Beermann, Sontje Beat of Love

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© 2020 Piper Verlag GmbH, München
Redaktion: Cornelia Franke
Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

 

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1. – »Platz zwei geht an …

»Platz zwei geht an … die Black Ones

Kathi Schwartz wurde kalt und heiß, ihr Herz raste, ihre Finger waren klamm. Ausgerechnet die Truppe ihrer Erzrivalin Laura hatte den zweiten Platz beim Hamburger Landespokal belegt. Jetzt blieb ihr nur noch zu hoffen, dass ihre eigene Mannschaft den Sieg davontragen würde.

Sie drückte Lukas und Nele, ihre beiden Top-Tänzer, fester an ihre Seiten. Die restlichen zehn Teenager scharten sich um sie und murmelten aufgeregt vor sich hin.

»Wir müssen gewinnen!«, flüsterte Kathi und beobachtete, wie Laura im Tussi-Outfit, bestehend aus hochhackigen Stiefeln, Skinny Jeans und hautengem Shirt, hinter den Kids auf die Bühne ging.

»Wir waren der Hammer, Kathi, wir können nur gewinnen!«, erwiderte Nele und strich über Kathis Taille.

Die Tänzer und ihre Trainerin empfingen jeder eine Silbermedaille und den mittelgroßen Pokal, winkten der Menge zu und kassierten erneuten Applaus.

»Kommen wir nun zu den Gewinnern«, rief der Moderator ins Mikrofon und schaute auf seine Karte. »Mit nur wenigen Punkten Vorsprung auf dem ersten Platz und damit Sieger des diesjährigen Hamburger Hip-Hop-Landespokals sind …« Er sah auf, warf den freien Arm in die Höhe und grölte: »Die Hip Hop Homies

Rund um Kathi brach Jubelgeschrei aus, hüpfende Teenager fielen sich und ihr um den Hals.

Oh. Mein. GOTT! Wir haben gewonnen!

Endlich kam die Euphorie auch in ihrem Kopf an, und sie sprang kreischend mit ihrer Mannschaft um die Wette.

»Los, auf die Bühne mit euch!«, brüllte der Moderator über den Applaus der Zuschauer hinweg. Kathi hörte Pfiffe und einzelne Rufe des Crew-Namens.

Lukas und Nele nahmen jeweils eine ihrer Hände und zogen ihre Trainerin vorweg auf die Bühne. Himmel, sie konnte kaum sehen, wohin sie trat, in all dem Gewusel aus Armen und Beinen. Zudem trug sie das gleiche Outfit wie ihre Kids. Turnschuhe, Jeans, Hoodie.

Die Hip Hop Homies stürmten aufs Treppchen, Kathi blieb als ihre Trainerin davor stehen. Sie alle jubelten der Menge zu und nahmen ihre Goldmedaillen entgegen. Den großen Pokal reckten sie zusammen in die Höhe, und Kathi klatschte und wischte sich verstohlen die Freudentränen aus den Augenwinkeln. Sie wusste genau, wie die Kids sich fühlten, vor ein paar Jahren hatte sie selbst da oben gestanden.

»Noch einmal einen donnernden Applaus für die drei Gewinnermannschaften von insgesamt fünfzig Teilnehmern, ihr wart toll!«

Der Moderator nickte ihnen zu, damit sie von der Bühne gingen, und drehte sich für die Verabschiedung zum Publikum um. Die Tänzer stiegen vom Siegerpodest und verließen die Bühne.

Am Fuß der Treppe fing Laura sie ab und streckte ihr die Hand entgegen. Ihr Lächeln wirkte kalt und aufgesetzt. »Mensch, Kathi, Glückwunsch! War mal wieder echt eng«, flötete sie.

»Danke, euch auch.« Kathi schüttelte die knochige Hand so kurz wie möglich.

»Bis in zwei Wochen, dann sieht es auf dem Treppchen wieder anders aus.« Laura drehte sich um und stolzierte davon.

Hättest du wohl gerne!

Kathi schüttelte den Kopf und grinste, lief zu ihrer Mannschaft. Sie standen am Rand und führten ihren typischen Freudentanz rund um den Pokal auf. Am Ende sprangen sie in die Höhe und klatschten sich alle ab.

»Los, jetzt noch ein Gruppenselfie, dann umziehen und ab zu Toni«, trieb Kathi sie an.

»Au ja, geil, Pizza!« Sie redeten alle durcheinander, fanden sich aber für das Foto zusammen und gingen dann geordnet zu ihrer Kabine. Keine halbe Stunde später verließen sie mit ihren Taschen die Sporthalle und machten sich auf den Weg zur U-Bahn, den Pokal hatte Kathi in ihrer Trainertasche verstaut.

Das Adrenalin war zwar aufgebraucht, als sie die Pizzeria in der Nähe ihres Vereinsheims erreichten, die Euphorie aber nicht. Sie kochte sogar noch einmal hoch, auf dem Weg zu ihrem Stammtisch im hinteren Bereich.

Toni kam persönlich, um ihnen zum Sieg zu gratulieren, und spendierte eine Runde Softdrinks. »Daniele, mach ihnen das Pizzablech fertig«, rief der fast sechzigjährige Italiener seinem jungen Neffen zu und imitierte den typisch italienischen Akzent, obwohl er astreines Deutsch sprach.

»Va bene!«, stieg der mit einem Grinsen auf das Spielchen ein. »Wie immer, eh?«

»!«, riefen sie im Chor.

Kathi lehnte sich mit einem Seufzer auf ihrem Platz am Kopfende des Tisches zurück und ließ den Blick über die acht Mädchen und vier Jungs im Alter von Fünfzehn und Sechzehn Jahren gleiten. Mitten zwischen ihnen fühlte sie sich nicht wie Dreiundzwanzig, da war sie eine von ihnen.

Wie damals, bevor ihre vielversprechende Karriere ein jähes Ende fand.

Sie blinzelte und ließ die Erinnerungen erst gar nicht an die Oberfläche kommen, das gehörte nicht hierher, jetzt wurde gefeiert!

 

»Michelle? Bist du da?« Kathi schloss die Wohnungstür hinter sich, hängte den Schlüssel ins Schränkchen und stellte die Tasche an der Garderobe ab.

»Wohnzimmer!«, kam es aus der entsprechenden Richtung.

Sie hielt mit der rechten Fußspitze die Hacke ihres linken Turnschuhs fest, um den Fuß herauszuziehen, und verfuhr auf der anderen Seite genauso. Dann ging sie zu ihrer besten Freundin und Mitbewohnerin und ließ sich neben ihr auf die Couch fallen.

Die sah von ihrem Buch auf. »Und? Gewonnen?«

»Klar? Was glaubst du denn?« Kathi lachte. »Ich habe dir doch ein Selfie mit Pokal geschickt.«

Michelle grinste. »Sorry, war ganz vertieft. Aber eigentlich habe ich nichts anderes erwartet. Dann bist du ja richtig gut drauf.«

»Ja, aber total k. o.« Sie rutschte ein Stück tiefer, pflanzte die Füße auf den Couchtisch und lehnte den Kopf hintenüber an die Rückenlehne. »Die Kids haben ihre Choreo spontan im Vereinsheim aufgeführt, als wir den Pokal in die Vitrine gestellt haben. Und ich musste mitmachen.«

»Oh, du armes, altes Mädchen«, spöttelte Michelle. »Als ob du es nicht genossen hättest!«

»Doch, habe ich!« Kathi streckte ihr die Faust entgegen, ihre beste Freundin stieß mit ihrer dagegen.

»Super, dann bist du ja auf Betriebstemperatur. Lass uns ausgehen und tanzen!« Michelle klappte das Buch über dem Lesezeichen zu und legte es auf den Beistelltisch neben ihrem Couchende.

»Och, nöö«, maulte Kathi und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du weißt doch, dass ich nicht so darauf stehe.«

»Das sagst du jedes Mal.«

»Weil es so ist.«

»Kannst du nicht mal eine Ausnahme machen? Nur für mich?«

»Nee, echt nicht.«

»Gott, du bist so langweilig geworden.« Michelle seufzte theatralisch auf und rang die Hände.

»Wie bitte?«

»Oh, sorry, ich muss mich verbessern. Du warst schon immer so spießig.«

Kathi verzog das Gesicht. »Was hat denn das mit Spießigkeit zu tun?«

»Mensch, du bist Dreiundzwanzig! Da hat man Spaß, geht ab und zu feiern, lernt Leute kennen. Vor allem Männer. Aber du lebst außerhalb des Studiums nur noch für deine Homies

»Was ist denn falsch daran?« Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen, ihre Freundin brachte dieses Thema immer wieder zur Sprache, obwohl sie es nicht hören wollte.

Michelle seufzte und strich ihr über den Oberschenkel. »Du vergisst dabei dein eigenes Leben.«

»Tanzen ist mein Leben.«

»Aber Tanzen ist nicht alles!«

»Sagt die, die sich jeden Tag in eine andere Welt vergräbt«, spottete Kathi und deutete mit dem Kinn auf den überfüllten Büchertisch.

»Ach, komm schon, es ist Samstagabend! Lass uns wenigstens eine Runde über die Reeperbahn drehen, okay? Nur ein oder zwei Bier. Das tut nicht weh.«

»Ach, scheiße, dann muss ich mich ja schön machen.«

»Zieh dir wenigstens ein anderes Oberteil an, der Hoodie geht gar nicht«, bat Michelle, schob die Unterlippe vor und klimperte mit den Augen. Kathi brach in Gelächter aus.

»Okay, weil du es bist. Und weil ich so gut drauf bin.«

»Danke!« Ihre Freundin beugte sich zu ihr, drückte ihr einen überlauten Schmatzer auf die Wange und sprang auf. »Ich gehe mich fertig machen.«

2. – Fuck, konnte ein …

Fuck, konnte ein Sonntag eigentlich noch beschissener sein?

Finn Uppendieck lag mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Gästebett und starrte zur Decke hinauf. Sein jüngster Bruder Lukas malträtierte sie von der anderen Seite, in dem er zum bestimmt hundertsten Mal die Choreo durchtanzte, mit der seine Hip-Hop-Crew gestern den Pokal gewonnen hatte. Von der Musik war nicht viel zu hören, aber die Bässe wummerten bis in seinen Magen, machten ihn nervös.

Nein, das Tanzen war nicht das Thema. Finns Problem bestand darin, dass er hier sein musste, im Haus seiner Eltern. Früher hatte er selbst dort oben gehaust, aber seit ein paar Wochen musste er das Gästezimmer in Kauf nehmen. Ja, es war besser als nichts, aber er hoffte, schnellstmöglich wieder eine eigene Bude zu finden. Was in Hamburg ziemlich schwierig werden konnte.

Na ja, wahrscheinlich würde die Bundeswehr ihm behilflich sein. Nach dem morgigen Termin bei der internen Dienststelle, die die Soldaten bei Versetzungen in jeder nur erdenklichen Weise unterstützte, würde er mehr wissen.

Unvermittelt schallte die Stimme seiner Mutter durchs Haus. »Jungs, es gibt Kuchen!«

Finn verdrehte die Augen und rollte sich vom Bett, trabte die Treppe hinunter. Lukas’ Musik verstummte ebenfalls, und er verspürte einen Anflug von Erleichterung.

Ihr Vater saß bereits am gedeckten Tisch, ein rundes, ausziehbares Monstrum aus rustikaler Eiche, das wahrscheinlich vor bald dreißig Jahren mit der Familie in dieses Reihenhaus eingezogen war. In der Mitte thronte eine Erdbeertorte, und seine Mutter kam gerade mit der Porzellankanne aus der Küche.

Finn ließ sich neben ihm nieder, dankte seiner Mutter für den Kaffee und verteilte Erdbeertorte auf den vier Tellern.

Lukas stürmte in Shirt und Jogginghose herein und ließ sich auf den Stuhl Finn gegenüber fallen. »Alter, das kann ich jetzt echt vertragen«, seufzte er und rammte umgehend seine Gabel in den Kuchen. Stopfte sich ein großes Stück in den Mund und stöhnte undeutlich auf. »Mmh! Geiler Scheiß!«

Finn prustete vor Lachen beinahe in seinen Kaffee, sein Vater hieb mit der Hand auf den Tisch. »Musst du immer so reden?«

Seine Mutter seufzte. »Ach, Paul, das ist die Jugendsprache von heute. Dagegen kannst du nichts tun.«

Er starrte seine Frau an. »Finn hat niemals so gesprochen.«

»Stimmt, bei uns war es nicht so krass.« Der älteste Sohn schüttelte den Kopf und probierte von der Erdbeertorte. »Schmeckt super, Mama!«

»Danke, mein Junge.« Sie lächelte ihn an. »Ist ein neues Rezept aus meinem Backklub.«

»Oh«, rief Lukas unvermittelt, »das hätte ich fast vergessen. Morgen nach der neunten Stunde treffen wir uns noch kurz von der SV. Kann mich dann jemand abholen und zum Tanztraining bringen? Sonst schaffe ich es nicht.«

»Tut mir leid, Lukas, dein Vater hat Spätschicht. Und ich kann die Woche nicht vor fünf Uhr Feierabend machen«, bemerkte seine Mutter.

»Und was ist mit dir?«

Finn sah seinen Bruder an. »Ich?«

»Klar. Du hast doch Zeit, oder?«

»Ja, schon, aber …«

»Komm schon! Zu Hause rumsitzen kannst du vorher und hinterher.«

»Ich sitze nicht zu Hause rum!«, protestierte Finn und ließ die Gabel auf den Teller fallen.

»Lukas, dein Bruder braucht Ruhe«, wies sein Vater ihn zurecht.

»Von mir aus! Aber er wird mich doch mal zum Training bringen können, oder?«

Finn atmete tief durch und überschlug im Kopf, wie vielen Menschen er dabei maximal begegnen musste. Scheiße, er hasste den Gedanken daran, aber er wollte sich auch keine Blöße geben. »Okay, einverstanden. Aber dann brauche ich ein Auto.«

»Ich lasse dir meines da, ich kann mit der U-Bahn fahren.« Seine Mutter lächelte ihn an und trank einen Schluck Kaffee.

»Na, also, geht doch!« Lukas grinste und schaufelte sich das nächste Stück Kuchen in den Mund.

»Hast du dich denn schon wieder eingelebt?«, wollte sein Vater wissen. »Warum gehst du nicht öfter mal vor die Tür? Oder triffst dich mit deinen alten Schulfreunden?«

»Papa, ich habe gar keinen Kontakt mehr zu denen, seitdem ich von der Schule abgegangen bin. Außerdem lege ich zur Zeit echt keinen gesteigerten Wert auf andere Leute«, erwiderte Finn und seufzte.

»Also wirklich, Paul, du kannst aber auch Fragen stellen!« Seine Mutter sah ihn mitfühlend an. »Wie geht es denn nun für dich weiter? Hast du diese Woche schon irgendwelche Termine?«

Er nickte. »Morgen früh fahre ich zu den Kollegen, die uns bei den Versetzungen unterstützen, damit ich bald wieder eine eigene Bude habe.«

»Du kannst so lange hierbleiben, wie du möchtest«, versicherte seine Mutter und tätschelte seinen Unterarm.

»Das weiß ich, Mama, danke.« Er sagte ihr lieber nicht, dass er endlich wieder für sich sein wollte. Mit Achtzehn war er von zu Hause ausgezogen, mit dem Beginn seiner Bundeswehrausbildung zum Notfallsanitäter, und seitdem immer unabhängig gewesen. Natürlich nicht während des letzten Auslandseinsatzes in Afghanistan, da hatte niemand eine eigene Wohnung, aber das war etwas anderes.

Afghanistan …

Ein Schauder lief über seinen Rücken, die Erinnerungen wollten sich an die Oberfläche drängen, doch er wehrte sie ab. Darüber würde er noch oft genug sprechen müssen.

»Außerdem habe ich Dienstag und Freitag Termine beim Psychotherapeuten«, nahm er den Faden wieder auf und spießte das letzte Stück Torte auf.

Um ihn herum wurde es still und er hob den Kopf. Alle drei schauten bedrückt auf ihre Teller hinab.

»Scheiße, nun hört aber auf!« Wut und Erinnerungsschmerz kochten in Finns Brust hoch. »Könnt ihr nicht einfach normal damit umgehen?«

»Ich weiß nicht, wie ich normal damit umgehen soll, dass du da unten fast gestorben wärst«, würgte seine Mutter hervor, schlug die Hand vor den Mund und presste die Augenlider zusammen.

Ja, fast. Im Gegensatz zu anderen.

Lukas riss die Augen auf und starrte seinen Bruder an. »War es wirklich so krass?«

Bevor Finn etwas erwidern konnte, fuhr sein Vater dazwischen. »Geh auf dein Zimmer, Lukas!«

»Was? Wieso? Ich bin doch kein Baby mehr.«

»Lukas!«, herrschte sein Vater ihn an, und sie fochten ein Blickduell aus.

Sein jüngster Bruder warf das Besteck auf den Tisch und stieß den Stuhl zurück. »Ihr seid solche Opfer«, flüsterte er mit verächtlichem Unterton und lief hinauf in sein Zimmer.

Finn atmete tief durch. »Haltet Lukas da raus, er kann am wenigsten dafür.«

»Ich kann den Gedanken noch immer nicht ertragen«, murmelte seine Mutter und kramte ein Taschentuch aus der Hosentasche. Tupfte sich die Augen und putzte sich die Nase.

»Ich auch nicht«, knurrte er, sprang auf, stürmte aus dem Raum und aus dem Haus. Er musste einfach nur weg. Sofort.

 

Finn lenkte den Wagen seiner Mutter auf den Seitenstreifen vor Lukas’ Schule und zog die Handbremse an. Stieß die Luft aus und fuhr sich über die feuchte Stirn.

Verdammt, er hatte in den letzten zwei Jahren tatsächlich vergessen, wie anstrengend der Feierabendverkehr in einer Großstadt sein konnte, wenn jeder bei der kleinsten Verzögerung hupte oder rechts überholte. Besonders, wenn er vom Kopf her noch in ganz anderen Regionen festhing. Hoffentlich würde er sich schnell daran gewöhnen.

Er wandte den Kopf und sah seinen Bruder im Laufschritt vom Haupteingang auf den Wagen zukommen. Lukas riss die Tür auf, ließ sich auf den Beifahrersitz plumpsen und warf ihm ein kaum verständliches »Hi!« zu. Sein Rucksack landete zwischen seinen Füßen.

»Hey.« Finn startete den Wagen, warf einen Blick in die Rückspiegel und fuhr los.

»Hast du an meine Tasche gedacht?«

»Rücksitz.«

Lukas beugte sich zwischen den Sitzen hindurch und angelte nach seiner Trainingstasche, zog sie auf seinen Schoß. Dann herrschte Stille.

Nach einigen Minuten hielt Finn es nicht mehr aus. »Hör mal, es tut mir leid, dass Mama und Papa das an dir auslassen.«

Sein Bruder grummelte nur und sah aus dem Beifahrerfenster. Finn seufzte.

»Ich weiß noch nicht mal, was dir da unten passiert ist«, platzte es unvermittelt aus Lukas heraus. »Es hieß nur, du bist schwer verwundet. Mama hat tagelang geheult, Papa hat vor sich hingebrütet. Aber keiner hat mit mir darüber geredet. Obwohl ich es versucht habe.«

»Sorry, das wusste ich nicht.« Finn seufzte und fuhr sich durch das kurze Haar.

»Aber erzählen willst du es mir auch nicht, oder?« Verärgerung und Enttäuschung schwangen in der Stimme seines Bruders mit.

Er musste schlucken. »Ich … ich muss erst selbst damit klarkommen, okay? Deswegen gehe ich zum Therapeuten. Ist es für dich in Ordnung, wenn wir das verschieben?«

»Bleibt mir etwas anderes übrig?«

Finn schwieg, was sollte er auch dazu sagen? Schließlich fuhr er vor dem Vereinsheim vor und musterte es.

»Du warst noch nie hier, oder?«, fragte Lukas, und Finn schüttelte den Kopf. »Komm doch mit rein! Dann kann ich dir meine Crew vorstellen. Und Kathi, unsere Trainerin.« Lukas lächelte ihn mit hoffnungsvollem Blick an.

»Wie viele Leute sind da?« Seine Hände schlossen sich unbewusst fester ums Lenkrad.

»Hat das mit Afghanistan zu tun? Dass du größere Menschenmengen meidest?«

Finn nickte und schluckte, versuchte, seinen Griff zu lockern. Das hier war nicht ansatzweise mit der Situation in Afghanistan vergleichbar. Warum reagierte er also so sehr darauf?

»Wir sind zwölf in der Crew, dann Kathi. Sonst ist hier heute keiner, keine Angst. Also, kommst du mit? Ich schwöre, das wäre echt geil, Alter.«

Er atmete tief durch, biss sich auf die Unterlippe. Und nickte. »Okay, ich komme mit.«

Sie gingen über den fast leeren Parkplatz zum Vereinsheim, und Lukas textete ihn ohne Vorwarnung fast ununterbrochen zu. Mit Namen, witzigen Infos, doch er konnte sich nicht darauf konzentrieren. Er rang innerlich mit der Panik, die ihn zu überfluten drohte. Wollte nicht, dass sie sein Leben bestimmte. Wollte seinen Bruder nicht erneut enttäuschen.

»Ich gehe mal vor.« Lukas sprang die Treppen hoch, zog die Tür auf und warf ihm einen Blick zu.

Finn folgte ihm durch einen Vorraum, einen schmalen Flur und eine weitere Tür, hinter der bereits Hip-Hop zu hören war. Blieb direkt dahinter stehen und sah sich um.

Der Raum war mit Parkett und einer Spiegelwand ausgestattet, und am anderen Ende stand eine Handvoll Teenager zusammen. Lukas lief hinüber, redete mit einer schlanken Blondine und zog an ihrem Arm. Sie lachte und folgte ihm zu Finn.

Beim Näherkommen wurde deutlich, dass sie kein Teenager war, aber auch nicht viel älter. Und noch dazu sehr hübsch. Er runzelte die Stirn und musterte sie unauffällig von oben bis unten. Sie trug die gleichen Klamotten wie die Teenager, Turnschuhe, Leggings, T-Shirt, und darunter machte er reizvolle Kurven aus. Das blonde Haar fiel in sanften Wellen über die Schultern und unter dem fransigen Pony strahlten ihn die schönsten blauen Augen an, die er je gesehen hatte.

»Finn, das ist Kathi, unsere Trainerin. Finn, mein ältester Bruder.«

Mit einem Blinzeln kehrte Finn in die Realität zurück.

»Hallo, großer Bruder von Lukas.« Wenn sie lächelte, erschienen Grübchen neben ihren Lippen.

Gott, ist die süß!

»Hallo, Trainerin«, erwiderte er und schüttelte ihr die Hand. Einen ordentlichen Griff hatte sie auch.

»Ich habe dich noch nie gesehen, und Lukas tanzt schon fast ein Jahr in dieser Crew.«

»Nee, ich war im Ausland.«

»Finn ist bei der Bundeswehr«, ergänzte Lukas. »Ich gehe mich umziehen.« Und weg war er.

»Heer, Marine oder Luftwaffe?«, hakte Kathi nach und verschränkte die Arme vor dem Bauch.

»Weder noch, Sanitätsdienst.«

»Da hast du bestimmt schon viel erlebt, oder?«

»Mehr, als mir manchmal lieb ist.« Er lächelte gezwungen.

Ein Runzeln glitt über ihre Stirn, doch sie fing sich schnell wieder. »Hast du Lukas schon mal tanzen gesehen?«

»Nein, leider nicht. Als er anfing, war ich in Bonn stationiert, und die letzten zwei Jahre war ich, wie gesagt, nicht in Deutschland. Ich bin erst seit drei Wochen zurück.«

»Dann bleib ruhig hier, falls du nichts anderes vorhast«, schlug sie vor und deutete mit dem Daumen über ihre Schulter, auf die beiden Turnbänke, die an der gegenüberliegenden Wand standen.

»Störe ich euch nicht?«

»Aber nein, warum denn?«, winkte Kathi ab. »Setz dich ruhig!«

»Okay, danke.«

Kaum, dass Finn Platz genommen hatte, kam Lukas mit ein paar anderen Teenagern zurück, dann schien die Gruppe komplett zu sein. Kathi klatschte in die Hände. »Dann mal los, aufwärmen!«

Sie lief zu einem Ghettoblaster, nahm ein Handy, das damit verbunden war, und startete die Musik. Dann stellte sie sich vor die Teenager, Gesicht zur Spiegelwand und fing mit moderaten Tanzschritten an. Im Laufe der Zeit steigerte sie Tempo und Intensität.

Finn hatte keine Ahnung von Hip-Hop, aber die Bewegungen flossen durch den gesamten Körper. Die Federung kam aus den Knien, die Hüften schwangen und alles hatte richtig Power. Hinzu kam der laute Beat, verbunden mit Elektronik, R’n’B und Soul, der selbst ihm direkt ins Blut ging. Und obwohl die Musik verdammt laut war, waren die Bässe hier nicht so dröhnend, dass er an die Hubschrauber in der Wüste erinnert wurde, so wie gestern Nachmittag.

Nach dem Aufwärmen tanzten sie eine Choreografie durch, anscheinend die, mit der sie am Wochenende den Pokal gewonnen hatten. Finn erkannte die Musik von Lukas’ Tanzübungen im Zimmer über ihm und war beeindruckt, was sein Bruder draufhatte, überhaupt die gesamte Mannschaft. So unterschiedlich die Teenager aussahen, in der Gruppe waren sie eine Einheit.

»Okay, Trinkpause«, rief Kathi und scheuchte sie zu ihren Wasserflaschen.

»Passt auf«, meinte sie. »Ich habe mir überlegt, wir bauen eine kleine Veränderung ein, für das Turnier nächstes Wochenende. Um die Choreo noch ein wenig aufzupeppen. Was haltet ihr davon?«

Sie zeigte ihnen, an welcher Stelle die Moves verändert werden sollten. Die Teenager tanzten die neuen Schritte, dann die entsprechende Sequenz und schließlich die gesamte Choreo. Sie diskutierten, machten ihrerseits Vorschläge und tanzten und lachten.

Finn hatte sich derweil gegen die Wand gelehnt, die Beine ausgestreckt und Fußknöchel gekreuzt. Es gefiel ihm, wie viel Spaß Lukas und die anderen beim Tanzen hatten. Aber noch mehr faszinierte ihn, mit welcher Leidenschaft ihre Trainerin agierte. So motivierte Lehrer und Ausbilder hätte er sich auch gewünscht.

Schließlich war die Trainingszeit zu Ende. Kathi scheuchte sie in die Umkleidekabine und ging selbst zum Ghettoblaster, schaltete die Musik aus. Griff nach ihrem Handtuch, trocknete ihr Gesicht und hängte es sich um den Hals, um zu trinken.

Finn erhob sich und schlenderte zu ihr hinüber. »Tollen Job machst du.«

Sie drehte sich zu ihm um und strahlte ihn an. »Danke.«

»Hast du früher auch Hip-Hop getanzt?«

»Ja.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Aber das ist schon ein paar Jahre her.«

Er runzelte die Stirn. »Der Gedanke daran macht dich traurig. Warum?«

»Sieht man das?« Ihr Lächeln verrutschte.

»Ich weiß nicht, ob jeder es sieht, aber ich habe in den letzten Jahren ziemlich viel über Menschen und ihre Gefühlsregungen gelernt.« Er zuckte mit den Schultern. »Du hast wohl nicht freiwillig damit aufgehört, oder?«

»Nein, ich war richtig gut damals und hätte wohl eine Karriere vor mir gehabt. Aber dann bin ich eine Treppe runtergestürzt. Bänderriss, vier Monate Ausfall, aus die Maus.«

»Scheiße, das tut mir leid.«

»Ja, mir auch.«

»Warum bist du nicht später wieder eingestiegen?«, hakte er nach.

»Wollte ich nicht, der Draht zu meinem Team war weg.«

»Und dann hast du dich entschieden, Trainerin zu werden.«

»Genau.«

»Cool.«

Sie lächelte und zuckte mit den Schultern, sah auf ihre Flasche hinab.

»Tja, also, vielen Dank, dass ich zuschauen durfte«, meinte Finn und schob die Hände in die Hosentaschen.

»Oh, gern geschehen. Familienangehörige sind jederzeit willkommen, wenn es den Kids nichts ausmacht.«

Ach ja? Vielleicht würde er tatsächlich wiederkommen. »Okay, super. Dann noch einen schönen Abend, ich warte draußen auf Lukas.«

»Alles klar, dir auch!«

Ein letztes Lächeln, dann drehte er sich um und ging zur Tür, bemerkte jedoch aus den Augenwinkeln eine Bewegung im Spiegel. Kathi hatte sich das Shirt ausgezogen, stand nur noch im Sport-BH da, mit dem Rücken in seine Richtung, und rieb sich mit dem Handtuch trocken.

Finn schluckte und wandte schnell den Blick wieder nach vorn. Er wollte auf keinen Fall spannen, nicht bei ihr.

 

Mit einem unterdrückten Schrei fuhr Finn aus dem Schlaf hoch und setzte sich auf. Sein Herz hämmerte, sein Atem glich einem Keuchen und die Bilder wirkten noch immer nach. Erzeugten dieses beschissene, bedrückende Gefühl, das von seiner Brust bis in Arme und Beine ausstrahlte.

Hätte er sich auch denken können, dass nach dem ersten tiefer gehenden Gespräch mit dem hiesigen Psychotherapeuten alles wieder hochkochen würde! Die Panik, die Schmerzen, die Bilder. Und die Gedanken, die ihm durch den Kopf geschossen waren, als er hilflos dort in der Sonne gelegen hatte. Um ihn herum Geschrei und Schüsse, zwei Meter weiter das erstarrte Gesicht seines Kumpels Andreas, von dem die Hälfte fehlte.

Finn schloss die Augen, fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht und langte neben sein Bett. Nahm die Wasserflasche und trank gierig. Dann ließ er sich wieder ins Kissen zurückfallen und strich über die Narben ganz am Rand seiner rechten Brustseite bis zur Achsel. Nein, jetzt bloß nicht in Erinnerungen versinken! Er musste sich ablenken, nur womit? Ihm fiel nur Lukas’ gestriges Tanztraining ein. Er war noch immer gefangen von der dort herrschenden Begeisterung.

Und von der Trainerin, mach dir mal nichts vor!

Finn musste lächeln. Ja, diese Kathi war echt süß, und ihm gefiel, mit welchem Herzblut und Engagement sie die Teenager trainierte und für die Sache begeisterte.

Bis vor zwei Monaten hatte er auch noch diesen Idealismus besessen, doch jetzt …

Nein, Schluss damit, er wollte nicht darüber nachdenken.

Er angelte nach seinem Handy und rief Facebook auf. Fand Kathis Profil und scrollte sich durch ihre Beiträge, die zu 95% mit dem Tanzen zu tun hatten. Sie selbst war kaum zu sehen, höchstens auf Mannschaftsselfies, doch mit jedem Blick, den er auf sie werfen konnte, wurde er neugieriger. Sie schien nicht wie andere Frauen in ihrem Alter zu sein.

Vielleicht sollte er das Angebot annehmen und Lukas am Freitag wieder zum Training begleiten.

3. – Ach, Scheiße, Kathi …

Ach, Scheiße, Kathi konnte nicht leugnen, dass ihr Herz schneller schlug. Oder dass eine Reihe Ameisen durch ihren Magen marschierte. Und das alles nur wegen Finn?

Zum Mittwochstraining war Lukas allein erschienen, doch heute war sein Bruder wieder mitgekommen. Und geblieben. Allerdings hatte Kathi sich schon am Montag ein paarmal dabei erwischt, dass sie ihm einen Blick zugeworfen hatte. Auch wenn sie nicht wusste, was an Finn ihre Aufmerksamkeit erregte.

Ja, okay, er sah gut aus. Unter dem Shirt entdeckte sie definierte Muskeln und der Rest schien ebenfalls in Form zu sein. Das braune Haar war ziemlich kurz, passte aber zu seinem ovalen Gesicht und den grün-braunen Augen. Insgesamt wirkte er wie eine reifere Ausgabe seines jüngsten Bruders.

Lukas hatte die gleichen Augen, aber Finns wirkten ungewöhnlich traurig.

Allerdings hatte er eine tolle Ausstrahlung.

Egal, sie sollte jetzt nicht anfangen, für Familienmitglieder ihrer Kids zu schwärmen. Das war lächerlich, sie war doch kein Teenie mehr!

Trotzdem fiel es ihr schwer, sich auf das Training zu konzentrieren. Weil sie sich einbildete, er würde sie von der Bank aus beobachten. Und weil sie deshalb erst recht alles perfekt machen wollte. Kathi war regelrecht erleichtert, als die Zeit endlich um und das Training vorbei war. Ein feiner Stich der Enttäuschung fuhr durch ihren Bauch, da Finn ebenfalls direkt den Raum verließ. Ach egal, was sollte es schon!?

Sie ging in den Umkleideraum für Trainer, wusch sich und schlüpfte in ein Shirt und knielange Jeans. Zum Abschluss verstaute sie den Ghettoblaster im Schrank, machte einen Kontrollrundgang und schloss das Vereinsheim ab.

Finn, Lukas und Nele standen noch auf dem Parkplatz und redeten. Sie hatte sie fast erreicht, da sahen die drei sie an.

»Schönes Wochenende!« Kathi hob die Hand und lächelte ihnen zu.

»Kathi, hast du noch Lust auf eine Pizza?«, rief Nele. »Ein paar von uns treffen sich bei Toni.«

»Nein, geht ihr mal schön allein.« Sie lachte.

»Tja, Kleiner, dann hast du wohl Pech gehabt!« Finn schlug seinem Bruder auf die Schulter und grinste.

Jetzt lenkte sie ihre Schritte doch zu ihnen. »Warum?«

»Lukas hat gehofft, dass ich mitkomme«, erklärte Finn. »Damit er nicht mit der U-Bahn nach Hause fahren muss. Aber so setze ich sie nur bei Toni ab.«

»Und was hat das mit mir zu tun?« Kathi schaute Lukas an.

Der schnitt seinem Bruder eine Grimasse, bevor er antwortete. »Na, Finn hat keine Lust, als einziger Erwachsener dabei zu sitzen. Aber wenn du auch mitkommen würdest …«

»Fühl dich jetzt bloß nicht zu irgendetwas gezwungen!«, lenkte Finn ein.

»Ach, komm schon, es ist Freitag!«, bat Lukas. »Ihr könnt auch an einem eigenen Tisch sitzen, ich habe keinen Bock auf die U-Bahn.«

Kathi sah zu seinem Bruder auf. »Lässt du dich so leicht einspannen?«

»Ich habe eh nichts vor, und mit dir zu diesem Toni zu fahren, wäre nicht gerade eine Strafe.«

»Sehr charmant«, grummelte sie und schüttelte den Kopf. Die Ameisen waren beleidigt stehengeblieben.

»Alter, was soll das denn?«, fuhr Lukas seinen älteren Bruder an. »Du hast in der Wüste wohl total vergessen, wie man mit Frauen umgeht, was?«

Kathi schlug sich die Hand vor den Mund und kicherte, sowohl über den Spruch als auch Finns irritierten Gesichtsausdruck.

»Und du Checker weißt, wie man sich ein Mädchen klärt, oder was?« Nele verschränkte die Arme vor der Brust und grinste ihn von der Seite an. Sie war für ein Mädchen recht groß und befand sich somit nicht nur beim Tanzen mit ihm auf Augenhöhe.

»Wer redet denn hier von klären?«, erwiderte Lukas. »Aber so kommt Kathi doch nie mit!«

Finn räusperte sich, sodass Kathi sich wieder ihm zuwandte. »Also, lass es mich neu formulieren. Ich habe heute Abend nichts vor und würde mich freuen, wenn wir spontan zusammen eine Pizza essen gehen. Natürlich nur, wenn du auch Lust hast. Aber dann bitte so weit wie möglich von denen entfernt.« Er deutete mit dem Kinn auf Lukas.

Kathi schaute von Finn zu Lukas, dann Nele an. Die zwinkerte ihr zu und wackelte mit den Augenbrauen. Was sollte das denn jetzt? Sie runzelte die Stirn.

»Okay, von mir aus«, willigte sie ein. »Und wenn es nach mir ginge, fahren wir in eine andere Pizzeria, aber leider macht Toni die beste der Stadt. Außerdem ist das schon fast unser Vereinslokal.«

Finn lachte auf, Lukas verzog beleidigt das Gesicht.

»Super!«, rief Nele. »Dann los, sonst sind die anderen schon fertig mit Essen, wenn wir ankommen.«

Sie verstauten ihre Taschen im Kofferraum des Kombis, stiegen ein und Finn lenkte den Wagen vom Parkplatz. Lukas und Nele gestalteten von der Rückbank aus das Unterhaltungsprogramm, und Kathi war froh darüber. So nah neben ihm zu sitzen, machte sie nervös genug. Auch wenn es keine fünf Minuten dauerte, den Wagen von einem Parkplatz auf den anderen zu fahren.

Bei Toni steuerten Nele und Lukas direkt auf den hinteren Raum zu, Finn blieb unschlüssig stehen. »Wo möchtest du sitzen?«

Kathi deutete auf den nächstbesten freien Tisch. »Lass uns gleich hierbleiben.«

»Okay.«

Sie nahmen Platz, und Finn überflog die kleine Speisekarte, bevor er sie ihr hinhielt.

»Danke, brauche ich nicht.« Sie lächelte.

Toni kam an ihren Tisch. »Wie immer, Kathi? Vegetale extra scharf und Apfelschorle?«

»Ja, gerne.«

»Und du bist Lukas’ Bruder, ja? Das sieht man.« Toni schlug ihm auf den Rücken. »Ich bin Toni.«

»Finn, hi.« Sie schüttelten sich die Hand.

»Gut, Finn, was möchtest du?«

»Eine BBQ-Pizza und eine Cola.«

»Kommt sofort.« Der Italiener ging zur Theke zurück.

Finn lächelte sie an, kaum dass Toni außer Hörweite war. »Sieht man die Ähnlichkeit wirklich?«

Kathi nickte. »Ihr habt die gleichen Augen.«

Seine Brauen zuckten. Mist, hatte sie sich jetzt verraten?

»Du hast einen ziemlich seltsamen Pizza-Geschmack«, redete sie einfach weiter.

»Das kommt davon, wenn man zu viel Zeit mit Amerikanern verbringt. Irgendwann färbt das ab. Bist du Vegetarierin aus Überzeugung?«

»Nein, ich esse nur kaum Fleisch und Wurst. Außerdem ist die Vegetale hier extrem lecker«, gestand sie. »Lukas erwähnte vorhin die Wüste. Wo warst du denn stationiert?«

»Ich war die letzten zwei Jahre in Afghanistan.«

»Oh!« Sie hatte schon ein paarmal von diesen Auslandseinsätzen gehört, seitdem war der Name der islamischen Republik für sie negativ behaftet. Vermutlich zu Recht, schließlich war das Kriegsgebiet. »Freiwillig?«

»Ja. Aber lass uns jetzt bitte nicht davon reden, wir finden bestimmt ein besseres Thema.«

Er machte dicht, und Kathi fragte sich, wie viel Negatives dahinterstecken mochte. Ob er dort jemanden verloren hatte? In ihr wallte Mitgefühl auf, der Schmerz auf seinem Gesicht war deutlich. »Ja, bestimmt.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Hast du einen Vorschlag?«

»Was machst du sonst so, wenn du nicht gerade trainierst oder zu Wettkämpfen fährst?«

»Studieren.«

»Und was?«

»Ich mache nächstes Jahr meinen Master in Bewegungs- und Sportwissenschaft.«

»Wow! Und du möchtest bestimmt mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, oder?«

Sie schnalzte mit der Zunge. »Ich bin ziemlich leicht zu durchschauen, was?«

»Das kann ich noch nicht sagen. Aber ich habe gesehen, wie viel Spaß dir das Trainieren mit den Teenies macht.«

»Das tut es wirklich.« Mit einem Lächeln strich sie sich das Haar hinters Ohr.

Die Ameisen marschierten wieder.

 

»Ich muss wohl nicht fragen, ob du mich heute zum Training fährst, oder?«

Lukas grinste, packte sein Frühstücksgeschirr zusammen und brachte es zur Spülmaschine, um es einzuräumen.

Finn stellte die leere Kaffeetasse auf den Unterteller zurück und warf einen Blick zur Küchentür. Seine Eltern waren gerade durch sie hindurch verschwunden, um sich für die Arbeit fertig zu machen. »Was willst du damit sagen?«

Sein kleiner Bruder lachte. »Ja, genau, Alter! Ich schwöre, du magst Kathi.«

Ihm wurde heiß, er fühlte sich ertappt. »Ich weiß noch nicht, ob ich sie mag. Also, auf diese Weise.«

»Ja, klar, streite es ruhig ab. Kommst du trotzdem? Du kannst mich wieder vor der Schule abholen.«

Finn war versucht, alles zu leugnen und seinem Bruder abzusagen. Aus Trotz. Aber was sollte das bringen? Nur noch mehr Neckereien.

»Okay. Aber bitte, verbreite keine Gerüchte in diese Richtung!«

»Das muss ich gar nicht, dafür habt ihr schon selbst gesorgt.« Lukas nahm die für ihn vorgesehene Brotdose und schob sie in seinen Rucksack.

»Was? Wie?«

»Keiner von uns hat Kathi je mit einem Freund gesehen. Ich schwöre, wir haben schon Wetten abgeschlossen, dass ihr zusammenkommt.«

»Ihr seid ja total durchgeknallt!«, stöhnte Finn. »Nur, weil ihr sie noch nie mit einem Freund gesehen habt, heißt das noch lange nicht, dass sie keinen hat.«

»Kann schon sein, aber ich wette, sie ist Single. Schon lange.«

»Ach, Quatsch, das glaube ich nicht. Sie ist doch total süß und …«

»Wusste ich es doch!« Lukas lachte auf und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Du stehst auf sie. Also, bis heute Nachmittag.« Er schwang sich den Rucksack über die Schulter und verließ das Haus.

Finn lehnte sich auf dem Stuhl zurück, fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und verschränkte die Hände am Hinterkopf. Fast eine Stunde hatten sie zusammen in der Pizzeria gesessen und geredet. Über dies und das, Kathis Studium und seine Ausbildung zum Notfallsanitäter, dann war das Thema wieder auf die Hip Hop Homies gekommen. Seit wann Kathi sie trainierte, wie erfolgreich sie inzwischen waren. Und plötzlich hatte Lukas aufbruchbereit neben ihm gestanden.

Sein Angebot, sie mitzunehmen, hatte Kathi angenommen. Nachdem er Lukas zugesagt hatte, Nele nach Hause zu bringen. Immer schön unauffällig bleiben!

Jetzt ließ Finn die Arme wieder sinken und lächelte vor sich hin. Er hatte sich in Kathis Gesellschaft verdammt wohlgefühlt. So wohl wie seit Monaten nicht mehr. Sehr vielen Monaten. Seine letzte Beziehung war an seinem Job gescheitert, Sandra hatte Schluss gemacht, als er nach Afghanistan ging. Nicht, dass es ihn sonderlich geärgert hätte. Sie waren nur ein paar Monate zusammen gewesen, und Finn hatte recht schnell gemerkt, dass er keine tieferen Gefühle für sie hegte. Dennoch blieb ein bitterer Beigeschmack.

Er schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein und lauschte auf die Geräusche im Haus. Sein Vater verabschiedete sich als erster, dann wirbelte seine Mutter in die Küche. »Ich bin spät dran, mein Schatz. Bist du so lieb und räumst den Tisch ab?«

»Klar, kein Problem.«

»Danke.«

Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, schnappte sich ihre Handtasche und rannte hinaus. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss, Stille senkte sich über das Haus.

Finn ertrug sie nicht.

Er sah auf die Uhr, kümmerte sich um Tisch und Küche und fuhr zum Gesprächstermin mit dem Psychotherapeuten. Danach standen zwei Termine für Wohnungsbesichtigungen auf dem Plan.

Der Therapeut begrüßte ihn mit Handschlag und einem Lächeln. »Herr Uppendieck, guten Morgen. Wie geht es Ihnen heute?«

»Ich weiß nicht, sagen Sie es mir!«

Sie ließen sich vor und hinter dem Schreibtisch nieder, der Arzt musterte ihn. »Nun, auf mich machen Sie einen etwas positiveren Eindruck als letzte Woche. Möchten Sie darüber reden, warum das so ist?«

Finn schmunzelte. »Ja, ich denke, ich möchte Ihnen davon erzählen.«

Und das tat er. Von den Homies und ihrer Trainerin. Wie wohl er sich in Kathis Gegenwart fühlte und dass er zum ersten Mal nicht ständig an Afghanistan dachte.

Weil sie immer öfter in seinem Kopf auftauchte. Weil ihre Leidenschaft irgendwie ansteckend wirkte und die negativen Gedanken verdrängte.

Nach einer Dreiviertelstunde begleitete der Therapeut Finn zur Tür und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sie werden nie vergessen können, was Ihnen in Afghanistan passiert ist. Aber Sie werden lernen, damit zu leben. Und ich kann Ihnen nur empfehlen, mehr Zeit mit dieser jungen Frau zu verbringen. Sie tut Ihnen gut.«

»Danke, Doc. Bis Freitag.«

Finn verließ die Praxis mit einem besseren Gefühl als die letzten Male und nahm sich vor, dem Rat des Therapeuten zu folgen. Weil er schon von sich aus mehr Zeit mit Kathi verbringen wollte. Auch wenn er noch nicht wusste, wie genau er das anstellen sollte, er fing gleich heute damit an. Indem er Lukas zum Training brachte, blieb, sich mit Kathi unterhielt.

Am Mittwoch genauso, doch da sank die Laune.

Lukas hatte ihm schon während der Fahrt erzählt, dass vier von ihnen mit Magen-Darm-Virus flachlagen. Und als sie beim Vereinsheim ankamen, hatte sich noch jemand abgemeldet. Kathis Stirn war vor Sorge in Falten gelegt.

Finn rieb ihr über den Arm. »Mach dir keinen Kopf, bis Samstag wird das schon. Habt ihr Ersatzleute?«

»Ja, zwei, aber die können am Samstag nicht.«

»Und wenn ihr in kleinerer Besetzung tanzt?«

Sie schüttelte den Kopf, rieb sich mit den Fingern über die Stirn und seufzte. »Zwei oder drei Ausfälle können wir auffangen, aber nicht fünf. Wir müssen im Notfall die Choreo umstellen und ob wir dann eine Chance haben …«

Die Teenager trudelten ein, und sie ging zum Ghettoblaster, um die Musik einzuschalten.

Finn ließ sich auf der Bank nieder und sah ihnen beim Aufwärmen zu.

Die Sorgen der Trainerin färbten auf die Kids ab, und der Spaß verflog, das konnte er deutlich spüren. Sie versuchten, die ursprüngliche Choreografie zu tanzen, doch sie konnten die Lücken nicht füllen. Die Abläufe hakten, der Performance fehlte die Power, die sie sonst ausstrahlten. Nach einer frustrierten Diskussion griffen sie auf ein älteres Programm zurück, tanzten es einige Male und waren unzufriedener als zuvor. Am Ende vertagten sie sich auf Freitag.

Kaum waren die Teenies zur Tür raus, stampfte Kathi mit dem Fuß auf.

»Verfluchte Scheiße«, schimpfte sie und hieb auf den Ghettoblaster ein, bis er Ruhe gab.

Finn kaute auf seiner Unterlippe, blieb aber sitzen und sah stumm zu ihr hinüber.

Er hätte sie am liebsten in den Arm genommen und getröstet, sie wieder aufgebaut.

Leider fehlte ihm der Mut dazu, so weit waren sie noch nicht.

 

Die Unruhe, die seit Mittwochabend in ihr herrschte, wurde Kathi nicht los. Ihre Gedanken kreisten um das wichtige Turnier am Samstag und dass sie sich eine Absage nicht leisten konnten. Die Anmeldegebühr würden sie nicht zurückerhalten. Auf der anderen Seite hatten sie in geschwächter Besetzung keine Chance aufs Treppchen und das war genauso unbefriedigend.

Scheiße, egal, wie man es betrachtete!

Am Freitag waren die fünf wieder da, aber geschwächt. Dafür fehlten zwei andere Kids, auch mit Magen-Darm-Problemen. Das Training war eine Katastrophe.

Ihr innerer Stress übertrug sich auf die Mannschaft, die Lust nahm rapide ab. Dafür stieg die Aggressivität und am Ende schnauzten sie sich alle an, sogar Kathi riss der Geduldsfaden.

»Schluss damit, reißt euch mal zusammen!«, brüllte sie und hob die Hände. »Heute hat das keinen Sinn mehr. Wir treffen uns morgen um acht Uhr hier und machen noch eine Generalprobe. So, und jetzt ab mit euch ins Bett! Schönen Abend noch.«

Kathi ging zum Fenster und starrte mit verschränkten Armen hinaus auf die Sportanlagen, wo Mitglieder anderer Vereinssparten trainierten.

Gott, ich bin eine so miese Trainerin!

»Kommst du noch mit auf eine Cola?«, erklang es hinter ihr und sie wirbelte herum.

Verdammt, sie hatte nicht einmal mitbekommen, dass Finn ihnen beim Training zuschaute.