Dieses Buch ist der Erinnerung an

Shri Mataji Nirmala Devi

gewidmet,
die der Menschheit das in dieser Trilogie
beschriebene Erwachen ermöglicht hat.

Danksagung zur deutschen Ausgabe

Dieses Buch zu übersetzen, war mir ein großes Vergnügen.

Ich bedanke mich bei Shri Mataji Nirmala Devi, die mir die Kraft und die Möglichkeit geschenkt hat, diese Geschichte ins Deutsche zu übertragen.

Natürlich danke ich ebenfalls der Autorin, Linda Williams, die mich mit Rat und Auskunft während der laufenden Arbeiten unterstützt hat und dafür, dass sie uns alle an den so mitreißenden und gleichzeitig tiefgründigen Erlebnissen ihrer Protagonisten teilhaben lässt. Für die, die sich von der Botschaft inspirieren lassen und den Hinweisen folgen, reicht die Essenz und Tragweite der Geschichte weit über die eines bloßen Abenteuerromans hinaus.

Ebenso bedanke ich mich bei Doris und Toni für das Korrekturlesen, die Feedbacks und Änderungsvorschläge sowie bei Gillian, Günter, Pat und bei allen anderen stillen Helfer im Hintergrund, ohne die eine solche Arbeit nicht durchführbar wäre.

Uwe David, April 2014

Inhaltsverzeichnis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggestaltung unter Verwendung von Originalvorlagen der Autorin:

© 2014 Uwe David

Grafiken: © 2011 Linda Williams

Erste Auflage der deutschen Übersetzung unter dem Titel:

Das Erwachen von Navi Septa – Erstes Buch – Die Schlüssel der Weisheit – Eine Fantasie der Wirklichkeit: © 2014 Uwe David

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand, Norderstedt, 2014

ISBN: 978-3-7357-7617-4

Weitere Übersetzungen von U. David:

Noyce, J., 2013: Erleuchtete Geschichte 3 – Die Tradition der Weisheit, BoD, Norderstedt

Ionel, D., 2012: Einfache Gedichte – Zweisprachige Ausgabe, BoD, Norderstedt

Sheridan, P., 2012: Und du erwartest zu fliegen – Auf der Suche nach dem wahren Ich, BoD, Norderstedt

Ruskin, J., 2011: Diesem Letzten – Vier Aufsätze über die wichtigsten Prinzipien der Volkswirtschaft, BoD, Norderstedt

Torrey, E. F., 2010: Die freudsche Fehlleistung – Der destruktive Einfluss der freudschen Theorie auf die amerikanische und westliche Denkweise und Kultur, BoD, Norderstedt

Prolog

Als ich neulich dabei war, eine alte Truhe aufzuräumen, fand ich ein paar meiner alten Tagebücher. Eins davon schlug ich auf und begann zu lesen:

Mein Name ist Asha Herbhealer. Ich bin ein 14-jähriges Mädchen und lebe in Teletos, der Hauptstadt unseres schönen, aber angeschlagenen Landes Teletsia. Wie alle echten Teletsianer kann man uns an unserer honigbraunen Haut, dem blau-schwarzen Haar, den grünen Augen und den Adlernasen erkennen. Obwohl unsere Freiheit und unser Reichtum schon lange verloren gegangen sind – gestohlen von den machthungrigen Zauberern, wie wir die „Hohepriester“ nennen, die in diesen Tagen über unser Land herrschen –, haben wir uns unseren Stolz bewahrt. Und wir glauben trotzdem fest daran, dass bessere Tage kommen werden. Viele, viele Jahre haben wir schon gewartet, doch wir geben die Hoffnung nicht auf.'

Während ich einige leere Seiten umblätterte, erinnerte ich mich daran, was für ein entsetzlicher Ort Teletsia damals gewesen war. Ich ging zum Medizinschrank, nahm eine Flasche Waschalkohol heraus, tupfte etwas davon auf eine der Seiten, und ein paar Augenblicke später stand da zu lesen:

Auch wenn es gefährlich ist, war der heutige Tag so wichtig, dass ich ihn in mein Tagebuch eintragen muss. Ich schreibe mit unsichtbarer Tinte und werde das Mittel zum Sichtbarmachen nur auftragen, wenn man das gefahrlos tun kann.

Dies war der Tag, an dem alles begann und an dem ich schrieb:

Letzte Woche kehrten mein Cousin Lee und ich von der Schule heim und wurden Zeuge von etwas, was mich ganz krank machte, mit Ekel und Grauen erfüllte und aus diesem Land davonlaufen, ja irgendwohin fliehen lassen wollte. In seinem schwarzen Umhang und mit einem flachen Hut mit breiter Krempe auf dem Kopf redete auf der Straße in der Nähe unseres Hauses ein Zauberer verärgert auf einen Mann ein, der verzweifelt einen Jungen von ungefähr acht Jahren festhielt. Dann schwenkte er seinen Stab, sagte ein paar Worte, der Mann ging in Flammen auf und war in ein paar Sekunden nicht mehr als ein Häufchen Asche auf dem Boden. Anschließend griff er sich das völlig schockierte Kind und verschwand damit in einem Gebäude in der Nähe, einem vom Staat geführten Kinderhort. Ich war erschüttert, und Lee, der immer so stark und vernünftig war, beruhigte mich, munterte mich auf und brachte mich nach Hause. Doch drei Nächte lang hatte ich Albträume.

Warum nur müssen wir so leben?

Das alles erinnerte mich an meine Kindheit, als Teletos noch eine ehrenwerte Stadt war – solange man nicht allzu genau hinschaute. Sie lag auf mehrere Inseln verteilt an der Mündung eines großen Flusses und Kanäle umringten die Stadt. Für einen hoch in der Luft fliegenden Vogel hätte sie wohl wie eine halbe Zwiebel ausgesehen. Zusätzlich kreuzten viele Wasserstraßen diese Kanäle und auf den Inseln gab es breite, baumgesäumte Alleen und schmale, gewundene Gässchen. Auf beiden Seiten der Alleen standen Wohngebäude, die älter waren als die Erinnerung der Bewohner zurückreichte. Doch nichtsdestotrotz waren sie imposant und massiv. Dahinter erstreckten sich meistens Gärten bis hinunter zu den Wasserstraßen.

Ein Großteil der Stadt befand sich jedoch in einem beklagenswerten Zustand des Zerfalls und bedurfte dringend einer Renovierung. Die Fassaden vieler Gebäude trugen vor allem auf den Säulen, Regenrinnen und Türpfosten schrecklich anzuschauende, aus Stein gemeißelte Tiere. Ob sie ursprünglich dort angebracht worden waren, um Einbrecher zu vertreiben oder ob sie vielmehr den Charakter der Leute widerspiegelten, die in den Gebäuden lebten, wagte niemand offen zu fragen. Jedenfalls krümmten sich diese grauenhaften Steinbiester mit ihren halbmenschlichen Köpfen zu Tausenden über den Verwaltungsgebäuden vor allem innerhalb des innersten Stadtrings, wo niemand außer den Landesherren Zutritt hatte; und die Leute, die in ihnen arbeiteten, sahen in der Tat genauso unheimlich aus, wie die Statuen draußen an den Fassaden.

Eigentlich war es die Aufgabe der Zauberer, sich um das Land zu kümmern, damit jeder dort in Frieden leben und sich wohl fühlen konnte. Doch stattdessen beherrschten und kontrollierten sie uns, die Bewohner, damit sie ungestört die Naturgesetze missbrauchen und dadurch noch mächtiger werden konnten. Sie ermunterten alle, sich auf Sachen wie Rauschgift oder Glücksspiel einzulassen, also auf Dinge, die die Menschen von innen heraus schwächten und die ihre eigene Autorität nicht bedrohten. So verloren viele Menschen die Fähigkeit, Recht von Unrecht zu unterscheiden und konnten einfacher manipuliert werden. Die Zauberer waren Meister der Kunst der Illusionen, der Schwarzen Magie und der Hypnose und wurden von den Specials unterstützt – boshaften und finsteren Sondereinheiten der Geheimpolizei, die recht gut darüber Bescheid wussten, dass körperliche Folter sehr hilfreich dabei war, Abtrünnige ausfindig zu machen und das Volk einzuschüchtern.

Teletsia und der Ozean der Illusion

Erster Teil

Die Flucht aus Teletsia

Der erste Schlüssel – Die Wurzel

Dieser Schlüssel steht für die Kraft des ersten subtilen Zentrums, das sich an der Wurzel des Baums des Lebens befindet. Es liegt am unteren Ende der Wirbelsäule und verkörpert die Eigenschaften der Unschuld und der kindlichen Weisheit. In unserer Welt repräsentiert das Land Teletsia dieses Zentrum und sein Sitz ist der Tempel der Unterstützung.

Altes Manuskript aus Teletsia

(von den Zauberern verboten)

Ein harmloses Picknick

Ein paar Tage nachdem wir gesehen hatten, wie der arme Mann zu Asche verbrannt worden war, wollte unser Freund Raynor Antiquarian auf einer der Inseln in der Nähe der Stadt ein Picknick machen. Und so wie ich ihn kannte, war stark anzunehmen, dass da mehr dahintersteckte. Also segelten wir mit Lees kleinem Boot, der ein paar Monate jünger war als ich und klein und stämmig, aus der Stadt. Wie die meisten Teletsianer hatte auch er schwarze Haare, die aber abstanden wie eine Bürste. Außerdem war er ziemlich aufgeweckt und intelligent und hatte wache Augen. Mich dagegen hielt man für eine hoffnungslose Träumerin, was aber nur ein beabsichtigter Eindruck war, den ich erweckten wollte, eine äußere Schutzhülle. Mit Lees sonnigem äußerem Selbst war es etwas Ähnliches, doch es gab auch einen tiefgründigeren Lee, der sich im Inneren verbarg. Mir gegenüber nahm er jedenfalls immer eine sehr beschützende Haltung ein – etwas, wofür ich sehr dankbar war, da die Arbeit meines Vaters als Händler für Heilkräuter ihn oft für lange Zeit von Zuhause fernhielt.

Meine Mutter arbeitete in der Buchhandlung, die Raynors Vater gehörte und den ich schon seit ewigen Zeiten kannte. Raynor war älter als Lee und ich und außerdem groß und dünn. Wie wir hatte er schwarz-blaues Haar, doch seine Haut war etwas heller als Lees und meine – vielleicht, weil seine Großmutter aus einem Klan der Bergbewohner stammte.

Vor kurzem war Raynor in die Akademie der gefürchteten Zauberer eingetreten, deren offizieller Name „Teletsianische Akademie für fortgeschrittene spirituelle Studien“ lautete. Raynors Vater wusste genau, warum er das getan hatte, aber viele seiner Freunde und Verwandten hatten deshalb den Kontakt mit ihm abgebrochen und auch Raynors schleimiger, jüngerer Bruder Mardhang legte aufgrund dieser unerwarteten Karrierewendung eine ständige Neugier an den Tag. Im Gegensatz zu Raynor war er in der Tat eine echte Kakerlake eines Teenagers und genau der Typ, ein Zauberer zu werden.

Trotzdem war es gerade der heitere, gebildete und schüchterne Raynor, eine freundliche Seele, die keinem Wesen etwas zuleide tun würde, der die dunklen Künste und andere grausame Methoden studierte, die den Rest von uns unter Kontrolle halten sollten. Möglicherweise mangelte es ihm etwas an dem schwelenden und kontrollierten Widerstand wie Lee ihn vorwies, doch dafür besaß Raynor eine innere Entschlossenheit, die er größtenteils für das Studium seiner Bücher einsetzte – und darin war er brillant.

Obwohl Lee schon mehrmals versucht hatte, Raynor und mir die Grundlagen des Segelns beizubringen, steuerte er wie üblich an diesem Tag das Boot. Denn wir taugten nicht besonders dazu und so übernahm er gewöhnlich das Kommando. So wie Raynor es sich zur Aufgabe gemacht hatte, so gut wie alles Geschriebene zu verstehen, konnte Lee genauso gut mit allem umgehen, was praktischer Natur war. Sie waren voller Bewunderung füreinander und zeigten mir gegenüber, die meistens in beiden Kategorien versagte, großes Verständnis. Doch insgesamt ergänzten wir uns gegenseitig und teilten vieles miteinander, wovon sogar unsere Eltern nichts wussten. Außerdem empfanden wir tiefe Liebe und Respekt füreinander und in dieser unsicheren Stadt, wo man nie ganz genau wusste, wem man trauen konnte, war es toll, zwei so enge Freunde wie diese zu haben.

Schließlich ließen wir den großen Fluss hinter uns und steuerten einen kleineren hinauf, der aus dem Wald heraustrat, wobei wir Lee jetzt kräftig beim Rudern halfen. In der Mitte dieses Flusses lag eine Insel, die vom Wasser her so aussah, als ob sie völlig mit Bäumen und Unterholz bedeckt wäre. Dort versteckten wir das Boot unter ein paar überhängenden Ästen und liefen einen schmalen Pfad bis zu einer Lichtung hinauf, die wir in der Mitte der Insel entdeckt hatten. Das Sonnenlicht glitzerte durch die hohen Bäume über uns und Blumen sprenkelten den Boden mit funkelnden rosaroten Farbtupfern. Wir setzten uns hin und aßen und tranken von dem, was ich mitgebracht hatte – Fischcurry, selbstgebackenes Fladenbrot, Salat, Obstkuchen und ein köstlicher, ebenfalls von meiner Mutter selbstgemachter Fruchtsirup. Den Jungen schmeckte mein Essen und ich wusste, dass es immer so sein würde.

Auch Nog, Raynors großer Hund, war mit dabei. Er hatte braunes Fell, einen langen Schwanz und einen ziemlich ernsten Gesichtsausdruck. Ein Ohr zeigte nach unten, das andere nach oben. Sicherlich würde er bellen, wenn uns jemand auf die Insel gefolgt wäre. Er mochte es, wenn man ihn am Bauch kitzelte und wusste, dass ich mich meistens auch dazu überreden ließ. Ich machte viel Aufhebens um ihn, fütterte ihn mit ein paar Resten und dachte etwas neidisch, wie einfach doch sein Leben war. Inzwischen erzählte Lee Raynor, was wir letzte Woche gesehen hatten.

„Hab ich dir von diesem Mann auf der Straße erzählt, der einen Streit mit einem der Zauberer hatte?“

„Nein, was war denn los?“, antwortete Raynor.

„Asha war völlig am Boden zerstört. Deshalb entschloss ich mich, etwas mehr herauszufinden. Und gestern erfuhr ich, dass er sich nur für sein Recht eingesetzt hatte, sich selbst um seine Kinder zu kümmern und sich geweigert hatte, sie in den staatlichen Kinderhort zu schicken.“

„Man muss seine Kinder doch nicht unbedingt in die staatlichen Horte geben. Was ist denn passiert?“

„Der Zauberer verbrannte ihn zu einem Haufen Asche.“

„Das ist ja grauenhaft. Aber es passiert andauernd.“

„Weißt du auch, dass sie Leuten, die Schlechtes über die Zauberer erzählen, die Fähigkeit zum Sprechen nehmen, so dass diese armen nur noch grunzen oder bellen können wie Tiere.“

„Das ist ein alter Trick.“

„Neulich habe ich sogar noch Schlimmeres gehört. Auf dem Land gibt es ein Dorf, wo die Leute genug davon hatten, dass so viele grunzend wie Schweine herumliefen. Sie organisierten einen Aufstand und als die obersten Zauberer davon hörten, machte sich einer zusammen mit einer ganzen Truppe der Specials auf den Weg, um die Angelegenheit zu regeln. Er sagte nur ein paar Zaubersprüche, es erschien ein blendender Blitz und alle Dorfbewohner in Sichtweite fielen tot zu Boden.“

„Oh, Mutter Erde, wann wird das alles ein Ende haben?“ Ich weinte. Obwohl es eigentlich verboten war, betete unsere Familie, wie viele andere in Teletsia, heimlich zu Mutter Erde. Denn die Zauberer behaupteten entweder, dass die gesamte Schöpfung nur Zufall wäre oder dass, wenn es schon einen Schöpfer gäbe, dieser ein furchterregender und männlicher wäre.

„Wenn ich mein ganzes Leben dem Ziel widmen könnte, den Albträumen dieses Landes ein Ende zu machen“, sagte Lee auf langsame und wohlüberlegte Art, „dann schwöre ich bei unserer großen Mutter Erde, dass ich genau das tun werde.“ Raynor und ich stimmten zu. Und dort auf der wunderschönen Waldlichtung legte jeder von uns eine Hand auf den Boden und die andere auf die Stirn, um der Mutter Erde unseren Respekt zu erweisen, als wir den Schwur wiederholten. Es war ein düsterer Augenblick – doch etwas in meinem verschlossenen und verängstigten Herzen öffnete sich einen Spalt.

„Es ist an der Zeit, dass wir uns gegenseitig viel mehr vertrauen“, fügte Raynor hinzu. „Lee sollte uns heute hierher bringen, weil wir ungestört miteinander reden müssen.“

„Also, was machst du nun wirklich auf der Akademie der Zauberer?“, forderte Lee ihn heraus.

„Ich bin ein Spion.“

War das das Ende für Lee und mich? Doch ich konnte nicht glauben, dass Raynor kurz davor war, uns zu verraten. Er war doch fast ein Teil unserer Familie. Raynor bemerkte die Angst in meinem Gesicht.

„Ich hatte nicht die Absicht, euch zu erschrecken – lasst mich erklären. Die Zauberer sind immer auf der Suche nach jungen Leuten mit ungewöhnlichen Fähigkeiten. Das ist nichts Neues, aber jetzt, wo ich auf die Akademie gehe, kenne ich den wahren Zweck der staatlich betriebenen Kinderhorte: Sie beobachten die Kinder sehr intensiv und wenn sie irgendwelche Fähigkeiten zeigen, die den Kräften der Zauberer gleichkommen, dann werden sie hypnotisiert und bekommen eine Gehirnwäsche verabreicht. Das ist etwas, was erst die fortgeschrittenen Studenten lernen.“

„Hast du das auch schon gelernt?“

„Nein.“ Raynors Antwort war kurz – offensichtlich war das nicht die richtige Frage zu diesem Zeitpunkt. „Lasst mich fortfahren. Denn was ich euch zu erzählen habe, ist ungeheuer wichtig.“

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Lee, denn er hatte ziemlich großen Respekt vor Raynor.

„Wirklich störrische Jungen und Mädchen werden umgebracht und sie erzählen den Eltern, dass ihre Kleinen sich ein Fieber zugezogen hätten und gestorben wären. Doch weil die Menschen so oft den hypnotischen Methoden der Zauberer nachgegeben haben, schicken viele ihre Kinder tatsächlich in diese Tagesstätten. Wir drei sind davongekommen, weil unsere Eltern es geschafft haben, die Erlaubnis zu erhalten, uns selbst aufzuziehen. Ihr wisst, wie heikel die Situation ist und wie bemüht unsere Eltern sind, die Kreise der Zauberer nicht zu stören.

Meine Familie hat außerdem das Glück, die Buchhandlung zu besitzen. Deshalb lassen sie uns meistens in Ruhe, weil sie sich für die antiken Manuskripte und alten Bücher interessieren. Sie nehmen unsere Hilfe in Anspruch, wenn sie Zugriff auf historische Dokumente haben wollen. Und es ist genau solch ein altes Buch, von dem ich euch erzählen muss. Doch ihr müsst wissen, dass wir alle verloren sind, sobald ich euch erzählt habe, was ich herausgefunden habe und uns irgendjemand verrät.“

„Wir leben in Teletos und wissen genau, was passiert“, sagte Lee.

„Raynor geht auf die Akademie, Lee, und er weiß wahrscheinlich viel mehr, als er zugibt.“ Raynor schaute mich eindringlich an und redete weiter.

„Letztes Jahr habe ich meinem Vater im Laden geholfen. Wenn an heißen Nachmittagen nur wenig Kundschaft kommt, schickt er nach eisgekühlter Limonade und wir verschwinden ins Hinterzimmer, wo uns niemand hören kann. Und vor kurzem weihte er mich in eins unserer Familiengeheimnisse ein…“

„Bist du sicher, dass es richtig ist, uns das zu erzählen?“, unterbrach ihn Lee.

„Ja, er hat mich sogar darum gebeten, denn wenn mir irgendetwas passiert, dann muss irgendjemand aus unserer Generation meine Forschungen weiterführen.“

„Forschungen?“, fragte ich. Lee und ich fischten hier im Trüben, denn keiner von uns war ein Wissenschaftler.

„Wir haben heimlich in unserem Bücherbestand gelesen“, fuhr Raynor fort und ignorierte meine Frage, „und versuchten, etwas zu finden, das eines Tages helfen könnte, unser Land von diesen verfluchten Zauberern zu befreien. Doch leider wird die alte Sprache heutzutage niemandem mehr in Teletsia gelehrt, da Unkenntnis der einfachste Weg ist, uns daran zu hindern, selbständig zu denken.“

„Das wissen wir alle“, sagte Lee kläglich. „Jeder mit ein bisschen Verstand weiß das.“

„Ja. Und deshalb haben die meisten in diesem Land auch keine Ahnung, was wirklich in der Vergangenheit passiert ist. Die Geschichte, die wir in der Schule lernen, ist reine, von den Zauberern erfundene Fantasie.“

„Kein Wunder, dass ich sie so langweilig finde.“

„Doch jetzt werde ich euch etwas erzählen, was wirklich stimmt.“

„Etwas von dem, was dein Vater herausgefunden hat?“

„Genau. Außerdem hat er mir jahrelang die alte Sprache beigebracht und inzwischen kann ich sie sogar recht gut lesen.“

„So?“

„Großvater Zack und später mein Vater haben jahrelang daran gearbeitet. Weil Großvater inzwischen gestorben ist, hat mein Vater sich entschieden, mich in das Geheimnis einzuweihen. Ein Großteil der antiken Schriftrollen erwähnt die Schriften eines großen Propheten, der vor einigen Jahrhunderten gelebt hat. Er sagte voraus, was heute oder etwas später stattfinden wird, wenn es dieselben Probleme geben wird, die wir heute haben. Vor Jahren fand Großvater eine Kopie dieser Prophezeiung, aber sie wurde von den Zauberern beschlagnahmt. Er machte sich einige Notizen, die von einer Zeit berichten, in der einige junge Leute die Machenschaften der Zauberer aufdecken werden.“

„Oh, die Glücklichen! Ich würde viel darum geben, einen Blick in die Notizen deines Großvaters zu werfen.“

„Ich hab sie hier und ich wünschte, wir könnten diese jungen Leute ausfindig machen, von denen der Prophet erzählt. Denn wenn sie heute leben würden, dann hätten wir wahrscheinlich eine ganze Menge mit ihnen gemeinsam, glaube ich.“

„Vielleicht sind wir es ja“, sagte ich hoffnungsvoll.

„Ach komm! Das meinst du doch nicht ernst“, antwortete Lee.

„Irgendwo müssen sie ja sein“, fuhr ich fort.

„Glaubst du wirklich, dass Hilfe in Sicht ist? Nach so langer Zeit?“, fragte Lee.

„Könnte sein“, stimmte Raynor zu.

„Wolltest du deshalb heute hierher kommen?“

„Ja, natürlich!“, lächelte Raynor breit, weil ihm das so viel bedeutete. „Ihr müsst mir sorgfältig zuhören.“

„Das werden wir. Erzähl weiter.“

„Dieser Prophet beschrieb ein Land, das von schwarzen Magiern beherrscht wird, die vorgeben, Priester zu sein und alle Arten von dunklen, magischen Kräften anwenden, um die Menschen zu beherrschen und zu zerstören. Das entspricht doch ziemlich genau dem Teletsia von heute.“

„Wie kannst du dir da so sicher sein?“

„Es fühlt sich so richtig an. Der einzige Weg, die Zauberer zu überwinden, besteht darin, dass die Menschen eins mit ihrem Geist werden und subtile Kräfte erlangen. Sie müssen bewusst mit der Weltseele verbunden werden, der größten Kraft für das Gute. Der Verstand, die Gefühle und der Körper eines Menschen sind ein Spiegelbild dieser Kraft und im Menschen wird diese Reflexion der innere ‚Baum des Lebens’ genannt. Auf eine seltsame Art sagt die Prophezeiung, dass dieser Baum glänzende und blütenähnliche Juwelen auf seinem Stamm trägt, der einem goldenen Faden ähnelt. Diese Juwelen befinden sich immer an bestimmten Stellen im menschlichen Körper. Zum Beispiel gibt es einen auf der Stirn, der wie ein Diamant funkelt. All die unterschiedlichen Kräfte der Schöpfung sind dadurch in uns reflektiert. Dieser Baum des Lebens muss in den Menschen erweckt werden. Und um das zu erreichen, muss eine Gruppe junger Menschen, die bereit sind, ihr Leben für ihr Land zu riskieren, auf eine lange Reise gehen – einerseits um diese Weisheit zu finden und andererseits um zu lernen, wie man die Kräfte gebraucht, die sie verleiht und außerdem, wie man das alles an andere weitergibt.“

„Davon versteh ich nicht viel.“

„Keine Sorge. Am Anfang ging mir das genauso, aber es ist sehr wichtig…“

Während sie sich unterhielten, fiel mir die Antwort ein. Ich hatte nämlich eine Fähigkeit, über die ich bis jetzt großes Stillschweigen bewahrt hatte, denn es war genau das, was die Zauberer zu entdecken versuchten: ich konnte sie so sehen, wie sie in Wirklichkeit waren – durch und durch böse. Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf jemanden richtete, konnte ich in seinem Inneren etwas sehen, was aussah wie Juwelen auf einem goldenen Faden, der sich wie ein himmlischer Baum vom unteren Ende der Wirbelsäule bis hinauf zum Scheitel des Kopfes erstreckte. Das musste der Baum des Lebens sein. Doch falls irgendjemand mein Geheimnis entdeckte, könnte das das Ende für mich bedeuten. Doch hatte Raynor uns nicht schon gezeigt, dass er uns vollkommen vertraute?

„Der Baum des Lebens ist leicht zu verstehen!“, platzte ich heraus.

„Was meinst du damit?“, rief Raynor.

„Die Juwelen und der goldene Faden: der Baum des Lebens. Wir alle haben einen.“

Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich es ausgesprochen hatte und Furcht ergriff mich. Was war, wenn die Jungen sich entschlossen, mich zu denunzieren? Die Zauberer boten große Belohnungen für Informationen wie diese und die Gerüchte darüber, was mit Leuten wie mir passierte, waren entsetzlich. Lee bemerkte das Flackern des Schreckens in meinem Gesicht, aber dann kam ich wieder zu mir. Von allen Menschen würden sie mir niemals Schaden zufügen.

„Versuch, keine Angst zu haben“, beschwor mich Lee. „Raynors Familie hat über Generationen hinweg darum gekämpft, diese Prophezeiung zu verstehen und ich schwöre, dass wir dich nicht den Zauberern übergeben oder sonst irgendetwas Schreckliches tun werden.“

„Bitte, erzähl uns mehr. Es könnte lebenswichtig sein“, bettelte Raynor.

„In Ordnung. Wenn ihr mir versprecht, niemandem etwas davon zu verraten! Noch nicht einmal meinem Bruder Derwin!“, begann ich vorsichtig.

„Natürlich nicht! Schließlich ist er erst zehn und könnte wohl kein Geheimnis bewahren, wenn es darum ginge, sein Leben zu retten.“ Damit war Raynor näher an der Wahrheit, als er dachte.

„Es ist so: wenn ich meine Aufmerksamkeit auf die innere Natur eines Menschen richte, kann ich etwas erkennen, das aussieht wie eine Kette glänzender Juwelen auf einem goldenen Faden. Wenn ein Mensch böse ist, dann sind diese Juwelen trübe. Manchmal, bei wirklich schlechten Menschen wie den Zauberern, sehen sie aus wie Knäuel von sich windenden Würmern. Die Wurzel des Baumes, das untere Ende des Fadens, beginnt am unteren Ende der Wirbelsäule und steigt durch die Juwelen nach oben. Diese Edelsteine befinden sich im menschlichen Körper immer an bestimmten Stellen. So gibt es z. B. wirklich einen hinter der Stirn, der aussieht wie ein Diamant und bei euch beiden und ein paar anderen leuchtet am Scheitel ein Licht, das aussieht wie eine Blume.“

Nun hatte ich mich so weit vorgewagt, dass es kein Zurück mehr gab.

„Erzähl weiter. Vielleicht führt das ja am Ende doch noch irgendwohin.“

„Was ich sehe, entspricht der Beschreibung des Propheten vom Baum des Lebens. Menschen, die einen freundlichen und liebevollen Charakter haben und über etwas Weisheit verfügen, haben normalerweise glänzende Edelsteine in sich.“

„Das klingt ja nicht so sicher.“

„Nun, wenn sie ein schwerwiegendes Problem haben, sehen diese Edelsteine selbst bei den besten Menschen manchmal trübe aus.“

„Was ist mit den Menschen, die nicht so sind? Bei der großen Masse, die nach der Pfeife der Zauberer tanzt?“

„Oh, die? Das ist unterschiedlich. Die, die gierig, grausam, unaufrichtig oder noch schlimmer sind, haben dunkle, schmutzige Feuerräder in sich. Und da gibt es noch etwas anderes: der Zustand der Edelsteine zu einer bestimmten Zeit und die Art, wie diese Menschen in diesem Augenblick sind, passen perfekt zusammen. Wenn ein Mensch z. B. wütend wird, beginnt das Licht in der Stirn schwächer zu werden und wenn ein Mensch etwas Verletzendes sagt, dann leuchtet der Edelstein im Hals für eine Weile nicht.“

„Willst du damit sagen, dass sich der Charakter der Menschen in diesen Edelsteinen widerspiegelt?“

„Mehr als das. Ich glaube, dass sie eigentlich allen Funktionen eines Menschen zugrunde liegen. Und das ist ziemlich nützlich, denn ich kann die Menschen immer genau beurteilen. Doch ich muss es vollkommen geheim halten, denn sonst würden die Zauberer mich an irgendeinem schrecklichen Ort verschwinden lassen.“

„Da hast du völlig Recht!“ Lee starrte mich an und ich wusste, dass er mich auf eine ganz neue Art wahrnahm.

„Oh, und noch etwas“, fuhr ich fort. „Ihr beide habt fast immer glänzende innere Juwelen und leuchtende Blüten auf eurem Scheitel.“ Lee und Raynor sahen sehr unsicher aus, was ich ihnen nicht verübeln konnte. Denn ich war gerade mit etwas sehr Eigenartigem herausgerückt.

„Du sagtest fast immer?“, fuhr Lee fort.

„Manchmal, wenn ihr in einer düsteren Stimmung oder wütend seid, dann werden eure Edelsteine trüb. Doch das dauert nicht lange und selbst eure dunkelsten Momente sind viel heller, als die guten Tage der Zauberer.“

„Das ist ja erstaunlich! Warum hast du uns das nicht früher erzählt? Nein, eigentlich wärst du verrückt gewesen, das zu tun, wenn du nicht sicher gewesen wärst, dass wir es für uns behalten hätten können.

Aber ich habe auch eine ungewöhnliche Kraft, die allerdings nicht so dramatisch ist wie deine“, gab Raynor zu. „Vielleicht bist du nicht die Einzige, derer die Zauberer habhaft werden wollen: wenn ich meine Aufmerksamkeit auf meinen Scheitel lege, was auch Fontanelle genannt wird, dann fühle ich vollkommenen inneren Frieden und werde nie von irgendwelchen unerwünschten Gedanken abgelenkt. Und wenn ich in diesem Zustand bin und der Zauberer in der Akademie, der darauf trainiert ist, Gedanken zu lesen, kommt um zu sehen, ob ich irgendwelche subversiven Gedanken habe, dann kann er nichts feststellen.“

„Woher weißt du das?“, wunderte ich mich.

„Weil ich diesen Ort und alles, was dort passiert, verabscheue. Aber wenn ich in diesem Zustand bin, geht der Zauberer an mir vorüber und sagt ‚Das machst du gut’. So weiß ich mit Sicherheit, dass der Wahrsager, wie er genannt wird, meine Gedanken nicht lesen kann. Wenn er zu meinen Freunden kommt, die auch kritisch über die Zauberer denken, dann sieht er oft sehr ernst aus. Einmal wurde einer meiner Freunde sogar abgeführt und nach einer dieser Sitzungen nicht mehr wieder gesehen.“

„Das kann ich auch!“, platzte Lee aufgeregt heraus. „Ich habe mich nie getraut, das zu sagen, aber ich kann auch gleichzeitig völlig wach und doch innerlich ganz ruhig sein.“

„Wann zum Beispiel?“, fragte Raynor.

„Ich habe bemerkt, dass viele der Schulklassen eigentlich Massenhypnosesitzungen sind, in denen wir dazu gebracht werden, die Zauberer als unsere perfekten Herren und Meister anzuerkennen. Doch wenn ich mich in meine geheime Oase der Ruhe zurückziehe, dann kann keiner dieser verbogenen Lehrer mich dazu bringen, auf diese Lügen hereinzufallen. Sie versuchen auch, in unser Gehirn einzudringen und uns dazu zu bringen, Dinge zuzugeben, die wir gar nicht getan haben.“

„Diese Oase der Ruhe habe ich auch schon einmal zufällig entdeckt“, fügte ich hinzu. „Doch ich tu immer so, als ob ich träumen würde, denn um in Teletsia zu überleben, muss man ein paar Spielchen spielen.“

„Mich hast du jedenfalls ganz schön an der Nase herumgeführt“, gab Lee zu.

„Mich auch“, lachte Raynor. „Doch das ist umso mehr ein Grund, uns um dich zu kümmern und dich zu beschützen.“

Kurz danach machten wir uns auf den Heimweg. Doch die Saat war gesät. – Und auch, wenn wir noch keine Vorstellung davon hatten, wie wir das am besten bewerkstelligen sollten, hatten wir uns doch fest vorgenommen, ein Instrument für den Untergang der Zauberer zu sein.

Die Prophezeiung

N ach unserem kleinen Abstecher auf die Insel passierte lange Zeit nicht besonders viel. Lee und ich gingen wieder zur Schule und Raynor auf die Zaubererakademie. Nun, da wir wussten, dass wir Kräfte hatten, die uns „subversiv“ machten, war es sogar noch wichtiger für uns, mehr über die Prophezeiung zu erfahren, um zu sehen, ob sie uns auf irgendeine Art helfen konnte. Wären wir ein paar Jahre älter gewesen und noch ein paar Jahre länger von den Zauberern unterdrückt worden, hätten wir das praktisch Unmögliche gar nicht erst versucht. Doch wir waren jung und idealistisch und dann kam ziemlich unerwartet ein weiterer denkwürdiger Tag.

In der großen Halle seines Hauses warteten Lee und ich auf Raynor. Wie so oft in Teletsia war es ein warmer Nachmittag. Doch dieser Tag war fast wie ein Sommertag und nicht wie einer zum Ende des Winters und ich war froh, in der kühlen Steinplattenhalle mit ihrer hohen Balkendecke und den kleinen Buntglasfenstern zu sein. Auch Mardhang war da. Ich habe ihm nicht nur nie über den Weg getraut, weil sein Baum des Lebens dunkel, verrottet und wurmzerfressen war, sondern auch, weil er ein Schnüffler war. An diesem Tag bot er uns überraschenderweise etwas Saft zur Erfrischung an und solange ich meine Aufmerksamkeit nicht auf sein inneres Wesen richtete, hätte man für einen flüchtigen Moment lang glauben können, dass er sich zum Positiven verändern könnte. Doch nein, die inneren Würmer wanden sich immer noch. Igitt! Ich musste mich abwenden.

Mit ihrem üblichen Quietschen öffnete sich endlich die Tür und Raynor kam, als er uns sah, mit einem wissenden Lächeln herein. Er trug die übliche Kleidung der jungen Männer in Teletos: weite Baumwollhosen, ein fließendes Hemd und eine Art ärmellose Tunika. Nichtsdestotrotz war seine rot-schwarze Kleidung die Uniform der Eliteakademie, an der die zukünftigen Unterdrücker ausgebildet wurden und wenn er von dort kam, bemerkte ich, dass sein Baum des Lebens immer trübe aussah. Doch nach einiger Zeit in unserer Gesellschaft, fingen die inneren Edelsteine wieder an zu leuchten. Äußerlich gesehen waren es Lee und ich, die recht trist in unserem erdfarbenen Zwirn aussahen. Für einfache junge Leute wie uns war es verpönt, lebhafte Farben zu tragen – einmal abgesehen davon, dass wir noch weniger als andere jemals versuchen würden, damit Aufmerksamkeit auf uns zu lenken.

Raynor trug eine alte lederne Schultasche auf dem Rücken und die Art, wie er uns anlächelte, war ein verräterisches Zeichen. Es lag etwas in der Luft. Er legte die Tasche ab, gab Lee einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken und schenkte mir sowohl ein breites Grinsen als auch ein enthusiastisches „Hallo, Asha!“. Für mich war er immer wie ein Bruder und seine herzliche Zuneigung berührte mich, denn ansonsten waren wir in Teletsia immer so zurückhaltend.

In der Ecke faulenzte Mardhang in den Kissen und las und Raynor begrüßte ihn mit einem etwas unterkühlten „Hallo“. Abwesend blickte Mardhang kurz zu ihm hinüber und wandte sich dann in frostiger Stille wieder seinem Buch zu. Raynor ging in sein Zimmer, entledigte sich der verhassten Uniform und schloss sich uns dann mit seiner Schultasche über den Schultern wieder an. Um uns der Gesellschaft von Mardhang zu entledigen, machten wir uns auf nach draußen in den Garten auf der Rückseite des Hauses. Und wie er so zwischen den lila und braunen Kissen dalag, erinnerte mich Mardhang an einen Pilz, der selten Licht gesehen hatte.

Als wir durch die Gartentür nach draußen traten, traf uns das Sonnenlicht wie ein Fanfarenstoß. Ich liebte Raynors farbenfrohen, wohlriechenden und verwunschenen Garten. Seine Familie brauchte so etwas als Ausgleich zu all diesen muffigen, alten Büchern und Manuskripten, von denen sie umgeben war. Etwas weiter weg vom Haus wuchsen eine Menge immergrüner Hecken und es gab dort auch einen Fischteich. Wir liefen den knirschenden Kiespfad hinunter und setzten uns auf eine Steinbank in der Nähe des Teichs. Zu beiden Seiten quollen Blumenbeete mit duftenden Kräutern und farbenfrohen Blüten in Rot, Orange und Gelb über. Bienen summten dauernd herum und heute flatterten ein paar brillantblaue Schmetterlinge matt von Blüte zu Blüte. Genau wie sie machte auch uns die Hitze träge und ein bisschen sorglos – doch die hohen Hecken um uns herum verbargen uns hoffentlich vor den Blicken anderer und sie auch gleichzeitig vor uns.

Während Raynor in seiner Tasche kramte, standen Lee und ich auf und warfen einen kurzen Blick in die Umgebung, um sicher zu sein, dass wir keine ungewollten Zuhörer hatten. Wir konnten niemanden entdecken, aber als wir uns wieder setzten, warf sich ein Wirbelsturm in Form von Nog auf Raynor. Eigentlich sollte er der Wachhund der Familie sein. Doch er hatte geschlafen und war erst aufgewacht, als er Raynors Stimme gehört hatte. Und nachdem er Raynor mit nasser Nase und wedelnder Rute begeistert begrüßt hatte, legte er sich an einem schattigen Plätzchen wieder schlafen.

„Also, was gibt es diesmal?“, fragte Lee Raynor begierig.

„Ich hab sie!“

„Hast was?“

„Die Prophezeiung!“

„Ist das nicht ganz schön riskant?“, fragte ich nervös und konnte Raynors Angst im Edelstein seines Herzens erkennen, der sich plötzlich verdunkelte.

„Ja, und ich hab sie auch nur für heute Nachmittag. Ich hab sie rausgeschmuggelt und muss sie bis heute Abend wieder zurückbringen.“

„Vielleicht sollten wir irgendwohin gehen, wo es sicherer ist“, erfasste Lee unmittelbar die Situation.

„Dafür haben wir einfach keine Zeit.“ Raynor holte ein altes Buch aus seiner Schultasche. „Ich war gerade in einem Raum der Bücherei, der normalerweise verschlossen ist. Da bemerkte ich ein Buch mit dem Siegel, mit dem wir alle unsere Bestände kennzeichnen und erkannte, dass dies die Prophezeiung war. Dieses Zeichen repräsentiert das wahre Aufblühen des Wissens.“ Er zeigte auf eine kleine Prägung auf dem Buchrücken, ein geöffnetes Buch, aus dem eine Blume herauswuchs.

„Wir müssen vorsichtig sein“, warnte ich, denn ich hatte das starke Gefühl, dass dies nicht der richtige Ort war, um darüber zu sprechen. „Ich hoffe, dass Nog für uns aufpasst.“

„Sicher“, sagte Raynor abwesend, während er das Buch überflog und fasziniert die Seiten umblätterte.

„Wenn ich das hier richtig verstehe, müssen sich die jungen Leute, die den Wandel beschleunigen, auf eine lange Reise in ein Land in irgendwelchen Bergen im hohen Norden machen.“

„Gibt es irgendwelche Namen?“, fragte Lee.

„Nein. Es heißt ‚jenseits des großen Meeres’ und ‚in diesem Land werden sie lernen zu verstehen.’ Es ist nicht einfach zu übersetzen… ‚ihr inneres Potenzial, diese innere Kraft, die in jedem Menschen existiert…’.“

„Mysteriöses Geschwafel. Irgendwelche Offenbarungen heute, Asha?“ Lee schaute mich hoffnungsvoll an, doch ich schüttelte den Kopf.

„Also wollt ihr das nun hören oder nicht?“ Raynor war ziemlich gereizt und nicht sein übliches, gleichmütiges Selbst. Und weder er noch Lee waren so besonnen, wie sie es normalerweise waren.

„Ja, natürlich. Immer mit der Ruhe“, sagte Lee.

„ ‚Dort in diesem Land, werden sie eins mit der Kraft der Schöpfung. Dieses mächtige Bewusstsein wird durch sie hindurchfließen und ihnen dabei helfen, Instrumente des Wandels zu sein.’ “

„Glaubst du wirklich, dass der Prophet daran geglaubt hat?“, fing Lee an, gegen diese ganze obskure Sprache zu sticheln.

„Ansonsten hätte er es wohl nicht geschrieben“, kommentierte ich. „Sie sagt uns, wonach wir suchen sollen.“

„Was meinst du damit?“

„Uns? Suchen nach was?“, fragte Raynor. „Wir sind nicht die Leute, von denen die Prophezeiung spricht.“

„Auch wenn wir nur einfache Leute sind, müssen wir versuchen, auf diese Reise zu gehen“, bestand ich darauf.

„Na toll. Wir machen uns also einfach auf eine Weltreise“, unterbrach Lee. „Vergiss unsre Familien, die Zauberer und ihre Geheimpolizei und unterwegs stoßen wir zufällig auf Leute, die die Welt wieder ins Lot bringen und genau wissen, wohin sie gehen und warum.“

„Was ich meine ist…“, beharrte ich, „… vielleicht ist es eine innere spirituelle Reise, die jeder von uns machen muss.“

„In der Tat sagt die Prophezeiung uns, wo wir anfangen müssen“, fuhr Raynor fort. „ ‚Die Reise muss am Tempel der Unterstützung beginnen, und der Tempel hat vier große Steine.’ “

„Von diesem Ort habe ich gehört!“, rief Lee laut und vergaß dabei völlig, seine Stimme bedeckt zu halten. „Er liegt draußen auf dem Lande, hinter Clatan. Kennt ihr ihn auch…?“

„Kann ich nicht behaupten“, antwortete Raynor.

„Die Einheimischen dort sagen, dass er der Mutter Erde geweiht ist.“

„Und woher weißt du das?“

„Weil ich letztes Jahr dort in den Ferien war.“

„Laut der Prophezeiung gibt es dort in der Mitte vier große, quadratisch angeordnete Felsen und eine Menge kleinerer Steine, die spiralförmig darum herum aufgestellt sind.“

„Das ist es!“

„Hört euch das an“, fuhr Raynor mit der Übersetzung fort. „ ‚Es gibt sieben, mit Edelsteinen besetzte Schlüssel, die zu den sieben Juwelen der Seele, den subtilen Zentren des inneren Baums des Lebens passen.’ “

„Und wo um alles auf der Welt können wir diese Schlüssel finden?“

„Keine Ahnung.“

„Lies weiter.“

„ ‚Die Edelsteinschlüssel sind in bestimmten Teilen der Welt wirksam. Mit ihnen können die Sucher die inneren Türen des Geistes öffnen und die magischen Juwelen, die sich dort befinden, auch dazu verwenden, das Land im Norden zu erreichen.’ “

In diesem Moment hörten wir hinter uns das Knirschen von Schritten auf dem Kies. Nog war aufgewacht, weil ihm jemand auf den Schwanz getreten hatte, der quer über den Pfad lag und auf der Flucht vor dem knurrenden Hund erschien Mardhang um die Ecke der Hecke. Um Raynor, der das Buch wieder in die Tasche schob, vor seinen Blicken zu schützen, sprang ich auf und Lee stolperte ihm entgegen, um Nog von ihm abzuhalten – denn Nog hasste Mardhang genauso sehr, wie er Raynor liebte.

„Dein elender Hund hätte mich fast gebissen!“, beschwerte sich Mardhang. „Vater hätte ein Ende mit dieser Brut machen sollen! Einbrecher attackiert er nie, nur mich!“ – Ich schaute zur Seite, so dass Mardhang nicht sehen konnte, wie ich lächelte und auch Lee verbarg seine Belustigung hinter einem vorgetäuschten Niesanfall. Dabei vergaßen wir, dass unsere Freiheit an einem seidenen Faden hing.

„Davon mal abgesehen“, fuhr Mardhang fort, „habe ich zufällig gehört, dass ihr zu dem alten Steinkreis jenseits von Clatan wollt, um nach irgendeinem vergrabenen Schatz zu suchen. Als deinen Bruder solltest du mich besser nicht zurücklassen.“ Wir alle kannten diese bettelnde und zugleich bedrohliche Stimme nur zu gut und während er sprach, boten die inneren Juwelen seiner Seele einen schauderhaften Anblick.

Damit fand unser Treffen ein abruptes Ende und für das nächste Wochenende verabredeten wir uns wieder bei Lee, weil es dort sicherer war. Hinten an Raynors Garten grenzte ein Kanal und wir fuhren mit Lees Boot wieder zurück, mit dem wir auch gekommen waren. Und Raynor schaffte es auch ohne Probleme, das Buch wieder zurück in die Bücherei zu bringen – so dachte er wenigstens.

Herzogs Journal, Schreiber der Höchsten Priester von Teletsia

Ich, Herzog, Schreiber der erlauchtesten Herren von Teletsia, zeichne hiermit den letzten Bericht unseres treuen Dieners Mardhang Antiquarian auf:

Raynor Antiquarian nahm an, dass er die Prophezeiung zurückgegeben hätte, ohne gesehen worden zu sein. Doch als Fischweib mit einem Schleier verkleidet und einem Korb voller Fische auf dem Kopf, war Mardhang Antiquarian wieder unterwegs ins Regierungsviertel, denn wir bestehen immer darauf, dass er sich verkleidet. Er kam durch einen Dienstboteneingang und man gab ihm frische Kleidung, weil ihre Höchsten Heiligkeiten, die Priester, den Geruch von Fisch nicht ertragen können.

In ihre schwarzen Mäntel und roten Dienstroben gekleidet, warteten sie im Verhörzimmer an einem schweren Holztisch auf ihn. Der Raum hatte unverputzte, graue Steinwände, eine hohe, gewölbte Decke und kleine Fenster, durch die niemand nach draußen entkommen konnte. Bewaffnete Wachen standen an den Türen und viele waren in diesem Raum zum Tode oder zur Folter verurteilt worden. Als er alleine im Zentrum der Macht von Teletsia stand, fühlte sich Mardhang beklommen und verängstigt.

„Sprich, Elender“, forderte Seine Höchste Lordschaft ihn auf. Er hatte ein dünnes, vergeistigtes Gesicht ähnlich einer Totenmaske und trug sein graues Haar lang.

„Raynor hat das Buch des Propheten entschlüsselt“, begann Mardhang mit bebender Stimme.

„Sprich lauter, du Idiot!“, befahl der Meister der toten Seelen, der aufgrund seines hohen Alters etwas taub war. Er hatte zwar eine aus Holz geschnitzte Ohrtrompete, die aber wenig half.

„Dieser Raynor muss wirklich ein Genie sein. Wäre er doch auf unserer Seite“, sagte Seine Höchste Lordschaft.

„Das wird er sein – wenn wir ihn erst gefangen haben und mit ihm fertig sind. Doch lassen wir uns erst von ihm zu den Juwelen der Macht führen. Wir müssen sie haben, um zu verhindern, dass sich die Prophezeiung erfüllt“, stellte der Meister des Gedankenlesens fest. Nur wenige Menschen konnten seinem Blick standhalten, und wenn sich seine tiefschwarzen Augen in die eines Befragten bohrten, dann fiel es diesem schwer, ihm nicht die Wahrheit zu sagen.

„Er muss uns auch zu dieser vorhergesagten Gruppe von jungen Verrätern führen“, fuhr der Anführer der Geheimpolizei fort.

„Keiner von ihnen darf überleben oder es wird Teletsia, wie wir es kennen, nicht mehr geben“, beharrte Seine Höchste Lordschaft.

„Wahrscheinlich werden sie sich bald wieder im Haus von Lee Restorers Familie treffen“, sagte Mardhang.

„Danke für diese Informationen. Geh und hol dir deine übliche Belohnung. Aber denk daran: wenn du aufhörst uns zu dienen, dann werden dich endlose Qualen heimsuchen.“

Auf dem Boden liegend winselte Mardhang um Gnade.

„Oh, und noch etwas“, ergriff der Meister der toten Seelen noch einmal das Wort. „Das nächste Mal, wenn Raynor seine Freunde trifft, schicken wir eine Fledermaus. Du brauchst also nicht versuchen, ihnen zu folgen.“

„Eine Fledermaus, mein Herr?“, erhob sich Mardhang aus seinem Gewinsel.

„Ja. Wir zwingen einen menschlichen Geist, der unter unserer Kontrolle steht, in den Körper einer Fledermaus. Sie spioniert jeden aus, auf den wir sie ansetzen. Und wenn sie zurückkommt, verfrachten wir den Geist wieder zurück in seinen menschlichen Körper und dann erzählt er uns alles, was er als Fledermaus gehört hat. Wenn du unser Missfallen erregst, könnten wir dich auch für immer in eine Fledermaus verwandeln.“

Ein paar Tage später trafen wir uns am frühen Abend im weitläufigen alten Palast von Lees Vater. Er hatte mehrere Stockwerke, war um einen zentralen Innenhof herum angeordnet und dahinter lag ein noch größerer Hof mit weiteren Gebäuden, die wie das Hauptgebäude in Mietwohnungen umgewandelt worden waren. In der Umgebung waren Gärten angelegt, zu denen im hinteren Bereich auch ein von einer Mauer umgebener Rosengarten gehörte, hinter dem wiederum einer der großen Kanäle lag. Wir erklommen einen der Türme in einer Ecke des Innenhofs und von seinem Dachboden aus konnten wir die gesamte, auf vielen, miteinander verbundenen Inseln errichtete Stadt mit ihren Kanälen, Straßen, Häusern und Gärten überblicken. Teletos lag ganz in der Nähe der Küste und war mit ihr über Brücken verbunden. Jenseits davon lag die breite Flussmündung, in deren tieferem Wasser ständig Schiffe aus vielen Ländern vor Anker lagen.

Da Lee die Tür am Fuß der langen Wendeltreppe, die nach oben in das kleine Zimmer führte, von innen verschlossenen hatte, konnte uns niemand hören. Wir saßen auf mitgebrachten Kissen, weil das Zimmer ansonsten leer stand und nicht bewohnt war.

„Auf die Idee, einen Blick auf den Tempel der Unterstützung zu werfen, sind wir nicht gekommen, oder?“, sagte Raynor.

„Nein, das war bisher der einzig gute Vorschlag deines schrecklichen Bruders“, antwortete Lee. „Er ist wirklich eine Plage. Ich bin sicher, dass du das nicht gerne hörst, aber es ist die Wahrheit.“

„Wenigstens braucht ihr nicht mit ihm zu leben. Manchmal kann einem das wirklich zu viel werden. In der Prophezeiung heißt es, wenn jemand auf seiner Reise nicht bescheiden nach Weisheit sucht, dann wird er nicht besonders weit kommen. Doch lasst uns im Moment nicht zu viel über Mardhang nachdenken“, sagte Raynor abschließend.

„Der Meinung bin ich auch“, fügte ich hinzu. „Lasst uns hoffen, dass nichts, und insbesondere nicht Mardhang, uns von unserer Suche nach dieser ganzen Weisheit und den Edelsteinschlüsseln und Tempeln abhalten kann.“

„Nebenbei gesagt“, fuhr Raynor fort. „Habt ihr bemerkt, dass mein Vater angefangen hat, große Mengen von duftendem Tulsi[1] in unserem Garten zu ziehen?“

„Ja, hab ich…“, lachte ich. „Wozu?“

„In der Prophezeiung las ich, dass wir die getrockneten Blätter, die, wie ihr wisst, einen wunderbaren, scharfen Geruch abgeben, benutzen können, um uns vor bösen Menschen zu schützen.“

„Was meinst du damit?“, fragte Lee.

„Da steht ‚Tulsi wird die zerstörerischen Energien negativer Wesen zunichtemachen oder sogar die von gefährlichen Geistern’.“

„Klingt komisch. Funktioniert es?“

„Ja, das tut es. Neulich hat es mich gerettet. Hier, Asha, nimm diese Blätter und näh sie in kleine Beutel ein. Dann tragen wir sie um unsere Hüften oder so. Wir können nicht vorsichtig genug sein, da wir die bevorzugten Ziele für die Zauberer sein werden, wenn sie mehr über uns wissen.“