Aus dem Amerikanischen von Manfred Sanders

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The Three Beths

erschien 2018 im Verlag Grand Central Publishing.

Copyright © 2018 by Jeff Abbott

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-801-8

www.Festa-Verlag.de

Für Lindsey Rose

mit Dankbarkeit und Respekt

1

Mariah Dunning sah ihre vermisste Mutter auf der anderen Seite der Menschenmenge.

Der Gastronomiebereich des Einkaufszentrums war einer ihrer Mutter-Tochter-Treffpunkte gewesen. Mom hatte die Fressmeile ertragen, weil es Mariah dort gefiel. Mom war sehr eigen mit dem, was sie aß, Mariah hingegen gar nicht – Chickenburger, mongolisches Barbecue, Salamipizza, alles Sachen, die Mom nie anrühren würde und deren Kalorien Mariah beim Basketball abarbeitete. Und als Mariah während ihrer High-School-Zeit diesen Ferienjob an der Kinokasse hatte, war eine abgelegene Sitzecke in der Fressmeile ein Ort, an dem sie sich treffen und eine kostbare Stunde zwischen Moms Geschäftsreisen verbringen konnten – immer noch besser als der Fraß im Flugzeug, glaube ich, pflegte Mom zu sagen.

Seit Mom verschwunden war, war Mariah nicht mehr hier gewesen. Sie hatte den Gastronomiebereich bei ihren wenigen Besuchen im Einkaufszentrum bewusst gemieden. Aber heute waren sie und ihr Vater im Apple Store gewesen, um Mariah einen neuen Computer und ein neues iPhone zu kaufen; Dad hatte Freude daran, ihr Geschenke zu machen, obwohl sie längst erwachsen war und sich ihre Sachen selbst kaufen konnte. Seine Geschenke waren wie Umarmungen, etwas unbeholfene, wenn man nicht genau wusste, wie tief die Gefühle des anderen waren. Die Fressmeile war kein Ort, an dem Mariah sich aufhalten wollte; sie bereitete ihr Unbehagen, gab ihr das Gefühl, nicht still sitzen zu können. Aber Dad hatte gesagt: Lass uns was essen, und er hatte sich solche Mühe gegeben, ihr einen schönen Tag zu bereiten, dass sie es nicht übers Herz gebracht hatte, Nein zu sagen. Und inmitten der Hintergrundmusik und der lauten Unterhaltungen blickte Mariah von ihrem Pad Thai auf und sah ihre Mutter. Mariah erstarrte, die Stäbchen in der Hand, von denen die Nudeln herabbaumelten wie Seilschlingen.

Ihre Mutter war vor fast einem Jahr verschwunden, und jetzt stand sie da und schaute hinter einem Ständer mit Sonnenbrillen am Rand der Fressmeile zu Mariah herüber.

Dunkle Brille, roter Lippenstift, blasse Haut, sogar die charakteristische Narbe an ihrem Mundwinkel, die nur Mom gehören konnte. Fünf Sekunden lang konnte Mariah sich nicht bewegen, war nicht in der Lage, irgendeinen Laut von sich zu geben; sie hatte das Gefühl, nie wieder sprechen zu können. Die beiden starrten sich an, als wäre es ein Psychoduell. Mariah stand auf und ließ ihre Stäbchen in die Schale fallen.

Ihre Mutter zog sich hinter den Ständer zurück. Weg war sie.

»Mariah?« Dad schaute zu ihr hoch. »Was ist?«

»Mom steht dort drüben.« Sie streckte ihre zitternde Hand aus. Dad schaute zu der Stelle, auf die sie zeigte, dann drehte er sich zu ihr um.

»Das kann nicht sein.«

Mariah ging mit schnellen Schritten los. Dann fing sie an zu laufen, schlängelte sich durch das Labyrinth aus Tischen und Essensgästen.

»Mariah?« Dad stand auf und reckte den Hals. »Wo willst du hin?«

»Ich hab sie gesehen!« Mariah rannte, ohne auf ihre Umgebung zu achten, zu dem Verkaufsstand mit den Sonnenbrillen. Mom war nicht mehr zu sehen. Grob drängelte sie sich an zwei Frauen vorbei, stieß beinahe der einen ihr Tablett mit chinesischem Essen aus der Hand und der anderen ihren Milchshake. »Mom! Mom!«

»Mariah!«, rief Dad ihr hinterher, leise und drängend – als wollte er nicht, dass die Leute es hörten. Er eilte ihr nach, entschuldigte sich bei allen, mit denen Mariah zusammengestoßen war, an denen sie sich vorbeigedrängelt hatte. »Mariah, warte!« Er bemühte sich um einen strengen Ton, versuchte sie aufzuhalten.

»Mom!«, schrie sie, laut und lang, als könnte sie ihre Mutter mit dem Klang ihrer Stimme festhalten. Als wäre Mariah noch ein Kind und keine 22-Jährige. Sie lief schnell, aber blind für ihre Umgebung, nahm kaum die Leute wahr, die sie zur Seite schubste. Sie umkreiste den Stand mit den Sonnenbrillen. Mom war verschwunden. Mariah sprach den Verkäufer an: »Gerade war eine Frau hier: dunkle Haare, dunkler Mantel, kleine Narbe am Mund. Mitte 40. Wo ist sie hingegangen?«

Der Verkäufer zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, die habe ich nicht gesehen.«

»Sie war gerade erst hier!« Mariahs Stimme bebte, als sie sich hektisch umschaute.

»Ich habe sie nicht gesehen«, wiederholte der Verkäufer. Leute starrten herüber, beobachteten die Szene; eine junge Frau zückte ihr Smartphone.

Mariah ließ den Verkaufsstand hinter sich zurück und eilte vorbei an vier weiteren Ständen in dem weiten offenen Bereich, an dem sich zwei Flügel des Einkaufszentrums trafen. Vor ihr befand sich ein zweistöckiges Kaufhaus, links von ihr ein Ausläufer des Einkaufszentrums mit einigen Fachgeschäften, rechts der wie immer überlaufene Apple Store und einige kleinere Läden.

»Du hast sie nicht gesehen.« Dad berührte ihren Arm und sie schreckte zurück. »Schatz, wenn sie hier wäre, wäre sie nicht weggelaufen. Du hast es dir eingebildet.«

Das habe ich nicht, dachte Mariah. Sie war hier. Ich habe sie gesehen.

»Du hast sie nicht gesehen«, wiederholte Dad, als könnte er Mariah die Gedanken von der Stirn ablesen. »Mariah. Lass uns gehen.« Seiner Stimme war anzumerken, wie peinlich ihm die Situation war. »Wir brauchen das hier nicht.«

»Haben Sie sie noch alle?«, rief eine wütende Frau. Ihr verschütteter Schoko-Milchshake lief an ihrer weißen Bluse herunter. In ihren Augen funkelte der Zorn.

»Es tut ihr furchtbar leid«, versuchte Dad die Frau zu beruhigen. Aus den Augenwinkeln sah er einen Sicherheitsmann des Einkaufszentrums, der sich näherte. »Bitte, lassen Sie mich für die Reinigungskosten aufkommen.« Er öffnete seine Brieftasche, nahm einige Zwanziger heraus. Verzweifelt versuchte er, möglichst wenig Aufsehen zu erregen.

»He. Habe ich Sie nicht im Fernsehen gesehen?«, meinte die Frau.

»Nein«, sagte Dad. »Nein.«

Mariah ignorierte die beiden. Sie wollte dich sehen. Sie ist gekommen und hat dich direkt angeschaut. Links und rechts gab es keine Spur von ihr, also sprintete Mariah mit Höchstgeschwindigkeit in das Kaufhaus, während Dad mit einem kläglichen Blöken ihren Namen rief.

Mariah stürmte durch das Kaufhaus, kurvte um eine Frau herum, die Parfümproben versprühte, dann bremste sie, drehte sich um und packte die Frau am Arm.

Das Probenfläschchen fiel herunter, zerbrach auf dem Boden und der Lavendelduft des französischen Parfüms stieg brutal in die Luft auf.

»Eine Frau, schwarze Haare, schwarzer Mantel – ist sie hier vorbeigekommen?«

»Ähm, ich glaube, ja. Sie ist zu dem Ausgang da gegangen.« Die Frau wich mit ängstlichem Blick zurück.

Mariah stürzte zum nahe gelegenen Ausgang, drängelte sich an einer Frau mit Kinderwagen vorbei und rannte, getrieben von ihrer Ungeduld und ihrem Ungestüm, hinaus auf einen kleinen Parkplatz an der Seite des Einkaufszentrums. Ihre Augen suchten die Fahrzeuge ab.

»Mom!«, schrie sie. Aber Mom war weg. Mariah sah einen Wagen, den einzigen, der vom Parkplatz herunterfuhr. Dunkelblau. Ein Honda. Und der Wagen fuhr davon und war verschwunden.

Das war sie. Sie muss es gewesen sein.

Mariah rannte zu ihrem Auto. Zum Glück war nicht Dad gefahren, sondern sie, deshalb hatte sie die Schlüssel. Sie stieg ein, startete und fuhr rückwärts, bevor sie noch die Tür ganz geschlossen hatte. Im Rückspiegel sah sie Dad, der auf sie zu rannte, mit verzweifeltem Gesicht. Sie gab Gas, raste zur Ausfahrt und in den Verkehr hinein, konnte gerade noch einem ankommenden Minivan ausweichen, der mit einer Mutter und mehreren Kindern beladen war. Die Mutter hupte und schrie sie an und Mariah schrie »Entschuldigung!« zurück und bekam ihren Wagen unter Kontrolle. Der Honda bog ab und fuhr den steilen Hügelweg hinunter, der zur Ausfahrt des Einkaufszentrums an einer Nebenstraße führte.

Mariah folgte ihm, raste über eine Kreuzung und bog in den gleichen Weg ein. Der blaue Honda schwenkte scharf nach rechts, weg vom Highway und auf das Zentrum von Lakehaven zu. Mariah beschleunigte; ihr alter Ford musste sich mächtig ins Zeug legen. Aber sie holte auf. Sie konnte sehen, dass hinter dem Lenkrad des Hondas eine dunkelhaarige Frau saß.

Sie musste sie einholen, musste sich vergewissern, dass es Mom war. Du bist nicht verrückt. Es ist Mom.

Sie beschleunigte weiter, kam dem Honda näher, und dann bog der Honda scharf ab. Mariah überriss das Lenkrad, verlor die Kontrolle über den Wagen und schleuderte auf die Gegenfahrbahn. Sie sah die Farben eines Streifenwagens und die Signalleuchten auf seinem Dach, als sie auf ihn zu schleuderte, und dann traf der Streifenwagen das Heck ihres Fords, schleuderte sie noch einmal herum, bis sie holpernd und schlingernd zum Stehen kam. Riesig füllte der Streifenwagen der Polizei von Lakehaven den Rückspiegel aus. Der Honda war verschwunden.

»Steigen Sie aus dem Wagen! Sofort!«, schrie die strenge Stimme des Polizisten, und Mariah zitterte, denn jetzt würden die Leute wieder etwas über ihre Familie zu reden haben, eine neue grelle Flamme der Schande. Sie biss sich auf die Unterlippe.

Mariah Dunning stieg mit erhobenen Händen aus dem Wagen. »Hallo, Officer. Ich habe den Kofferraum voller Waffen und Munition. Und einen Teleskopschlagstock in meinem Stiefel. Nur damit Sie es wissen.«

2

Eine Stunde später wurden Mariah und ihr Dad von einem Taxi an der Einfahrt ihres bescheidenen Heims nicht weit von der Lakehaven High School abgesetzt. Es war ein in den 60er-Jahren erbautes Ranchhaus auf einem Hügel, die Sorte Haus, die in diesem Teil von Lakehaven immer häufiger abgerissen und durch wesentlich protzigere, auf das Grundstück gequetschte Fertigvillen ersetzt wurde. Manchmal, wenn Mariah nach Hause kam, sah sie ihren Vater am Fenster stehen und hinausschauen, ob vor irgendeinem Nachbarhaus hier am Bobtail Drive ein neues ZU VERKAUFEN-Schild stand. In den letzten Jahren hatte es einige davon gegeben. Leute, die aus der Nachbarschaft der Dunnings flohen und aus dem Renovierungshype Profit schlugen. Mariah fragte sich, ob ihr Vater sich Sorgen über eine neue Abrisswelle und eine Erhöhung seiner Grundsteuer machte oder ob er lediglich auf neue Nachbarn hoffte, solche, die nichts vom Verschwinden seiner Frau wussten. Nachbarn, die ihn nicht mit diesem schmallippigen Lächeln ansahen, das zu fragen schien: Wie hast du es getan, Craig? Wie hast du die Leiche entsorgt? Der Klatsch schien immer mit dem Haus weiterverkauft zu werden; die neuen Nachbarn sagten nie Hallo, wenn Mariah oder ihr Vater draußen vor dem Haus war oder in der Einfahrt ein paar Körbe warf.

Heute hatte sie es geschafft, ihn aus dem Haus zu locken, zum ersten Mal seit Wochen, und es war gründlich in die Hose gegangen.

Mariah war gleich nach dem Verschwinden ihrer Mutter wieder nach Hause gezogen, und ihr war klar, dass sie sich eigentlich eine eigene Wohnung suchen sollte, aber sie konnte nicht. Sie fühlte sich noch nicht bereit, Dad zu verlassen – ihn allein zu lassen. Ihren Abschluss in Informatik an der University of Texas hatte sie so schnell sie konnte über die Bühne gebracht; sie überließ Dad nicht gern sich selbst, auch nicht, um Seminare und Vorlesungen zu besuchen. Ihre Professoren hatten ihr gestattet, Gruppenaufgaben allein zu erledigen, was zwar schwieriger war, aber so musste sie ihn nicht in seiner privaten Finsternis versauern lassen.

Mariah und ihr Dad standen allein gegen die Polizei und den Rest der Welt. Und Partys und gemeinnützige Projekte und all die anderen lebenslauftauglichen und spaßigen Aktivitäten des Studiums interessierten Mariah nicht mehr, hatten durch das Verschwinden ihrer Mutter jeden Reiz verloren. Es war zu schwierig, es Leuten mit einer unbefleckten Vergangenheit und einer strahlenden Zukunft zu erklären: Na ja, weißt du, meine Mom ist spurlos verschwunden und nein, wir wissen nicht, ob sie ermordet oder entführt wurde oder ob sie einfach abgehauen ist, und mein Dad war der Hauptverdächtige für ihr Verschwinden, aber ihm konnte nichts nachgewiesen werden, deshalb leben wir quasi in einem Schwebezustand. Was ist dein Hauptfach?

Und jetzt spürte Mariah, wie sich heiße Scham in ihrem ganzen Körper ausbreitete und ihr Gesicht rot anlief. Sie hatte die Kontrolle verloren. Die Kontrolle, die sie so mühsam für die Augen der Welt aufrechterhalten hatte. Und jetzt wusste Dad es. Die Sachen im Kofferraum, die Schachtel mit den Zeitungsausschnitten über ihre Mutter, die Waffen und der Polizeischlagstock und der Elektroschocker, der Laptop mit Software zum Aufspüren und Finden von Menschen. Sie hatte es alles der Polizei erklären müssen, vor den Augen ihres Vaters, nachdem er ebenfalls aufs Revier gebracht worden war. Sie hätte argumentieren können, dass sie eigentlich gar nichts erklären musste. Aber indem sie den Polizisten alles erzählte, erregte sie deren Mitleid, und man hatte sie ohne formelle Anklage gehen lassen. Einer der Polizisten hatte ihren Vater die ganze Zeit angestarrt: Oh, sie alle kannten Craig Dunning.

In ihren Augen war er schuldig. Der Mann, der mit einem Mord davongekommen war.

Dad holte einen Krug Eistee aus dem Kühlschrank, mit schlurfenden Schritten, er ging wie ein Mann, der eine zu schwere Last trägt. Craig Dunning war früher Footballspieler an der Lakehaven High School gewesen und später als Stipendiat am Rhodes College oben in Memphis. Er war ein breitschultriger blonder Mann mit blauen Augen und einem markanten Gesicht. Auf dem College hatte er sich ein paar Dollar als Model für einige Versandhäuser für Südstaatenmode verdient; Mom hatte eine Mappe mit Fotos von ihm aus der Zeit aufbewahrt, was ihm zutiefst peinlich gewesen war und Mariah aufs Köstlichste amüsierte. Sie tat gerne so, als wäre sie entsetzt von den Aufnahmen, auf denen er in züchtiger Badebekleidung und Anzügen und Pullovern mit Zopfmustern posierte, und immer wenn sie eins seiner Modelfotos sah, achtete sie darauf, auch ja so etwas zu sagen wie: Uäh, ich dachte, es geht darum, die Sachen zu verkaufen?! Denn natürlich wusste er, dass sie ihn nur aufziehen wollte. Ihr schöner Dad.

Es hatte kein Interesse seitens der Talentsucher der Profifootballteams bestanden, und so hatte er seine Pokale und Enttäuschungen auf ein Regal verbannt und einen Abschluss in Buchhaltung gemacht und sich zum Teilhaber einer landesweit tätigen Steuerberatungsfirma hochgearbeitet. Jetzt arbeitete er in ›beratender Tätigkeit‹, was bedeutete, dass er nicht mehr in das Büro im Zentrum von Austin ging oder einen Anzug trug, und dass die Firma ihm Arbeiten übertrug, die er größtenteils von zu Hause aus erledigen konnte. Manchmal riss er sich gut genug zusammen, um zu einer Besprechung oder einem Meeting zu gehen; aber er nahm nicht mehr an den Betriebsfeiern des Unternehmens teil oder dem Picknick am 4. Juli. Heute war er abgemagert, seine Wangen eingefallen, sein Haar von aschgrauen Strähnen durchzogen. Er hatte nur eine einzige Frau in seinem Leben geliebt, und ihr Verlust hatte sich auch körperlich bemerkbar gemacht. Er war noch immer ein gut aussehender Mann; aber die innere Freude, die einst sein hervorstechendstes körperliches Merkmal, sein Lächeln, so sehr belebt hatte, war verschwunden. Mariah kam er vor wie ein Gemälde, das man betrachtete und sagte, ja, die Striche sind alle richtig proportioniert, die Farben stimmen, aber irgendetwas fehlt.

»Du hattest Glück, dass Broussard keine Anzeige erstattet hat«, sagte Craig. Der Polizeichef von Lakehaven, Dennis Broussard, hatte sich Craigs Schilderung von Mariahs ›Verwirrung‹ mit eisernem Schweigen angehört.

Ja, wir werden zusehen, dass sie wieder eine Therapie macht. Nein, sie hat sich zuvor noch nie eingebildet, ihre Mutter zu sehen. Es ist nur der Stress.

Dabei ignorierte Dad die Blicke der Polizisten, die in ihm einen möglichen Mörder sahen. Und hier saß seine Tochter, mit einem Kofferraum voller Waffen und Ausrüstung, als würde sie einen Raubüberfall planen oder einen Bankraub.

Sind Sie damit einverstanden, dass wir Ihren Wagen durchsuchen?, hatte die Polizei gefragt, und Mariah hatte Ja gesagt. Was hätte sie auch sonst sagen sollen? Ein Abschleppdienst hatte bereits ihren Ford und den Streifenwagen abgeholt.

»Du hättest ihnen nicht die Erlaubnis geben sollen, deinen Wagen zu filzen«, sagte Craig, als könnte er ihre Gedanken lesen. »Es gibt überhaupt keinen Grund dafür. Sie könnten dir Drogen unterschieben oder so etwas.«

»Dad. So was werden die nicht machen. Sei realistisch.«

»Sie hassen uns. Oder mich, besser gesagt.«

»Ich hatte keine Wahl. Es war meine Schuld, Dad.«

»Du … du brauchst diese ganzen Waffen und die anderen Sachen nicht. Und dann sagst du auch noch, dass die dafür da sind, Moms Entführer zur Strecke zu bringen! So was sagt man der Polizei nicht. Die mögen es nicht, wenn man versucht, ihren Job zu erledigen. Es ist gefährlich, Mariah. Wundert mich, dass sie dich nicht verhaftet haben.«

»Die Polizei mag uns so oder so nicht.«

»Sie mag mich nicht«, korrigierte Craig. »Mit dir haben sie Mitleid. Vor allem Broussard.«

Ein paarmal hatte Mariah gesehen, wie Broussard in seinem Privatwagen langsam an ihrem Haus vorbeigefahren war. Als wäre er gerne hereingekommen. Oder als wollte er nur ihren Vater im Auge behalten. Es war Broussard gewesen, der – von einem der Polizisten an den Ort des Geschehens gerufen, weil die Dunnings beteiligt waren und Mariah behauptet hatte, auf der Suche nach ihrer vermissten Mutter zu sein – beim Einkaufszentrum angehalten hatte, um den gestrandeten Craig einzusammeln und zum Revier zu bringen. Mariah konnte sich vorstellen, dass es für die beiden Männer ein paar unbehagliche Minuten gewesen sein mussten, gemeinsam in dem Fahrzeug. Ihr Vater hatte nichts darüber gesagt.

Craig goss für sie beide Eistee ein und Mariah nahm ihr Glas mit zitternder Hand. Sie musste fragen. »Hast du sie gesehen?« Sie hoffte, dass er sagte: Ja, sie sah ein bisschen aus wie Mom. Ich kann verstehen, warum du dachtest, dass sie es ist.

»Nein, Liebling, ich habe sie nicht gesehen.« Craig klang müde. Nicht verärgert. Nicht genervt. Nur erschöpft.

»Hast du den blauen Honda gesehen?«

»Die Polizisten sagten, sie hätten ihn gesehen, aber nicht den Fahrer.« Craigs Stimme wurde sanfter. »Wahrscheinlich war es nur eine unschuldige Frau, die in Panik geriet, als du hinter ihr her ranntest.«

Es war Mom, wollte Mariah sagen, aber sie tat es nicht. Er glaubte ihr nicht. Niemand glaubte ihr. Eine Minute lang saßen sie schweigend da.

»Ich frage mich, ob es am Parkplatz des Einkaufszentrums wohl Überwachungskameras gibt.« Mariah hatte sich beruhigt, war nachdenklicher geworden. »Ich könnte mal nachfragen.«

Craig holte tief Luft.

»Mariah, hör auf. Du wirst nicht beim Einkaufszentrum anrufen und sie bitten, dir die Überwachungsaufnahmen zu überlassen. Sie werden dir Hausverbot erteilen. Du hast den Straßenverkehr gefährdet, du hast einen Streifenwagen demoliert, und der einzige Grund, weshalb die Polizei dich nicht verhaftet und eingebuchtet hat, ist, dass die Leute Mitleid mit dir haben.«

Mariah gefielen diese Worte nicht, also ignorierte sie sie. »Ich dachte wirklich, es wäre Mom. Wirklich.«

»Das weiß ich, Schatz. Ich weiß. Was würde ich dafür geben, sie zu sehen …« Er atmete tief durch. »Können wir bitte darüber reden, was du alles in deinem Wagen hattest? Handfesseln, Schusswaffen und einen Elektroschocker! Wen willst du damit entführen?« Sein hageres Gesicht war blass vor Sorge.

Mariah stellte ihr Glas ab. »Ich habe dir schon gesagt, dass ich die Sachen legal gekauft habe.«

»Warum hast du dieses Arsenal in deinem Wagen, Liebling?«

»Ich muss vorbereitet sein, wenn ich Mom finde, für den Fall, dass sie in den Händen übler Leute ist. Dad, es ist okay, ich habe Kurse darüber belegt, wie man die Sachen benutzt.«

Er setzte sich ihr gegenüber und nahm ihre Hände in seine. »Kurse?«

»Und ich habe Online-Videos gesehen.«

»Schatz, du bist keine Kopfgeldjägerin oder Privatdetektivin aus dem Fernsehen. Mariah, das muss sofort aufhören. Das kannst du dir nicht antun. Oder mir.« Seine Stimme brach.

»Die Polizei hat aufgehört zu suchen«, erwiderte sie. »Jemand muss Mom finden. Herausfinden, was mit ihr geschehen ist.«

»Ich liebe dich so sehr. Aber du hast deine Mom heute nicht gesehen. Verstehst du, Mariah? Diese Frau war nicht deine Mom. Es ist … es ist dein Kummer, der deinem Verstand Streiche spielt.«

Ihre Stimme bebte. »Selbst wenn … Ich muss trotzdem wissen, was ihr zugestoßen ist. Ich muss wissen, wer sie uns weggenommen hat.« Mühsam beherrschte sie ihre Stimme. »Ich muss es wissen.«

»Nein, musst du nicht! Ich meine … nicht so. Wir müssen darauf vertrauen, dass die Polizei sie eines Tages findet. Aber du, du hältst dich da raus.«

Mariah atmete tief ein. »Dad, ich hatte nie die Chance, mich mit ihr zu versöhnen, ich …«

»Ich weiß nicht, wie ich diese Sache für dich in Ordnung bringen soll. Ich wünschte, ich wüsste es. Ich wünschte, ich könnte die Leute dazu bringen zu verstehen, wie schwer das alles für uns ist. Das wünsche ich mir mehr als alles andere.«

Wegen Lakehaven, dachte Mariah. Weil so viele Leute sicher gewesen waren, dass ihr Vater ihre Mutter umgebracht und irgendwie ihre Leiche hatte verschwinden lassen. Obwohl es keine Beweise dafür gab. Und keine anderen Verdächtigen unter ihren Freunden und Bekannten. Nur das leise, unaufhörliche Flüstern von Anspielungen und Hörensagen gegen ihren Vater. Aber dieses beständige Tröpfeln war Gift genug, um einen Menschen beinahe zu töten, ihn als leere Hülle zurückzulassen. Beth Dunning war nie wieder aufgetaucht – auf keiner Kreditkartenabrechnung, mit keinem Telefonanruf, auf keiner Überwachungskamera. Sie hatte diese Welt verlassen.

»Soll ich uns was zu essen machen?«, fragte Mariah. Sie hatten ihr Essen in der Fressmeile stehen gelassen. Normalerweise war Craig für das Kochen zuständig; er konnte es sehr viel besser als Mariah. Aber sie wollte etwas Nettes für ihn tun.

»Nein, ich mache schon. Möchtest du Käsetoast?«

Sie nickte und umarmte ihn, und er fühlte sich an, als wäre er nur Haut und Knochen unter der Jeans und dem Sweatshirt des Lakehaven Basketballclubs, das in den Jahren, seit sie in der Mannschaft gespielt hatte, ziemlich ausgeblichen war. Es tut mir leid, Dad, dachte sie.

Craig wandte sich um und tapste zum Kühlschrank. Er holte Butter und Käsescheiben heraus, stellte eine Pfanne auf den Herd und begann ein Käsesandwich vorzubereiten, indem er Butter schmolz. »Das kann so nicht mehr weitergehen. So etwas wie heute darf nie wieder geschehen. Dir hätte etwas passieren können. Du hättest einen Polizisten verletzen können. Oder einen Unbeteiligten. Denkst du, diese Stadt würde uns noch irgendetwas verzeihen? Ich will nicht, dass die Leute wieder anfangen, Steine nach uns zu werfen oder mitten in der Nacht Drohungen an die Garage zu schmieren. Ich werde dir das nicht noch einmal zumuten.«

Die Sätze HIER LEBT EIN MÖRDER und WO IST BETH, CRAIG? in leuchtend roten Buchstaben am Garagentor. Das würde Mariah nie vergessen. Einige Nachbarn hatten ihnen geholfen, es abzuwaschen – aber sie hatte den Zweifel in ihren Gesichtern gesehen. »Dad …«

»Ich denke, wir sollten einen Gottesdienst für deine Mom abhalten«, sagte er. »Wir müssen warten, bis sie sieben Jahre lang als vermisst gilt, bevor wir sie juristisch für tot erklären lassen können.« Craig biss sich auf die Unterlippe. »Aber … vielleicht können wir dem vorgreifen und eine Art Gedenkfeier für sie abhalten. Wir müssen sie gehen lassen.«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf.

Er sah sie an, und in seinen Augen war eine Festigkeit, wie sie sie seit Langem nicht bei ihm gesehen hatte. »Diese Trauer – soll sie mich meinetwegen ruinieren. Aber dich darf sie nicht zerstören. Du musst mit deinem Leben weitermachen. Was ist, wenn deine Kunden von der Sache heute hören?«

»Wie sollen sie davon hören?« Mariah war selbstständige Webdesignerin. Sie hatte nur drei feste Kunden, von denen der größte eine angesagte Modeboutique war, die einen großen Teil ihrer Umsätze online erzielte.

»Die Leute reden in den sozialen Medien. Sie sind ein gottverdammter Lynchmob. Vielleicht haben einige die Szene im Einkaufszentrum mit ihren Handys gefilmt. Oder ein Foto von dir im Streifenwagen gemacht. Vielleicht postet es der eine oder andere. Glaubst du, es war niemand aus Lakehaven in dieser Fressmeile? Und die Pressemitteilungen der Polizei – das wird in der Lokalzeitung gedruckt. Es wird auf der Website von Lakehaven erscheinen.« Seine Stimme brach. »Das darf nicht passieren. Ich will nicht, dass dich alle so ansehen …«

Darauf hatte Mariah keine Antwort. Sie dachte an die junge Frau, die ihr Smartphone gezückt und auf sie gerichtet hatte. Die Leute waren ständig bereit, einen schrecklichen Moment eines anderen aufzunehmen. Sie konnte sich die Statusmeldung vorstellen: Frau halluziniert ihre vermisste Mutter in Einkaufszentrum und endet in Verkehrsunfall mit Streifenwagen. So grausam würde doch sicher niemand sein. Aber gleichzeitig wusste sie, dass die Menschen so waren.

»Ich könnte zu einem Therapeuten gehen«, sagte sie leise. »Wenn du es willst. Du hast bei der Polizei so etwas gesagt.«

»Ich glaube nicht, dass das nötig ist.« Craig holte das heiße Sandwich aus der Pfanne, legte es auf einen Teller und schnitt es in drei gleich große Streifen, genau so, wie Mariah es am liebsten mochte. Er reichte ihr den Teller und machte sich daran, ein weiteres Sandwich für sich selbst zuzubereiten. Er schaute sie nicht an, wollte offenbar, dass diese Unterhaltung beendet war. Jedes Mal wenn Mariah davon geredet hatte, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, einen Trauerbegleiter, einen Therapeuten, war er dagegen gewesen. Und jetzt hatte er die Polizei belogen. Mariah konnte auf eigene Faust hingehen; sie war erwachsen. Aber wenn er es nicht guthieß, fühlte es sich wie ein Verrat an. Vielleicht machte er sich Sorgen darüber, was sie über ihn sagen würde: Alle glauben, dass mein Dad schuldig ist, aber ich glaube das nicht, nur … was ist, wenn doch …?

Sie setzte sich mit dem Sandwich an den Tisch, aber es schmeckte ihr nicht; die Butter und der Käse und das weiche Brot fühlten sich wie Schmierfett in ihrem Mund an. »Ich meine nur … es wundert mich, dass du nicht willst, dass ich mit einem Therapeuten rede.«

»So was macht einen nur noch unglücklicher. Wir müssen lernen, selbst mit unserer Trauer fertigzuwerden. Und ich möchte, dass du mit dieser Schnapsidee, irgendeinen Entführer deiner Mom zu finden, aufhörst. Das ist Aufgabe der Polizei, misch dich da nicht ein. Versprich mir, dass du damit aufhörst.«

Er wartete. Sie wollte sagen: Die Schnapsidee, Mom zu finden, ist meine Therapie, es ist das Einzige, was mir ein bisschen Trost gibt. Aber sie sagte nur: »Ich verspreche es.«

Und dann sagte eine böse kleine Stimme, geboren aus Schmerz und Verletztheit und Trauer, irgendwo ganz hinten in ihrem Kopf: Warum will Dad nicht, dass du einen Therapeuten aufsuchst oder die Wahrheit herausfindest? Warum?

Und sie erstickte diese kleine Stimme in ihrem Kopf, rasch, bevor sie ihr Gift noch einmal versprühen konnte.

3

Craig machte es sich in seinem ledernen Fernsehsessel vor dem riesigen Flachbildschirm bequem und rief einen der Streaming-Dienste auf. Stundenlang konnte er vor der Glotze hängen, oft bis tief in die Nacht. Er schlief nur sehr wenig, eingesponnen in den sanften Schimmer der Fantasiewelt. Oft schlief er einfach in seinem Fernsehsessel, was Mariah beunruhigte; es war bestimmt nicht gut für den Rücken, aber ihre Versuche, ihn zu einem normalen Schlafverhalten zu bewegen, schlugen alle fehl.

Mariah sagte, sie wolle nach oben gehen, um zu lesen. Sie schaute nicht mehr viel fern; Krimiserien machten sie nervös und Reality-Dokus waren voll mit Leuten, die Probleme erfanden. Bücher waren ihre Zuflucht geworden. Sie schloss die Tür ihres Zimmers und lehnte den Kopf an das Holz.

Aber sie war nicht nach oben gekommen, um zu lesen.

Leise verriegelte sie die Tür. Dad schien es immer zu hören, wenn sie den Schlüssel herumdrehte, und in jenen finsteren Tagen, nachdem Mom verschwunden war, hatte er Angst gehabt, dass Mariah sich etwas antat – während sie das Gleiche bei ihm befürchtet hatte. Sie dimmte das Licht und zündete eine Kerze an, die ihre Mutter ihr zu ihrem 15. Geburtstag geschenkt hatte. Eigentlich fand sie ja, dass Kerzen ein ziemlich billiges Geschenk waren, aber diese hatte ihr gefallen; sie roch nach Vanille und Zimt und Mariah machte sie nur an, wenn es Zeit für ihr heimliches Ritual war. Die Kerze erinnerte sie an Mom, an die Wärme ihrer Umarmung, den Geruch ihrer Haut, ihre Stärke.

So oft hatten sie miteinander gelacht, selbst während ihrer Streitereien, ihrer Meinungsverschiedenheiten, während der Schreiattacken in Mariahs Pubertät. Sie liebte ihre Mom so sehr und verhielt sich manchmal so, als würde sie sie hassen. Und nie hatte sie ihrer Mom gesagt, wie sehr sie sie liebte. Dieses Versäumnis machte das Loch in ihrem Herzen noch größer.

Mariah ging zu ihrem Kleiderschrank und griff hinter die aufgehängten Kleidungsstücke. Langsam zog sie eine große Pinnwand hervor. Zettel und Fotos waren daran festgesteckt. Bilder von Mom, Ausdrucke von Nachrichtenmeldungen nach ihrem Verschwinden, Skizzen von Männern überall im Land, die als Verdächtige in Vermisstenfällen von Frauen galten. Da waren Ausdrucke von Postings eines True-Crime-Bloggers und Podcasters, der unter dem Namen ›Reveal‹ schrieb und sich auch für den Fall ihrer Mutter interessiert hatte. Ein Zeitplan des Tages, an dem sie zuletzt gesehen wurde: dem 4. März. Der Fall ihrer Mutter in allen Details, aufgehängt und arrangiert, als wäre Mariah eine Kommissarin in einem Fernsehkrimi oder Claire Danes in Homeland auf der Jagd nach einem Terroristen, der Versuch, alle Daten und Verbindungen auf einmal zu überblicken, um die unsichtbaren Querverweise zu entdecken, die sie zur Wahrheit führen würden.

Anfangs hatte Mariah mit der Pinnwand über ihrem Bett geschlafen, als könnten die Daten im Schlaf in ihr Bewusstsein sickern und ihr die Antworten in ihren Träumen enthüllen. Aber seit Moms Verschwinden erinnerte sie sich nicht mehr an ihre Träume, selbst wenn sie verschwitzt und verwirrt und den Tränen nahe erwachte. Ihr Vater hatte sie mit bebender Stimme aufgefordert, mit diesem Unsinn aufzuhören und die Pinnwand abzunehmen. Er sagte, das sei nicht gesund. Mariah hingegen war der Meinung, dass es das Einzige war, was sie davon abhielt durchzudrehen. Also hatte sie ihm gesagt, sie habe die Pinnwand weggeworfen, aber in Wirklichkeit hatte sie sie in ihrem Kleiderschrank hinter den Klamotten versteckt.

Seit einer ganzen Weile hatte sie nichts mehr zur Pinnwand hinzugefügt. Es gab nichts Neues.

Sie setzte sich an ihren Laptop und tippte die tägliche Suchanfrage ein, die zu ihrem Ritual gehörte: Beth Dunning Austin vermisst.

Die Suchergebnisse erschienen. Die Nachrichtenmeldungen von damals, aus den Zeitungen von Austin und Lakehaven und den Nachrichtensendungen der Lokalsender. Die Geschichte ihrer Mutter hatte keine große landesweite Aufmerksamkeit erregt, ein bisschen auf CNN und einigen anderen großen Sendern, doch dann hatte sich die Welt weitergedreht. Mariah kannte die meisten Meldungen auswendig. Genau wie die Einträge in Reveals Blog – aber heute gab es einen neuen Eintrag.

Sie klickte darauf.

SIND NAMEN SCHALL UND RAUCH?

Es gibt einige Fälle, über die ich mehrfach berichtet habe. Einer davon ist der Fall von Bethany ›Beth‹ Blevins Curtis, die vor 18 Monaten aus Austin verschwand, als sie offenbar ihren Ehemann verlassen wollte. Doch seit sie in Houston aus dem Flugzeug stieg, hat sie keinerlei Kontakt zu Freunden oder Verwandten aufgenommen und auch nicht die geringste digitale Spur hinterlassen. Niemand hat sie seither gesehen. Sechs Monate später verschwand Beth Dunning aus Lakehaven, einem Vorort von Austin; ihr Wagen wurde an einem unbebauten Grundstück in den Hügeln oberhalb von Lakehaven gefunden, wo sie und ihr Mann ein Haus bauen wollten und wohin sie sich oft zurückzog, um etwas Ruhe zu finden.

Zwei Beths, spurlos verschwunden aus der gleichen Stadt in weniger als einem Jahr.

Ein sechsmonatiger Zeitabstand ist ein häufiges Muster in den Zyklen von Serienmördern … aber hat man schon jemals von einem Serienmörder gehört, der sich seine Opfer nach dem Namen aussucht? Ich jedenfalls nicht. Und ich habe auch keine Hinweise auf eine weitere Beth gefunden, die im letzten Jahr verschwunden wäre, wofür wir dankbar sein sollten, denn offenbar treibt wohl doch kein namensbesessener Serienkiller in unserer schönen Stadt sein Unwesen (eine kurze Geschichte von Austin und seinen Serienmördern finden Sie übrigens in meiner Podcast-Reihe über Amerikas ersten Serienmörder, der Austin in den 1880er-Jahren terrorisierte und als der Mitternachtsmörder oder die Geißel der Dienstmädchen bekannt war). Aber wäre denn nicht die Psychologie eines Menschen, der einen bestimmten Namen so sehr hasst, dass er alle mit diesem Namen umzubringen versucht, äußerst faszinierend? Natürlich wurde bislang die Leiche keiner der beiden Frauen gefunden, um die These vom Serienkiller zu stützen, also ist es wahrscheinlich reiner Zufall, wenn auch ein interessanter.

Mir fiel diese unselige Übereinstimmung auf, als ich meinen spannenden neuen Kalender der ungelösten Fälle zusammenstellte, ein neues Highlight dieser Website mit Links zu meinen früheren Blogs und Podcasts, die unter dem Datum des betreffenden Falls verzeichnet sind. Diese beiden Fälle haben allem Anschein nach nichts miteinander zu tun, aber die Namen und der enge zeitliche Rahmen sind mir sofort aufgefallen. Ich finde es immer sehr interessant, solchen Zufällen nachzuspüren und zu sehen, ob nicht doch mehr dahintersteckt.

Und ist es denn nicht im Wesen des Menschen verankert, im Chaos nach einem Muster der Ordnung zu suchen?

Wenn Sie auch dieser Meinung sind, dann klicken Sie doch auf meinen PaySupport, damit ich Ihnen auch weiterhin diesen Podcast präsentieren kann …

Im Chaos nach einem Muster der Ordnung zu suchen. Ganz genau. Mariah nickte eifrig. Muster finden – das war es, was sie brauchte: ein Muster, eine Erklärung, die Sinn ergab in einer Welt, die es nicht tat.

Sie klickte auf alle Links zum Beth-Curtis-Fall.

Der erste führte zu einem Artikel auf einer Website für Nachrichten aus der Welt der Technik. Bethany Blevins Curtis – dunkles schulterlanges Haar, großer Mund, beneidenswerte Wangenknochen, nettes Lächeln, Alter 27. Sie arbeitete als Büroleiterin bei einem Transportunternehmen im Süden Austins. Verheiratet mit einem Mann, der als aufsteigender Stern am Technikhimmel galt, CEO und Gründer einer kleinen Softwarefirma, die kurz vor dem Börsengang stand und auf etliche Millionen geschätzt wurde. Mariah versuchte sich zu erinnern, ob sie etwas von dieser Sache mitbekommen hatte, aber vor Moms Verschwinden hatte sie sich nicht sehr für die Lokalnachrichten interessiert. Und als sie den Artikel las, gab sie Reveal recht: Es war möglicherweise kein richtiger Vermisstenfall; vielleicht hatte die Frau sich schlicht aus dem Staub gemacht.

Am 4. September, vor 18 Monaten, hatte Bethany Blevins Curtis offenbar ihr Haus im Norden Austins verlassen, einige Hundert Dollar vom gemeinsamen Bankkonto, das sie sich mit ihrem Mann Jake teilte, abgehoben, einen Flieger von Southwest Airlines bestiegen und war die kurze Strecke nach Houston geflogen. Eine Überwachungskamera hatte sie gefilmt, wie sie allein durch den Terminal des Hobby Airport in Houston ging. Dieses Video war auf einer Faceplace-Seite hochgeladen worden, die ihr gewidmet war und anscheinend von einer Freundin verwaltet wurde: Bethany Curtis inmitten anderer Menschen, dunkle Haare, einen Schlapphut tief ins Gesicht gezogen, einen Schal in gedeckten Farben um den Hals, dunkle Sonnenbrille. Man sah, wie sie einen Blick über die Schulter warf. Irgendwie war sie den Kameras am Flughafen entwischt, nach dem Aussteigen aus dem Flugzeug gab es offenbar keine weiteren Aufnahmen. Hatte sie jemand abgeholt? Hatte bereits ein Wagen auf sie gewartet? Hatte sie sich ihres Mantels, Schals und Hutes entledigt und war deshalb unentdeckt geblieben? Sie war schlicht und einfach weg.

Dieser Fall war ganz anders als der von Mariahs Mutter. Mom hatte kein Bankkonto ausgeräumt oder war mit einem Flugzeug geflogen und von einer Überwachungskamera aufgenommen worden. Mom war zur Arbeit bei der Softwarefirma gefahren, für die sie als Handelsvertreterin tätig war, hatte sich zum Mittagessen verabschiedet und ward nie wieder gesehen. Man fand Beth Dunnings Wagen in der Nähe eines Grundstückes in Lakehaven, das ihr und Dad gehörte und auf dem sie ein Haus bauen wollten. Mom war immer gern auf dem Grundstück gewesen, einer großen freien Fläche mit atemberaubender Aussicht; es war sehr friedlich dort und sie redete gern über das geplante Haus. Es war ein Ort, an den sie ging, um Ruhe zu finden, um dem Stress und der Hektik ihres Jobs zu entfliehen, indem sie sich das Haus vorstellte, das eines Tages dort stehen würde, mit dem großartigen Blick über die Hügel von Lakehaven.

Reveal hatte recht: Die einzigen Ähnlichkeiten waren der Name Beth, die wenigen Meilen, die zwischen den Wohnsitzen der Frauen lagen, und der kurze Zeitabstand zwischen den Fällen.

Dennoch … dennoch … Mariah kehrte zu den Links zum Curtis-Fall zurück. Die andere Beth hinterließ einen Ehemann, Jake, einen Softwareunternehmer, der felsenfest behauptete, nichts mit ihrem Verschwinden zu tun zu haben. Er hatte eine Firma, die einige Monate nach Bethanys Verschwinden an die Börse ging – offensichtlich hatten seine Investoren zu ihm gehalten. Er verdiente Millionen. Das brachte ihm einige Aufmerksamkeit sowohl der lokalen Presse als auch der Medien der Technikbranche ein, als hätte er womöglich seine Frau beiseitegeschafft, um seinen neuen Wohlstand nicht teilen zu müssen.

Man verdächtigte ihn, genau wie Mariahs Vater.

Mariah las einen anderen Artikel, der am Jahrestag des Verschwindens erschienen war. Bethany Curtis hatte noch immer keine digitale Spur hinterlassen. Keine Benutzung von Kreditkarten, keine Abhebungen von ihrem Konto, keine Erfassung ihres Handys durch Sendemasten. Sie hatte ihr Leben zurückgelassen und dann … alles andere.

Mariah druckte die Artikel über Bethany Curtis aus und heftete sie in eine freie Ecke der Pinnwand. Das Foto von Bethany pinnte sie neben das ihrer Mutter.

Die Namen.

Der kurze Zeitabstand zwischen ihrem Verschwinden.

Die räumliche Nähe ihrer Wohnorte, ihrer Leben.

Der überraschende Mangel an Hinweisen in beiden Fällen. Als hätte jemand große Sorgfalt walten lassen.

Trotz aller Unterschiede gab es diese Übereinstimmungen.

Aber Mariah hatte sonst nichts. Es gab buchstäblich keine Spuren, denen sie folgen konnte. Das war alles. Die Alternative war, im Einkaufszentrum Schatten zu jagen, sich vor ihrem Vater und der Polizei zu demütigen.

Und dann traf sie eine Entscheidung. Sie musste es wissen. Der Zeitabstand, die Namensübereinstimmung, nicht die geringste Spur in beiden Fällen – plötzlich war da ein Hunger, ein Verlangen nach Wissen, das an ihr nagte. Sie würde das Muster finden, wenn es eins gab.

Und, wenn es irgendeine Möglichkeit gab, eine Verbindung zu ihrer Mutter herstellen.

Sie schrieb Reveal eine E-Mail: Hi, Chad. Hab deinen Post über meine Mom und Beth Curtis gelesen. Hast du Lust, dich heute Abend auf einen Drink mit mir zu treffen? Ich frage mich, ob du recht hast mit den Mustern.

Reveals Antwort kam schneller, als sie erwartet hatte: Natürlich, gerne.

Sich mit ihm zu treffen bedeutete, Dad zu trotzen. Also würde sie es Dad nicht erzählen.