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Nina Apin

DER GANZ NORMALE MISSBRAUCH

Wie sich sexuelle Gewalt gegen Kinder bekämpfen lässt

Ch. Links Verlag

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

»Früher war das normal«

Wie der Traumabegriff den Blick auf Kindesmissbrauch verändert hat

Nicht nur Perverse

Was man über Täter (und Täterinnen) weiß

Wettlauf gegen die Zeit

Wie die Polizei gegen Missbrauch im Internet kämpft

Gerechtigkeit und Entschädigung

Warum Betroffene schwer zu ihrem Recht kommen

Nicht von dieser Welt

Wie die Kirchen dabei versagen, Missbrauch in ihren Reihen aufzuklären

Aufklärung und Erinnerung

Warum Missbrauchsfälle aufgearbeitet werden müssen

Wo keiner hinsieht

Blinde Flecken beim Kinderschutz heute

Damit es nicht wieder passiert

Wie sich sexuelle Gewalt gegen Kinder bekämpfen lässt

Fazit

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Praktische Adressen und Informationen

Literaturempfehlungen

Sach- und Ortsregister

Personenregister

Dank

Zur Autorin

Einleitung

Es gibt Sätze, die dröhnen noch in den Ohren, lange nachdem man sie gehört hat. »Für Süßigkeiten macht sie alles« ist so einer. Gesagt hat ihn der langzeitarbeitslose Dauercamper Andreas V., als er 2016 beim Jobcenter vorsprach – in Begleitung eines kleinen Mädchens. Er behauptete noch mehr Dinge über die Fünfjährige: Sie mache ihn erst heiß und wolle dann doch nicht mehr, eben wie alle Frauen. Die Jobcenter-Mitarbeiterin zeigte V. an. Nur wenige Monate später wurde ihm die Pflegschaft für das Kind zugesprochen.

Im Frühjahr 2019 kamen nach und nach alle Details eines der monströsesten Fälle von Kindesmissbrauch in der deutschen Nachkriegsgeschichte ans Licht. Mindestens 31 Mädchen und Jungen hat Andreas V. über Jahre hinweg missbraucht, unzählige Fotos und Videos von ihnen angefertigt. Mit einem anderen Täter auf dem Campingplatz im nordrhein-westfälischen Lügde soll er sogar Kinder »getauscht« haben. Das Versagen von Behörden und Ämtern ist haarsträubend, die Details der Taten erregen Ekel und Wut. Die Zeitungen waren voll von dem Fall: »Du schreibst seit Jahren über Missbrauch, was denkst du darüber?«, fragte mich ein Kollege. Ich dachte eigentlich nur eins: Hört das denn nie auf?

Damit es aufhört heißt ein Buch von Matthias Katsch, dem als Schüler von einem Pater Gewalt angetan wurde. Darin stellt er fest: Der Kampf gegen sexuellen Missbrauch hat gerade erst begonnen. Katsch begegnete ich zum ersten Mal vor zehn Jahren, als etwas Unerhörtes ans Licht kam und ich darüber schrieb. Am renommierten Canisius-Kolleg in Berlin hatten zwei Lehrer, jesuitische Patres, über zwei Jahrzehnte hinweg Schüler geschlagen, gedemütigt und sexuelle Gewalt gegen sie ausgeübt. Gerüchte kursierten schon lange, es gab Hilferufe von betroffenen Schülern, sogar eine Selbstanzeige eines der Täter. 19 Jahre lang hatten der Jesuitenorden und die katholische Kirche die Sache ausgesessen. Bis sich Katsch und zwei andere Schüler des Abiturjahrgangs 1980 an den Schulleiter Pater Mertes wandten und ihm von den Übergriffen erzählten. Mertes tat etwas für die Kirche ungewöhnliches: Er schrieb sämtliche Altschüler an und informierte die Öffentlichkeit.

Danach schien es, als sei ein Damm gebrochen. Auch andere Menschen gingen nun an die Öffentlichkeit mit dem, was ihnen als Kinder in kirchlichen Internaten, Heimen und anderen Einrichtungen angetan worden war. Das Jahr 2010 war geprägt von einer Serie von Missbrauchsskandalen: Da war die Schwesterschule des Canisius-Kollegs St. Blasien im Schwarzwald (gut 30 Opfer von körperlicher und sexueller Gewalt), die Benediktinerklöster St. Ottilien und Ettal (zusammen mehr als 70 Opfer) und die Regensburger Domspatzen (mehr als 500 Opfer). Es hörte nicht auf.

Die Skandale im kirchlichen Bereich bestätigten noch meine Vorurteile gegen den klerikalen Macht- und Herrschaftsapparat. Dass Geistliche, die ins Korsett einer rigiden Sexualmoral gepresst waren, sich an ihren Schutzbefohlenen »abreagierten«, das passte in mein Bild einer moralisch ebenso überheblichen wie verkommenen Kirche.

Doch dann wurden sexuelle Übergriffe bei den Wandervögeln und anderen Pfadfindergruppen enthüllt, in traditionsreichen Reformbewegungen also, in denen junge Menschen zwanglos Natur und Gemeinschaft erfahren sollten. Und schließlich der Sündenfall schlechthin: die Odenwaldschule in Hessen. Beflügelt von der Vehemenz, mit der am Canisius-Kolleg Aufklärung getrieben wurde, und ermutigt von der öffentlichen Anteilnahme für die Betroffenen suchten und fanden nun auch ehemalige Zöglinge dieser reformpädagogischen Vorzeigeeinrichtung die Öffentlichkeit. In einer Schule, die stolz darauf war, Pädagogik ganz anders, nämlich »vom Kinde aus« zu denken, in der im Gegensatz zur Kirche auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und Individualität Wert gelegt wurde, hatten pädosexuelle Pädagogen Kinder ausgebeutet, manipuliert und vergewaltigt. Einer der Haupttäter: der Schulleiter selbst.

Bekannt war das im Odenwald schon lange, doch die Schule selbst und ihr einflussreiches Netzwerk hatten mehr als ein Jahrzehnt lang die Aufklärung verhindert. Obwohl das ganze Ausmaß erst nach einer Weile ans Licht kam – die in einem ersten Aufarbeitungsbericht1 angegebene Betroffenenzahl von 132 wurde später auf bis zu 900 korrigiert –, trafen die Enthüllungen einen Teil der Gesellschaft, der sich, gewissermaßen als weltanschaulicher Gegenpol, den Kirchen gegenüber als moralisch überlegen empfunden hatte.

Es kam noch schlimmer: Ein Kollege entdeckte bei Recherchen eine Querverbindung zu der Zeitung, für die ich arbeite, der taz: Ihr Mitgründer Dietrich Willier, ein laut älteren Kollegen charismatischer und anerkannter Polit-Journalist, war Kunstlehrer an der Odenwaldschule gewesen. Dort missbrauchte er mindestens neun Jungen zwischen zwölf und 14 Jahren, unter anderem auf von ihm organisierten Griechenland-Reisen; er soll auch eine Sammlung von Missbrauchsabbildungen besessen haben.

Genau wie die schockierte Öffentlichkeit musste ich 2010 verdauen, dass nicht nur Kirche oder Familie, sondern so ziemlich jeder Gesellschaftsbereich Schauplatz von sexueller Gewalt gegen Kinder war. Immer mehr Betroffene meldeten sich und machten auf Vorgänge aufmerksam, die nicht neu waren – aber jahrzehntelang totgeschwiegen worden waren, wie der massenhafte Missbrauch in west- und ostdeutschen Kinderheimen.

Auf dem Höhepunkt der Empörung war das Publikum auch bereit für eine Betroffenengruppe, die zahlenmäßig schon immer die größte war, für die sich aber kaum jemand interessiert hatte: Rund 60 Prozent aller sexuellen Übergriffe fanden und finden zu Hause statt, die Betroffenen sind öfter Mädchen als Jungen, die Täter oft Väter, Stief- oder Großväter, Brüder und – seltener – Mütter oder Schwestern. Und sehr häufig werden diese Taten nie zur Anzeige gebracht. Auch nach 2010 waren es nicht die Betroffenen selbst, sondern TherapeutInnen, SozialarbeiterInnen oder WissenschaftlerInnen, die öffentlich auf den täglich in Familien stattfindenden Missbrauch aufmerksam machten. Da es hier aber keine »Skandale« aufzudecken gab, sondern nur sehr viele Einzelschicksale, gab es darüber keine erhitzten gesellschaftlichen Diskussionen.

2013 erfasste die Welle der unangenehmen Entdeckungen dann auch die bundesdeutsche Politik. Parteien von den Grünen bis zur FDP hatten Ideologien befördert, die Kindesmissbrauch rechtfertigten; in einigen Fällen waren aktive Parteimitglieder sogar Täter. Als erstes wurden unappetitliche Details aus den frühen Jahren der Grünen bekannt: Eine gut organisierte Pädosexuellenlobby hatte es in den 1980er-Jahren bis in die Gremien und Beschlüsse des Parteiapparates geschafft. Da gab es eine Bundesarbeitsgemeinschaft, die BAG Schwup (Schwule und Päderasten) hieß, da hatte ein Parteiprogramm mit der Forderung, »das gesamte Sexualstrafrecht« zu streichen, die Grünen 1985 den Einzug in den nordrhein-westfälischen Landtag gekostet. All diese Dinge blieben weggesperrt in den Archiven und im Gedächtnis älterer Parteimitglieder. Im Wahljahr wurden sie von politischen Gegenspielern hervorgeholt und genüsslich ausgeschlachtet.

Doch die FDP musste bald vor der eigenen Tür kehren: Es stellte sich heraus, dass die Jungdemokraten, Vorläufer der FDP-Jugendorganisation, in ihren frühen Jahren mindestens ebenso radikale Positionen zum Thema Sexualität mit Minderjährigen vertreten hatten wie die Grünen. Und die SPD bekam wenig später ihre »Affäre Edathy«: der Innenpolitiker Sebastian Edathy geriet Anfang 2014 ins Visier einer internationalen Ermittlung gegen Kinderpornografie und legte schließlich sein Mandat nieder.

Bei den Medien sah es kaum anders aus. Wer mit dem Finger auf die taz zeigte (oder auf die konkret, die unter dem Chefredakteur Klaus Rainer Röhl zum Fachblättchen für »Lolitasex« verkam, oder auf den Spiegel, der neben der Schlagzeile »verkaufte Lolitas« die elfjährige Eva Ionesco nackt auf dem Cover abbildete), der oder die musste auch zur Kenntnis nehmen, dass selbst in der bürgerlichen Zeit Artikel erschienen waren, die sexuelle Kontakte von Erwachsenen mit Kindern glühend gegen einen vermeintlich hysterischen Zeitgeist verteidigten.

Es war niemand Geringeres als der Zeit-Feuilletonchef Rudolf Leonhard, der 1969 eine dreiteilige Serie unter dem Titel »Unfug mit Unschuld und Unzucht« verfasste.2 Darin verteidigte er unter vielen Rückgriffen auf die Kunstgeschichte »einvernehmlichen« Sex mit Kindern und fragte provokant: »Sex mit Abhängigen – mit wem sonst?«. Seine These, wonach sehr frühe sexuelle Kontakte Kindern nicht schadeten, ja sogar aktiv von ihnen initiiert würden, stützte Leonhard ausgerechnet auf die Untersuchungen von Alfred Kinsey. Der Sexualwissenschaftler aus den USA galt damals als Stichwortgeber der sexuellen Befreiung. Wie man heute weiß, war Kinsey selbst pädosexuell; seine Datensammlung sexueller Präferenzen gilt inzwischen als wissenschaftlich unseriös.

Von den Grünen bis zur FDP, von der taz bis zur Zeit: Plötzlich schien es, als hätte sich zwischen 1965 und 1985 das gesamte liberale Milieu der Bundesrepublik von der Pädosexuellenlobby in Geiselhaft nehmen lassen. All diese gesellschaftlichen Institutionen hatten mitgemacht, weggeschaut, Pädophilie verklärt oder Pädosexualität legitimiert. Wieso war es einer kleinen Minderheit gelungen, Teile der öffentlichen Meinung zu ihren Gunsten zu drehen? Wieso hatte niemand etwas gemerkt? Und warum kam das alles erst 2010 ans Licht?

Mir schien schwer vorstellbar, dass damals Konsens gewesen sein sollte, es sei »nicht so schlimm« oder sogar »progressiv«, wenn sich Erwachsene in sexueller Absicht Kindern nähern. Ich hatte viele Fragen. Oft hörte ich aber nur: »Es war eben eine andere Zeit«, für Nachgeborene also nicht zu erklären. Stattdessen gab es Gegenfragen: Warum immer in den alten Geschichten stochern? Es sei doch alles so lang her – und werde da nicht vieles übertrieben? Warum meldeten sich die angeblichen Opfer denn erst nach so langer Zeit? Könne es nicht sein, dass sich viele nur wichtig machen oder private Rachebedürfnisse an Unschuldigen ausleben wollten? Schließlich könne man mit keinem Vorwurf so gründlich eine Existenz zerstören wie mit dem des Kindesmissbrauchs …

Abwiegeln, relativieren, auf andere zeigen – solche Reflexe passten so gar nicht zu den sonst so auskunftswilligen »Alt-68ern«. Eher erinnerte mich diese Haltung an die katholische Schweigepraxis. Wie einschüchternd so ein Schweigen und Relativieren sein kann, verstand ich, als ich die ersten Betroffenen kennenlernte. Es waren Begegnungen, die mich tief erschütterten. Männer, die von Ängsten und Depression gezeichnet waren. Frauen, die mehrere Suizidversuche hinter sich hatten. Menschen, die von Demütigung durch die Täter und vom Desinteresse der Gerichte, Behörden und Krankenkassen erzählten. Auch Täter lernte ich kennen: offen praktizierende Pädosexuelle, die mir, im Anonymitätsschutz des Internets, obskure Selbstrechtfertigungen zuschickten und ihre Diskriminierung durch die Gesetzeslage und einen zunehmend »prüden« Zeitgeist beklagten.

Ich fragte mich: Wie kann es sein, dass in einer der sichersten Gesellschaften der westlichen Welt, in einem demokratischen und wohlhabenden Land mit sinkender Geburtenrate, das laut landläufiger Meinung den Nachwuchs verhätschelt, wie kann es sein, dass man hier so auf den Kinderschutz pfeift? Dass Väter, Mütter, Onkel jahrelang ein Mädchen vergewaltigen, ohne dass eine Lehrerin etwas merkt? Dass Kinder in einem Internat von ihren Lehrern regelrecht zur Prostitution herangezogen werden, ohne dass die staatliche Schulaufsicht Hinweisen nachgeht? Wie kann es sein, dass Mütter wegsehen, Nachbarn schweigen, Behörden untätig bleiben? Dass es immer wieder passiert und scheinbar nie aufhört?

Ich hatte gerade selbst zwei Kinder bekommen. Wie sollte ich sie, nach allem, was ich gehört hatte, je vertrauensvoll in die Hände von Pädagogen, Fußballtrainern oder Pfarrern geben? Wie können, fragte ich mich, die Institution Kirche, die Idee der Reformpädagogik, das Ziel der sexuellen Befreiung, ja die bürgerliche Kernfamilie diesen Vertrauensverlust überleben? Wo sie sich doch allesamt als Tatorte entpuppt hatten.

Das Jahr 2010 markiert einen Bruch. Zuvor war sexuelle Gewalt gegen Kinder etwas Schlimmes gewesen, das andere betraf. War man nicht selbst betroffen, redete man nicht darüber. Warum sollte man auch? Das waren Fälle für die Polizei, für Gerichte und Staatsanwälte. Fertig. Allmählich aber wurde klar, dass das so nicht stimmt – wie viele andere Mythen, mit denen man sich das Thema vom Leib halten konnte.

Solange sexuelle Gewalt gegen Kinder weder in der Forschung noch in der Medienberichterstattung eine nennenswerte Rolle spielte, konnte man, erstens, annehmen, dass es sich um schlimme Einzelschicksale handelt. Doch davon kann nicht die Rede sein: Im Schnitt werden 40 Kinder pro Tag Opfer von Taten gegen ihre sexuelle Selbstbestimmung. Diese Zahl weist auf ein Ausmaß hin, das einer Seuche oder einer Volkskrankheit wie Arthrose oder Diabetes ähnelt. Wir haben es also mit einem Massenphänomen zu tun.

Auch die Annahme, dass, zweitens, sexuelle Gewalt gegen Kinder »nur in kaputten Familien vorkommt«, ist nicht richtig. Wie körperliche Gewalt gegen Kinder und Kindesvernachlässigung kommt auch die sexuelle Gewalt in sämtlichen Gesellschaftsschichten vor, sie ist also kein Unterschichtsphänomen oder eins, das nur dysfunktionale Familien betrifft. Überhaupt scheint es kein einheitliches Muster einer »Missbrauchsfamilie« zu geben. Es kann überall passieren. Und es sind nicht nur immer Väter, Stiefväter, Onkel die Täter, wie lange geglaubt wurde. In der Forschung spielen zunehmend auch Übergriffe durch Geschwister und weibliche Angehörige eine Rolle.

Die dritte falsche Annahme über Bord zu werfen, ist am schwersten. Sie aufzugeben, heißt, einen Teil des Vertrauens in andere Menschen aufzugeben, das unsere Gesellschaft zusammenhält. Diese Annahme lautet: »Normale Menschen machen so etwas nicht«. Sie wird durch zahlreiche Studien widerlegt. Demnach werden die meisten sexuellen Taten an Kindern eben nicht von Pädosexuellen begangen, das heißt von Menschen, die in ihrer Sexualität eindeutig auf Mädchen oder Jungen fixiert sind. Diese »Kern-Pädosexuellen« machen nur einen geringen Teil der erwachsenen Bevölkerung aus und nicht alle von ihnen werden tatsächlich Täter. Durch Unterdrückung beziehungsweise Therapie kann ein Leben mit dieser Veranlagung möglich sein, ohne Übergriffe auf Kinder zu verüben.

Das klingt beruhigend, ist aber tatsächlich sehr beunruhigend. Denn es heißt, dass es meist eben nicht Pädophile sind, die sich an Kindern vergreifen. Der Sexualforscher Günter Amendt spricht von »Gelegenheitstätern im Umfeld des missbrauchten Kindes«:3 Väter, Brüder, Onkel, Cousins und auch übergriffige Mütter. Ganz gewöhnliche Heterosexuelle also. Menschen, die nicht spontan übergriffig werden – auch so ein Mythos –, sondern gezielt und strategisch den Kontakt zu Kindern suchen und intensivieren, um dann irgendwann zur Tat zu schreiten.

Diese Erkenntnis ist ungeheuerlich, aber plausibel: Laut Statistik sind die Deutschen Spitzenreiter im Pornokonsum. 12,4 Prozent des weltweiten Online-Traffics mit pornografischen Inhalten werden in Deutschland abgerufen – 70 Prozent davon werktags zwischen 9 und 17 Uhr.4 Mehrere tausend Suchanfragen jährlich drehen sich auch um Material, das sexuelle Gewalt an Kindern zeigt, von illegalen Recherchen nach Hardcore-Missbrauchsmaterial im Darknet einmal abgesehen. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass es im Büro einen Kollegen gibt, der in der Mittagspause nach nackten Mädchen sucht. Ebenso wenig, dass der befreundete Kita-Vater, der Nachbar oder der Kioskbesitzer von gegenüber Konsumenten von Missbrauchsabbildungen sind – oder sogar Täter. Wenn man davon ausgeht, dass, wie die Zahlen es nahelegen, die allermeisten dieser Männer (und wenigen Frauen) keine »echten« Pädosexuellen sind, dann haben wir es hier mit einem gesellschaftlichen Riesenproblem zu tun.

Nicht zufällig ist die Zahl der Übergriffe seit Jahren konstant auf einem erschreckenden Niveau. Für 2010 verzeichnet die Polizeiliche Kriminalstatistik 11 867 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern, für das Jahr 2017 sind es 11 547, im Jahr darauf 14 606, also noch einmal 6,7 Prozent mehr. Die Folgen treffen uns jetzt schon alle: Laut einer neueren deutschen Studie5 hat etwa jeder achte Erwachsene in seiner Kindheit und Jugend sexuelle Gewalterfahrungen gemacht. Mit lebenslangen Auswirkungen. Bis das früh Erlebte sich durch Depressionen, chronische Erkrankungen oder Suchterkrankungen Bahn bricht, kann es Jahrzehnte dauern. Die wirtschaftlichen Folgekosten betragen Experten zufolge elf Milliarden Euro pro Jahr, etwa für Arbeitslosenunterstützung, Kriminalitätsfolge- und Therapiekosten.

Rund eine Million Mädchen und Jungen, die sexuelle Gewalt erlebt haben oder zur Zeit erleben, und dazu Millionen von Erwachsenen, die einschlägig vorbelastet sind und zum größten Teil nie Hilfe in Anspruch genommen haben: Das Trauma sexueller Gewalt ist tief verankert in unserer Gesellschaft. Und es droht, sich immer weiter fortzusetzen. Das Internet wirkt dabei als mächtiger Beschleuniger, weil es Tätern Schutz bietet und neue Formen der Gewalt hervorbringt.

Die gute Neuigkeit ist: Die Zeiten waren nie besser, um den Kampf gegen Kindesmissbrauch so ernsthaft aufzunehmen, wie man auch gegen Arthrose und Diabetes kämpft. Nie zuvor war das gesellschaftliche Wissen so groß, nie wurden so viele Studien und Forschungsprojekte initiiert darüber, welche Faktoren sexuelle Übergriffe an Kindern begünstigen, was Erwachsene zu Tätern macht, wie man Folgeschäden minimiert und neuen Taten vorbeugt. Und nie zuvor wurde so viel berichtet – auch aus Sicht der Betroffenen. Zwar dominieren nach wie vor spektakuläre Kriminalfälle die Berichterstattung. Zunehmend sind viele Medien aber bestrebt, die Hintergründe der jeweiligen Fälle zu beleuchten, über Behördenversagen oder problematische Internetplattformen zu recherchieren – und die Frage nach Tatumständen und MitwisserInnen zu stellen.

Nie zuvor war der gesellschaftliche Diskurs auch so eindeutig auf der Seite der Kinder. Kinder sind unserer alternden Gesellschaft wichtig, ihr Schutz liegt den meisten Menschen am Herzen. Seit einigen Jahren ist Gewalt in der Erziehung gesetzlich verboten und gesellschaftlich geächtet. Auch Schulen und Internate sind keine luftdicht verschlossenen autoritären Systeme mehr. Und der moralische Kredit, der dem Pfarrer vor Ort stets gewährt wurde, schwindet nach jeder Enthüllung über missbrauchende Priester ein bisschen mehr. Vorbei sind auch die Zeiten, in denen im Namen der sexuellen Befreiung »einvernehmlicher Sex« mit Kindern propagiert wurde. Und in Zeiten von #MeToo bleiben auch verschwitzte »Lolita«-Fantasien von angeblich »frühreifen« Mädchen nicht mehr unwidersprochen.

Langsam aber sicher brechen auch immer mehr Betroffene öffentlich ihr Schweigen. Von der Grünen-Politikerin Marieluise Beck6 und der Schauspielertochter Pola Kinski bis zu den Schriftstellern Bodo Kirchhoff und Christian Kracht entschieden sich prominente Menschen, den Makel ihrer Kindheit nicht mehr zu verbergen. Viele andere tun es ihnen gleich. In öffentlichen Anhörungen der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs erzählen Betroffene ihre Geschichten allen, die sie hören wollen.

In den letzten Jahren entstanden mit dem Betroffenenrat und vielen Initiativgruppen einflussreiche Selbstorganisationen, in denen Betroffene zusammen für die Vertretung ihrer Interessen streiten. Und sie werden auch gehört: Seit 2010 gibt es bei der Bundesregierung das Amt des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, der in Zusammenarbeit mit Betroffenen Einfluss auf Gesetzesvorlagen und Strafrechtsreformen nimmt. Zunächst hatte das Amt die ehemalige Bundesfamilienministerin Christine Bergmann inne, seit 2011 der Jurist Johannes-Wilhelm Rörig. Die Unabhängige Kommission erforscht zudem seit 2016 systematisch sämtliche Formen von Kindesmissbrauch und widmet in öffentlichen Hearings und vertraulichen Anhörungen den individuellen Erfahrungen von Betroffenen besondere Aufmerksamkeit.

Die Zeit des Schweigens und Wegsehens ist also vorbei. Zehn Jahre nach Bekanntwerden der großen Missbrauchsskandale sind wir dabei, in eine neue Phase einzutreten. Das jahrhundertealte Tabu Kindesmissbrauch ist noch lange nicht tot, aber es bröckelt. Und aus den immer größer werdenden Ritzen sickern die Stimmen und Schicksale der Betroffenen, die sich Gehör verschaffen.

Dieses Buch richtet sich an alle, die mitreden wollen, wenn endlich darüber geredet wird. An Betroffene, die noch nicht im Austausch mit anderen stehen und wissen wollen: Haben das, was mir passiert ist, auch andere erlebt? Was bringt es, sich zu organisieren; wie komme ich raus aus der Opferrolle?

Es richtet sich besonders auch an Eltern, FreundInnen, Verwandte von Kindern. Menschen, die wissen wollen: Wie kann ich Missbrauch erkennen und aufklären? Was kann ich konkret tun, um Betroffene zu unterstützen? Wie kann ich zu einem sicheren Umfeld für Kinder beitragen?

Für dieses Buch habe ich mit vielen erwachsenen Überlebenden von sexueller Gewalt gesprochen, die mir klargemacht haben, dass Kindesmissbrauch kein Schicksal ist. Es ist ein erlittenes Unrecht, an dem man zerbrechen kann, das man aber auch überwinden und an dem man wachsen kann. Niemand ist nur Opfer und niemand muss sein Leben lang Opfer sein. Fachleute haben mir von ihrer Arbeit mit Betroffenen und TäterInnen berichtet, PolizeibeamtInnen von ihren Ermittlungen.

Der ganz normale Missbrauch untersucht, was sich zehn Jahre nach dem »Urknall«, nach der Erschütterung durch die massenhaft bekannt gewordenen Kindesmissbrauchsfälle getan hat und wo es noch hakt. Was weiß man mittlerweile darüber, wer sich aus welchen Motiven an Kindern vergreift? Wie gut sind Strafverfolgungsbehörden gerüstet, um Missbrauchsfälle aufzuklären und TäterInnen zur Verantwortung zu ziehen? Und warum versagen die beiden Kirchen in Deutschland noch immer darin, dem verbreiteten Kindesmissbrauch in ihren eigenen Reihen entschlossen entgegenzutreten?

»Es hat keinen Zweck, nach vorne zu blicken, wenn man nicht zurück blickt«, hat Pater Klaus Mertes einmal gesagt. Deshalb soll auch die Rolle von Aufklärungs- und Aufarbeitungsprozessen näher beleuchtet werden. Die entscheidende Frage bleibt natürlich: Wie schützt man Kinder konkret davor, sexuelle Gewalt zu erleben? Und warum tun sich Einrichtungen wie Schulen, Jugendeinrichtungen und Sportvereine nach wie vor so schwer mit dem Gedanken der Prävention? Im Anhang sind nützliche Adressen und weiterführende Infos zum Thema versammelt. Denn der Kampf gegen sexuellen Kindesmissbrauch findet vor Ort, in der Praxis statt.

»Früher war das normal«

Wie der Traumabegriff den Blick auf Kindesmissbrauch verändert hat

Sexueller Kindesmissbrauch ist ein Verbrechen, darin herrscht über alle weltanschaulichen und Parteigrenzen hinweg Einigkeit. Kindern Gewalt anzutun, ihre intimsten Grenzen zu verletzen, ist sogar besonders übel, bedeutet es doch, den Jüngsten und Verletzlichsten in unserer Gesellschaft Schaden zuzufügen und denen die Zukunft zu rauben, die sie eigentlich noch vor sich haben. Für den zerstörerischen Effekt von Missbrauchserfahrungen in der Kindheit hat die Psychoanalytikerin Ursula Wirtz den drastischen Begriff »Seelenmord«7 geprägt.

Im öffentlichen Ansehen stehen »Kinderschänder« denn auch ganz unten. Noch verachtenswerter als ein »gewöhnlicher« Mörder erscheint der Vater, der seine kleine Tochter vergewaltigt, der Pädophile, der Nachbarskinder in seine Wohnung lockt, die Mutter, die den eigenen Jungen im Internet an Freier vermietet. Diese Gefühlslage spiegelt sich im Strafgesetzbuch. Paragraf 176 schützt die ungestörte Entwicklung von Kindern unter 14 Jahren. Deshalb sind alle Taten gegen ihre sexuelle Selbstbestimmung strafbar. Nicht nur sexuelle Handlungen am Kind werden als Missbrauchshandlung gewertet und mit sechs Monaten bis zehn Jahren Gefängnis bestraft, sondern auch Handlungen ohne Körperkontakt, das Entblößen von Geschlechtsteilen, das Auffordern zu sexuellen Handlungen an sich selbst oder mit anderen und das Zeigen oder Herstellen pornografischer Bilder oder Schriften.

Besteht zwischen Täter und Opfer ein Schutzbefohlenenverhältnis, etwa zwischen LehrerIn und SchülerIn oder zwischen AusbilderIn und AuszubildendeM, kommt Paragraf 174 zum Tragen, der den besonderen Schutz auf Jugendliche bis zum Erreichen der Volljährigkeit ausdehnt. Unter Paragraf 184 b werden die Verbreitung, der Erwerb und der Besitz kinder- und jugendpornografischer Schriften unter Strafe gestellt. Der vom Gesetzgeber verwendete Begriff »Kinderpornografie« scheint eindeutig zu sein, tatsächlich verschleiert er jedoch, dass für jedes »kinderpornografische« Video oder Foto einem echten Kind Gewalt angetan wird. »Pornografie« suggeriert fälschlicherweise, dass hier, wie bei Erwachsenenpornos, freiwillige DarstellerInnen agierten. Fachleute sprechen daher lieber von »Missbrauchsabbildungen«.

Auch der Begriff »sexueller Missbrauch«, wie er in Gesetzestexten und offiziellen Schriften noch immer verwendet wird, ist reichlich unscharf. Denn bei solchen Delikten geht es eben nicht in erster Linie um Sexualität, zu der ja normalerweise zwei gehören, die im bewussten Einvernehmen miteinander handeln. Bei Kindern hingegen ist davon auszugehen, dass sie nicht in der Lage sind, bewusst in Handlungen einzuwilligen, deren Tragweite und Konsequenzen sie nicht überblicken können. Hier handelt es sich also auch dann um Gewalt, wenn kein physischer Zwang angewendet wird: Ein Erwachsener (oder eine Erwachsene) nutzt die eigene körperliche, geistige und gesellschaftliche Überlegenheit, um einem Kind seinen (oder ihren) Willen aufzuzwingen.

Beim Begriff »Missbrauch« schwingt außerdem immer die Assoziation mit, dass es eben auch einen sachgemäßen sexuellen »Ge-Brauch« von Kindern geben könne, was ein befremdlicher Gedanke ist. Fachleute aus der Praxis und WissenschaftlerInnen sprechen deshalb lieber von »sexueller Gewalt« und betonen dadurch den Gewaltaspekt der Tat. Oft wird auch der noch präzisere Begriff der »sexualisierten Gewalt« verwendet, da die Sexualität nur ein Teil, gleichermaßen eine Einfärbung der zentralen Gewalttat ist.

Dennoch ist »sexueller Kindesmissbrauch« nach wie vor am gebräuchlichsten, wohl weil dieser Begriff am allgemeinverständlichsten ist. Da im öffentlichen Diskurs alle drei Begriffe für ein und denselben Sachverhalt verwendet werden, wird auch hier nachfolgend synonym von sexuellem Kindesmissbrauch, sexueller und sexualisierter Gewalt gegen Kinder die Rede sein.

Überraschend ist, dass es in Deutschland den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs überhaupt erst seit 1973 gibt. Zwar gilt Paragraf 176 des Strafgesetzbuchs seit 1872. Doch als »sexuelle Unzucht mit Kindern« waren nur Taten zur Ahndung vorgesehen, die unter Anwendung roher Gewalt begangen wurden. Psychischer Zwang oder das emotionale Ausnutzen von Abhängigkeit und engen Beziehungen zählten nicht dazu.

Dass nicht nur Mädchen (bei denen es zur Entstehungszeit des Gesetzes zuvorderst ihre Jungfräulichkeit und damit ihre Ehefähigkeit zu schützen galt), sondern auch Jungen Opfer sexueller Gewalt werden können, wurde sogar völlig ausgeblendet. Sexuelle Kontakte zwischen Jungen und männlichen Erwachsenen wurden als homosexuelle »Beziehungen« gewertet (und als solche strafrechtlich verfolgt) – und nicht als Gewaltakte. Erst seit der Sexualstrafrechtsreform von 1998 gilt die anale Penetration von Jungen vor Gericht als Vergewaltigung. Und durch Manipulation erschlichene sexualisierte Handlungen ohne Gewaltanwendung werden jetzt ebenso als Übergriffe gewertet wie vergleichbare Taten gegenüber Mädchen.

Auch in der Sozialarbeit und Psychologie hatte man die Jungen nicht auf dem Radar. Noch 1989 beklagte die Hamburger Psychologin Nele Glöer im Publikationsband zu einer Tagung über Kindesmissbrauch,8 dass sexuelle Gewalt gegen Jungen ein weitgehend unbekanntes Thema sei. So liege keine einzige deutsche Veröffentlichung dazu vor. Man gehe davon aus, dass es das Phänomen eigentlich gar nicht gebe, was wohl vor allem an männlichen Rollenerwartungen liege und am noch immer weit verbreiteten Tabu der Homosexualität.

Das hat sich inzwischen geändert: PsychologInnen, ÄrztInnen und ForscherInnen, die sich mit Kindern beiderlei Geschlechts beschäftigten, kamen zu dem Schluss, dass Jungen sehr wohl Opfer sexualisierter Gewalt werden. Auch die Aussagen männlicher Täter gaben darüber Auskunft. Jüngeren Studien zufolge wurde jedes vierte bis fünfte Mädchen in Deutschland schon einmal sexuell missbraucht – und jeder neunte bis zwölfte Junge. Die Forschung hat dabei übereinstimmend ergeben, dass Mädchen meist eher in der Familie missbraucht werden und Jungen eher außerhalb der Familie, wenn auch selten von ganz Fremden. Die Dunkelziffer dürfte bei Jungen ungleich größer sein als bei Mädchen, da viele von ihnen Angst haben, bei einer Öffentlichmachung des Erlebten als »Opfer« für unmännlich oder schwul gehalten zu werden.

Glöer beschreibt anhand von ihr untersuchter Jungen, wie der Missbrauch, der ja in der überwiegenden Mehrheit von Männern verübt wird, Jungen in ihrer Geschlechtsrollenidentität verwirrt. Vor allem wenn sie erlebten, dass die Täter ansonsten verheiratet sind oder sexuelle Beziehungen zu anderen Frauen haben, gingen die Jungen davon aus, dass sie selbst es seien, die homosexuell sind, oder sie glaubten, bei den Männern homosexuelle Wünsche erst ausgelöst zu haben. Bei Übergriffen durch Frauen dagegen stellten sich bei den Jungen neben Verwirrung eher Angst, Ekel und Schmerz ein.

Bei missbrauchten Jungen räumen Glöer und andere AutorInnen der Wut einen hohen Stellenwert ein. Zur Wut, dem Übergriff hilflos ausgeliefert gewesen zu sein, geselle sich Wut auf sich selbst, sich nicht genug gewehrt zu haben. Diese Wut könne sich auch in Aggressionen und Dominanzverhalten gegenüber anderen, meist jüngeren Kindern äußern. Später, als Erwachsene, würden diese missbrauchten Kinder selbst zu Tätern.