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LEIPZIG 1989

LEIPZIG 1990

LEIPZIG 1989

»He, nicht einschlafen, du Traumtänzer!«, fährt der mit beiden Händen eine schwarzrotgoldene Fahne schwenkende junge Mann den vor ihm laufenden Tobias Freitag ärgerlich an. Der ist nämlich urplötzlich und unerwartet auf der Stelle stehen geblieben, sodass der darauf nicht vorbereitete und mit seiner Fahne beschäftigte Hintermann unversehens auf dem Rücken des eben Gerügten aufprallen muss.

So geschehen auf dem Leipziger Ring inmitten einer kaum überschaubaren Menge von Demonstranten, die sich am späten Nachmittag eines Montags im Oktober 1989 zu einem riesigen Demonstrationszug formiert hat und sich mit den zur Geschichte gewordenen Rufen: »Wir sind das Volk!« um den inneren Kern der Stadt vorwärtsdrängt.

Der Grund für das abrupte Stehenbleiben des Tobias Freitag sind nicht etwa die in den Büschen lauernden bewaffneten Männer der Kampfgruppen. Nein, die scheinen offenbar selbst recht froh darüber zu sein, dass jenes sich soeben selbst ernannte Volk zwar zornig und drohend, aber doch diszipliniert und gewaltlos an ihnen vorüberzieht.

Es muss darüber hinaus noch etwas Anderes geben, das den Einundsechzigjährigen einen Augenblick die Gegenwart vergessen lässt. Und zwar das eigenartige Gefühl, dies alles an gleicher Stelle schon einmal erlebt zu haben. Eine Wahrnehmung, der jeder von uns bereits irgendwann einmal in seinem Leben begegnete. Man meint, das gegenwärtige Ereignis an anderem oder auch gleichem Ort bereits erlebt zu haben. Erlebt zu haben in einem Traum, in ferner Vergangenheit oder sogar in einem früheren Leben.

Nachdenklich löst er sich aus der Menge und wechselt von der Straße auf den Gehweg, steigt an dessen Rand auf einen Baumstumpf und blickt nachdenklich von oben herab auf die hin und her wogende Masse der ihm entgegenströmenden Menschen.

Wo und wann ist ihm eine ähnliche Situation schon einmal widerfahren? Diese vielen Gesichter, die trotz aller Unterschiedlichkeit etwas Gemeinsames ausstrahlen: eine Mischung von Hoffnung und Entschlossenheit. Doch wann und wo sollte das gewesen sein? In den vorangegangenen vierzig Jahren jedenfalls nicht.

Natürlich beorderte bis zum noch gar nicht so lange zurückliegenden vierzigsten Jahrestag der DDR die Partei ihre Untertanen bei gegebenem Anlass zu Tausenden auf die Straße, um sie mit vorgegebenen Jubelrufen an sich vorbeiziehen zu lassen. Doch diese angeordneten Zwangsvorführungen hatten mit dem, was hier vor sich ging, nichts Gemeinsames.

Schon will er seine Eingebung als lästiges Fantasiegebilde beiseiteschieben, um mit dem Zug des rebellierenden Volkes weiterzuziehen, da bemächtigt sich seiner erneut und verstärkt diese seltsame Empfindung, und mit ihr kehrt auch blitzartig die Erinnerung an längst vergangene Zeiten zurück.

Jawohl, plötzlich ist es wieder da, das Bild einer gigantischen Menge aus Menschen aller Altersgruppen, und zwar genau hier an gleicher Stelle, zwischen dem Ringcafé und den Grünanlagen der Moritzbastei. Jetzt hat er das Bild wieder vor sich, wie die Menschen mit erwartungsvoll aufgerissenen Augen einer besseren Zeit entgegenfieberten. Das alles geschah vor fünfeinhalb Jahrzehnten. Ja, so lange ist es her. Sechsundfünfzig Jahre sind eine verdammt lange Zeit, kein Wunder also, dass der Mann erst einmal darüber nachdenken muss, ob es sich um eine wirkliche Wahrnehmung oder eine flüchtige Halluzination handelt.

Vor seinen Augen taucht am Rande des Leuschnerplatzes, damals hieß er Königsplatz, der im Krieg durch Bomben vernichtete Filmpalast Gloria mit dem daneben stehenden Hôtel de Prusse wieder auf, an dessen Stelle jetzt das Ringcafé steht. Soweit man blicken konnte, drängten sich seinerzeit die Menschen und starrten wie gebannt in eine Richtung. Das Ziel aller Blicke war der Balkon im ersten Stock des Hauses, in welchem bereits 1812 Napoleon logiert hatte. Sie hatten den rechten Arm nach oben gerissen, riefen fordernd und mit verzücktem Gesichtsausdruck: »Wir wollen unsern Führer sehn!« und schrien dazu noch im Chor: »Ein Volk – ein Reich – ein Führer! Heil – Heil – Heil!«

Diese heute schwer nachvollziehbare Begeisterung der Massen einem Mann wie Hitler gegenüber wird auch gegenwärtig noch vielerorts als irreales Phänomen betrachtet. Dabei setzte sich die Menge keinesfalls nur aus SALeuten und arbeitsscheuen Abenteurern zusammen. Auch damals jubelten hier auf dem Ring und dem anschließenden Platz Angehörige aller Schichten der Bevölkerung.

Fünf Jahre alt war er damals im Herbst 1933, und erst sechsundfünfzig Jahre später wagen es die Kinder und Enkel derer, die an gleicher Stelle das spätere Unheil herbeijubelten und sich einem der schlimmsten Diktatoren der Weltgeschichte bedingungslos unterwarfen und auslieferten, gegen Entmündigung und Diktatur aufzubegehren. Fast die Spanne eines ganzen Menschenlebens.

Bei der Suche nach den Ursachen ihrer folgenschweren Fehleinschätzung Hitlers muss man den Massen ihre Vergangenheit zugutehalten. In den vorangegangenen zehn Jahren hatten glücklose und unfähige Politiker bewusst oder unbewusst den Boden für einen Mann reif gemacht, der dem durch Krieg und Inflation gebeutelten Volk versprach, mit Zucht und Ordnung wieder lebenswerte Verhältnisse zu schaffen.

Schieber, Spekulanten und Neureiche auf der einen, Armut und Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite. Die Schere zwischen Reichen und Armen wurde immer größer.

Noch stand die Frage offen, welche Kräfte sich für die Zukunft durchsetzen würden. Die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik, die Diktatur des Proletariats unter Führung der Kommunistischen Partei – oder die im Hintergrund lauernden Nationalsozialisten unter Führung der faschistischen Partei.

Ende der Zwanzigerjahre regierte das Kabinett Brüning mit diversen Notstandsverordnungen und rundweg ohne Parlament. In diesem allgemeinen Durcheinander gewannen die Nationalsozialisten immer mehr an Boden. Kamen sie 1928 gerade einmal auf achthunderttausend Stimmen, konnten sie 1930 bereits über viereinhalb Millionen Wähler auf ihre Seite ziehen. Nicht lange danach, am 20. Juli 1932, waren sie mit dreizehneinhalb Millionen Stimmen die stärkste Partei in Deutschland. Zur gleichen Zeit gab es im Land siebeneinhalb Millionen Arbeitslose.

Am 30. Januar 1933 ernannte Präsident Paul von Hindenburg Hitler zum Reichskanzler, und nur einen Tag später hielt der neue Machthaber seine berühmt-berüchtigte Rede: »Gebt uns vier Jahre Zeit, und ihr werdet Deutschland nicht wiedererkennen.« Leider standen ihm zwölf Jahre zur Verfügung, die er dann auch so nutzte, dass seine Ankündigung zur grausamen Wirklichkeit wurde.

Das alles spult sich hier inmitten der »Wir sind das Volk!«-Rufe im Inneren des Tobias Freitag ab. Hier also erlebte er schon einmal, wenn auch nicht so bewusst wie ein Erwachsener, zu welcher Euphorie die Menschen unter gegebenen Umständen in der Lage sind. Was für ein Zufall. Hier bei diesen Grünanlagen, hinter denen sich jetzt Angehörige der Stasi und der Kampfgruppen verschanzen, die sicherlich in ihrer Mehrheit im Moment über die bisher ausgebliebene Konfrontation ebenso glücklich sind wie die Demonstranten. Denn immerhin knistert die Luft förmlich vor Spannung, kann doch jeden Moment der Befehl zum Auseinandertreiben der Kundgebung mit Waffengewalt aus der Befehlszentrale der SED eintreffen.

Zumal seit Tagen seitens der Parteizentrale zur Abschreckung gezielt Gerüchte über besonders harte Maßnahmen gegenüber politisch Andersdenkenden verbreitet werden. Es wäre ja auch nicht das erste Mal, dass bewaffnete Kräfte mit Unterstützung sowjetischer Panzer auf friedliche Bürger schießen. Das hatte die Staatsmacht bereits bei der brutalen Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 bewiesen.

Jedenfalls genau an dieser Stelle hier war er, Tobias Freitag, als kleiner Knirps um Haaresbreite von unzähligen Füßen zertrampelt worden. Als sich damals nach den pausenlosen »Wir wollen unsern Führer sehn!«-Chören die Balkontür wirklich öffnete und der uniformierte Adolf Hitler in der Pose eines Imperators seinem Volk gnädig zuwinkte, brach in der Menge eine Panik aus, die für den Fünfjährigen dem Weltuntergang gleichkam.

Tausende wollten plötzlich alle »ihren Führer« aus allernächster Nähe sehen. Das musste ganz einfach im Chaos enden. Im Handumdrehen ballte sich die Menge zu einem hin und her wogenden Menschenklumpen zusammen. Die Leute wurden von hinten auf die vor ihnen Stehenden gestoßen, geschoben und gepresst. Die hysterischen »Heil! Heil! Heil!«-Schreie vermischten sich immer mehr und mehr mit den Angstrufen der in die Enge Gepressten und mit den Schmerzensschreien der unter die zermalmenden Füße dieser brodelnden Masse geratenen Menschen.

Tobias wurde von der Hand seiner Mutter getrennt und verschwand vor deren entsetzten Augen im Tumult. Immer weiter rutschte er nach unten und wäre unweigerlich von der zum wilden Tier gewordenen Menge zerstampft worden, hätte ihn nicht ein stark behaarter Männerarm von unten hochgezogen.

Ein Zimmermann, mit einem riesigen Hut auf dem Kopf, riss den kleinen Kerl nach oben und schleuderte dessen Körper kraftvoll über die Köpfe der Umstehenden in Richtung dieser Grünanlage. Unsanft landete Tobias in einem Gebüsch. Mit diversen Beulen am Körper und einer Platzwunde am Kopf war er noch einigermaßen glimpflich davongekommen.

Eine beträchtliche Anzahl Erwachsener und auch Kinder hatten weniger Glück und wurden später von Sanitätern eingesammelt und in Krankenwagen weggebracht. Natürlich nahm Tobias das Geschehen so wahr, wie es seinem Alter entsprach. Er kümmerte sich kaum um seine Umwelt und heulte nur nach seiner Mami, die ihn schließlich Stunden später in einem der rasch aufgebauten Sanitätszelte wiederfand.

Dort bekam er einen Riesenverband um den Kopf und wurde tags darauf im Kindergarten als Held gefeiert. Solange er diesen Verband trug, durfte er als Trostpflaster jeden Morgen beim Fahnenappell die kürzlich frisch gepflanzte »Adolf-Hitler-Eiche« auf dem Hof der Einrichtung gießen. Ab diesem Tag begrüßte er seine Mutter, wenn er nach Hause kam, mit einem forschen »Heil Hitler, Mami!«

Bei der bildlichen Vorstellung dieser Begrüßung muss Freitag, immer noch gedankenvoll abseits auf dem Bürgersteig stehend, unwillkürlich lauthals lachen. Vorbeiziehende Demonstranten sehen neugierig zu ihm hoch. Natürlich können sie nicht wissen, dass er sich eben erst im Geist als kleinen Knirps mit erhobenem rechten Arm gesehen hat. Christoph Kasto, ein ungarischer Student und guter Freund, mit dem Freitag in den letzten zwei Jahren viel erlebt hat, löst sich aus einer Gruppe junger Männer und kommt lachend auf ihn zu:»Sag mal, Tobi, was machst du denn hier?«, fragt er und fügte scherzhaft hinzu: »Du nimmst bestimmt die Parade ab. Wie fühlt man sich so dabei? Wie Napoleon oder eher wie Honecker?«

Freitag beruhigt den Neuankömmling, versichert rasch mit bezeichnender Gebärde zur Schläfe, dass mit ihm alles in Ordnung sei, zündet seine durch einen Windstoß erloschene Kerze erneut an und reiht sich danach wieder in den Zug der Demonstrierenden ein.

Von seinen Erinnerungen noch ganz gefangen schildert Freitag seinem neugierigen Freund in groben Zügen die damaligen Erlebnisse, wenn auch mit Unterbrechungen, in denen sie in die Rufe der Demonstranten einstimmen, die immer und immer wieder lauthals den einen Satz wiederholen: »Wir sind das Volk!«

Dabei vergeht die Zeit, und der Marsch um den Leipziger Ring endet wieder auf dem Karl-Marx-Platz, dem heutigen Augustusplatz. Auf der anschließenden Kundgebung bringen einige engagierte Bürger ihren Unmut gegenüber der aufdringlichen Bevormundung der Parteibonzen vor geschätzten dreißigtausend Menschen zum Ausdruck.

Als sich die Demonstration auflöst, meint der um drei Jahrzehnte jüngere Christoph: »Seitdem ich hier in Leipzig bin, versuche ich über die Vergangenheit dieses Landes und vor allem seiner Menschen Erfahrungen zu sammeln. Du weißt, Tobi, dass ich als zukünftiger Journalist darüber in meiner Muttersprache für mein Land ein Buch schreiben will. Du hast so irre viel erlebt. Warum hast du mir nie …?«

»Erstens hast du mich nie danach gefragt«, unterbricht ihn Freitag, »und zweitens habe ich mir abgewöhnt, über die Vergangenheit zu schwätzen. Meine Altersgenossen hatten alle ähnliche Erlebnisse, und die Jugend heute gähnt nur gelangweilt, beginnt ein Älterer von früher zu erzählen. Wink nicht ab, im Allgemeinen ist es so. Sie vermuten sofort eine versteckte Art der Bevormundung und schalten auf Durchzug. Gleiches hatte ich von dir natürlich auch erwartet. Der Nachwuchs soll oder muss, so scheint es mir, die Fehler, aus denen er bei genauem Zuhören lernen könnte, selbst wiederholen. Vielleicht ist das Naturgesetz, also was soll’s.«

»Ich kann es nicht glauben, Tobias als ein Pessimist, das ist ja etwas ganz Neues. So jedenfalls kenne ich dich überhaupt nicht. Ich würde dich sehr gern vom Gegenteil überzeugen. Davon, dass es auch heute noch, oder gerade heutzutage, genügend junge Leute gibt, die begierig wären, ihre Kenntnisse hinsichtlich der Vergangenheit ihrer Heimat zu ergänzen.«

Während dieses Gesprächs bewegen sie sich quer durch die Stadt, bleiben vor Auerbachs Keller stehen, sehen sich fragend an und gehen, nachdem sie sich gegenseitig bejahend zugenickt haben, die Stufen nach unten.

Beim Anstoßen mit dem ersten halben Liter meint Christoph: »Also los, reden wir nicht lange um den heißen Brei herum! Ich bin nach wie vor scharf darauf, so viel wie möglich über euer Leben in der Vergangenheit zu erfahren.« Er sieht sich um und zeigt auf die zahlreichen Wandgemälde im Lokal.

»Dass hier auf dem Wandbild im Fasskeller Faust statt Mephisto den Wein an die Studenten ausgibt oder dass der ehemalige Oberbürgermeister Goerdeler sich für den Sturz Hitlers am 20. Juli opferte, solche Sachen kann ich in Büchern nachlesen.

Wie der kleine Mann sich während der Nazizeit mal schlecht, mal recht – beides interessiert mich – geschlagen hat, so etwas liest man heute kaum noch. Meist wird nur über die Promis, also über die ganz besonders Guten oder Bösen der Vergangenheit geschrieben.«

Wo er denn seiner Meinung nach beginnen solle, fragt Freitag den Wissbegierigen ein wenig orientierungslos. Bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten, den Judenverfolgungen, der Kriegszeit, den Luftangriffen, den Amis als Eroberer der Stadt, den Russen als spätere Besatzer, der Demontage aller Großbetriebe in der damaligen Ostzone, von den darauf folgenden Hungerjahren oder dem vermeintlichen Aufbau des Sozialismus? Schon bei der Aufzählung dieser noch lange nicht vollständigen Eckdaten wird ihm klar, was da von ihm verlangt wird.

»Weißt du was, Tobi, mach einfach dort weiter, wo du mit dem Bewässern dieser Hitlereiche aufgehört hast. Alles andere ergibt sich von selbst!«

Damit zückt er Notizbuch und Stift, holt ein kleines Diktiergerät hervor, legt alles vor sich auf den Tisch und schaut sein Gegenüber erwartungsvoll an.

»Hm, weitermachen, wo ich aufgehört habe. Sehr viel bedeutende Dinge erlebt ein fünfjähriger Bengel nun auch wieder nicht. Ich erinnere mich noch, dass damals Straßenschlachten in meiner unmittelbaren Umgebung zum Alltag gehörten. Beteiligt daran waren meist Männer in schmucken braunen Uniformen und Leute, die in unserer Gegend wohnten. Also die Väter und großen Brüder meiner vielen Freunde. Wir wohnten im Osten der Stadt, in einer stinknormalen Arbeitergegend.

Am Ende solcher Auseinandersetzungen zogen sich die SALeute in der Regel mit ihren Fahrzeugen sofort wieder zurück, während die Beteiligten der anderen Gruppe meist blutend auf der Straße liegen blieben. Wenn nicht vorher von ihren weinenden Frauen nach Hause geschleppt, wurden sie von der Polizei eingesammelt und zum Verhör mitgenommen.

Die Hintergründe der täglichen Auseinandersetzungen zwischen der SA und Mitgliedern der SPD und KPD blieben mir naturgemäß in diesem Alter verschlossen. Aber über diese Kämpfe wurde ja wohl in der Vergangenheit genug berichtet.

In eine dieser Konfrontationen wurde ich aber in einem solchen Umfang einbezogen, dass ich mich heute noch an Einzelheiten erinnere. Jahre später klärte mich meine Mutter über die politischen Hintergründe auf.

Am Ende unserer Straße wohnte der bei uns Kindern beliebteste Mann. Wer konnte das schon anderes sein als ein Eismann. Unter seinen Kunden, die überwiegend aus Kindern bestanden, war er als ›Eisfelix‹ bekannt.

Von Natur aus immer lustig und freundlich, wurde er auch besonders dafür geschätzt, dass er keinen seiner kleinen Kunden ohne Eis wieder zurückschickte, selbst wenn einmal nach langem Kramen in den Taschen nur wenige Pfennige zusammenkamen. Sein Geschäft bestand aus einem bescheidenen Produktionsraum im Schuppen eines Hinterhofes, bei dessen Anblick sich eine Hygienekontrolle heute vermutlich die Haare raufen würde, und einem rot-weiß angestrichenen Schubkarren, auf dem sich zwei bunt angemalte Thermobehälter mit wunderbar silbern glänzenden Deckeln befanden. Hatte er die Behälter gefüllt, schob er seine Karre langsam die Straße entlang, machte mittels einer gewaltigen Handglocke kolossalen Lärm und rief dazu fortwährend: ›Eis! Eis! Eis! Der Eismann ist da!‹ Es dauerte nicht lange und schon eilten aus allen Richtungen Kinder herbei, leerten ihre Taschen und halfen sich nicht selten gegenseitig mit einer Münze aus.

Im Kreis der Erwachsenen wurde der Eisfelix auch der »Rote Felix« genannt. Der Mann war aktiv in der KPD tätig, brachte an den Häusern Spruchbänder und Tafeln an, auf denen gegen Hitler und für Ernst Thälmann Stellung genommen wurde.

An einem Sonntagnachmittag nun lauerte ich, wohlversorgt mit einem Taschengeld von zehn Pfennig, dem Eisfelix auf und freute mich, dass die anderen Kinder ihn noch nicht gehört hatten. Damit war ich sein erster Kunde, der traditionsgemäß eine besonders große Portion bekam.

In dem Moment, als ich Felix mein Geld überreichte, brauste ein großer brauner Lastwagen heran und blieb mit quietschenden Bremsen knapp vor dem Eiskarren stehen. Dann wurden die Planken geöffnet, und zehn bis zwölf SA-Männer sprangen johlend vom Wagen.

Zunächst erschrak ich, doch Uniformierte waren in dieser Zeit keine Seltenheit. Was mir jedoch furchtbare Angst machte, das waren die drei riesigen schwarzen Hunde, ich glaube, es handelte sich um Dobermänner, die mit den Männern von dem Fahrzeug sprangen. Hastig drehte ich mich um und wollte ängstlich davonrennen. Das wiederum schien einem der Tiere gar nicht recht zu sein, und so machte es Anstalten, mich an der Flucht zu hindern. Mit einem Riesensatz holte es mich ein und warf mich Knirps mit der Wucht seines schweren Körpers zu Boden. Die großen weißen Zähne kamen gefährlich nah an Hals und Schulter, und ich weiß nicht, was geworden wäre, hätte Eisfelix den Hund nicht sofort mit einem gewaltigen Fußtritt beiseitegeschleudert. Der ließ laut aufjaulend zwar von mir ab, stürzte sich dann aber, unterstützt von den beiden anderen Tieren, auf meinen Retter.

Ich selbst lag auf dem Boden und blutete stark aus einer Wunde an der rechten Schulter. Einer der SA-Männer hob mich auf und legte mich etwas abseits von diesem gefährlichen Durcheinander ab. Dafür wurde er sofort von einem anderen Uniformierten angebrüllt: ›Bartels, sind Sie wahnsinnig? Wenn Sie weiter den Mitleidsengel gegenüber dieser roten Brut spielen, fahren wir heute noch zusammen Schlitten!‹

›Aber ich wollte doch nur …‹

›Kein Wort mehr! Heute Abend achtzehn Uhr bei mir zum Rapport! Mitleid mit so einem Bastard, das fehlte noch. Da können wir ja wohl gleich zur Heilsarmee gehen.‹ Er beugte sich über Felix und brummte zufrieden: ›Na bei dem haben uns die Hunde die Arbeit schon abgenommen, der hat wohl für lange Zeit genug.‹ Laut fügte er zu seinen Kumpanen hinzu: ›Also los, nichts wie weg hier, die Polente wird gleich hier sein!‹

Währenddessen hatten die anderen den Eiswagen zu Kleinholz geschlagen und die übrig gebliebenen Planken mit Hakenkreuzen bemalt.

Das alles ging so schnell, dass der ganze Spuk nach wenigen Minuten vorüber war. In der Straße wurde es darauf friedlich ruhig, nur das leise Stöhnen des furchtbar zugerichteten Mannes war zu hören. Ich kroch zu ihm hinüber, kauerte mich neben die immer größer werdende Blutlache und heulte wie ein Schlosshund.

Mit meinen knapp sechs Jahren hatte ich zwar den Umfang dieser Tat nicht begriffen, wohl aber so viel, dass der Mann mir vermutlich soeben das Leben gerettet hatte. Er lag bewegungslos auf dem Boden und atmete laut röchelnd.

Endlich kam ein Spaziergängerpaar zurück, das sich während dieser Auseinandersetzung ängstlich im Hintergrund zurückgehalten hatte. Der Mann drehte den Verletzten zur Seite und eilte in Richtung nächster Polizeistation davon. Die Frau versuchte mich zu beruhigen und tupfte mir mit einem Taschentuch vorsichtig das Blut ab. Sie war es übrigens auch, die meiner Mutter später über die Einzelheiten der Vorkommnisse berichtete.

Es verstrich eine kleine Ewigkeit, bis endlich der Krankenwagen kam, um uns beide ins Krankenhaus zu bringen. Ich hörte noch, wie der hilfreiche Mann mit wutverzerrter Stimme kritisierte, dass die Beamten der Polizeiwache es nicht für erforderlich hielten, eine Anzeige aufzunehmen. Mit der Begründung: ›Wir schicken einen Krankenwagen, das reicht aus. Wer weiß denn, was dieser rote Strolch wirklich alles auf dem Kerbholz hat‹ war die Sache für sie erledigt.

Im Krankenhaus wurde ich ambulant versorgt und von dort wieder nach Hause gefahren.

Was aus Eisfelix später wurde, konnte meine Mutter, die sich bei ihm bedanken wollte, nicht erfahren. Es hieß, dass er zur Behandlung seiner Wunden lange Zeit in verschiedenen Krankenhäusern verbracht habe. Später soll man ihn zur ›Umerziehung‹ in ein Lager gesteckt haben. Kein Mensch aus unserer Gegend hat jemals wieder etwas von ihm gehört.«

Freitag wird durch den Kellner unterbrochen, der wegen der leeren Gläser nach weiteren Wünschen fragt. Christoph nutzt die Pause und fragt.

»Das hört sich ja alles ganz spannend an, aber konnten diese Rabauken denn wirklich ungestraft machen, was sie wollten? War niemand in der Nähe, der versucht hat, sie aufzuhalten?«

»Genau die Frage habe ich von dir erwartet, muss sie jedoch leider durch eine Gegenfrage beantworten: Es ist jetzt kaum eine Stunde her, dass wir beide beim Auflösen der Demo zwischen dem Opernhaus und der Hauptpost verständnislos die Köpfe schüttelten. Und du wirst dich bestimmt auch noch an den Grund erinnern. Wir waren empört über diese ungefähr fünfzig glatzköpfigen, hirnlosen Knallköppe, die da riefen ›Deutschland den Deutschen – Ausländer raus!‹. Waren wir damit einverstanden? Nein, selbstverständlich nicht. Und was haben wir dagegen getan? Nichts, genauso wie die vielen anderen Umstehenden.

Viele Tausend haben heute lauthals gegen SED und Stasi demonstriert. Immer mit der drohenden Gefahr eines plötzlichen bewaffneten Einschreitens im Nacken. Warum haben sie dann die fünfzig Nazichaoten nicht mit einem Schlag auf’s Maul nach Hause geschickt? Vielleicht weil sie die von den Glatzen ausgehende ideologische Gefahr unterschätzen?

Nein, das war nicht der wahre Grund, sondern weil sie mit einer handfesten Auseinandersetzung rechnen mussten, die sich unbequem und vermutlich sogar schmerzhaft gestaltet hätte. So hast du gedacht, so habe ich gedacht und alle anderen auch. Dabei hätte die hier aufkeimende rechte Szene eine Abfuhr erhalten können, die jedem einzelnen dieser Chaoten in Zukunft das Wiederkommen verleidet hätte. So aber werden sie bei der nächsten Demo ganz sicher wieder dabei sein. Und es werden ganz bestimmt nicht weniger werden, schließlich hat ihr heutiges Auftreten ihnen nichts geschadet und damit anderen Mut gemacht.

Um auf deine Frage zurückzukommen: Die Mentalität der Leute von damals unterscheidet sich kaum von der heutigen. Als die wilde Horde SA-Männer grölend und singend vom Wagen sprang, verschwanden wie auf Kommando alle Köpfe von Anwohnern, die bis zu dem Zeitpunkt aus den Fenstern geschaut hatten. Die Fenster klappten zu, weil keiner als Zuschauer in irgendeine Sache hineingezogen werden wollte. Auch oder erst recht nicht als Zeuge. Und es waren sehr viele Fenster, die zuklappten, denn es war in dieser Gegend Tradition, sonntags vom Fenster aus mit dem Gegenüber zu plaudern.

Es wäre also müßig, den Menschen von damals in irgendeiner Weise Feigheit vorzuwerfen, denn wir alle sind bis zum heutigen Tag nicht furchtloser geworden. Das haben, und ich wiederhole mich hier mit Absicht noch einmal, gerade die letzten Stunden eindrücklich bewiesen. Im Schutz der anonymen Masse der Demonstranten haben wir unseren Unmut über die Regierenden laut geäußert. Dabei kamen wir uns alle großartig und tapfer vor.

Beim Anblick dieser Handvoll rassistischer, hohlköpfigen Glatzen hatten wir es jedoch plötzlich eilig, wobei jeder von uns beiden froh war, dass der Andere nicht auf die Idee kam, mit diesen Leuten eine Diskussion zu beginnen. Und genau diese Vogel-Strauß-Politik wurde früher und wird heute nach wie vor von der überwiegenden Mehrheit der Menschen praktiziert.«

Christoph setzt eine Miene auf, als hätte Freitag ihm sein Bier weggetrunken.

»Na weißt du, du kannst deine Mitmenschen aber ganz schön abkanzeln. Wir waren stolz, den Bonzen heute Abend tüchtig eingeheizt zu haben, und du willst beweisen, dass wir im Grunde alle feige waren. Das Westfernsehen sprach bei der Berichterstattung über die Demo vom vergangenen Montag sogar von Leipziger Helden. Aber ganz unrecht hast du vermutlich doch nicht. Es ist schon bedenklich, noch weiß man nicht, wie es hier mit dieser abgewirtschafteten Regierung weitergeht, und schon kriechen selbst ernannten Nachfolger Hitlers aus ihren Löchern. Die haben ja heute nicht nur ›Ausländer raus!‹, sondern vereinzelt auch ›Juden raus!‹ gerufen.«

»Und ganz genauso hat es damals auch begonnen. Ganz am Anfang vom großen Ende begann es buchstäblich mit den gleichen Rufen.«

Nach einem Blick auf die Uhr unterbricht Freitag die Debatte, denn es ist inzwischen Mitternacht geworden. Bereits mehrfach hatte der Kellner in der Nähe ihres Tisches mit leeren Gläsern geklappert, um anzuzeigen, dass sie mittlerweile die letzten Gäste sind. So beschließen, in eine Nachtbar umzuziehen.

»Wir werden um diese Zeit wohl kaum noch Platz bekommen«, meint Christoph. Freitag winkt ab. »Lass mich nur machen.«

Sie überqueren den Marktplatz und drängeln sich an der Traube wartender Nachtschwärmer vorbei, die vor der verschlossenen Eingangstür der Nachtbar Tivoli vergeblich auf Einlass warten. Freitag klopft und Christoph staunt nicht schlecht darüber, dass er wenig später mit einem freundlichen »Ach Sie sind es, natürlich haben wir für Sie noch zwei Plätze frei« empfangen wird.

Sie nehmen an einem vom Kellner zugewiesenen Tisch für zwei Personen Platz.

»Ja mein Lieber«, setzt Freitag das im Auerbachs Keller abgebrochene Gespräch fort, »ich kann dir aber nur berichten, was ich selbst erlebt habe. Alles andere steht in den Geschichtsbüchern, und zwar bestimmt besser, als du es von mir erfahren könntest.

Zur Zeit der Machtübernahme Hitlers befand ich mich in einem Alter, in dem man sich mehr für das Wohlbefinden seines Goldhamsters interessiert als zum Beispiel für das Treiben von Nazis. Allerdings änderte sich das später innerhalb kurzer Zeit gründlich. Im Vergleich zu einem Kind gleichen Alters der heutigen Zeit hatte ich zwar damals schon allerhand mitgemacht. Stellt man jedoch dagegen, was mir noch bevorstand, lag hinter mir eine schöne, ruhige und wohlbehütete Kindheit.

Das trifft auch noch auf die Zeit bis zu meinem zehnten Geburtstag zu. Die Schule machte mir Spaß, und entsprechend waren auch die Erfolge, zumal ich da noch das Glück hatte, keine verbohrten Nazis als Lehrer erdulden zu müssen.

Als Junge freute man sich auf die Mitgliedschaft im Jungvolk. Hatten Kinder das zehnte Lebensjahr erreicht, wurden sie als Mädel auf Antrag beim BDM, dem Bund Deutscher Mädel, und als Junge beim Jungvolk aufgenommen. Später, im März 1939, wurde der Beitritt Pflicht. Die vormilitärische Ausbildung für einen zukünftigen Soldaten verschärfte sich im Alter von vierzehn bis achtzehn Jahren bei der HJ (Hitlerjugend). Wurde der Jugendliche schließlich mit achtzehn Jahren eingezogen, konnte er bereits auf eine fachliche militärische Ausbildung zurückblicken und wurde als vollwertiger Soldat in das große Rennen um Leben und Tod geschickt.

Ich freute mich auf den Dienst beim Jungvolk, brachte er doch Abwechslung in mein bisheriges, wie ich meinte, eintöniges Leben. Das bekam nun einen neuen Rhythmus. Meine Mutter hatte schon lange vorher gespart, damit ich zum ersten Dienst in vollständig neuer Uniform antreten konnte. Mama befand sich bestimmt nicht auf Seiten der Nazis, wusste aber, dass es für alle besser war, ihren Sohn vorläufig nicht mit ihrer politischen Einstellung zu belasten.

Ich aber war erst einmal begeistert. Jeden Mittwoch und Sonnabend traf man sich zum Dienst. Pünktlich um 15.00 Uhr machte der Jungzugführer dem Fähnleinführer Meldung, dass alle vollzählig versammelt seien. Unentschuldigtes Fehlen gab es nicht, das hätte fatale Kollektivstrafen nach sich gezogen.

Nach kurzer, kerniger Begrüßung marschierten wir zum weiteren Dienstbetrieb, sangen dabei lauthals Lieder wie »Wir werden weiter marschieren, bis alles in Scherben fällt – denn heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt« und fühlten uns bereits als zukünftige Retter der Menschheit. Respekteinflößende Offiziere der Wehrmacht und Waffen-SS hielten bei den Heimabenden spannende Vorträge. Sie berichteten über ihre Heldentaten während der Kämpfe in Spanien und weckten in uns das Verlangen, selbst bald an derartigen Auseinandersetzungen teilnehmen zu können.

Mit welcher Verlogenheit die Jugend damals auf den Krieg vorbereitet wurde, zeigt die Tatsache, dass die Offiziere immer wieder betonten, dass sie sich von allen Misshandlungen gegenüber Kommunisten und Juden distanzierten. Es handele sich hier um bedauerliche Missgriffe seitens der SA, die der Führer später streng bestrafen würde.

Besonders nach den Ereignissen der berüchtigten sogenannten Reichskristallnacht. Bezüglich der verschleppten Juden wurde uns erklärt, dass diese Leute zu ihren Glaubensbrüdern nach Israel gebracht würden. Dort habe jeder von ihnen die Möglichkeit, mit dem ihnen erstatteten Schadensersatz ein neues Leben zu beginnen. Aufgrund meiner persönlichen Erlebnisse während der Kristallnacht begann ich mich allerdings schon damals mit Zweifeln zu quälen. Doch darüber verfüge ich über Tagebucheintragungen, die ich dir später vorlegen werde.

Während der Sommerferien 1939 nahm ich an einer sogenannten Großfahrt der Hitlerjugend teil. In Zelten übernachteten wir auf dem Gebiet des kurz vorher durch Deutschland ›befreiten‹ Sudetengaus, also ehemals tschechischem Territorium. Hier musste man schon von einer planvollen Vorbereitung der Hitlerjugend auf den bevorstehenden Krieg sprechen. Sie zeigten uns Grenzanlagen der Tschechen und erklärten dabei, wie einfach es doch wäre, eine solche Anlage im Handstreich zu erobern.

Wir besuchten verschiedene Lager, in denen uns ausgesiedelte ehemals deutsche Juden vorgeführt wurden. Wir sollten uns davon überzeugen, dass nur ›Untermenschen‹ so eklig verwahrlost leben können, Kreaturen, die es eigentlich nicht wert waren, dass sich jemand um sie kümmert. Dass diese armen Individuen unter Zwang auf diese Weise leben mussten, wurde natürlich verschwiegen.

Sie präsentierten uns staunenden Jungs anhand von ausgesuchten Beispielen, wie schlecht und schmutzig die Slowaken und wie sauber und ordentlich die Sudetendeutschen lebten. So begannen wir immer mehr daran zu glauben, dass wir als Angehörige der arischen Rasse und besonders als Deutsche, die den alten Germanen abstammten, dazu ausersehen waren, diese verwahrloste Welt zu erobern und zu beherrschen, um wieder für Zucht und Ordnung in ihr zu sorgen. Meine Schlussfolgerungen aus der selbst erlebten Kristallnacht des Vorjahrs begannen sich während dieser Großfahrt schon wieder zu verflachen. So stark war die von allen Seiten auf uns einstürzende ideologische Beeinflussung.

Übrigens, als ich von dieser Fahrt zurückkehrte, blieben mir noch zwei Wochen von den Sommerferien, die ich zu Hause genießen konnte. Da wusste ich noch nicht, dass dies für viele Jahre für mich die letzten unbeschwerten Tage sein sollten. Und nicht nur für mich, für viele Millionen Menschen ebenfalls, denn es handelte sich um die letzten Tage des Friedens.«

Hier wird Freitag durch zwei kurz, aber sehr bunt bekleidete junge Damen unterbrochen, die denken, sich um die beiden Männer etwas kümmern zu müssen, die hier so einsam und allein sitzen und einen so gar nicht fröhlichen Eindruck erwecken. Doch Christoph reagiert sofort und lagert die beiden an die Bar um. Sein Freund staunt. »Wie bist du die denn so rasch losgeworden?«

Christoph grinst. »Ich habe ihnen ein Glas Sekt bestellt und dabei zugeflüstert, du wärst dienstlich hier.«

»Dienstlich? In welcher Eigenschaft denn?«

»Von der Sitte. Ja und damit wünschten sie uns, mit der Versicherung, ihren Drink selbst bezahlen zu wollen, noch einen schönen Abend.«

Freitag will laut lachen, unterlässt es dann doch und schickt mit ernster Miene einen flüchtigen jovialen Gruß hinüber an die Bar zu den beiden Schönen, die sich im Moment sicherlich die Frage stellen: Gehen oder bleiben?

»So, und jetzt erzähl weiter«, fordert Christoph. »Bevor diese Paradiesvögel erschienen sind, warst du bei den letzten Tagen des Friedens!«

Freitag nickt zustimmend.

»Am 1. September 1939 begann nach den Sommerferien nicht nur wieder die Schule. Am gleichen Tag begann auch der Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen, der den Zweiten Weltkrieg auslöste.

In den letzten fünf Monaten davor waren auf deutscher Seite bereits umfangreiche vorbereitende Maßnahmen für einen Blitzkrieg gegen dieses Land getroffen worden. Damit man der Welt einen glaubhaften Grund für das Eindringen in polnisches Gebiet liefern konnte, wurden in den Zeitungen immer wieder angebliche Provokationen gegen Polens Volksdeutsche groß aufgemacht. In Danzig hielt der enge Vertraute Hitlers, Gauleiter Forster, auf dem Marktplatz eine Rede, in der er im Namen aller Volksdeutschen von Hitler forderte, Danzig nun endlich zu befreien.

Einen allerletzten Grund als Rechtfertigung holte man sich durch den von deutscher Seite inszenierten Überfall angeblicher polnischer ›Insurgenten› auf den Reichssender Gleiwitz.

Jetzt endlich hatte Hitler seinen Grund für den in die Geschichte eingegangenen berüchtigten Satz: ›Seit heute Morgen 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!‹

So mein Lieber«, beendet Freitag diese sehr einseitige Unterhaltung, »für heute soll es reichen.«

Er will nach Hause. Erstens ist er müde und zweitens wollte soeben die Bedienung bereits die dritte Flasche Wein bringen.

Christoph hingegen schreibt und verbreitet nicht den Eindruck, als wolle er aufhören. Tobias solle weitererzählen, doch der macht ganz einfach nicht mehr mit.

Nach einigem Hin und Her verspricht Tobias, am kommenden Montag, also dem 2. Oktober, zur nächsten Demonstration zu kommen und zur gleichen Zeit wie heute seinen Freund an der Nikolaikirche zu erwarten.

»Bis dahin sind meine Tage ausgebucht. Ich verspreche dir aber, beim nächsten Treff das Tagebuch aus dieser Zeit mitzubringen. In meiner Jugend habe ich nämlich, manchmal mehr und manchmal weniger fleißig ein solches geführt. Alle dazugehörigen Hefte habe ich aufgehoben. Gewiss finden wir da einige Dinge, an die ich mich im Moment nicht mehr so recht erinnere, einverstanden?«

»Muss ich ja wohl sein.«

Tobias winkt dem Ober, bezahlt, und danach nimmt sich jeder von beiden ein Taxi, um sich zur wohlverdienten restlich verbleibenden Nachtruhe zu begeben.

Am darauf folgenden Montag hat sich die Anzahl der Protestierenden verdoppelt. Wie ein Fieberschauer geht es durch die Bevölkerung. Ein eigenartiges und für DDR-Verhältnisse völlig ungewohntes Bild. Wohin man in den frühen Abendstunden auch kommt, überall trifft man auf Menschen, die sich in dieselbe Richtung bewegen, von den Außenbezirken der Stadt hin zum Zentrum. Menschen aller Altersgruppen, komplette Familien mit ihren Kindern, Einzelpersonen und auch ganze Belegschaften vom Chef bis zum Pförtner.

Viele strömen erst zur Nikolaikirche, um am Friedensgebet teilzunehmen. Andere versammeln sich gleich auf dem Karl-Marx-Platz, auf dem sich später alle Demonstranten zwischen dem Gewandhaus und der Oper zu einer Kundgebung vereinen.

Beim anschließenden Marsch um den Ring treffen sich, wie in der Vorwoche verabredet, Christoph Kasto und Tobias Freitag wieder. Als der Ungar bemerkt, dass der andere nichts bei sich hat, fragt er mit einer nicht zu verbergenden Enttäuschung in der Stimme: »Hallo Tobi, wolltest du mir nicht deine Tagebücher mitbringen?«

Freitag erklärt ihm, dass er sich diesmal voll auf die Demo konzentrieren wolle.

»Du kannst aber«, lenkt er ein, »gern im Anschluss zu mir in mein eigenes Café mitkommen. Dort wartet noch eine Menge Arbeit auf mich. Während ich sie erledige, kannst du meinetwegen in diesen Büchern blättern, einverstanden?«

Natürlich ist Christoph das, und somit finden sie sich zwei Stunden später in Freitags Lokal wieder.

Die äußere Form der Tagebücher entspricht dem nicht sonderlich stark ausgeprägten Ordnungssinn ihres Schöpfers. Einige haben teure Ledereinbände, andere wieder sind mit Bindfaden zusammengehaltene Sammlungen aus losen Blättern. Auch hat der Schreiber gelegentlich die freien Rückseiten alter Schulhefte verwendet.

Christoph beginnt das Gespräch mit der Forderung: »Bei deinen Schilderungen der vergangenen Woche waren wir bereits bis zum Kriegsausbruch gekommen. Ich hätte aber gern einiges über das Verhältnis zwischen der Bevölkerung und den Juden Deutschlands vor deren endgültiger Vertreibung gehört. Warst du da schon alt genug, um heute darüber etwas mit Kompetenz aussagen zu können?«

»Mit den staatlich eingeleiteten Maßnahmen zur Ausgliederung der Juden aus der sogenannten Volksgemeinschaft bin ich eigentlich vom ersten Schuljahr an groß geworden. Natürlich weiß man als sechs- bis neunjähriger Knirps nichts über die Auswirkungen von Berufsverboten für Juden. Man weiß auch nicht, wie die Bevölkerung auf die zahlreichen Bestimmungen der Nürnberger Gesetze ›zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre‹ reagierte. Ich weiß noch, dass ich in den ersten vier Schuljahren mit humanen positiven Lehrmethoden seitens meiner Lehrer erzogen wurde. Im Leben von uns Kindern gab es weder Fernsehen noch Radio. Wir waren demnach weder durch Wort noch Bild auf solche Scheußlichkeiten vorbereitet, zu denen Menschen fähig sein können. Daher trafen mich die Ereignisse vom 9. November 1938 besonders unvorbereitet.

Zweifelsohne war das bei den Erwachsenen anders. Die hatten sich hinsichtlich der Judenfeindlichkeiten ihren eigenen Vers machen können. Was da alles gelaufen ist, weiß man aus den Geschichtsbüchern, das kann ich mir hier sparen. Wie ich als Zehnjähriger die Kristallnacht in meiner Heimatstadt erlebte und wie meine Umgebung darauf reagierte, das steht in meinen Tagebüchern. Kurze Zeit vor den Ereignissen hatte ich nämlich den ständigen Ermahnungen meiner Mutter nachgegeben und mir ein Tagebuch angelegt. Sie wollte eben unbedingt einen Akademiker aus mir machen. ›Dir, Junge, soll es einmal besser gehen‹, pflegte sie immer zu sagen. Das Buch musste ich ihr wöchentlich vorlegen, damit sie es auf Schreibfehler korrigieren konnte. Viel später einmal gestand sie mir, dass sie durch diese Maßnahme eine Kontrolle über meinen Umgang erhalten wollte. Immerhin konnte sie sich während der Woche aus beruflichen Gründen wenig um mich kümmern.«

Mit diesen Worten reicht Freitag seinem Gegenüber das schon vorher bereitgelegte Heft.

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10./11. NOVEMBER 1938

Seit Ostern dieses Jahres befolge ich nun Mamas Rat. Zuerst hatte ich eigentlich gar keine richtige Lust dazu, zumal bei den wöchentlichen Kontrollen durch das Korrigieren so viel Zeit draufgeht, aber man gewöhnt sich daran.

Das größte bisher erwähnenswerte Erlebnis, so meinte ich jedenfalls bis vorgestern, hatte ich an meinem zehnten Geburtstag. An diesem von mir lang ersehnten Tag war es nämlich so weit, dass man mich beim Jungvolk aufnahm. Bis dahin musste ich widerspruchslos hinnehmen, von älteren Jungs verächtlich als »Knirps« abgetan zu werden. Diese Zeiten sind nun vorbei. Über die Aufnahmeprüfung habe ich hier noch nicht berichtet. Doch das ist schnell nachgeholt. Als Erstes musste ich den Lebenslauf unseres Führers Adolf Hitler aufsagen und anschließend mit wenigen Worten die Frage beantworten: »Wie muss ein Hitlerjunge sein?«

Mit der Antwort: »Flink wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl«, die ich, wie auch den Lebenslauf des Führers, vorher auswendig gelernt hatte, war die Prüfung bestanden. So durfte ich mir dann an meiner neuen schmucken Uniform auf den linken Ärmel die Siegesrune aufnähen lassen und am Koppel das Fahrtenmesser tragen.

Dieser Eintrag wird für lange Zeit ein Höhepunkt im Tagebuch bleiben, dachte ich so beim Schreiben. Doch das war wie schon erwähnt vorgestern – seitdem hat sich für mich meine ganze Welt auf den Kopf gestellt.

Bereits seit zwei Stunden kaue ich ratlos an meinem Bleistift, ohne dass es mir recht gelingen will, einen Anfang zu finden. Vergeblich versuche ich, die Erlebnisse des gestrigen Tages zu ordnen und vor allem auch zu begreifen.

Da mir das bisher nicht gelingen wollte, schlussfolgerte ich, dass solche Geschehnisse, wie ich gestern erlebte, Kinder und Jugendliche nicht beurteilen können, weil ihnen die Erfahrung der Erwachsenen fehlt. Also fragte ich die Großen. Ach du meine Güte, diese Mühe hätte ich mir wahrhaftig sparen können.

Was soll ich mit solchen Äußerungen wie zum Beispiel: »Frag mich nicht, ich weiß es auch nicht« oder »Ich fürchte, das war erst der Anfang von einem langen bitteren Ende« oder auch »Ach Junge, erweise dir selbst einen Gefallen, denk nicht darüber nach und vor allem, stell keine solche Fragen. Du bringst dich wie auch andere damit in große Schwierigkeiten«?

Was soll ich mit derartigen Antworten anfangen? Die bringen mich ja nun überhaupt nicht weiter. Das Beste wird sein, ich schreibe über meine Erlebnisse des gestrigen Tages der Reihe nach, nicht so, wie ich sie verstanden habe, sondern so, wie ich sie gesehen und erlebt habe.

Der 10. November begann für mich bereits nicht wie jeder andere Tag. Ein großes Schild am Schultor wies darauf hin, dass den ganzen Tag für alle Klassen der Unterricht ausfallen würde. Zwei Wachposten in SA-Uniform versperrten Schülern wie Lehrern den Weg in das Innere der Schule. Man sagte, dass die Turnhalle unserer Penne als Auffanglager genutzt würde.

Auffanglager? Keine Ahnung, was sie damit meinten. Doch mir genügte die unerwartete Nachricht über den freien Tag, um mich schleunigst wieder von dannen zu trollen. Unterwegs traf ich Rolli, der mir freudestrahlend entgegenlief.

»Kommst du aus der Schule?«, fragte er. »Wenn deine Alte nicht zu geizig wäre, sich ein Radio anzuschaffen, hättest du dir den Weg sparen können.«

Als er sah, wie sauer ich reagieren wollte, klopfte er mir auf die Schulter.

»Ist schon gut, ich weiß ja, wie knapp bei euch die Knete ist, es war doch auch nur ein Spaß. Dafür kann ich dich aber über eine tolle Neuigkeit informieren: Im Radio reden sie schon den ganzen Morgen darüber, dass der Führer zum großen Befreiungsschlag gegen alle Nichtarier ausgeholt hat. Das heißt«, und dabei hielt er, heftig nach Luft schnappend, was ihm manchmal passierte, wenn er sich erregte, die Kante der flachen Hand an den Hals, »seit vergangener Nacht geht es den Juden in ganz Deutschland nun endgültig an den Kragen, ist das nicht stark?«

Das war es in der Tat. Über die Gefährlichkeit der Juden wurde ja in den letzten Jahren sehr viel geschrieben. Auf riesengroßen Plakaten werden sie als raffgierige Monster dargestellt, die alle nur ein gemeinsames Ziel haben: die Ausplünderung des deutschen Volkes und den Untergang der arischen Rasse. Diese Karikaturen gehörten schon lange zum normalen Straßenbild.

Nie hatten wir bisher in Betracht gezogen, dass etwa unsere Juden, also diejenigen, welche ihre kleinen Läden in unserem Wohngebiet haben, mit den zerlumpten bärtigen Ungeheuern von den Plakaten und Zeitungen identisch sein könnten.

Im Gegenteil, eigentlich gibt es unsererseits keinen Grund, sich über diese Leute zu beschweren. Verspürten wir in der Vergangenheit zum Beispiel Hunger oder manchmal auch nur Appetit, zum Beispiel auf Kuchenränder, gingen wir zum Juden Grünstein. Der besitzt zwar den kleinsten Bäckerladen der Straße, aber von dort kommt man immer mit einem Päckchen Kuchenreste zurück. Ganz anders ergeht es uns da in den beiden viel größeren Bäckereien. Dort gibt es meist bei derartigen Gelegenheiten nur Ärger. Kürzlich schlossen wir sogar eine Wette darüber ab, ob es einem aus unserer Clique gelingen könnte, in einem der beiden Läden etwas zu ergattern. Nur so aus Spaß! Doch jeder der Beteiligten kam mit einem ähnlichen Bescheid zurück: »Schäm dich, ein deutscher Junge bettelt nicht! Also los, verschwinde, Heil Hitler!«

Dem Bäckermeister Grünstein hatten wir vorher nie angesehen, dass der ein Jude ist. Erst seitdem die gelben Sterne getragen werden müssen, wurden wir darauf aufmerksam.

Meinen Freund Manfred belehrte sein Vater, dass alles Gerede über die Gefährlichkeit der Juden nur böswillige Propaganda sei. Rollis Vater wiederum behauptete, die Juden würden sich nur verstellen, um eines Tages wie böse Wölfe über uns Arier herzufallen. Der Vater von Manfred ist ein Kommunist, der in dem Jahr unseres Schulanfangs wiederholt von SALeuten, zu denen auch Rollis Vater gehörte, blutig geschlagen worden war.

Wer von beiden hat nun recht? Meinen Vater kann ich nicht fragen, der ist tot. Vier Jahre war ich alt, als er über Nacht verschwand. Frage ich meine Mutter, vertröstet sie mich auf später. Es würde die Zeit kommen, da könnte ich das alles verstehen. »Bis dahin aber«, warnte sie mich schon mehrfach, »stelle um Gottes Willen keinem Menschen eine derartige Frage. Ich will dich nicht auch noch verlieren.« Das verstehe, wer will – ich jedenfalls nicht.

Nun kann ich nicht beurteilen, ob Juden gut oder schlecht sind. Angst aber habe ich vor ihnen jedenfalls wirklich nicht. Diese Leute dürfen doch schon seit Jahren weder als Polizist, Beamter, Rechtsanwalt, Arzt oder Lehrer tätig sein. Sie müssen völlig unter Ihresgleichen bleiben. Kino-, Theater- oder Schwimmbadbesuche sind ihnen bei Strafe verboten. Sie tragen große gelbe Judensterne an ihrer Kleidung, damit jeder Arier ihnen ausweichen kann. Wie ich weiß, darf ein Jude nicht einmal mit der Straßenbahn fahren. Die Kinder haben ihre eigene Schule und sollen keinesfalls mit uns spielen. Also, warum sich vor ihnen fürchten?

Aus diesen Gründen war mir Rollis Mitteilung, den Juden gehe es jetzt endgültig an den Kragen, nicht ganz verständlich.

Andererseits muss ich mir aber auch sagen, dass unser Führer schon wissen wird, was für unser Land nötig und das Richtige ist. Er ist doch schließlich unser aller Führer.

Wir waren jedenfalls froh über den schulfreien Tag und schlenderten die Martinstraße hinunter. Beim Einbiegen in die Zweinaundorfer Straße stießen wir auf einen Menschenauflauf vor dem Stoffladen Morgenstern, ein kleines Geschäft mit einem einzigen Schaufenster. Wenn die Leute ein paar Knöpfe, Hosenträger, Zwirn oder einige Meter Stoff benötigten, gingen sie hier einkaufen. Beim Stoffjuden, so wird der Laden genannt, seit ich denken kann, ist alles billiger als anderswo.

Wir drängten uns durch die eng stehenden Erwachsenen und kamen gerade richtig, um zu sehen, wie mehrere SA-Leute von einem offenen Lkw sprangen. Dem Gespräch zweier Frauen konnte ich entnehmen, dass im Verlauf der vergangenen Nacht Sturmkommandos der SA alle jüdischen Geschäfte und Kaufhäuser in der Stadt gestürmt und kaputt geschlagen hatten.

»Die armen Jungs von der SA hatten letzte Nacht in der Innenstadt so viel zu tun«, sagte die eine mitleidig, »dass sie sich die Außenbezirke erst jetzt vornehmen können.«

Und geheimnisvoll ihre Stimme dämpfend setzte sie hinzu; »Das weiß ich nämlich von unserem Wilhelm, meinem Schwager. Der ist bei der SA ein großes Tier und hat gestern bereits meinem Mann verraten, dass in den kommenden Tagen mit den Juden abgerechnet wird.«

Das weitere Gespräch ging in dem Lärm unter, der von den SALeuten ausging.