eine ungeheure Kälte aus. Anmutig und langsam streckte sie die Arme nach mir aus, ich ahnte, dass sie mich mit sich nehmen wollte. Dann spreizte sie ihre langen, dünnen Finger. Ich versuchte mich abzuwenden, doch ihr Blick zog mich in seinen Bann und mir war, als würde sie mich damit lähmen. Ich konzentrierte mich auf meine Lider und schaffte es irgendwie, sie langsam zu schließen.

Urplötzlich streifte mich ein milder Luftzug und ich hörte ein kurzes Aufkreischen. Sofort schlug ich die Augen auf und erkannte eine weitere Kreatur, welche sich zwischen mir und dieser rabenähnlichen Gestalt niedergelassen hatte. Sie stand mit dem Rücken zu mir.

Seltsam! In mir spürte ich eine angenehme Wärme aufsteigen, die mich melancholisch stimmte, und ich begriff, dass dieses Wesen, welches eben hinzugestoßen war, sie ausstrahlte. Normalerweise hätte ich Angst vor ihm haben müssen. Doch dem war nicht so. Ehrfurcht traf es eher. Das Wesen war umhüllt von einer Art durchsichtigen Schleier, der seine Konturen verwischte. Während es sich zu mir umdrehte, geschah etwas mit ihm. Es wandelte sich, wie es dieses andere Wesen getan hatte, und glich danach einem Menschen, genauer gesagt einem jungen Mann. Er musterte mich. Seine Augen waren das Einzige, was ich klar und deutlich sehen konnte. Es machte mir nichts aus, mich auf diesen Blick einzulassen, er fesselte mich auf eine andere, gefühlvollere Art.

Als ich mich darin fallen ließ, war mir, als sähe ich in ein Meer, in dem sanfte Wellen wogten. Es kam mir verrückt vor, aber seine Nähe vermittelte mir das Gefühl von Sicherheit. Er trug einen schwarzen Mantel, das Haar war kurz und tiefschwarz wie das Gefieder der Raben …

Aus dem Wald drang die Stimme von Mira.

„Angela!“ Was machte sie hier?

Der junge Mann zeigte auf mich.

„Geh, deine Zeit ist noch nicht gekommen.“

Seine Stimme klang wie ein sanfter Donner.

„Nein!“, rief die Frau.

Die Raben schlugen mit den Flügeln, dieses Mal noch schneller und wilder als vorhin. Der Wind, den sie dadurch verursachten, schien sich zu einem Sturm zusammenzuziehen.

Ich blickte an dem jungen Mann vorbei und sah, wie die Rabenfrau näher kam. Dabei spreizte sie ihre Finger und streckte die Arme zur Seite, während sich blitzschnell unzählige Federn durch ihre Haut bohrten und zu mächtigen Flügeln heranwuchsen. „Lauf jetzt, Angel!“, rief der Mann. Die Wellen in seinen Augen wurden stärker. Ich wusste, es war keine Bitte, sondern ein Befehl.

„Woher kennst du meinen Namen? Wer seid ihr? Was …?“

„Ich kenne alle eure Namen“, unterbrach er mich unwirsch. „Jetzt lauf in den Wald, mach schon. Beeil dich. Du schaffst das. Deine Freunde warten auf dich, bleib bei ihnen. Los!“

Obwohl ich völlig durcheinander war, tat ich, worum er mich bat. Hinter mir krächzten die Raben, lauter und lauter.

Ohne auch nur einmal innezuhalten, rannte ich, bis ich im Wald ankam. Das konnte doch alles nur ein Traum sein, so wie es wohl auch damals am Tag des Unfalls der Fall gewesen war. Oder etwa nicht? Hatte ich damals vielleicht schon Kontakt zu einem dieser Wesen gehabt? Es gab aber auch noch eine Möglichkeit, die mir richtig Angst machte. Meine Gedanken fuhren Karussell, ich kam einfach zu keiner brauchbaren Antwort.

Neues Sein

Nachdem ich die Waldgrenze passiert hatte, blendete mich ein Lichtschein. Sekunden später riss mich Mira beinahe um, so stürmisch umarmte sie mich. Meine Knie zitterten vor Angst und Aufregung. Susi beschnupperte mich und sprang vor mir auf und ab.

Mira wich ein Stückchen zurück. „Da bist du ja. Meine Güte, du bist ja … klatschnass. Was ist denn passiert?“, fragte meine Freundin mit großen Augen.

Sie und Susi waren nicht allein, eine Minute später stieß Tim zu uns.

„Alles okay?“, fragte er hektisch.

Ich war so froh, die beiden zu sehen, dass mir Tränen übers Gesicht rannen, die ich schnell wegwischte. „Ich weiß nicht … vielleicht bin ich auch nur verrückt geworden“, stammelte ich und wandte mich um. Dann zwickte ich mir ein paarmal in den Arm, um sicherzugehen, dass ich wirklich wach war.

„Was … was war denn nun los?“, wollte Mira wissen und richtete die Taschenlampe auf mich.

Ich holte noch zwei Mal Luft, dann stotterte ich: „Ich … ich bin in einen Teich gefallen, wäre fast ertrunken und … dann hat mich jemand nach oben gezogen … Er hat mir damit … er hat mir wirklich das Leben gerettet.“

Ich konnte es selbst noch nicht fassen und glauben. Aber so war es ja gewesen.

„Was?“, riefen beide gleichzeitig.

Tim nahm mein Gesicht in seine Hände, was ein unbändiges Kribbeln in mir auslöste und die Angst ein wenig vertrieb.

„Wir müssen dich in ein Krankenhaus bringen. Ist dir schlecht oder so? Warum bist du eigentlich abgehauen? Was war los? Erzähl mal von vorn.“

Statt zu antworten, starrte ich ihn nur an. Seine Augen waren dunkel, dennoch glitzerten sie wie die Sterne am Firmament.

„Wow, wow, wow“, unterbrach Mira ihn. „Mal langsam. Eine Frage nach der anderen. Die Arme zittert ja am ganzen Leib.“

Tim zog mich an sich. Seine Umarmung war wie eine warme Decke und brachte das Kribbeln in mir zum Knistern.

„Das wärmt dich … He, lass uns hier besser schnellstens verschwinden“, flüsterte er. Glaubte er etwa, uns würde jemand belauschen?

„Wieso? Hast du auch etwas gesehen?“, sprudelte es aus mir heraus.

Er legte die Stirn in Falten.

„Was meinst du?“

„Na ja … Raben zum Beispiel. Viele … Raben“, stieß ich aus.

Langsam schüttelte er den Kopf und auch an Miras Reaktion erkannte ich, dass sie nicht wusste, wovon ich sprach. Also hatten die beiden nichts gesehen. Nur ich.

Was, wenn ich die gleiche Krankheit bekam wie Tante Elli, die verrückt geworden war? Die Angst übernahm wieder das Zepter.

Elli war die Schwester meiner Mutter. Sie starb vor ein paar Jahren an einem Gehirnschlag. Ihre Krankheit fing harmlos an, da war sie etwa in meinem Alter, und es wurde stufenweise immer schlimmer. Am Ende hatte sie sogar Autos mit Schafen verwechselt.

„Vergesst es“, sagte ich schnell und verdrängte den Gedanken. Vielleicht hatte auch nur das Wasser meine Sinne verwirrt. Aber wer um alles in der Welt war mein Retter gewesen? Wer waren diese Wesen?

„Ich denke ein Sturm zieht auf … deshalb sollten wir schleunigst zurück. Was anderes meinte ich nicht … He Angela, du weißt doch, du kannst mir alles erzählen. Nicht wahr?“, sagte Tim.

Ich nickte.

„Lass uns gehen.“

Der Wind fegte kühl durch die Baumwipfel und ließ die Blätter wieder erzittern. Während wir weiterliefen, wagte ich es, mich noch einmal umzusehen. Die Raben konnte ich nicht mehr hören und auch sonst nichts Außergewöhnliches entdecken. Doch kurz bevor wir den Wald verließen, machte Susi plötzlich kehrt und verschwand bellend zwischen den Bäumen. Mira wollte ihr folgen, doch Tim hielt sie mit festem Griff zurück.

„Was soll das? Ich muss sie doch holen“, rief Mira außer sich.

„Nein, du bleibst. Ruf nach ihr“, zischte Tim.

Mira sah ihn entrüstet an. „Was ist denn los mit dir?“

Mach es einfach, Mira.“

Seine ruppige Art irritierte auch mich.

Mira rief nach dem Hund, doch er kam nicht und nach einer Weile verstummte sogar das Bellen. Gänsehaut überzog meinen Körper.

Erneut wollte sich Mira voller Sorge losreißen, doch Tim war stärker. Auch ich machte mir Sorgen. Um uns alle!

Tim pfiff einmal laut durch die Zähne, und tatsächlich kam Susi kurz darauf zurück. Mira und ich tauschten verwunderte Blicke, bis sie hüpfend vor Glück ihr Hündchen auf den Arm nahm. Es schien, als wollte Susi sich in Miras Armbeuge regelrecht verkriechen.

„Böse, böse Susi“, schimpfte Mira sie.

„Kannst du dich auch leiser äußern“, raunte Tim ihr zu, was Mira sofort verstummen ließ.

Sie gab Susi ein paar Küsschen zwischen die weißen Ohren und schmollte danach in Tims Richtung. Der konzentrierte sich jedoch vielmehr auf Susi und zog ihr etwas Schwarzes aus dem Fell. Beim genaueren Hinsehen erkannten wir, dass es eine Feder war.

„Sieht aus, als hätte sie mit einem Vogel gekämpft“, sinnierte er laut und schob uns dann voran. „Los jetzt. Weg hier.“

Einem Raben etwa? Ein leichtes Zittern durchfuhr mich. Tim packte mich an einer Hand und zog mich weiter. Jeder Schritt hallte lauter in meinen Ohren, schwoll zu einem regelrechten Rauschen an, das erst aufhörte, als wir bei der Scheune ankamen. Es kam mir vor, als wären wir eine Ewigkeit unterwegs gewesen. Aber die Party war noch in vollem Gange. So lang konnte es also nicht gewesen sein.

„Am besten fahr ich dich gleich mit Joeys Wagen ins Krankenhaus. Du brauchst einen Arzt“, schlug Tim vor.

Sofort wiegelte ich ab. „Nein, nicht ins Krankenhaus. Mir geht’s gut. Wirklich.“

Er sah mich forschend an.

„Bist du sicher? Ich …“

Fast hätte ich die Augen verdreht. „Ganz sicher, Tim. Bitte.“

Er nickte und führte mich seufzend zum Wagen, wo er mir eine Decke umlegte. „Aber ich fahre dich wenigstens nach Hause.“

Dagegen hatte ich nichts.

„Soll ich mitkommen?“, fragte Mira, schielte jedoch in Richtung der Scheune.

Ich streichelte Susi und schüttelte den Kopf.

„Ich denke, du solltest besser noch bleiben“, erwiderte ich grinsend. „Wir quatschen morgen via Telefon.“

Mira sah abwechselnd von mir zu Tim und zurück. „Okay, Süße“, meinte sie dann an mich gewandt und gab mir einen Abschiedskuss auf die Wange. „Mann, bin ich froh, dass dir nichts weiter passiert ist.“

Ich presste die Lippen aufeinander und nickte, während Tim schon einstieg. Er schien es ziemlich eilig zu haben.

Ich winkte Mira zum Abschied zu.

Kann losgehen“, rief Tim.

Ich sog seinen Duft ein. Er roch gut, nach Heu und irgendwie auch ein wenig nach Zimt.

„Nun hoffen wir mal, dass der Karren hält. Joey hat ihn selbst repariert. Irgendwas an der Bodenwanne …“, erklärte er wie nebenbei.

Kurz musste ich lachen. Ich mochte Joey. Er war einer von Tims Freunden, der mit in dem Haus der Meyers wohnte. Ehrlich gesagt hätte es mir nichts ausgemacht, wenn Joey ein kleiner Fehler bei der Reparatur unterlaufen wäre …

Der Wagen holperte über einen alten Feldweg. Die Baumwipfel in der Ferne glitzerten im Licht des silbrigen Vollmonds. Es sah wunderschön aus. Dennoch überzog mich eine eisige Kälte, wenn ich an die Bilder dachte, die im Teich vor meinem inneren Auge erschienen waren.

„An was denkst du?“, wollte Tim wissen.

Seine Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

„Nichts Wichtiges“, sagte ich schnell.

Tim nickte nur und trommelte scheinbar nervös auf das Lenkrad.

Den Rest der Fahrt verbrachten wir schweigend und mit heimlichen Blicken, die das Kribbeln zurückholten, das mir in Tims Nähe so vertraut war und sich von Mal zu Mal steigerte. Ich fragte mich, wie weit das noch gehen konnte und ob ich irgendwann platzte. Ich musste über diese irren Gedanken selbst lächeln, aber immerhin besser, als an die gruselige Rabenfrau und ihr Gefolge zu denken. Als wir bei mir ankamen, schaltete Tim den Motor aus und umfasste das Lenkrad, während ich meine Sachen zusammensammelte.

„Darf ich dich noch etwas fragen, oder bist du schon zu müde?“, wollte er wissen.

„Hellwach … schieß los“, gab ich prompt zurück. Ich glaubte, dass ich in dieser Nacht sowieso kein Auge zutun konnte.

Ich wagte es nicht, Tim nun anzusehen.

„Was genau ist im Wald passiert?“

Ich hatte geahnt, dass es die Art Frage war, die er mir stellen würde.

„Ach … im Wald? Ich bin gelaufen und gelaufen und hab einfach diesen Teich übersehen. Idiotisch, ich weiß.“ Ich zuckte mit den Achseln.

„Ja! Und du bist also untergetaucht und fast ertrunken. Und du hast danach wirklich nicht gesehen, wer dich gerettet hat?“, bohrte er weiter.

„Nein. Keine Ahnung“, gab ich zurück.

„Warst du eine Zeit lang ohnmächtig oder so?“

Ich leckte mir über die trockenen Lippen und kämpfte gegen die Erinnerung an. Es nützte nichts. „Im Wasser spürte ich so einen Ruck unter mir, und als ich aufwachte lag ich auf der Wiese.“

Nun wagte ich doch einen Blick zu ihm hinüber. Tim runzelte die Stirn. „Und dann?“

„Dann … hörte ich Mira nach mir rufen“, sagte ich schnell.

Er zog die Stirn in Falten. „Das war’s?“

Ich schluckte schwer. „Ja! Du, ich muss jetzt gehen. Ich bin doch hundemüde.“

Er winkte ab. „Okay, ich wollte nicht so nachbohren.“

Ich deutete ein Lächeln an und sah nach vorn. „Du musst dir keine Sorgen machen. Mir geht’s gut und die Klamotten sind auch schon wieder fast trocken, schau …“

Tim beugte sich ein wenig zu mir herüber, befühlte meine Jacke und sah mich eindringlich von der Seite an. „Du kannst mir alles sagen, wirklich.“

Ich blickte wieder zu ihm, dieses Mal länger.

„Okay …“, setzte ich an.

Tim nickte. „Ja?“

„Ich glaubte, dass da im … nein, nein, vergiss es besser.“ Ich schüttelte den Kopf und hob abwehrend beide Hände.

„Was?“ Seine Frage klang wie ein Betteln.

„Also gut. Da waren merkwürdige Raben … Wesen. Aber das war wohl nur Einbildung … eine Sinnestäuschung.“

„Raben? Wesen? Wie meinst du das?“, hakte er sofort nach.

Nervös spielte ich mit einem Knopf meiner Bluse.

„Es klingt idiotisch. Aber ich dachte, ich sehe Raben, die sich in Menschen verwandeln. Völliger Irrsinn“, murmelte ich schnell und lachte. Ich konnte mich selbst nicht ernst nehmen.

Tim hingegen blieb ernst, knetete das Lenkrad mit seinen Händen, überlegte ein paar Sekunden, bevor er antwortete, und ich mir sagte, dass ich das alles doch besser für mich behalten hätte.

„Nun ja … vielleicht war das wirklich eine Sinnestäuschung. Anni hat erzählt, dass so was nach traumatischen Erlebnissen passieren kann.“

Anni wohnte ebenfalls bei Tim. Seine nahezu nüchterne Antwort erstaunte mich.

Ich staunte. „Wirklich?“

„Ja, ganz sicher. Frag sie selbst. Willst du mir noch näher erklären …“

Vehement schüttelte ich den Kopf. „Nein, nein, lassen wir es gut sein.“

Er öffnete seine Tür. „Sollte ich dich nicht doch besser ins Krankenhaus fahren? Vielleicht hast du eine Gehirnerschütterung oder Ähnliches“, gab er mir zu bedenken. Einerseits süß, dass er sich so um mich sorgte. Andererseits wünschte ich, er hätte mich aus einem anderen Grund alleine nach Hause fahren wollen.

„Quatsch. Mir geht’s echt gut. Nur mein Verstand scheint ein wenig durcheinander.“ Ich verzog meine Lippen zu einem Lächeln.

Er begleitete mich zur Tür meines Elternhauses und blickte mir noch einmal tief in die Augen. Kurz vergaß ich, was passiert war, und dachte daran, wie schön alles doch sein könnte. Jetzt ein Kuss, eine zärtliche Umarmung, eine Verabredung für morgen, mit warmen Gedanken an ihn einschlafen, von ihm träumen, aufwachen und glücklich in einen neuen Tag starten in Erinnerung an eine Fete ohne Raben und sonstigen komischen Ereignissen. Als wäre ich einer seiner Kumpel, klopfte Tim mir, wenn auch leicht, auf die Schulter. Rasch fischte ich daraufhin den Haustürschlüssel aus der rechten Hosentasche meiner feuchten Jeans. Zum Glück hatte ich ihn nicht im Wasser verloren. Ich hielt einen Moment inne.

„Was ist? Findest du das Schlüsselloch nicht?“

Ich drückte auf den Außenlichtschalter neben der Tür. Eine kleine Lampe tauchte uns in einen leicht gelblichen Lichtschein. Dann schloss ich die Tür auf.

„Wir sehen uns“, sagte ich zu Tim und hatte das Gefühl, dass er etwas erwidern wollte. Doch dann nickte er lediglich und lief zurück. Innerlich seufzend sah ich ihm nach und schob dann die Tür auf. Im Flur brannte noch Licht, welches mein Vater extra für mich angelassen hatte. Tim winkte mir zu, als ich kurz stoppte.

„Rein jetzt, Miss Sutton“, rief er.

Auch ich hob eine Hand zum Abschied und überlegte, ob ich sein nettes Lächeln erwidern sollte, da hörte ich einen dumpfen Knall, der mich zusammenzucken ließ. Etwas rutschte von der Motorhaube und fiel auf die Straße. Mein Herz überschlug sich vor Schreck. Mir stockte der Atem. Ich merkte es erst, als meine Lunge sich anfühlte, als stünde sie in Flammen. Sofort wollte ich zu Tim, doch er bedeutete mir mit einer Handbewegung, dass ich bleiben solle, wo ich war.

Langsam ging er in die Hocke und betrachtete das schwarze Ding auf dem Asphalt, das nicht größer war als mein Unterarm und direkt vor seinem Wagen lag.

„Was ist es?“, fragte ich.

„Eine Krähe“, antwortete Tim leise.

Vorsichtig hob er sie auf, besah sie sich schweigend und mit gesenktem Kopf.

„Ist sie … tot?“, fragte ich.

Tim nickte. „Ich werde sie begraben.“

In seiner Stimme schwang ein bestimmter Unterton, den ich aber nicht deuten konnte. Behutsam legte er den Vogel auf den Rücksitz und wandte sich zu mir, bevor er einstieg.

„Meine Güte, fast wäre mir das Herz stehen geblieben … das nicht zum ersten Mal heute“, sagte ich.

Tim ging nicht weiter darauf ein. „Geh jetzt rein und ruh dich aus. Du steckst schon viel zu lange in den nassen Klamotten. Gute Nacht.“ Seine Stimme klang eisiger.

Eilig stieg er in den Wagen, wartete jedoch noch, bis ich im Haus war, und fuhr erst dann los. Ein mulmiges Magengrummeln begleitete mich. Dieses Mal wünschte ich mir, es würde nur vom Alkohol kommen.

Kurz nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, durchdrang das Krähen von Raben die Nacht. Komisch! Ich hatte immer gedacht Krähen und Raben wären nachts nicht aktiv. Der Lautstärke nach waren sie nicht weit weg. Ein raues Gefühl kroch in mir hoch. Fast so, als besäße es Tentakel, die sich in mir festhakten. Ich fasste mir an den Hals. Meine Kette war wohl unwiederbringlich verloren. In einem tranceähnlichen Zustand ging ich ins Badezimmer. Um Dad nicht zu wecken, verzichtete ich auf eine Dusche oder ein heißes Bad, zog mir nur schnell die Klamotten vom Leib und rubbelte mich trocken. In meinem Zimmer schlüpfte ich in einen Pyjama und kroch sofort ins Bett. Zitternd zog ich mir die Decke bis zu den Ohren. Mondlicht fiel in mein Zimmer und zauberte seltsame Schatten an die Wand, die mir vorkamen wie die Raben im Wald. Ich beschloss, das Nachttischlicht anzulassen. Die Gedanken fuhren Achterbahn, aber irgendwann schlief ich ein.

Kleine Seele

Durch den Nebel, in dem ich stand, fiel gleißendes Licht, das aus dem Nichts zu kommen schien. Ich konnte keinen Boden unter meinen nackten Füßen spüren, dennoch rannte ich. In unmittelbarer Nähe krächzten Raben. Manche waren so nah, dass mich ihre Flügelspitzen berührten. Sie erinnerten mich an Messerklingen, die mir die Wangen zerschnitten. Mit den Händen versuchte ich, mein Gesicht davor zu schützen. Um mich herum wurde es allmählich stiller. Ich hielt inne und lauschte.

Sekunden später zog jemand heftig am Saum meines Shirts. Langsam ließ ich die Hände vom Gesicht gleiten, sah nach unten und stockte.

Ich blickte direkt in zwei große, ängstlich wirkende blaue Augen aus einem Kindergesicht. Ich schätzte den Jungen auf ungefähr acht Jahre. Um den Körper trug er einen schwarzen knöchellangen Mantel, seine Füße waren nackt. Schnell streckte er mir seine kleine Hand entgegen, die ich ohne zu zögern ergriff. Bevor ich mich versah und ihn fragen konnte wer er war, zog er mich mit sich durch den Nebel und wurde dabei immer schneller. Das Krächzen der Vögel verfolgte uns. Meine innere Stimme sagte mir deutlich, dass wir ihnen entkommen mussten.

Das gleißende Licht vor uns rotierte, aber nur langsam kamen wir ihm näher. Vom Gefühl her konnte ich nicht ausmachen, ob das nun gut oder schlecht war.