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Eine wahnwitzige Geschichte
von Menschen und Dingen in der Edition BoD              

              hrsg. von Vito von Eichborn

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Bücher für Entdecker

Books on Demand bietet Autoren ein neues Verlagskonzept. Viele Debütanten, etablierte Autoren und engagierte Verleger nutzen den Publikationsservice von Books on Demand und bereichern den Buchmarkt mit interessanten und außergewöhnlichen Titeln. Vito von Eichborn, einer der innovativsten Buchmacher Deutschlands, wählt als Herausgeber für die Edition BoD herausragende Neuerscheinungen aus. Lesen Sie selbst, welche Entdeckungen das Programm von Books on Demand möglich macht.

Mehr Infos auch auf www.bod.de.

Gabriele von Holbach ist durch und durch Saarländerin – geboren und aufgewachsen im – nach eigener Aussage – schönsten Bundesland der Welt. Nach Abitur und Studium verlässt sie für sieben Jahre die Heimat und schaut sich die Welt an. Heute arbeitet sie für Recht und Gesetz. „In der Villa ist die Hölle los“ ist ihr erster Roman.

Vito von Eichborn war Journalist, dann Lektor im S. Fischer Verlag, bevor er 1980 den Eichborn Verlag gründete, dessen Programm noch heute ein breites Spektrum umfasst: Humor, Kochbücher und Ratgeber, Sachbücher aller Art, klassische und moderne Literatur sowie die Andere Bibliothek. Nach seinem Ausstieg im Jahre 1995 war er u.a. Geschäftsführer bei Rotbuch/Europäische Verlagsanstalt und sechs Jahre Verleger des Europa-Verlags. Seit 2005 ist Vito von Eichborn selbständig als Publizist tätig und fungiert u.a. seit März 2006 als Herausgeber der Edition BoD.

Meine Buchhändlerin sagte mir, „ja“, sagte sie ...

Ja, ‚moderner Frauenroman‘ hört sich gut an – wenn er nicht in den gleichen Klischees steckt wie vieles im letzten Jahrzehnt, seit Hage im Spiegel die neue Frauenliteratur ausgerufen hat.

Wer sonst liest eigentlich noch Romane? Die Männer machen Karriere oder haben Angst um dieselbe. Die Älteren sind bei Nora Roberts stehen- und die ‚chick lit‘-Bücher à la Hera Lind in einer dümmlichen Sackgasse steckengeblieben. Frau Kürthy spielt in einer eigenen Zeitgeist-Liga. Frauenkrimis gibt‘s mehr als genug, und neuere historische Romane sind, nach den so gut recherchierten Krimis von Petra Oelker, meist nur noch platt. Aber zwischen Duve und Zeh gibt‘s noch eine Menge Möglichkeiten.

Aber es gilt weiter: Wenn noch irgend jemand Belletristik liest – dann die Frauen mittleren Alters. Die nun wiederum wollen sich identifizieren ...“

„Halt stopp“, rief ich dazwischen. „Hier geht‘s doch nicht um Schubladendenke – typisch Buchhändlerin! –, hier geht es darum, dass es eine Autorin zu entdecken gilt!“

„Aha“, meinte meine Buchhändlerin trocken, „und welche Schublade bedient diese neue Autorin? Ich kann den Kundinnen nicht sagen: Dies ist ein gutes Buch. Das ist eine Null-Aussage. Ich muss ihnen sagen, wofür oder warum sie es lesen sollen.“

„Na gut, okay, begriffen. Hier geht es allerdings sehr um unseren Zeitgeist. Ja, dies ist absolut geeignet zur Identifikation aller bürgerlichen Leserinnen, sie finden sich wieder. Die Beobachtungen im mitmenschlichen Bereich, der Umgang von Frauen und Männern, von Alten und Jungen unterschiedlicher Gruppierungen und Niveaus, die Schilderungen alltäglichen Lebens, jedoch so zugespitzt, dass es wirklich Literatur wird – klasse. Außerdem mit einer Leichtigkeit und Souveränität erzählt ...“

„Dies Gelaber reicht mir jetzt – was wird denn überhaupt erzählt?“, fiel meine Buchhändlerin mir robust in die Parade, „bitte: konkret!“

„Also: Unsere Erzählerin – selbst Ärztin, ihr Mann Rechtsanwalt – erbt von der 93-jährigen Oma eine mit Krempel und Klamotten, Antiquitäten und Erinnerungsstücken vollgestopfte Jugendstilvilla.

Das gesamte Buch dreht sich darum: Was tun?“

„Das hört sich ja nicht so aufregend an. Ist das wieder mal die zeitgeistig abgeschriebene Wirklichkeit, die behauptet, Literatur zu sein?“ fuhr sie mir sarkastisch dazwischen, „also Klartext: Was passiert?“

„Unsere Erzählerin macht eine Wohnungsauflösung, um all die Sachen von Oma zu verkaufen. Zusammen mit ganz unterschiedlichen Helfern verkauft sie: Seide, Samt und Spitzen, zwei echte Oldtimer aus der Garage, die Zinnsammlung, Vorhänge, Teppiche und Sofakissen, einen Pickelentferner aus den 60ern, eine Kuhglocke, einen Schaukelstuhl und noch viel mehr. Die Kunden sind Teenies und arme, scheue, alte Damen, geliftete Dicke, Blondierte und geldgeile Händler ...“

„Naja, das kann ja ganz lustig sein. Aber warum soll mich dieser Kramverkauf interessieren?“

„Weil das alles unglaublich ergreifend ist!“, rief ich aus. „Hier wird das pralle Menschenleben ausgebreitet – all diese Dinge stehen für die Vergangenheit, für das Leben der geliebten Oma, auch die Sammlung aus dem Weinkeller und die Hirschgeweihe von Opa kommen unter den Hammer. Und unsere Erzählerin schwankt zwischen Rührung und Dollarzeichen in den Augen. Sie meint: ‚Was kostet ein Satz Nerven?‘, während sie von einer Katastrophe in die nächste stolpert. Ein Generaldirektor nebst Gemahlin klaut Silbergeschirr, der Wintergarten wird zertrümmert, es geschehen Unfälle aller Art, und das holländische Ehepaar, das die Villa kaufen will, geht auf den Keks. Der Beruf als Ärztin macht im Hintergrund zu schaffen, die schreckliche Schwiegermutter ist Drache und Megäre, das Finanzamt droht wegen Steuerhinterziehung und die Erinnerung an die Kindheit bei Oma kommt wieder hoch.

Es ist die Hölle los – und alles ist rundherum liebenswürdig erzählt.“

Meine Buchhändlerin wollte mich wie immer unterbrechen, aber ich fuhr in meinem Redefluss fort: „Dann bringt der erst so skeptische Ehemann lauter Sachen mit nach Hause, um sie bei eBay zu verkaufen, wie den Rollstuhl und das Schaukelpferd, die Wohnung wird zum Kramladen. Und schließlich stellen sie sich auf den Flohmarkt, gewinnen immer mehr Freude an dem ganzen Durcheinander. Da kaufen Kinder und Japaner, Fette und Geizige und Nette. Der Elfenbein-Schuhlöffel, der geschnitzte Papagei, Comics, Postkarten und Vasen, Rüschenkissen, Gobelins gehen weg, auch das Spinnrad und die Violine ohne Saiten, und ein selbstgemaltes Bild von Oma findet als wertvolle Kunst eine begeisterte Käuferin. Flohmarktnachbarn werden zu Freunden, der Brotverkäufer nebenan jedoch ist nervenaufreibend, und ein attraktiver, schwuler Flohmarkthändler verwirrt alle Frauen – das ist das wahre Leben.

Dies könnte nie ein Mann geschrieben haben, so voller Empathie und Selbstironie, so witzig und empfindsam und souverän ...“

„Stopp, das reicht!“, rief meine Buchhändlerin, und ich sah an ihrem fröhlichen Ausdruck und den munteren Augen, dass sie Feuer gefangen hatte, „ja, ich bin ja schon überzeugt. Schon diese Aufzählung aus einem Menschenleben hört sich grandios an. Und all diese Menschen in dem Roman will ich jetzt kennenlernen“ – sprach‘s, nahm mir das Buch aus der Hand und verstaute es in der riesengroßen Handtasche.

Ich war von der eigenen Begeisterung noch etwas atemlos und verabschiedete mich. Und ich wusste: Diese Buchhandlung würde viele „Omas“ verkaufen.

Denn − wer dies liest, findet die Zuneigung zu den Menschen wieder und bekommt mehr als ein Lächeln ins Gesicht.

Viel Freude wünscht

Vito von Eichborn

Kapitel 1

Oma ist tot. Sie ist vor drei Wochen gestorben. Oma hat ihre Drohung wahr gemacht, sie hat mir den alten Schuppen vermacht. Nein, keinen Schuppen, eine kleine Villa, stammt aus dem Jugendstil, ist also schon sehr alt. Wem sonst sollte sie was vermachen, sie hatte doch nur noch mich. Sie hätte aber ruhig ein paar Vermächtnisse machen können. Der Putzfrau, dem Gärtner, dem Metzger und so weiter. Wollte sie aber nicht, leider.

Omas kleines Häuschen ist vom Keller bis zum Dachboden vollgestopft mit allem nur erdenklichen Kram, nützlich oder nicht, brauchbar oder nicht, voller Erinnerungen oder auch nicht. Oma hat einfach alles aufgehoben. Wenn man bedenkt, dass sie’s bis 93 geschafft hat, da sammelt sich schon so allerhand an. Leider.

Ich habe immer zu Oma gesagt: „Wirf doch mal was weg.“ Aber nein, sie sagte nur: „Katharina, denk doch mal an die Wertsteigerung!“ Oma war nicht senil, aber in Sachen Krempel hat sie immer gedacht, wenn’s mal alt ist, ist es eine Antiquität. Jetzt habe ich den ganzen Kram geerbt und weiß nicht wohin damit. Mein Göttergatte und ich stehen nicht auf so altes Zeug. Nein, wir haben’s lieber neu – oder richtig antik. Aber selbst echt Antikes brauche ich nicht, ich habe doch schon alles.

Nun bin ich in meinem neuen Haus. Ich bin nicht gerne da. Oma ist nicht mehr da, sie fehlt mir sehr. Ich denke, sie ist im Himmel, oder auch nicht, ich weiß nicht so genau. Sie war ja nicht gerade ein Engel, aber so schlimm für nach unten war sie auch wieder nicht.

Ich habe mal in die Schränke geschaut und sofort gedacht, mich trifft der Schlag. Kistchen, Kästchen, Döschen, Schächtelchen und alles voll mit Gedöns. Wo soll ich denn mit all dem Zeugs hin? Moni, meine beste Freundin, nicht sehr schnell, aber lieb, sagt: „Mach doch einfach eine Wohnungsauflösung. Da kommen die Leute und kaufen wie verrückt.“ Wenn ich mir vorstelle, da kommen fremde Leute und tatschen alles an. Nein danke! Aber irgendwie muss ich das Zeug ja loswerden. Werde noch ’ne Nacht drüber schlafen.

„Möchtest du nicht was davon abhaben? Such dir aus, was dir gefällt, ich schenk es dir.“ Oh Gott nein, was für ein Blick, ich wollte ihr doch nicht ans Leder. Moni ist sichtlich geschockt, ich muss wohl meine Arzttasche aus dem Auto holen. Aber was soll sie auch mit dem Krempel, sie braucht ihn nicht, ich ja auch nicht.

Ich mache dann doch eine Wohnungsauflösung, werde mich gleich nachher drum kümmern. Aber wer kümmert sich um all die vielen Leute, die da kaufen wie verrückt, oder auch nicht? Da wird doch bestimmt auch manches in der Hosentasche verschwinden. Ich will ja nicht viel an dem Zeug verdienen, aber geklaut soll es mir auch nicht werden.

Die Frau, die meine Anzeige aufgenommen hat, war sehr nett. Aber sie hat gemeint, man könnte nicht schreiben: „Altes Haus voll Plunder zu verkaufen“, also nur den Plunder, nicht das Haus. Sie hat das etwas umgeschrieben, kennt sich da ja auch besser damit aus, mit der Anzeige, nicht mit dem Plunder. Am Freitag steht in der Zeitung:

Wohnungsauflösung, Villa: Lindenallee 12

Antiquitäten, erlesene Stücke, sehr gepflegter Haushalt,

Sa. u. So. ab 9 Uhr, Ende offen.

Nur Ausgaben und noch nicht einen Cent verdient. Ich bin froh, wenn ich das Zeug los bin. Aber so ein bisschen was muss ich doch auch dran verdienen, hab’s ja schließlich geerbt.

Jetzt muss ich nur noch schnell ein paar Leute organisieren, die mir bei der Wohnungsauflösung helfen. Ich hab mich, außerdem Moni, meinen Göttergatten, ein Traum von einem Mann, gut aussehend, gebildet, intelligent, gepflegt, Waschbrettbauch. Das reicht, man soll’s auch nicht übertreiben. Also mein Göttergatte und Bernd (der Freund von meinem Göttergatten). Bernd ist sich für nix zu schade, wenn sein bester Freund ihn braucht, ist er da.

Bernd ist ein richtiger Weiberheld, kann ich zwar nicht verstehen, da ist nix mit Waschbrettbauch und volles Haar, eher „da war mal Haar“. Ich würde ja sagen: „Bring noch deine Freundin mit“, aber das ist dauernd ’ne andere. Sie haben alle lange Fingernägel, wenig Hunger, viel obenrum, viel untenrum, also hinten unten, wenig dazwischen und nicht viel im Kopf. Also kommt Bernd allein.

Monis Mann ist auch nicht so schnell. Bei Moni ist mir das ja egal, ich kenne sie ja schon so lange, aber mit ihrem Mann, also so langsam kann ich nicht. Sonst fällt mir wirklich niemand ein, der helfen könnte. Ist auch viel zu kurzfristig. Samstag ist schon übermorgen.

Ich muss noch Wechselgeld besorgen. Als Moni den Haushalt ihrer Schwiegermutter räumte, hatte kaum einer Kleingeld dabei und sie konnte nicht rausgeben, das war schlecht. So ist Moni eben. Aber sie ist ’ne gute Hausfrau, ich nicht, ehrlich. Moni kann kochen, waschen, bügeln, putzen, ich kann’s nicht, will’s auch nicht können. Bei uns putzt Frau Bach, die macht auch alles andere. Kochen muss ich nicht können, ich esse im Kasino. Mein Göttergatte isst bei seiner Mutter, die kann ich nicht leiden, die mich auch nicht, macht mir aber nix.

Also zurück zu Moni. Ob das mit dem Verkaufen so klappt? Mir graust es, aber mit Verlust muss man immer rechnen. Ich stelle sie da hin, wo bestimmt nicht viel los ist, in den Keller oder auf den Speicher, das sieht man dann.

Mein Göttergatte erklärt mich für verrückt: „Was? Du willst einen Räumungsverkauf machen? Weißt du überhaupt, was da los ist? Da kommt Krethi und Plethi und rennt dir die Bude ein, schnüffelt überall rum und tatscht alles an. Vergisst später noch das Bezahlen. Geht das nicht anders?“ „NEIN! Es geht nicht anders! Weg ist weg, man muss auch immer etwas Fluktuation mit einrechnen.“

Die laufen ja nicht durch das Haus, wo ich wohne, Gott bewahre, das möchte ich nicht. Ich brauche mein geregeltes Leben. Ich mag auch keinen spontanen Besuch, nein, immer schön anmelden, und das bitte telefonisch. Aber in der Villa, da ist es nicht so schlimm. Das Zeug, das die antatschen, gehört ja nicht richtig mir, ich will’s ja nicht haben. Egal ob mit oder ohne Wertsteigerung. Also lassen wir Krethi und Plethi ruhig kommen.

OH GOTT! Das hätte ich in meinen kühnsten Träumen nicht gedacht. In der Zeitung stand ab 9 Uhr. Ich komme um 8 Uhr zur Villa, da stehen schon über zwanzig Leute vorm Tor. Können die denn alle nicht lesen? Ich sage also: „Es dauert noch, bitte haben Sie etwas Geduld“, aber die haben sie nicht, die Geduld. Als ich die Tür aufsperre, stürmt die ganze Meute hinter mir ins Haus. Ich kann mich gerade noch zur Seite werfen, die hätten mich über den Haufen gerannt.

Kaum habe ich mich einigermaßen berappelt, da klirrt es zum ersten Mal. Die Scheibe einer Vitrine im Esszimmer (Louis der Soundsovielte). Es klirrt noch mal und noch mal und ich höre auf zu zählen. Schon mal was von Domino-Effekt gehört? Das geht auch mit Kristallgläsern, leider! Fluktuation zum Ersten.

Die Täter streiten um das gute Stück, das jetzt leider nicht mehr so gut ist. Jeder hat’s zuerst gesehen. Der kleine Dicke fängt an zu feilschen. „Tausend Euro, ist ja leider die Scheibe kaputt, mehr kann ich nicht zahlen. Ich muss ja auch noch die ganzen Scherben entsorgen, die von der Scheibe und den Gläsern und so.“ Mein Unterkiefer klappt nach unten.

„Hast du doch selber kaputt gemacht“, plärrt der große Dicke mit Glatze. „Lüch nedt“, plärrt der kleine Dicke zurück. „Jawohl“, mischt sich da eine kleine dürre Frau mit roten Haaren ein. „Sie waren das, ich habe es genau gesehen.“ „Aber der große Dicke hat ihn gestoßen“, keift eine kleine dicke Frau.

Ich gehe vorsichtshalber zwei Schritte zurück, man weiß ja nie! „Is’ gar nich’ wahr“, plärren jetzt noch zwei. „Ich wollte diese Vitrine ebenfalls käuflich erwerben“, mischt sich noch ein großer, schlanker Herr mit wallendem Lockenhaar etwas gestelzt ein. „Aber für beschädigtes Mobiliar gebe ich kein Geld aus.“ Er sieht aus, als wolle er jeden Moment in Tränen ausbrechen. „Müssen Sie ja nicht“, schreit jetzt die Dürre. Sie schwenkt eine Vase aus Meissener Porzellan bedrohlich über ihrem Kopf.

Mir ist, als würde mein Unterkiefer auf dem Fußboden aufschlagen, was anatomisch gesehen zum Glück nicht möglich ist. Ich würde ganz schön blöd aussehen, wie in einem Cartoon, so komme ich mir langsam auch vor.

Da ertönt eine mir vertraute tiefe Stimme: „Jetzt beruhigen wir uns alle erst einmal.“ Die Stimme klärt den kleinen und den großen Dicken (mit Glatze) über Tatbestand und Rechtsfolge auf und schon herrscht Ruhe. Neben dem Sprecher greifen zwei Hände nach der Meissener Vase und heben sie in die Höhe, unerreichbar für die kleine Dürre. Die Hände gehören zu Bernd und der misst einssechsundneunzig.

Habe ich schon erwähnt, dass mein Göttergatte im Dienst einen schwarzen Talar trägt? Er hat immer das letzte Wort, aber nur im Gericht. Heute lasse ich es ihm gerne, das letzte Wort.

Jetzt fängt die kleine Dürre an zu spinnen. Wie ein Gummiball hüpft sie an Bernd hoch und will ihm die Meissener Vase aus den Händen reißen. Dabei zetert sie unaufhörlich. Mittlerweile ist das Esszimmer voller potenzieller Käufer, die das Szenario als kostenlose Zugabe ansehen. An Kaufen denkt keiner mehr.

Mir wird übel. Ich bekomme Kopfschmerzen, muss hier raus. „Halt, hiergeblieben“, jetzt hängt die Dürre wie eine Klette an mir. „Ich will die Vase, ich will!“ Anscheinend hakt ihre Schallplatte. Ich überlege kurz, ob ich sie mal mit meinen Karatekünsten bekannt machen soll, der Herr mit der schwarzen Robe fällt mir ein und ich lasse es. „Sie können sie haben, wenn der Preis stimmt.“ Aber zwischen Wollen und Sollen liegen Welten. Fünfzig Euro für eine Meissener Vase, ich bin ja nicht blöd. Ich will den Kram zwar nicht, das heißt aber nicht, dass ich dessen Wert nicht kenne. „Also gut.“ Sie legt noch was drauf und zieht glücklich ab. Ich habe meinen ersten Verkauf getätigt, bin mächtig stolz. Aber zu welchem Preis, was kostet ein Satz Nerven?

Das Esszimmer hat sich inzwischen wieder geleert. Bernd kehrt die Scherben zusammen, mein Göttergatte steckt ein ordentliches Bündel Hunderter ein, und der kleine Dicke räumt sichtlich zufrieden seine Vitrine aus. Acht Uhr fünfzehn, wie soll ich diesen Tag überstehen? Da klirrt es schon wieder, nur viel lauter. Fluktuation die Zweite, diesmal in der Küche. Jetzt fliegen die Fetzen zwischen zwei Wasserstoffblondinen um die sechzig. Objekt der Begierde sind die AMC-Töpfe. Einer davon wurde in dem Gerangel zur fliegenden Untertasse. Leider ging der Flug durch die Fensterscheibe. Wie sagte Moni noch mal? „Die kaufen wie verrückt“, ich glaub, die sind es!

Ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee oder zwei. Philipp, mein Göttergatte, die meisten nennen ihn Phil, ich nicht, ich mag keine Namensverschandelungen … Also Philipp, eigentlich heißt er ja Philipp Jonas Maximilian, regelt das mit der Scheibe auf seine ihm eigene, unkonventionelle Art und Weise. Bernd ruft den Glaser an, das kann man ja so nicht lassen, das Fenster ohne Scheibe. Ich koche mal Kaffee für alle, die einen wollen. Oma hatte ja ’ne riesige Kaffeemaschine.

Diesmal kehrt Moni die Scherben zusammen und wieder steckt mein Göttergatte ein Bündel Scheine ein. Die Blondgefärbten teilen sich die Töpfe und alles, was da noch dazugehört. Die Rechnung für die Scheibe teilen sie auch.

Ich brauche noch Kaffee, suche ihn in der Vorratskammer. Mit einem Firmenschild über der Tür könnte die Kammer als gut sortierter Laden durchgehen. Ich finde Kaffee für die nächsten drei Jahre. Was wollte Oma mit der Riesenmenge? Droht Südamerika eine Dürrekatastrophe, die die Kaffeeplantagen vertrocknen lässt? Wenn ich den verkaufe, kann ich vom Erlös meinen Kaffee persönlich auf der Plantage kaufen.

Es ist gleich neun. In der Einfahrt gibt es keine Parkplätze mehr. Dennoch versucht es einer. Der englische Rasen lädt zum Parken ein. Unglücklicherweise trennt ein Rosenbeet die Einfahrt vom Rasen. Dem Auto machen die Dornen nichts, das ist groß, ein Transporter mit einem Stern, aber für die Rosen kommt jede Hilfe zu spät. Ich werde jetzt erst mal ein Schild malen: Parken verboten!!! Fluktuation Nummer drei.

Die Wasserstoffblondinen brauchen Kartons zum Einpacken, ich habe zum Glück einige aus der Klinik mitgebracht. Der Hausmeister hat auch circa eine halbe Tonne Zeitungspapier dazugelegt, werde mich mit einer Flasche Cognac revanchieren. Herr Ziegenfuß, Hausmeister der Klinik, nennt ihn Medizin, hat nämlich ein Magengeschwür.

Mein Kaffee wird dankend angenommen. Zucker und Milch, Oma sei Dank, gibt es mehr als genug. Die Tassen aus dem Küchenschrank sind alle im Umlauf. Ich hole neue aus dem Esszimmer. Kreisch!!! „Das Geschirr wollte ich kaufen, das können Sie nicht benutzen, sind Sie verrückt, wenn da eine Tasse kaputtgeht.“ Es fehlte nicht viel und alle Tassen wären kaputtgegangen. Meine Knie zittern immer noch.

Ich bin’s nicht gewöhnt, dass man mich anschreit. Ich stelle die Tassen hin, hole Papier und Kartons und Philipp bündelt wieder Scheine. Wilhelmine kommt. Sie ist eine alte Freundin von Oma. Alt im wahrsten Sinne des Wortes. Altersmäßig noch mehr gesammelt als Oma. Aber schwer fit. „Wilhelmine, dich schickt der Himmel.“ (Also ist Oma doch dort und nicht unten, wo’s heiß ist.) Sofort ist für Kaffee gesorgt.

Ich gehe mal zu Moni in den Keller. Auch hier wuseln haufenweise potenzielle Käufer herum. Ich kann’s nicht fassen. Drückt mir Moni doch ein dickes Bündel Scheine in die Hand. Die schwatzt den Leuten auch alles auf. Welche Schätze der Keller doch hergibt. Aber Moni hat das voll im Griff.

Moni heißt übrigens wirklich Moni, ist keine Abkürzung von Monika. Ihre Oma wollte das so. Der gefiel Monika nicht, sie hieß selbst so und das Enkelchen sollte nicht so heißen. Ich hasse Verniedlichungen. Bernds Tante heißt Lis‘chen. Die ist achtzig und wiegt drei Zentner. Nicht mal Lieselotte würde dafür ausreichen.

Ich frage mich, ob ich die Leute auch auf den Dachboden lassen soll. Also, der Dachboden ist nicht verstaubt und vollgerümpelt, nein, er ist ausgebaut und hat ein paar nette kleine Zimmerchen. Da gibt’s auch viel zu verkaufen. Aber so ganz ohne Aufsicht, da kriegt vielleicht zu vieles Beine. Also lasse ich die Tür besser geschlossen.

Es klirrt mal wieder, das hat’s ja schon lange nicht mehr. Diesmal kommt’s aus Opas Arbeitszimmer. Ein kleines Heiligtum. Da durfte ich als Kind nichts anfassen, nur brav auf dem Sessel sitzen. Ein schöner riesengroßer Ohrensessel aus Leder. Komisch, wie die Zeit doch Möbel schrumpfen lässt. Den wollte ich in mein Arbeitszimmer stellen, wenn ich mal groß bin. Jetzt sitzt da ein großer, dicker Mann mit Zigarre. „Wollte nur mal ausprobieren, ob er zu mir passt“, brummt er. Wenn der Sessel ein Anzug wäre, dann wäre der jetzt wohl irgendwo geplatzt. „Sicher“, lüge ich, „er steht Ihnen ausgezeichnet.“ Ich hoffe, er kommt da wieder raus, biete ihm deshalb vorsichtshalber meine Hilfe an. Aber er möchte noch ein bisschen sitzen bleiben, es wäre so gemütlich hier. Die tiefe Ruhe hat wohl Opa hiergelassen, als er für immer ging. Auch jetzt, wo im Haus Chaos herrscht, kommt es mir hier drinnen friedlich vor.

Hier war eben Fluktuation Nummer vier. Eins von Opas zahlreichen gerahmten Fotos fiel aus unerklärlichen Gründen von der Wand. Das wäre ja nicht weiter schlimm gewesen, aber leider hat es den kleinen Rauchtisch getroffen, ein Dominoeffekt! Nichts steht mehr, auch nicht die Kristallkaraffe. Die liegt in Scherben auf dem Parkett, in einer großen Lache edelsten französischen Cognacs.

Ich brauche dringend einen Lappen, bevor die braune Brühe den Perser erreicht. Im Flur ein Stau, der Weg zum Lappen ist versperrt, irgendwo wird jemand angestoßen und schüttet eine Tasse Kaffee über die Tapete, wo kommen nur all die Menschen her? Ich ziehe meinen Pullover aus, um den Cognac aufzuhalten. Zu spät, jemand hat bereits den Teppich zurückgeschlagen. In der Lache aus Cognac liegen Papiertücher. Davon könnte ich auch eins brauchen, weil ich nur mit Mühe die Tränen zurückhalte. Der große, dicke Mann aus dem Sessel legt tröstend den Arm um meine Schulter. „Ist doch nur halb so schlimm wie’s aussieht, hab mein Möglichstes getan.“ Dankbar komme ich ihm mit dem Preis für den Sessel entgegen, ich kann ja noch den Perser verkaufen. Fleckenlos!

Ein gut aussehender älterer Herr kommt ins Zimmer. Er stellt sich als Antiquitätenhändler vor, will die komplette Einrichtung kaufen, also nur die vom Arbeitszimmer. Die Bücher nimmt er auch, wenn der Preis stimmt. Ich addiere im Kopf, nenne eine Zahl, er eine andere, wir einigen uns irgendwo dazwischen. Das Räumkommando hat er gleich mitgebracht. Am Ende liegt nur noch der Perser auf dem Boden. Den Inhalt der Schränke und Schubladen hat der Gutaussehende auch noch genommen. Ich wundere mich wieder mal, was die Leute so alles brauchen können.

Werde den Perser in ein anderes Zimmer bringen, hier ausfegen und abschließen. Ich suche nach einem Besen, falle über einen Stapel Kochbücher, handle mir eine Beule ein und habe jetzt wenigstens einen Grund, warum der Kopf weh tut. Jetzt brauche ich dringend eine Auszeit, warum läutet denn niemand die Pausenglocke?

Im Esszimmer bei Wilhelmine herrscht immer noch Gedränge. Ich glaube, mit der Reise ins Kaffeeparadies wird es nichts. Wilhelmine verbraucht Omas Kaffeevorräte. Ich brauche dringend eine Um armung von meinem Göttergarten, doch die muss warten, weil er gerade einer alten Dame die Kartons ins Auto trägt.

Ein neuer Helfer naht. Paul, Wilhelmines Enkel! Die hat ihm für die Hilfe Opas Modell der Bismarck versprochen. Die Bismarck war ein altes Schlachtschiff. Das Modell stand immer in Opas Arbeitszimmer, doch jetzt hab ich es gerade dem Gutaussehenden verkauft. Warum verspricht Wilhelmine auch, was sie nicht halten kann, was ihr nicht mal gehört. Gehört sich doch nicht. Paul ist enttäuscht, aber mir zuliebe bleibt er. „Du siehst krank aus“, sagt er zu mir. Weil ich so krank aussehe, bleibt er, ein Pubertierender mit Herz. Ich drücke Paul den Besen in die Hand, er kann Opas Zimmer fegen.

Ich brauche mal frische Luft. Vor dem Haus steht eine Menschenschlange. Bernd betätigt sich als Türsteher. Zwei raus, zwei rein, einer raus, einer rein. Viele kommen ja nur, um zu schauen. Ich höre, wie zwei sich über die Wohnungsräumung der letzten Woche unterhalten, muss geil sein, in anderer Leute Unterwäsche rumzuschnüffeln. Ich bitte die beiden höflich, aber bestimmt, zu gehen. Gut, dass ich Kleiderschränke und Wäschekommoden abgeschlossen habe.

Mein Blick fällt aufs Fenster von Opas Arbeitszimmer. Warum turnt Paul auf dem Fensterbrett rum? Ich renne zurück ins Haus. Hinter mir Gemaule: „Hinten anstellen wie alle hier.“ Im ersten Stock herrscht immer noch dichtes Gedränge. Es dauert, bis ich bei Paul bin. Der packt die Vorhänge in einen Karton. Die junge Frau neben ihm ist glücklich über ihren günstigen Einkauf. Mir schwant Fürchterliches, aber es ist nicht so. Paul hat die Brokatvorhänge und Spitzenstores für einen guten Preis verkauft.

Nun ist das Zimmer völlig leer. Ich schließe die Tür von innen und setze mich auf den blanken Boden. Es ist immer noch friedlich hier. Ich denke an früher, an Opa, meine Kindheit, spüre, wie meine Augen sich mit Tränen füllen. Mein Gott, ich werde sentimental! Ich schließe die Tür von außen ab. Mir ist, als ob ich einen Teil meiner Kindheit für immer verloren habe. Aber ich wollte es ja so.

Zwölf Uhr, Mittagspause. Aber keiner hält sich dran. Ich habe heute noch nichts gegessen. Philipp auch nicht. Alle haben Hunger. Ich suche in der Speisekammer nach etwas Essbarem, finde nur Spaghetti.

Wilhelmine könnte doch auch mal was anderes kochen als immer nur Kaffee. Das würde sie, wenn sie könnte, aber es sind keine Töpfe mehr da. Also suche ich in der Tiefkühltruhe, finde Pizza und Chicken Nuggets. Die kann ich selbst in den Backofen schieben.

In der Küche gibt es keinen Strom. Drei Männer bauen die Küche aus, dazu gehört auch der Backofen. Meine letzte Hoffnung ist der Elektrogrill, aber der hat mit seinem neuen Besitzer schon vor Stunden das Haus verlassen. Also bringe ich alles wieder runter in die Kühltruhe. Döner- oder Würstchenbuden gibt es in dieser feinen Wohngegend nicht. Wegfahren und etwas Essbares kaufen? Geht nicht, die Einfahrt ist zugeparkt. Zum Glück gibt’s Paul. Der hat im Handy die Nummer vom Pizzaservice gespeichert. „Junge, ich könnte dich küssen.“

Ich mache noch einen Rundgang durchs Haus. Mal sehen, was schon alles verkauft wurde. Im Haus herrscht Chaos. Alles, was in den Möbeln verstaut war, steht und liegt jetzt auf dem Boden. Paul braucht die Schlüssel von den Kleiderschränken. Zwei ältere Damen interessieren sich ernsthaft für Omas Kleider, wollen auch anprobieren, was ihnen gefällt. Da streikt Paul und ruft Moni. „Irgendwo sind selbst der größten Hilfsbereitschaft Grenzen gesetzt.“ Sagt’s und flüchtet. Mir ist das nicht so recht, das mit Omas Kleidern, aber wenn sie was kaufen, umso besser. Aber die Kommode mit der Unterwäsche bleibt zu!

Der Glaser kommt, misst das Fenster aus und verspricht heute noch eine neue Scheibe einzusetzen. Wo sind denn bloß die Lampen geblieben? Ich brauche unbedingt eine Notbeleuchtung, fluche leise vor mich hin. So was regelt in der Klinik Herr Ziegenfuß und zu Hause kommt das nicht vor. Mein Gott, fühle ich mich hilflos.

Draußen kracht es laut, dieses widerliche Geräusch von sich verkeilendem Blech. Eine Menschentraube hat sich um die Autos gebildet. Ich bahne mir einen Weg zwischendurch. Die junge Frau mit den Brokatvorhängen ist rückwärts in ein parkendes Auto gekracht. Sie hat einen Schock und blutet an der Stirn. Im Esszimmer klebt ihr Wilhelmine ein Pflaster auf die Stirn. Die junge Frau redet wie ein Wasserfall, das kommt vom Schock. Draußen tobt der Besitzer des angefahrenen Autos, dabei kommt es bei der Karre auf eine Beule mehr oder weniger nicht mehr an. Bernd nimmt sich der Sache an, guter Bernd.

Mir ist übel vom vielen Kaffee, ich habe Kopfweh. Warum habe ich mich auf so was eingelassen? War wohl reine Geldgier, gebe es ja zu. Philipp nennt mich in solchen Fällen immer Dagobert, ich hätte dann Dollarzeichen in den Augen. Aber wer kann zu Geld schon Nein sagen.

Wann kommt denn nur der Pizzabote? Vielleicht ist er in dem Gewusel verschollen, oder ein anderer isst meine Chicken Nuggets, schrecklicher Gedanke.

Eine aufgedonnerte Rotgefärbte mit zu engem Kleid und zu großem Hut kommt hüftenschwingend auf mich zu. „Was können Sie mir zu dem Künstler sagen, der dieses Porträt gemalt hat?“ Ich würde ihr lieber sagen: „Suchen Sie sich einen anderen Schönheitschirurgen, der letzte war ein Pfuscher.“

Ich schaue mir das Bild an, das sie anschleppt und falle vor Schreck fast in Ohnmacht. Der Künstler? Das Bild hat Oma gemalt, als sie eine ihrer schöpferischen Phasen hatte. Leider hatte Oma ihr Talent schnell ausgeschöpft. Die Frau auf dem Gemälde ist meine Mutter. Alle sagten, dass ich ihr ähneln würde. Mein Gott, das Porträt gleicht Quasimodo. „Also“, sage ich zu der Verpfuschten, „dazu kann ich Ihnen leider nicht viel erzählen. Es war übrigens eine Künstlerin, hochtalentiert, wie sie ja selbst sehen können. Leider konnte sie ihr Potenzial nicht voll ausschöpfen, da sie allzu früh verschied.“ Großvater hat das Bild nur geduldet, weil er wusste, es sollte Marie-Christin, sein einziges Kind, darstellen.

Die Falschgeliftete ist von dem Gemälde entzückt und will es unbedingt erwerben. Ich habe Wahnvorstellungen, sehe Opa und höre, wie er sich ausschüttet vor Lachen.

Die Frau hält mir ein paar Scheine hin. „Ist das recht so?“ Beim Anblick der Scheine verschwinden die Wahnvorstellungen. Warum war Oma nicht noch etwas kreativer, in Sachen Malerei meine ich.! Ich denke, für die Summe hätte ein guter Chirurg den Truthahnhals narbenfrei gestrafft, aber was soll’s. Jetzt ist es mein Geld, und mein Hals hat keine Falten!

Belustigt schaue ich dem großen Hut hinterher. Die lange Feder darauf hüpft bei jedem Schritt auf und ab, als würde sie mir zuwinken. Für einen kurzen Moment vergesse ich meine Kopfschmerzen.

Paul kommt, die Pizza ist da, endlich. Eigentlich habe ich keinen Hunger mehr. Die Blaskapelle in meinem Kopf hat ihn vertrieben, ich sehne mich nach meinem Bett. Werde es wohl die nächsten Stunden nicht zu Gesicht bekommen. Die Alternative wäre Laufen, aber die Schuhe stehen zu Hause im Schrank. Ach zu Hause. Ordnung und Ruhe!

Wilhelmine ruft nach mir, Herr Rauber ist da. Er ist Autohändler, will sich die beiden Autos ansehen. Wir gehen zur Garage. Als das Tor nach oben fährt, fängt sein Gesicht an zu zucken. „Ich kann’s nicht fassen, ich kann’s nicht fassen“, stammelt er immer wieder. Ich habe doch gesagt, es sind alte Autos. Gut, sie haben einen Stern, dafür gibt es meistens gutes Geld, aber anscheinend lösen diese beiden bei Herrn Rauber eine Allergie aus. Ich frage vorsichtig: „Geht es Ihnen nicht gut, soll ich Ihnen helfen?“ Aber er will keine Hilfe, er will die Autoschlüssel! Er will auch unter die Hauben schauen. Jetzt verstehe ich gar nichts mehr, hole erst mal die Schlüssel, vielleicht hat er sich beruhigt, bis ich wiederkomme.

Im Haus läuft mir mein Göttergatte über den Weg, ich erzähle ihm kurz, was ich erlebt habe, und er lacht. Er lacht! „Ja weißt du denn nicht, welche Schätze du da in der Garage stehen hast?“ „Nein, weiß ich nicht, will’s aber wissen!“ Aber er ist schon auf dem Weg nach draußen.

In der Garage schleichen mittlerweile mehrere Männer um die Autos mit dem Stern herum. Sie sehen aus, als wären sie der Welt entrückt. „Herrlich!“ „Wunderbar!“ „Klasse!“ Herr Rauber hat sich wieder gefangen. Sichtlich gerührt sucht er nach den passenden Worten, wohl eher nach dem passenden Kaufpreis. „Ich nehme die Wagen, beide.“ Er nennt mir eine Summe und mein Unterkiefer klappt schon wieder nach unten, diesmal gleich bis auf den Boden. Jetzt muss ich doch mal nachfragen, warum er so viel zahlen will. Da tönt es aus mehreren Kehlen: „Die Autos sind Kult!“ Aber ich mag keinen Kult. Egal, was er wert ist.

Mein Göttergatte kann’s nicht fassen: „Du willst die Autos verkaufen?“ Er ist völlig aus dem Häuschen. Er, der noch nie in seinem Leben ein Auto hatte, das älter als drei Jahre war, will so ein altes mit einem Stern? Der Muff von dem ganzen Plunder hat ihm wohl den Verstand benebelt! Die Sternenautos gehören mir, und ich brauche die nicht! Keine Diskussion, die Blaskapelle spielt jetzt Marschmusik. Herr Rauber würde die Schätze am liebsten gleich mitnehmen, aber mein Göttergatte sträubt sich noch. Ist mir im Moment so was von egal, ich will nur noch weg von hier.

Eine neue Fluktuation. Paul schreit, Wilhelmine zetert und Bernd rennt schneller als Carl Lewis. Mit einem Hechtsprung wirft er sich auf einen Mann mittleren Alters. Ich hoffe inständig, dass der den Angriff überlebt hat. Einhundertdreißig Kilo sind schließlich kein Pappenstiel. Etwas weiter hinten fängt ein junger Mann eine Frau ein. Die beißt, kratzt und schlägt wild um sich.

Die werden doch nicht etwa? Doch, die haben! Omas Silberbesteck! Die Besteckkästen standen auf einer Kommode. Bis die Langfinger kamen. Die ließen ein Teil nach dem anderen in unzähligen Taschen verschwinden, die sie in ihre Hosen, Hemden und Mäntel genäht hatten. Einem kleinen Mädchen ist der komische Gang der Frau aufgefallen, Pech für die Langfinger. Jetzt muss die Polizei her.

Ich glaube, ich habe einen Albtraum, aus dem ich nicht mehr erwache. Habe ich doch die ganze Zeit schon geahnt, dass vieles Beine kriegen würde, von dem ich nicht mal wusste, dass es da war.

Als Wilhelmine die Diebe sieht, verliert sie fast die Contenance. „Das, das“, stammelt sie, „das ist ja – oh ja, das ist der Herr Direktor samt Gemahlin.“ Direktor einer Fabrik, die irgendwelche elektronischen Teile herstellt, 1. Vorsitzender des Golfclubs und Vorstandsmitglied im Tennisclub Grün-Weiß. Und so einer klaut silberne Löffel. Es ist den beiden sichtlich peinlich, dass sie erkannt wurden. Aber wer auf Diebestour geht, sollte dorthin gehen, wo ihn niemand kennt.

Der Glaser kommt, er kennt jeden, weiß über jeden alles, hat da schon mal was läuten gehört, aber nix Genaues, hat deshalb auch nix gesagt, wegen der üblen Nachrede und so. Aber morgen weiß es die ganze Stadt. Warum eine Zeitung kaufen, Glasermeister Panter weiß alles. Bin ich froh, dass ich weit weg wohne.

Die Polizei kommt. Herr Panter muss gehen, tut ihm sehr leid, mir nicht. Die Polizisten sind nicht überrascht, also ist es wirklich nicht das erste Mal. Sie nehmen die beiden mit auf die Wache.

Die Presse ist auch schon da. Zwei Fotografen knipsen wild herum, die Blitzlichter lassen die Blaskapelle in meinem Kopf unerträglich werden. Ich werde mich jetzt hinlegen. Auf dem Speicher steht ein Bett. Dort war noch niemand, das wollte ich ja bis morgen aufheben. Aber Pustekuchen, jemand hat den Speicher aufgeschlossen, die Vandalen hätten nicht schlimmer hausen können. Ich schaffe es noch ins Bad und muss mich übergeben. Nie wieder Ausverkauf! Ich weiß inzwischen, wie viele Nerven ich habe. Sie liegen alle blank.

Ich bin ein ordnungsliebender Mensch. Chaos macht mich krank. Und hier herrscht Chaos, wo ich auch hinblicke. Ich verstehe ja, dass man nicht alles gleich wegräumen kann, aber man sollte doch wenigstens versuchen, das Chaos zu ordnen. Noch einen Rundgang. dann fahre ich nach Hause. Paul kommt mir im Flur entgegen. „Du siehst Scheiße aus“, sagt er. „Heute schon gekotzt?“ „Ja, hab ich.“ Er macht sich auf zu einem jungen Mann, der ein Bild bezahlen will.

Wieder wundere ich mich, das Alter feilscht um jeden Cent, die Jugend zahlt jeden Preis. Paul lässt sich nicht bequatschen. Er weiß, was er haben will, handelt selten und wenn, bleibt er am Ende doch Sieger. Ich werde mich angemessen bedanken, wenn alles vorbei ist.

Im Treppenhaus nimmt ein Mann die Gardinen von der Stange, er hat alle gekauft, die noch da waren und ist mit dem Kauf sehr zufrieden. Oma hatte nur edelste Stoffe an den Fenstern hängen, Brokat, Samt, Seide und Spitze, mit und ohne Rüschen. Alles nicht mein Fall. Nun sind sie weg, gut so. Auch für die schmiedeeisernen Gardinenstangen hat sich schon ein Abnehmer gefunden.

In der ersten Etage treffe ich Bernd. Ihm macht die Sache sichtlich Spaß. „Mann“, sagt er, „es gibt doch viele Verrückte auf dieser Welt.“ „Ja, aber müssen die alle hierherkommen?“

Auf dieser Etage herrscht richtig Chaos. Es gibt kaum noch Möbel. Überall Kram. Auf dem Boden und den Fensterbänken. Teilweise in Kartons gestopft, teils auf Haufen geworfen. Aufgerissene Kisten und Schachteln liegen herum. Ich dachte, die Vandalen wären schon lange ausgestorben. Die Tür zu Opas Arbeitszimmer steht offen. Das Zimmer dient jetzt als Rumpelkammer. Ich verkneife mir einen Kommentar, drehe mich um und gehe die Treppe runter ins Erdgeschoss.

Die Küchentür ist verschlossen. Wilhelmine zwinkert mir zu, ich weiß nicht warum. „Philipp legt Geld in den Tresor“, flüstert sie mir ins Ohr. Alle Köpfe drehen sich zu uns um. Wilhelmine hört schlecht, dafür spricht sie umso lauter.

Eine Möchtegern-Dame fragt mich in gestelztem Hochdeutsch: „Gibt es für dieses Moccaservice auch eine Teekanne?“ „Wohl nicht, sonst wäre es ja ein Teeservice.“ Sie sieht mich pikiert an: „So verkaufen Sie mir aber nichts, Fräulein“, giftet sie mich an. Ich denke, du mich auch und lasse sie stehen. Wilhelmine nimmt sich ihrer an. „Aber sicher können Sie mit diesem Service auch Tee trinken“, flötet sie. Sülz, sülz.

Die Gestelzte fragt nach dem Preis und schnappt bei der Antwort hörbar nach Luft. „Ja, junge Frau“, flötet Wilhelmine weiter, „Meissener Porzellan ist teuer, vor allem, wenn es schon so alt ist.“ Die Gestelzte fängt an zu handeln. Zwecklos, der Preis sprengt ihr Budget, sie kann es sich einfach nicht leisten, das sieht man ihr an. Auch wenn sie noch so aufgebrezelt ist. Sie tut mir fast schon leid. Aber verschenken werde ich so etwas Teures nicht.

Ich schaue mich noch etwas um und treffe einen Kollegen. Er interessiert sich für die Geweihe im Jagdzimmer. Anscheinend steht er auf Hörner, obwohl ihm seine Frau fast wöchentlich neue aufsetzt. Das weiß er aber nicht, würde es auch nicht glauben, er ist ja treu und blauäugig.

Aber zurück zu den Hörnern an der Wand, ich meine die Geweihe. Opa war Jäger. Er hat auch einiges geschossen, leider. Ich mag keine Jagd, keine Geweihe und erst recht nichts Ausgestopftes. Ich schieße auch, aber nicht auf Tiere, nur auf Scheiben. Sehr zum Leidwesen meines Mannes. Er mag keine Waffen in Frauenhänden, der Macho!

Ich frage: „Was zahlst du freiwillig?“ Er nennt eine Summe und ich sage: „Gekauft.“ Er lacht und zückt sein Portemonnaie. Das war schnell und unkompliziert. Ich biete ihm noch ein paar Kartons an, aber er hat sein eigenes Verpackungsmaterial mitgebracht. Er kam nur wegen der Geweihe, kannte meinen Großvater, ist selbst Jäger, schießt aber mit Absicht immer daneben, er kann kein Blut sehen, und so einer ist Chirurg. Jemand hat mal gesagt: „Es gibt Menschen, die fangen Fische, und Menschen, die machen nur das Wasser trüb.“

Ich überlasse ihn seinen Geweihen und gehe runter in den Keller. Was ich sehe, verschlägt mir den Atem. Wie konnte hier eine Bombe detonieren, ohne dass ich etwas davon mitbekam? Um hier durchzukommen, muss man die Beine bis zum Hals heben. Wenn einer stürzt, bricht er sich denselben. Moni finde ich inmitten des größten Haufens. Sie sortiert Bierdeckel, ja Bierdeckel. Spinnt die jetzt total?

Moni war nicht immer so, ich meine so langsam und, na ja, anders halt. Sie hatte vor vielen Jahren einen schweren Unfall, keiner hätte auch nur einen Pfennig für sie gegeben, aber sie hat’s allen gezeigt. Sie lebt. Früher hatte sie viele Freunde, heute hat sie nur noch mich. Ich mag sie auch so, wie sie jetzt ist, andere nicht, leider, aber so sind die Menschen nun mal. Man muss die Menschen nehmen, wie sie sind, es gibt keine anderen.

Ich bräuchte jetzt einen Cognac, aber ich trinke das Zeug nicht. Also nehme ich noch einen Kaffee. Vorausgesetzt, Wilhelmine hat den Kaffee nicht an Bedürftige verteilt. Die Küche ist wieder offen. Mein Göttergatte hat mir einen Cappuccino gemacht. Ist dieser Mann nicht wunderbar?

Ich setze mich auf den Boden. Hier gibt es keine Möbel mehr. Die Kaffeemaschine steht auf dem Boden, gleich neben einem Tablett mit Butterkuchen. Butterkuchen? Den hat Frau Bechtel gebracht, Omas Nachbarin. Sie hat mich früher immer schon mit Selbstgebackenem verwöhnt. Ich kann nicht backen, will ich auch nicht können. Der Kuchen schmeckt köstlich. Jetzt erst bemerke ich meinen Riesenhunger. Nach Kaffee und Kuchen geht’s mir etwas besser. Nur die Blaskapelle in meinem Kopf will keine Pause einlegen.

Es ist gleich 18:00 Uhr, wie die Zeit vergeht. Ich bemerke das reparierte Fenster. Herr Panter ist auch noch da. Tauscht mit Wilhelmine etwas Klatsch und Tratsch aus. Ich hasse das, aber wen’s glücklich macht. Das Haus ist leerer geworden, der größte Ansturm ist vorbei. Ich glaube nicht, dass morgen noch mal so viele Leute kommen, die meisten guten Stücke sind schon weg. Morgen kommen wohl nur noch Neugierige. Paul verabschiedet sich, er hat ein Date. Will morgen aber wiederkommen, er fand das Ganze affengeil. Na, wenigstens einer, dem es gefallen hat.

Um 19:30 Uhr ist auch der Letzte gegangen. Philipp schließt das Tor zur Einfahrt. Ruhe, herrlich. Ich mache noch einen Gang durchs Haus. Wir haben sehr viel verkauft. Eigentlich müsste das Haus leerer sein als heute morgen. Aber es sieht irgendwie sogar voller aus. Kein Wunder, es herrscht Chaos.

Philipp macht Kassensturz, ich bin begeistert. Danke euch allen. Aber die Freude erhält einen Dämpfer. Das Bild, das über dem Kamin hing, ist verschwunden. Keiner hat’s verkauft. Auch die Spirituosen sind weg. Cognac, Whiskey und Co haben einfach Beine gekriegt und sind getürmt.

Zum Glück ist der Weinkeller verschlossen, für dessen Inhalt habe ich schon einen Käufer. Ein Händler hat mir eine Offerte gemacht, ich denke, der Preis geht in Ordnung. Ich bin kein Weinkenner, Opa war einer. Philipp trinkt nur Rotwein. Ich mag keinen Alkohol, bin gerne Herr meiner Sinne.

Wilhelmine ist traurig, sie hätte gerne einen Sherry genippt. Kann sie ja später zu Hause machen. Ich wundere mich über den großen Andrang. Es waren viele Händler da. Ob Antiquitäten oder Flohmarkt, keiner ging mit leeren Händen. Wer kauft, was übrig ist? Aber morgen ist ja auch noch ein Tag.

Kapitel 2

Ich habe schlecht geschlafen. Heute gehe ich mit einem Kotzgefühl in den Räumungsverkauf. Gestern wusste ich nicht, was mich erwartet, heute weiß ich es, bräuchte deshalb noch ein paar Pfund Schlaf.

Ich traue meinen Augen nicht. Vor dem Tor stehen schon wieder Leute. Es ist noch nicht mal sieben Uhr. Paul meinte gestern, heute kämen die Schnäppchenjäger. Am zweiten Tag wird alles billiger. Ich glaube, jetzt ist nur noch Plunder da, also echter Plunder. Oma hat ja nie was weggeworfen, wegen der Wertsteigerung und so. Und ich habe jetzt mit der Wertsteigerung zu kämpfen. Ich schließe auf, alle stürmen an mir vorbei, und das Gepolter geht wieder los.

Philipp kocht schon mal Kaffee. In der Badewanne stehen noch die schmutzigen Tassen von gestern. Ich kippe etwas Spülmittel drüber und dusche die Tassen ab. Zum Glück sieht mich keiner. Ich bin eben eine Hausfrau von Gottes Gnaden. Warum hat Philipp schon gestern die Küche, vor allem die Spülmaschine verkauft?

Paul kommt, guter Junge. Trocknet mir die Tassen ab, sehr guter Junge. Er schiebt Frust, das Date lief nicht wie gewünscht. Bernd ist auch schon da. Er sortiert mal ein bisschen das Chaos. Wobei die Betonung auf sortieren liegt, er räumt nicht auf, oh nein, das würde anders aussehen. Paul hingegen räumt auf. Das Dachgeschoss ist sein Refugium. Er sortiert Gleiches zu Gleichem. Stellt auf, legt hin, schiebt hin und her, schon sieht alles gleich viel netter aus. Er fegt sogar den Boden.

Ein Pubertierender, der den Besen schwingt, ich kann’s nicht fassen. Ich frage, wie’s bei ihm zu Hause aussieht, aber da schweigt des Sängers Höflichkeit. Hier ist alles anders. Man tut es freiwillig, zumindest Paul, und auf eine schöne Belohnung kann man auch noch hoffen, da macht die Arbeit doch erst so richtig Spaß.

Draußen kracht es, Moni ist angekommen. Diesmal ist es die Regenrinne samt Abfallrohr. Was musste die ausgerechnet zig Jahre an der Garage hängen, nach all der Zeit müsste sie doch gemerkt haben, dass sie da stört. Moni hat das Übel eben mal beseitigt. Vergangene Woche war es die Mauer vorm Krankenhaus, letzten Monat ein Laternenmast vorm Supermarkt, vor drei Monaten stand ihr doch wahrhaftig ein großer roter Bus im Weg. Rumms, volle Breitseite. Richard weiß, sie sieht schlecht, aber er lässt sie immer noch Auto fahren.

Ich habe mir mal ihre Krankenakte angesehen. Sie sieht seit ihrem Unfall schlecht, darf aber immer noch ans Steuer Jetzt steht sie mit der Stoßstange an meiner Garagenwand. Wo wohnt ihr Augenarzt? Moni müsste da mal mit dem Auto vorfahren, er würde seine Meinung ändern. Bernd nimmt sich ihrer an. Ach, der gute Bernd, ein Mann fürs Herz. Ich bin froh, dass ich mir das Gejammer nicht anhören muss.

Vor mir im Haus steigt eine junge Frau die Treppe hoch. Na ja, steigen kann man das nicht nennen. Mindestens drei Zentner Lebendgewicht hievt sie die Treppe hoch. Die Rückseite des Fleischbergs verursacht mir Übelkeit. Die weiße, fast durchsichtige Hose reicht nur bis zu den Hüftknochen, na ja, dorthin, wo die unter viel Speck begraben liegen. Den Slip kann man nur erahnen, es ist das Modell „Arsch frisst Hose“. Tangas in diesen Größen sind unnötig, man sieht sie nicht zwischen all den Speckrollen. Die Sohlen ihrer Flip-Flops werden bei jedem Schritt plattgemacht. Das rückenfreie Top zeigt mehr, als ich sehen will. Ich beschließe, mir dieses Grauen nicht von vorne anzusehen.

Sie geht durch den Flur Richtung Esszimmer. Nun mutiert mein Göttergatte zur Comicfigur. Diesmal klappt sein Unterkiefer nach unten, er stammelt wirres Zeug. Bernd fällt in das Gestammel ein. „Oach“, sonst kann er nichts sagen. Oben ereilt mich kurze Zeit später das gleiche Schicksal. Ich sehe den Klops von vorne. Gibt es denn für diese Größe keine Büstenhalter???

Ich hatte auf dem OP-Tisch ja schon so einiges liegen, aber das verschlägt mir die Sprache. Selbst der wortgewandten Wilhelmine fällt bei diesem Anblick nichts Druckreifes ein. Als sie dann auch noch fragt, ob es irgendwelche Kleidungsstücke zu kaufen gibt, höre ich Oma in ihrer Gruft aufstöhnen.

Philipp zeigt auf die Tür des Ankleidezimmers. Sie nimmt zwei Seidentücher und eine Wollmütze und zahlt, nicht ohne allen Anwesenden von ihrem Drüsenproblem zu berichten. Als sie weg ist, meint mein Göttergatte: “Auch meiner Liebe sind Grenzen gesetzt.“ Ich denke, bis an diese Grenzen will mein Hosenbund gar nicht gehen.

Rumms: Was war das denn schon wieder? Im Keller ist ein Schrank umgekippt. Wollte doch so ein kleiner Dicker unbedingt sehen, was da im obersten Regal lag. Weil er so kurz geraten ist, musste er sich als Akrobat betätigen. Das ging voll in die Hose. Der Kistenstapel krachte zusammen, der Dicke wollte sich noch am Schrankaufsatz festhalten, der kippte nach vorne und zog das Unterteil gleich mit.

Die Scheiben sind zersprungen, die Türen aus den Halterungen gebrochen und beide Schlüssel sind kaputt. Natürlich stecken die Bärte noch in den Schlössern. Der Inhalt des Aufsatzes liegt verstreut herum. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.

Der Dicke hat Humor. Er hat sich verletzt, aber das stört ihn nicht. Er lacht. Über die Situation, über sich selbst oder was auch immer. Mit Monis Hilfe ziehe ich ihn aus dem Chaos. Die Hose ist aufgeplatzt und man sieht seine rot gepunkteten Shorts. Alles kommt mir plötzlich so komisch vor.