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Über dieses Buch

Ludwig Thomas berühmter Satire-Klassiker Lausbubengeschichten von 1905 und die wenig später erschienene Fortsetzung Tante Frieda sind hier in einem Band versammelt: Die Streiche des jungen Lateinschülers Ludwig nehmen die scheinheilige Spießermoral der Erwachsenen aufs Korn und schlagen deren lügenhafte Phrasendrescherei mit den eigenen Waffen.

Anmerkungen und ein ausführliches Nachwort runden den Band ab.

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

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Enthält das E-Book in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, so verweisen diese auf die Printausgabe des Werkes.

Lausbubengeschichten

Aus meiner Jugendzeit

Gretchen Vollbeck

Von meinem Zimmer aus konnte ich in den Vollbeck’schen Garten sehen, weil die Rückseite unseres Hauses gegen die Korngasse hinausging.

Wenn ich nachmittags meine Schulaufgaben machte, sah ich Herrn Rat Vollbeck mit seiner Frau beim Kaffee sitzen, und ich hörte fast jedes Wort, das sie sprachen.

Er fragte immer: »Wo ist denn nur unser Gretchen so lange?«, und sie antwortete alle Tage: »Ach Gott, das arme Kind studiert wieder einmal.«

Ich hatte damals, wie heute, kein Verständnis dafür, dass ein Mensch gerne studiert und sich dadurch vom Kaffeetrinken oder irgendetwas anderem abhalten lassen kann. Dennoch machte es einen großen Eindruck auf mich, obwohl ich dies nie eingestand.

Wir sprachen im Gymnasium öfters von Gretchen Vollbeck, und ich verteidigte sie nie, wenn einer erklärte, sie sei eine ekelhafte Gans, die sich bloß gescheit mache.

Auch daheim äußerte ich mich einmal wegwerfend über dieses weibliche Wesen, das wahrscheinlich keinen Strumpf stricken könne und sich den Kopf mit allem möglichen Zeug vollpfropfe.

Meine Mutter unterbrach mich aber mit der Bemerkung, sie würde Gott danken, wenn ein gewisser Jemand nur halb so fleißig wäre, wie dieses talentierte Mädchen, das seinen Eltern nur Freude bereite und sicherlich nie so schmachvolle Schulzeugnisse heimbringe.

Ich hasste persönliche Anspielungen und vermied es daher, das Gespräch wieder auf dieses unangenehme Thema zu bringen.

Dagegen übte meine Mutter nicht die gleiche Rücksicht, und ich wurde häufig aufgefordert, mir an Gretchen Vollbeck ein Beispiel zu nehmen.

Ich tat es nicht und brachte an Ostern ein Zeugnis heim, welches selbst den nächsten Verwandten nicht gezeigt werden konnte.

Man drohte mir, dass ich nächster Tage zu einem Schuster in die Lehre gegeben würde, und als ich gegen dieses ehrbare Handwerk keine Abneigung zeigte, erwuchsen mir sogar daraus heftige Vorwürfe.

Es folgten recht unerquickliche Tage, und jedermann im Hause war bemüht, mich so zu behandeln, dass in mir keine rechte Festesfreude aufkommen konnte.

Schließlich sagte meine Mutter, sie sehe nur noch ein Mittel, mich auf bessere Wege zu bringen, und dies sei der Umgang mit Gretchen.

Vielleicht gelinge es dem Mädchen, günstig auf mich einzuwirken. Herr Rat Vollbeck habe seine Zustimmung erteilt, und ich solle mich bereithalten, den Nachmittag mit ihr hinüberzugehen.

Die Sache war mir unangenehm. Man verkehrt als Lateinschüler nicht so gerne mit Mädchen wie später, und außerdem hatte ich begründete Furcht, dass gewisse Gegensätze zu stark hervorgehoben würden.

Aber da half nun einmal nichts, ich musste mit.

Vollbecks saßen gerade beim Kaffee, als wir kamen; Gretchen fehlte, und Frau Rat sagte gleich: »Ach Gott, das Mädchen studiert schon wieder, und noch dazu Scheologie.« Meine Mutter nickte so nachdenklich und ernst mit dem Kopfe, dass mir wirklich ein Stich durchs Herz ging und der Gedanke in mir auftauchte, der lieben alten Frau doch auch einmal Freude zu machen. Der Herr Rat trommelte mit den Fingern auf den Tisch und zog die Augenbrauen furchtbar in die Höhe.

Dann sagte er: »Ja, ja, die Scheologie!«

Jetzt glaubte meine Mutter, dass es Zeit sei, mich ein bisschen in das Licht zu rücken, und sie fragte mich aufmunternd: »Habt ihr das auch in eurer Klasse?«

Frau Rat Vollbeck lächelte über die Zumutung, dass anderer Leute Kinder Derartiges lernten, und ihr Mann sah mich durchbohrend an, das ärgerte mich so stark, dass ich beschloss, ihnen eines zu geben.

»Es heißt gar nicht Scheologie, sondern Geologie, und das braucht man nicht zu lernen«, sagte ich.

Beinahe hätte mich diese Bemerkung gereut, als ich die große Verlegenheit meiner Mutter sah; sie mochte sich wohl sehr über mich schämen, und sie hatte Tränen in den Augen, als Herr Vollbeck sie mit einem recht schmerzlichen Mitleid ansah.

Der alte Esel schnitt eine Menge Grimassen, von denen jede bedeuten sollte, dass er sehr trübe in meine Zukunft sehe.

»Du scheinst der Ansicht zu sein«, sagte er zu mir, »dass man sehr vieles nicht lernen muss. Dein Osterzeugnis soll ja nicht ganz zur Zufriedenheit deiner beklagenswerten Frau Mutter ausgefallen sein. Übrigens konnte man zu meiner Zeit auch Scheologie sagen.«

Ich war durch diese Worte nicht so vernichtet, wie Herr Vollbeck annahm, aber ich war doch froh, dass Gretchen ankam. Sie wurde von ihren Eltern stürmisch begrüßt, ganz anders wie sonst, wenn ich von meinem Fenster aus zusah. Sie wollten meiner Mutter zeigen, eine wie große Freude die Eltern gutgearteter Kinder genießen.

Da saß nun dieses langbeinige, magere Frauenzimmer, das mit ihren sechzehn Jahren so wichtig und altklug die Nase in die Luft hielt, als hätte es nie mit einer Puppe gespielt.

»Nun, bist du fertig geworden mit der Scheologie?«, fragte Mama Vollbeck und sah mich herausfordernd an, ob ich es vielleicht wagte, in Gegenwart der Tochter den wissenschaftlichen Streit mit der Familie Vollbeck fortzusetzen.

»Nein, ich habe heute Abend noch einige Kapitel zu erledigen; die Materie ist sehr anregend«, antwortete Gretchen.

Sie sagte das so gleichgültig, als wenn sie Professor darin wäre.

»Noch einige Kapitel?«, wiederholte Frau Rat, und ihr Mann erklärte mit einer von Hohn durchtränkten Stimme:

»Es ist eben doch eine Wissenschaft, die scheinbar gelernt werden muss.«

Gretchen nickte nur zustimmend, da sie zwei handgroße Butterbrote im Munde hatte, und es trat eine Pause ein, während welcher meine Mutter bald bewundernd auf das merkwürdige Mädchen und bald kummervoll auf mich blickte.

Dies weckte in Frau Vollbeck die Erinnerung an den eigentlichen Zweck unseres Besuches.

»Die gute Frau Thoma hat ihren Ludwig mitgebracht, Gretchen; sie meint, er könnte durch dich ein bisschen in den Wissenschaften vorwärtskommen.«

»Fräulein Gretchen ist ja in der ganzen Stadt bekannt wegen ihres Eifers«, fiel meine Mutter ein. »Man hört so viel davon rühmen, und da dachte ich mir, ob das nicht vielleicht eine Aufmunterung für meinen Ludwig wäre. Er ist nämlich etwas zurück in seinen Leistungen.«

»Ziemlich stark, sagen wir, ziemlich stark, liebe Frau Thoma«, sagte der Rat Vollbeck, indem er mich wieder durchbohrend anblickte.

»Ja, leider etwas stark. Aber mit Hilfe von Fräulein Gretchen, und wenn er selbst seiner Mutter zuliebe sich anstrengt, wird es doch gehen. Er hat es mir fest versprochen, gelt, Ludwig?«

Freilich hatte ich es versprochen, aber niemand hätte mich dazu gebracht, in dieser Gesellschaft meinen schönen Vorsatz zu wiederholen. Ich fühlte besser als meine herzensgute, arglose Mutter, dass sich diese Musterfamilie an meiner Verkommenheit erbaute. Inzwischen hatte die gelehrte Tochter ihre Butterbrote verschlungen und schien geneigt, ihre Meinung abzugeben.

»In welcher Klasse bist du eigentlich?«, fragte sie mich.

»In der vierten.«

»Da habt ihr den Cornelius Nepos: Das Leben berühmter Männer«, sagte sie, als hätte ich das erst von ihr erfahren müssen. »Du hast das natürlich alles gelesen, Gretchen?«, fragte Frau Vollbeck.

»Schon vor drei Jahren. Hie und da nehme ich ihn wieder zur Hand. Erst gestern las ich das Leben des Epaminondas

»Ja, ja, dieser Epaminondas!«, sagte der Rat und trommelte auf den Tisch. »Er muss ein sehr interessanter Mensch gewesen sein.«

»Hast du ihn daheim?«, fragte mich meine Mutter, »sprich doch ein bisschen mit Fräulein Gretchen darüber, damit sie sieht, wie weit du bist.«

»Wir haben keinen Epaminondas nicht gelesen«, knurrte ich.

»Dann hattet ihr den Alcibiades oder so etwas. Cornelius Nepos ist ja sehr leicht. Aber wenn du wirklich in die fünfte Klasse kommst, beginnen die Schwierigkeiten.«

Ich beschloss, ihr dieses »wirklich« einzutränken, und leistete heimlich einen Eid, dass ich sie verhauen wollte, bei der ersten Gelegenheit.

Vorläufig saß ich grimmig da und redete kein Wort. Es wäre auch nicht möglich gewesen, denn das Frauenzimmer war jetzt im Gang und musste ablaufen wie eine Spieluhr.

Sie bewarf meine Mutter mit lateinischen Namen und ließ die arme Frau nicht mehr zu Atem kommen; sie leerte sich ganz aus, und ich glaube, dass nichts mehr in ihr darin war, als sie endlich aufhörte.

Papa und Mama Vollbeck versuchten, das Wundermädchen noch einmal aufzuziehen, aber es hatte keine Luft mehr und ging schnell weg, um die Scheologie weiter zu studieren.

Wir blieben schweigend zurück. Die glücklichen Eltern betrachteten die Wirkung, welche das alles auf meine Mutter gemacht hatte, und fanden es recht und billig, dass sie vollkommen breitgequetscht war. –

Sie nahm in gedrückter Stimmung Abschied von den Vollbeck’schen und verließ mit mir den Garten.

Erst als wir daheim waren, fand sie ihre Sprache wieder. Sie strich mir zärtlich über den Kopf und sagte: »Armer Junge, du wirst das nicht durchmachen können.«

Ich wollte sie trösten und ihr alles versprechen, aber sie schüttelte nur den Kopf.

»Nein, nein, Ludwig, das wird nicht gehen.«

Es ist dann doch gegangen, weil meine Schwester bald darauf den Professor Bindinger geheiratet hat.

Meine erste Liebe

An den Sonntagen durfte ich immer zu Herrn von Rupp kommen und bei ihm Mittag essen. Er war ein alter Jagdfreund von meinem Papa und hatte schon viele Hirsche bei uns geschossen. Es war sehr schön bei ihm. Er behandelte mich beinahe wie einen Herrn, und wenn das Essen vorbei war, gab er mir immer eine Zigarre und sagte: »Du kannst es schon vertragen. Dein Vater hat auch geraucht wie eine Lokomotive.« Da war ich sehr stolz.

Die Frau von Rupp war eine furchtbar noble Dame, und wenn sie redete, machte sie einen spitzigen Mund, damit es hochdeutsch wurde. Sie ermahnte mich immer, dass ich nicht Nägel beißen soll und eine gute Aussprache habe. Dann war noch eine Tochter da. Die war sehr schön und roch so gut. Sie gab nicht acht auf mich, weil ich erst vierzehn Jahre alt war, und redete immer von Tanzen und Konzert und einem gottvollen Sänger. Dazwischen erzählte sie, was in der Kriegsschule passiert war. Das hatte sie von den Fähnrichen gehört, die immer zu Besuch kamen und mit den Säbeln über die Stiege rasselten.

Ich dachte oft, wenn ich nur auch schon ein Offizier wäre, weil ich ihr dann vielleicht gefallen hätte, aber so behandelte sie mich wie einen dummen Buben und lachte immer dreckig, wenn ich eine Zigarre von ihrem Papa rauchte.

Das ärgerte mich oft, und ich unterdrückte meine Liebe zu ihr und dachte, wenn ich größer bin und als Offizier nach einem Kriege heimkomme, würde sie vielleicht froh sein. Aber dann möchte ich nicht mehr. Sonst war es aber sehr nett bei Herrn von Rupp, und ich freute mich furchtbar auf jeden Sonntag und auf das Essen und auf die Zigarre.

Der Herr von Rupp kannte auch unsern Rektor und sprach öfter mit ihm, dass er mich gern in seiner Familie habe, und dass ich schon noch ein ordentlicher Jägersmann werde, wie mein Vater. Der Rektor muss mich aber nicht gelobt haben, denn Herr von Rupp sagte öfter zu mir: »Weiß der Teufel, was du treibst. Du musst ein verdammter Holzfuchs sein, dass deine Professoren so auf dich loshacken. Mach es nur nicht zu arg.« Da ist auf einmal etwas passiert.

Das war so. Immer wenn ich um acht Uhr früh in die Klasse ging, kam die Tochter von unserem Hausmeister, weil sie in das Institut musste.

Sie war sehr hübsch und hatte zwei große Zöpfe mit roten Bändern daran und schon einen Busen. Mein Freund Raithel sagte auch immer, dass sie gute Potenzen habe und ein feiner Backfisch sei.

Zuerst traute ich mich nicht, sie zu grüßen; aber einmal traute ich mich doch, und sie wurde ganz rot. Ich merkte auch, dass sie auf mich wartete, wenn ich später daran war. Sie blieb vor dem Hause stehen und schaute in den Buchbinderladen hinein, bis ich kam. Dann lachte sie freundlich, und ich nahm mir vor, sie anzureden.

Ich brachte es aber nicht fertig vor lauter Herzklopfen; einmal bin ich ganz nahe an sie hingegangen, aber wie ich dort war, räusperte ich bloß und grüßte. Ich war ganz heiser geworden und konnte nicht reden.

Der Raithel lachte mich aus und sagte, es sei doch gar nichts dabei, mit einem Backfisch anzubinden. Er könnte jeden Tag drei ansprechen, wenn er möchte, aber sie seien ihm alle zu dumm.

Ich dachte viel darüber nach, und wenn ich von ihr weg war, meinte ich auch, es sei ganz leicht. Sie war doch bloß die Tochter von einem Hausmeister, und ich war schon in der fünften Lateinklasse. Aber wenn ich sie sah, war es ganz merkwürdig und ging nicht. Da kam ich auf eine gute Idee. Ich schrieb einen Brief an sie, dass ich sie liebte, aber dass ich fürchte, sie wäre beleidigt, wenn ich sie anspreche und es ihr gestehe. Und sie sollte ihr Sacktuch in der Hand tragen und an den Mund führen, wenn es ihr recht wäre.

Den Brief steckte ich in meinen Caesar, De bello gallico, und ich wollte ihn hergeben, wenn ich sie in der Frühe wieder sah.

Aber das war noch schwerer.

Am ersten Tag probierte ich es gar nicht; dann am nächsten Tag hatte ich den Brief schon in der Hand, aber wie sie kam, steckte ich ihn schnell in die Tasche.

Raithel sagte mir, ich solle ihn einfach hergeben und fragen, ob sie ihn verloren habe. Das nahm ich mir fest vor, aber am nächsten Tag war ihre Freundin dabei, und da ging es wieder nicht.

Ich war ganz unglücklich und steckte den Brief wieder in meinen Cäsar.

Zur Strafe, weil ich so furchtsam war, gab ich mir das Ehrenwort, dass ich sie jetzt anreden und ihr alles sagen und noch dazu den Brief geben wolle.

Raithel sagte, ich müsse jetzt, weil ich sonst ein Schuft wäre. Ich sah es ein und war fest entschlossen.

Auf einmal wurde ich aufgerufen und sollte weiterfahren. Weil ich aber an die Marie gedacht hatte, wusste ich nicht einmal das Kapitel, wo wir standen, und da kriegte ich einen brennroten Kopf. Dem Professor fiel das auf, da er immer Verdacht gegen mich hatte, und er ging auf mich zu.

Ich blätterte hastig herum und gab meinem Nachbar einen Tritt. »Wo stehen wir? Herrgottsakrament!« Der dumme Kerl flüsterte so leis, dass ich es nicht verstehen konnte, und der Professor war schon an meinem Platz. Da fiel auf einmal der Brief aus meinem Cäsar und lag am Boden.

Er war auf Rosapapier geschrieben und mit einem wohlriechenden Pulver bestreut.

Ich wollte schnell mit dem Fuße darauf treten, aber es ging nicht mehr. Der Professor bückte sich und hob ihn auf.

Zuerst sah er mich an und ließ seine Augen so weit heraushängen, dass man sie mit einer Schere hätte abschneiden können. Dann sah er den Brief an und roch daran, und dann nahm er ihn langsam heraus. Dabei schaute er mich immer durchbohrender an und man merkte, wie es ihn freute, dass er etwas erwischt hatte.

Er las zuerst laut vor der ganzen Klasse.

»Innig geliebtes Fräulein! Schon oft wollte ich mich Ihnen nahen, aber ich traute mich nicht, weil ich dachte, es könnte Sie beleidigen.«

Dann kam er an die Stelle vom Sacktuch, und da murmelte er bloß mehr, dass es die andern nicht hören konnten.

Und dann nickte er mit dem Kopfe auf und ab, und dann sagte er ganz langsam:

»Unglücklicher, gehe nach Hause. Du wirst das Weitere hören.«

Ich war so zornig, dass ich meine Bücher an die Wand schmeißen wollte, weil ich ein solcher Esel war. Aber ich dachte, dass mir doch nichts geschehen könnte. Es stand nichts Schlechtes in dem Brief; bloß dass ich verliebt war. Das geht doch den Professor nichts an.

Aber es kam ganz dick.

Am nächsten Tag musste ich gleich zum Rektor. Der hatte sein großes Buch dabei, wo er alles hineinstenographierte, was ich sagte. Zuerst fragte er mich, an wen der Brief sei. Ich sagte, er sei an gar niemand. Ich hätte es bloß so geschrieben aus Spaß. Da sagte er, das sei eine infame Lüge, und ich wäre nicht bloß schlecht, sondern auch feig.

Da wurde ich zornig und sagte, dass in dem Briefe gar nichts Gemeines darin sei, und es wäre ein braves Mädchen. Da lachte er, dass man seine zwei gelben Stockzähne sah, weil ich mich verraten hatte. Und er fragte immer nach dem Namen. Jetzt war mir alles gleich, und ich sagte, dass kein anständiger Mann den Namen verrät, und ich täte es niemals. Da schaute er mich recht falsch an und schlug sein Buch zu. Dann sagte er: »Du bist eine verdorbene Pflanze in unserem Garten. Wir werden dich ausreißen. Dein Lügen hilft dir gar nichts; ich weiß recht wohl, an wen der Brief ist. Hinaus!«

Ich musste in die Klasse zurückgehen, und am Nachmittag war Konferenz. Der Rektor und der Religionslehrer wollten mich dimittieren. Das hat mir der Pedell gesagt. Aber die andern halfen mir, und ich bekam acht Stunden Karzer. Das hätte mir gar nichts gemacht, wenn nicht das andere gewesen wäre.

Ich kriegte einige Tage darauf einen Brief von meiner Mama. Da lag ein Brief von Herrn von Rupp bei, dass es ihm leidtäte, aber er könne mich nicht mehr einladen, weil ihm der Rektor mitteilte, dass ich einen dummen Liebesbrief an seine Tochter geschrieben habe. Er mache sich nichts daraus, aber ich hätte sie doch kompromittiert. Und meine Mama schrieb, sie wüsste nicht, was noch aus mir wird.

Ich war ganz außer mir über die Schufterei; zuerst weinte ich, und dann wollte ich den Rektor zur Rede stellen; aber dann überlegte ich es und ging zu Herrn von Rupp.

Das Mädchen sagte, es sei niemand zu Hause, aber das war nicht wahr, weil ich heraußen die Stimme der Frau von Rupp gehört habe. Ich kam noch einmal, und da war Herr von Rupp da. Ich erzählte ihm alles ganz genau, aber wie ich fertig war, drückte er das linke Auge zu und sagte: »Du bist schon ein verdammter Holzfuchs. Es liegt mir ja gar nichts daran, aber meiner Frau.« Und dann gab er mir eine Zigarre und sagte, ich solle nun ganz ruhig heimgehen.

Er hat mir kein Wort geglaubt und hat mich nicht mehr eingeladen, weil man es nicht für möglich hält, dass ein Rektor lügt.

Man meint immer, der Schüler lügt.

Ich habe mir das Ehrenwort gegeben, dass ich ihn durchhaue, wenn ich auf die Universität komme, den kommunen Schuften.

Ich bin lange nicht mehr lustig gewesen. Und einmal bin ich dem Fräulein von Rupp begegnet. Sie ist mit ein paar Freundinnen gegangen, und da haben sie sich mit den Ellenbogen angestoßen und haben gelacht. Und sie haben sich noch umgedreht und immer wieder gelacht.

Wenn ich auf die Universität komme und Korpsstudent bin, und wenn sie mit mir tanzen wollen, lasse ich die Schneegänse einfach sitzen.

Das ist mir ganz wurscht.

Der Meineid

Werners Heinrich sagte, seine Mama hat ihm den Umgang mit mir verboten, weil ich so was Rohes in meinem Benehmen habe, und weil ich doch bald davongejagt werde. Ich sagte zu Werners Heinrich, dass ich auf seine Mama pfeife, und ich bin froh, wenn ich nicht mehr hinmuss, weil es in seinem Zimmer so muffelt.

Dann sagte er, ich bin ein gemeiner Kerl, und ich gab ihm eine feste auf die Backe und ich schmiss ihn an den Ofenschirm, dass er hinfiel.

Und dann war ihm ein Zahn gebrochen, und die Samthose hatte ein großes Loch über dem Knie.

Am Nachmittag kam der Pedell in unsere Klasse und meldete, dass ich zum Herrn Rektor hinunter soll.

Ich ging hinaus und schnitt bei der Türe eine Grimasse, dass alle lachen mussten. Es hat mich aber keiner verschuftet, weil sie schon wussten, dass ich es ihnen heimzahlen würde. Werners Heinrich hat es nicht gesehen, weil er daheimblieb, weil er den Zahn nicht mehr hatte.

Sonst hätte er mich schon verschuftet.

Ich musste gleich zum Herrn Rektor hinein, der mich mit seinen grünen Augen sehr scharf ansah.

»Da bist du schon wieder, ungezogener Bube«, sagte er, »wirst du uns nie von deiner Gegenwart befreien?«

Ich dachte mir, dass ich sehr froh sein möchte, wenn ich den ekelhaften Kerl nicht mehr sehen muss, aber er hatte mich doch selber gerufen.

»Was willst du eigentlich werden?«, fragte er, »du verrohtes Subjekt? Glaubst du, dass du jemals die humanistischen Studien vollenden kannst?«

Ich sagte, dass ich das schon glaube. Da fuhr er mich aber an, und schrie so laut, dass es der Pedell draußen hörte und es allen erzählte. Er sagte, dass ich eine Verbrechernatur habe, und eine katilinarische Existenz bin, und dass ich höchstens ein gemeiner Handwerker werde, und dass schon im Altertum alle verworfenen Menschen so angefangen haben wie ich.

»Der Herr Ministerialrat Werner war bei mir«, sagte er, »und schilderte mir den bemitleidenswerten Zustand seines Sohnes«, und dann gab er mir sechs Stunden Karzer als Rektoratsstrafe wegen entsetzlicher Rohheit. Und meine Mutter bekam eine Rechnung vom Herrn Ministerialrat, dass sie achtzehn Mark bezahlen musste für die Hose.

Sie weinte sehr stark, nicht wegen dem Geld, obwohl sie fast keines hatte, sondern weil ich immer wieder was anfange. Ich ärgerte mich furchtbar, dass meine Mutter so viel Kummer hatte und nahm mir vor, dass es Werners Heinrich nicht gut gehen soll.

Die zerrissene Hose hat uns der Herr Ministerialrat nicht gegeben, obwohl er eine neue verlangte.

Am nächsten Sonntag nach der Kirche wurde ich auf dem Rektorat eingesperrt. Das war fad.

In dem Zimmer waren die zwei Söhne vom Herrn Rektor. Der eine musste übersetzen und hatte lauter dicke Bücher auf seinem Tische, in denen er nachschlagen musste. Jedes Mal, wenn sein Vater hereinkam, blätterte er furchtbar schnell um und fuhr mit dem Kopfe auf und ab.

»Was suchst du, mein Sohn?«, fragte der Rektor. Er antwortete nicht gleich, weil er ein Trumm Brot im Munde hatte. Er schluckte es aber doch hinunter und sagte, dass er ein griechisches Wort suche, welches er nicht finden kann.

Es war aber nicht wahr; er hatte gar nicht gesucht, weil er immer Brot aus der Tasche aß. Ich habe es ganz gut gesehen.

Der Rektor lobte ihn aber doch und sagte, dass die Götter den Schweiß vor die Tugend hinstellen, oder so was.

Dann ging er zum andern Sohn, welcher an einer Staffelei stand und zeichnete. Das Bild war schon beinah fertig. Es war eine Landschaft mit einem See und viele Schiffe darauf. Die Frau Rektor kam auch herein und sah es an, und der Rektor war sehr lustig. Er sagte, dass es bei dem Schlussfeste ausgestellt wird, und dass alle Besucher sehen können, dass die schönen Künste gepflegt werden.

Dann gingen sie, und die zwei Söhne gingen auch, weil es zum Essen Zeit war. Ich musste allein bleiben und bekam nichts zu essen.

Ich machte mir aber nichts daraus, weil ich eine Salami bei mir hatte, und ich dachte mir, dass die zwei dürren Rektorssöhne froh wären, wenn sie so viel kriegten.

Der Ältere stellte sein Bild an das Fenster im Nebenzimmer. Das sah ich genau. Ich wartete, bis alle draußen waren, und las dann die Geschichte vom schwarzen Apachenwolf weiter, die ich heimlich dabeihatte.

Um vier Uhr wurde ich herausgelassen vom Pedell. Er sagte: »So, diesmal warst du aber feste drin.« Ich sagte: »Das macht mir gar nichts.« Es machte mir aber schon etwas, weil es so furchtbar fad war. Am Montagnachmittag kam der Rektor in die Klasse und hatte einen ganz roten Kopf.

Er schrie, gleich wie er herin war: »Wo ist der Thoma?« Ich stand auf. Dann ging es an. Er sagte, ich habe ein Verbrechen begangen, welches in den Annalen der Schule unerhört ist, eine herostratische Tat, die gleich nach dem Brande des Dianatempels kommt. Und ich kann meine Lage nur durch ein reumütiges Geständnis einigermaßen verbessern.

Dabei riss er den Mund auf, dass man seine abscheulichen Zähne sah, und spuckte furchtbar und rollte seine Augen.

Ich sagte: »Ich weiß nichts; ich habe doch gar nichts getan.«

Er hieß mich einen verruchten Lügner, der den Zorn des Himmels auf sich zieht. Aber ich sagte: »Ich weiß doch gar nichts.« Und dann fragte er alle in der Klasse, ob sie nichts gegen mich aussagen können, aber niemand wusste nichts.

Und dann sagte er es unserm Professor. In der Frühe sah man, dass im Zimmer neben dem Rektorat das Fenster eingeschmissen war, und ein großer Stein lag am Boden, der war auch durch das Bild gegangen, welches der Sohn gemalt hatte, und es war kaputt und lag auf dem Boden.

Unser Professor war ganz entsetzt, und sein Bart und seine Haare standen in die Höhe. Er fuhr auf mich los und brüllte: »Gestehe es, Verruchter, hast du diese schändliche Tat begangen?« Ich sagte, ich weiß doch gar nichts, das wird mir schon zu arg, dass ich alles getan haben muss.

Der Rektor schrie wieder: »Wehe dir, dreimal wehe! Wenn ich dich entdecke! Es kommt doch an die Sonne.«

Und dann ging er hinaus. Und nach einer Stunde kam der Pedell und holte mich auf das Rektorat. Da war schon unser Religionslehrer da und der Rektor. Das Bild lag auf einem Stuhl und der Stein auch. Davor stand ein kleiner Tisch. Der war mit einem schwarzen Tuch bedeckt, und zwei brennende Kerzen waren da und ein Kruzifix.

Der Religionslehrer legte seine Hand auf meinen Kopf und tat recht gütig, obwohl er mich sonst gar nicht leiden konnte.

»Du armer, verblendeter Junge«, sagte er, »nun schütte dein Herz aus und gestehe mir alles. Es wird dir wohltun und dein Gewissen erleichtern.«

»Und es wird deine Lage verbessern«, sagte der Rektor.

»Ich war es doch gar nicht. Ich habe doch gar kein Fenster nicht hineingeschmissen«, sagte ich.

Der Religionslehrer sah jetzt sehr böse aus. Dann sagte er zum Rektor: »Wir werden jetzt sofort Klarheit haben. Das Mittel hilft bestimmt.« Er führte mich zum Tische, vor die Kerzen hin, und sagte furchtbar feierlich:

»Nun frage ich dich vor diesen brennenden Lichtern. Du kennst die schrecklichen Folgen des Meineides vom Religionsunterrichte. Ich frage dich: Hast du den Stein hereingeworfen? Ja – oder nein?«

»Ich habe doch gar keinen Stein nicht hineingeschmissen«, sagte ich.

»Antworte ja – oder nein, im Namen alles Heiligen!«

»Nein«, sagte ich. Der Religionslehrer zuckte die Achseln und sagte: »Nun war er es doch nicht. Der Schein trügt.«

Dann schickte mich der Rektor fort.

Ich bin recht froh, dass ich gelogen habe und nichts eingestand, dass ich am Sonntagabend den Stein hineinschmiss, wo ich wusste, dass das Bild war. Denn ich hätte meine Lage gar nicht verbessert und wäre davongejagt worden. Das sagte der Rektor bloß so. Aber ich bin nicht so dumm.

Onkel Franz

Da bekam meine Mutter einen Brief von Onkel Franz, welcher ein pensionierter Major war. Und sie sagte, dass sie recht froh ist, weil der Onkel schrieb, er will schon einen ordentlichen Menschen aus mir machen, und es kostet achtzig Mark im Monat. Dann musste ich in die Stadt, wo Onkel wohnte. Das war sehr traurig. Es war über vier Stiegen, und es waren lauter hohe Häuser herum und kein Garten.

Ich durfte nie spielen, und es war überhaupt niemand da. Bloß der Onkel Franz und die Tante Anna, welche den ganzen Tag herumgingen und achtgaben, dass nichts passierte. Aber der Onkel war so streng zu mir und sagte immer, wenn er mich sah: »Warte nur, du Lausbub, ich krieg dich schon noch.«

Vom Fenster aus konnte man auf die Straße hinunterspucken, und es klatschte furchtbar, wenn es daneben ging. Aber wenn man die Leute traf, schauten sie zornig herum und schimpften abscheulich. Da habe ich oft gelacht, aber sonst war es gar nicht lustig.

Der Professor konnte mich nicht leiden, weil er sagte, dass ich einen sehr schlechten Ruf mitgebracht hatte.

Es war aber nicht wahr, denn das schlechte Zeugnis war bloß deswegen, weil ich der Frau Rektor ein Brausepulver in den Nachthafen getan hatte.

Das war aber schon lang, und der Professor hätte mich nicht so schinden brauchen. Der Onkel Franz hat ihn gut gekannt und ist oft hingegangen zu ihm.

Dann haben sie ausgemacht, wie sie mich alle zwei erwischen können.

Wenn ich wieder von der Schule heimkam, musste ich mich gleich wieder hinsetzen und die Aufgaben machen.

Der Onkel schaute mir immer zu und sagte: »Machst du es wieder recht dumm? Wart’ nur, du Lausbub, ich komm’ dir schon noch.«

Einmal musste ich eine Arithmetikaufgabe machen. Die brachte ich nicht zusammen, und da fragte ich den Onkel, weil er zu meiner Mutter gesagt hatte, dass er mir nachhelfen will. Und die Tante hat auch gesagt, dass der Onkel so gescheit ist, und dass ich viel lernen kann bei ihm.

Deswegen habe ich ihn gebeten, dass er mir hilft, und er hat sie dann gelesen und gesagt: »Kannst du schon wieder nichts, du nichtsnutziger Lausbub? Das ist doch ganz leicht.«

Und dann hat er sich hingesetzt und hat es probiert. Es ging aber gar nicht schnell. Er rechnete den ganzen Nachmittag, und wie ich ihn fragte, ob er es noch nicht fertig hat, schimpfte er mich fürchterlich und war sehr grob.

Erst vor dem Essen brachte er mir die Rechnung und sagte: »Jetzt kannst du es abschreiben; es war doch ganz leicht, aber ich habe noch etwas anderes tun müssen, du Dummkopf.«

Ich habe es abgeschrieben und dem Professor gegeben. Am Donnerstag kam die Aufgabe heraus, und ich meinte, dass ich einen Einser kriege. Es war aber wieder ein Vierer, und das ganze Blatt war rot, und der Professor sagte: »So eine dumme Rechnung kann bloß ein Esel machen.«

»Das war mein Onkel«, sagte ich, »der hat es gemacht, und ich habe es bloß abgeschrieben.« Die ganze Klasse hat gelacht, und der Professor wurde aber rot.

»Du bist ein gemeiner Lüger«, sagte er, »und du wirst noch im Zuchthaus enden.« Dann sperrte er mich zwei Stunden ein. Der Onkel wartete schon auf mich, weil er mich immer durchhaute, wenn ich eingesperrt war. Ich schrie aber gleich, dass er schuld ist, weil er die Rechnung so falsch gemacht hat, und dass der Professor gesagt hat, so was kann bloß ein Esel machen.

Da haute er mich erst recht durch, und dann ging er fort. Der Greither Heinrich, mein Freund, hat ihn gesehen, wie er auf der Straße mit dem Professor gegangen ist, und wie sie immer stehen blieben und der Onkel recht eifrig geredet hat.

Am nächsten Tag hat mich der Professor aufgerufen und sagte: »Ich habe deine Rechnung noch einmal durchgelesen; sie ist ganz richtig, aber nach einer alten Methode, welche es nicht mehr gibt. Es schadet dir aber nichts, dass du eingesperrt warst, weil du es eigentlich immer verdienst, und weil du beim Abschreiben Fehler gemacht hast.«

Das haben sie miteinander ausgemacht, denn der Onkel sagte gleich, wie ich heimkam: »Ich habe mit deinem Professor gesprochen. Die Rechnung war schon gut, aber du hast beim Abschreiben nicht aufgepasst, du Lausbub.«

Ich habe schon aufgepasst, es war nur ganz falsch.

Aber meine Mutter schrieb mir, dass ihr der Onkel geschrieben hat, dass er mir nicht mehr nachhelfen kann, weil ich die einfachsten Rechnungen nicht abschreiben kann, und weil er dadurch in Verlegenheit kommt.

Das ist ein gemeiner Mensch.

Der Kindlein

Unser Religionslehrer heißt Falkenberg.

Er ist klein und dick und hat eine goldene Brille auf.

Wenn er was Heiliges redet, zwickt er die Augen zu und macht seinen Mund spitzig.

Er faltet immer die Hände und ist recht sanft und sagt zu uns: »ihr Kindlein«.

Deswegen haben wir ihn den Kindlein geheißen.

Er ist aber gar nicht so sanft. Wenn man ihn ärgert, macht er grüne Augen wie eine Katze und sperrt einen viel länger ein, wie unser Klassprofessor.

Der schimpft einen furchtbar und sagt »mistiger Lausbub«, und zu mir hat er einmal gesagt, er haut das größte Loch in die Wand mit meinem Kopf.