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Matthias Gerschwitz, Jahrgang 1959, lebt seit 1992 in Berlin. Er ist fasziniert von Geschichte und Geschichten. So entstanden Chroniken über Kneipen, Häuser, Marken und Unternehmen sowie eine Textsammlung zu Gedanken über den Gardasee. In Vorbereitung ist die Geschichte einer Berliner Straße, die im Zweiten Weltkrieg ihr Gesicht verlor.

Mit dem zweiten Band von »Endlich mal was Positives« legt Gerschwitz – nach seiner 2009 veröffentlichten sehr persönlichen Geschichte der 1994 festgestellten HIV-Infektion und dem Umgang damit – nun ein aktuelles Update zu vielen Themen der (noch) unheilbaren Immunschwächeerkrankung vor.

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über „http://dnb.ddb.de“ abrufbar.

© 2015 Matthias Gerschwitz

Lektorat: Dr. Johannes Dreger und Dr. Wolf Borchers

Herstellung/Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7386-7703-4

Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

www.endlich-mal-was-positives.de

www.matthias-gerschwitz.de

Wir brauchen nicht so fortzuleben,

wie wir gestern gelebt haben. Macht

euch nur von dieser Anschauung los,

und tausend Möglichkeiten laden

uns zu neuem Leben ein.

Christian Morgenstern (1871 – 1914),

deutscher Schriftsteller, Dramaturg,

Journalist und Übersetzer

Vorwort

»Nervt es eigentlich, wenn man Sie ständig als Erstes fragt, wie es Ihnen geht?«, wurde ich einmal von einem Journalisten gefragt. »Nein, eigentlich nicht«, antwortete ich, »denn ich weiß ja, dass es gut gemeint ist. Aber irgendwie werde ich mit dieser Frage immer auf die Viren reduziert – dabei gibt es an mir weitaus mehr und interessantere Facetten.«

Besser lässt sich die Diskrepanz im Umgang mit der HIV-Infektion nicht beschreiben. Die meisten positiven Menschen, die ich kenne, haben gelernt, mit ihrer Situation umzugehen, haben die Infektion akzeptiert und schauen nach vorne. Menschen, die bislang mit HIV (noch) nicht in Kontakt gekommen sind, können sich genau das nicht vorstellen. Für sie gilt viel zu oft immer noch die Gleichung »HIV = AIDS = TOD«, die aber schon seit Einführung der Kombinationstherapie Mitte der 90er Jahre ausgedient hat.

Als ich 2009 den nunmehr ersten Band von ENDLICH MAL WAS POSITIVES über meinen Umgang mit der Immunschwächekrankheit vorstellte, richtete ich auch eine Website mit Informationen rund um meine Person, das Buch und die Infektion ein. Ich war gespannt darauf, auf welchen Wegen die Besucher, speziell diejenigen, die durch ihre Fragen und Ängste zum Thema HIV oder Aids zu »www.endlichmal-was-positives.de« finden würden. Die mit Abstand häufigste Frage befasste sich mit der Lebenserwartung: »Wie lange lebt man mit HIV?«, gefolgt von »Wie lange lebt man ohne Medikamente mit HIV?« Dies sind offensichtlich die größten Sorgen in Zusammenhang mit der Infektion. Hat man sich aber erst einmal ernsthaft mit HIV befasst, wendet sich der Blick. In den Pressereaktionen auf mein Buch und die Lesungen daraus sowie in den Gastkommentaren auf der Website gibt es viele Belege für Aha-Erlebnisse, die ich in Zusammenhang mit HIV vermitteln konnte.

Offensichtlich sind Aha-Erlebnisse aber nicht genug. Die Angst, HIV sei nach wie vor tödlich, spukt immer noch in viel zu vielen Köpfen. In einschlägigen Internetforen steht zu lesen: »Wenn der Test positiv ist, kann ich nicht weiterleben«, »Ein positives Testergebnis würde meine Zukunftspläne zerstören« oder »Wenn ich HIV habe, ist mein Leben kaputt«. Wie kommt es, dass so viele Menschen Angst vor HIV haben, sich aber der Aufklärung verweigern? Die beinahe schon klassisch zu nennende Antwort gibt eine verzweifelte Mutter, die im Februar 2014 in einem HIV-Forum von der Infektion ihres Sohnes schrieb: »Ich habe immer gedacht, dass so etwas in meiner Familie nicht vorkommt.«

Im Juli 2012 wurde eine Umfrage veröffentlicht, in der das Meinungsforschungsinstitut YOUGOV im Auftrag der DEUTSCHEN PRESSEAGENTUR (dpa) herausfinden wollte, wie es um die HIV- und Aids-Aufklärung der Bevölkerung in Deutschland bestellt sei. Anlass war das 25-jährige Bestehen der Gib AIDS keine Chance-Kampagne der BUNDESZENTRALE FÜR GESUNDHEITLICHE AUFKLÄRUNG (BZgA). Das Ergebnis ist alarmierend: 45 Prozent der Befragten gaben an, sich nicht ausreichend über die Immunschwächekrankheit informiert zu fühlen. Als Grund für den Wissensmangel wurden vorrangig die zusammengestrichenen Budgets genannt.

Daran alleine kann es aber nicht liegen. Trotz stetig gekürzter Geldmittel werden Aidshilfen, Aktivisten und auch viele Betroffene nicht müde, Aufklärung zu leisten. Es fehlt also nicht am Willen, etwas zu tun – es fehlt offensichtlich nach wie vor am Bewusstsein der Bevölkerung, dass sich HIV eben nicht auf Rand- oder Risikogruppen beschränkt, und dass es in den letzten 20 Jahren erhebliche Fortschritte in der Behandlung gegeben hat. Aber das ist draußen wohl noch nicht angekommen. Ein Grund mehr, den aktuellen Stand der Infektion zu beleuchten und sich dem Umgang mit der Infektion und seinen Besonderheiten zu widmen.

HIV ist eine Krankheit, die jeden treffen kann; das Virus ist nicht wählerisch. HIV ist aber auch eine Krankheit, vor der man sich in den weitaus meisten Fällen selbst schützen kann. Voraussetzung dazu sind Wissen und die Bereitschaft, lieb gewonnene Vorurteile aufzugeben. Beides soll dieses Buch durch die Beleuchtung verschiedener Themenbereiche rund um HIV ermöglichen und zu der Erkenntnis führen, dass es immer mehr Positives zu berichten gibt, insbesondere aber: Was HIV ist – und was es vor allem nicht mehr ist.

Worum geht's hier eigentlich?

Im Mittelpunkt steht die Infektion mit HIV (Human Immunodeficiency Virus / Menschliches Immunschwäche-Virus) und den Einfluss auf das Leben. Allerdings ranken sich so viele Mythen um das Thema, dass zunächst einige grundlegende Dinge erklärt werden sollen.

Welche Ansteckungsrisiken gibt es?

Im Vergleich zu anderen Krankheitserregern ist eine Infektion mit HI-Viren schwerer möglich. Voraussetzung ist, dass bei einem Beteiligten eine Infektion vorliegt und dass eine ausreichende Menge Viren (in einer infektiösen Körperflüssigkeit) sowie eine ausreichend große Eintrittspforte vorhanden sind.

Welche Virustypen gibt es?

Im Zuge meiner Arbeit für ein Onlineforum zum Thema HIV tauchen immer wieder Fragen zu den bekannten Arten des Virus auf – zumeist in Zusammenhang mit der bangen Frage, ob der HIV-Test alle Typen und Subtypen erfasse. Diese Frage ist ein bezeichnendes Beispiel dafür, dass im Internet zugängliche Informationen oft weniger informieren als vielmehr verwirren. Es gibt tatsächlich nur zwei Typen von HI-Viren: HIV-1 und HIV-2. Sie unterscheiden sich zwar in ihrem Aufbau, nicht jedoch im klinischen Verlauf. Alle heute bekannten Subtypen lassen sich unter diese beiden Typen fassen.

In Westeuropa ist HIV-1 die am häufigsten verbreitete Virusart, HIV-2 ist dagegen selten. Allerdings sind in europäischen Ländern wie Portugal oder Frankreich, die eine traditionell enge Verbindung zu westafrikanischen Staaten pflegen, höhere Vorkommensraten von HIV-2 festzustellen, wie die PHARMAZEUTISCHE ZEITUNG (Ausgabe 12/2011) berichtet. Trotzdem bleiben, wie es weiter heißt, die Zahlen deutlich: Weltweit sind etwa 35,3 Millionen Menschen mit HIV infiziert, davon geschätzt eine bis zwei Millionen mit HIV-2. In Deutschland sind seit 1993 etwa 80 bestätigte Fälle einer Doppelinfektion sowie etwa 80 weitere, unsichere Fälle bekannt. Eine reine HIV-2-Infektion liegt in 31 Fällen vor, bei weiteren 40 wird sie nicht ausgeschlossen (Stand 2011). Die Wahrscheinlichkeit, sich in Deutschland mit HIV-2 zu infizieren, ist also gering. Aber: Ein HIV-Antikörpertest kann sowohl HIV-1 als auch HIV-2 mit allen Subtypen nachweisen.

Was passiert bei einer Infektion?

Ein Virus ist ein infektiöses Teilchen, das durch Übertragung in den menschlichen Körper Einlass findet, zur Vermehrung aber einer Wirtszelle bedarf. Üblicherweise wird das Immunsystem den eingedrungenen Mikroorganismus als Fremdkörper identifizieren. Diese Abwehraufgabe übernehmen die dendritischen Zellen (Fresszellen), die als erste Stufe der Immunantwort den Fremdkörper aufnehmen, einschließen und zerlegen. Danach wandern sie in den nächsten Lymphknoten, wo mit Hilfe der Antigene des zerlegten Erregers Lymphozyten – Helferzellen – gebildet werden, die mit den notwendigen Informationen ausgestattet sind, wie der Fremdkörper zu besiegen ist. Die Produktion dieser Helferzellen führt dazu, dass die Lymphknoten anschwellen, unabhängig von der Art oder dem Grund der Infektion. Die neu gebildeten Helferzellen verstärken nun das Immunsystem, das die Aktivität der eingedrungenen Viren stoppen und so den Ausbruch der Infektion verhindern kann.

Eine HIV-Infektion verläuft zumindest zu Beginn prinzipiell ähnlich, wobei es einen wesentlichen Unterschied gibt: Das HI-Virus gehört zu den sogenannten Retroviren (Reverse Transkriptase Onkoviren), die zu ihrer Vermehrung die menschlichen Helferzellen benötigen – sich also genau der Zellen bedienen, die eigentlich vor den Eindringlingen schützen sollen. Um diese zu befallen, muss das Virus an bestimmte Rezeptoren – quasi die Eingangstüren – an der Zelloberfläche andocken, um seine genetischen Informationen in die Immunzelle einzuschleusen. Auf diese Weise wird die Helferzelle zu einer Produktionsstätte für neue HI-Viren umgedreht, die wiederum weitere Helferzellen befallen. Wird eine HIV-Infektion nicht behandelt, führt sie letztlich zum Zusammenbruch des Immunsystems. Diese Phase kann – je nach Patient – zehn bis zwanzig Jahre dauern. Mit dem Zusammenbruch des Immunsystems können selbst vergleichsweise harmlose Krankheiten nicht mehr bekämpft werden können. Eine HIV-Infektion selbst ist also nicht lebensbedrohlich, aber sie schafft die Voraussetzungen für die sogenannten opportunistischen Infektionen, deren erstes Auftreten das Vollbild Aids kennzeichnen und die tödlich verlaufen können. Die Krankheitsfälle in den frühen 80er Jahren trafen Ärzte und Wissenschaftler, vor allem aber die Betroffenen, völlig unerwartet. Hier befanden sich die Patienten bereits im letzten Stadium. Damals gab es nur die Möglichkeit, die Infizierten bei Siechtum und Sterben zu begleiten – bis Mitte der 90er Jahre endlich eine funktionierende Therapie zur Verfügung stand. Seitdem sind auch die Phasen, in die der Verlauf einer Infektion zu Beginn eingeteilt wurde, nur noch theoretischer Natur.

Eine Krankheit verändert ihr Gesicht

Seit Mitte der 90er Jahre wird in der Behandlung von HIVinfizierten Patienten mit Erfolg die Kombinationstherapie eingesetzt: Die Anzahl der HIV- oder Aids-bedingten Todesfälle ist gegenüber den frühen Jahren der Infektion deutlich gesunken. Damals ging es darum, möglichst lange trotz des Virus zu überleben – heute geht es darum, bei stetig steigender Lebenserwartung die Lebensqualität auf einem hohen Niveau zu halten. Aus anfänglich zehn, vielleicht zwanzig Jahren mit der Infektion ist heute eine statistische Lebenserwartung geworden, die sich kaum noch von der eines HIV-negativen Menschen unterscheidet. Mit fortschreitenden Forschungserfolgen wird auch diese letzte Differenz noch verschwinden. Eines lässt sich allerdings nicht verhehlen: Mit etwa 35 Jahren ist die Krankheit noch recht jung; die Kombinationstherapie mit nicht einmal 20 Jahren noch viel jünger. Und: Auch die Therapie kann die HI-Viren nicht aus dem Körper entfernen – HIV ist nach wie vor unheilbar. Zum heutigen Zeitpunkt sind daher noch keine mittel- oder langfristigen Auswirkungen der Infektion und/oder der notwendigen regelmäßigen Medikamenteneinnahme bekannt. Als gesichert jedoch gilt, dass die durch die Therapie erfolgende Absenkung der Viruslast (VL) unter die Nachweisgrenze (< 20 Kopien/ml Blut) die Gefahr eines Immundefektes umfänglich reduziert. Und je niedriger die Viruslast, desto geringer ist auch die Gefahr einer Ansteckung. Wer heute über einen längeren Zeitraum unter der Nachweisgrenze liegt und einige andere Kriterien erfüllt, gilt als nicht mehr infektiös. Die Therapie ermöglicht den meisten positiven Menschen also ein (fast) normales Leben.

HIV ist von der tödlichen Krankheit zur chronischen und damit behandelbaren Infektion geworden. Sie hat, vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet, viel von ihrem früheren Schrecken verloren – Angst muss man vor HIV nicht mehr haben. Aber Respekt. Nicht nur vor der Infektion an sich, sondern auch vor denen, sie sich mit dem Virus infiziert haben. Dies ist kein Grund zur Entwarnung, aber ein Aufruf zum bewussteren Umgang mit der eigenen Gesundheit. Und zum bewussteren Umgang mit erkrankten Mitmenschen. Wer HIV-positiv ist, steckt nämlich nicht automatisch andere Menschen an. Wer aber den Schutz seiner Gesundheit in die eigenen Hände nimmt, kann sich vor einer Infektion (und mehr) schützen.

What’s the difference: HIV und Aids

»Das einzig Positive heute war der Aids-Test.« So lapidar sind wir, auch ich, in den 80ern noch mit dem Thema HIV umgegangen. Damals war ich noch der festen Überzeugung, dass es mich nicht treffen könnte. Wie man sich doch täuschen kann.

In diesem Satz steckt ein gravierender Fehler. Wenn auch heute viele Menschen von Aids-Test sprechen, so ist es doch schon seit der ersten Verwendung der falsche Begriff. Aids lässt sich nicht durch einen Test nachweisen; und eine Krankheit im klassischen Sinne ist es auch nicht.

Als ich 1997 meinem damals 13-jährigen Neffen anlässlich eines seiner Berlin-Besuche von meiner HIV-Infektion erzählte, war seine erste Reaktion: »Du hast Aids???«, die schon damals die babylonischen Sprachverwirrung belegte, die sich bis heute nicht aufgelöst zu haben scheint. Denn immer noch werden die Begriffe verwechselt.

Bei meinen Lesungen in Schulen oder anderen Bildungseinrichtungen stelle ich gerne die Frage, ob der Unterschied zwischen HIV und Aids bekannt sei. Manchmal kennen ihn die Zuhörer, manchmal nicht, manchmal geraten die Erklärungen durcheinander. Die schönste Beschreibung hörte ich in der Jugendstrafanstalt Wiesbaden, wo im November 2013 ein dort einsitzender junger Mann mit dem Brustton der Überzeugung sagte: »HIV ist die Vorbereitungsphase auf Aids.« Ich gebe zu, ich musste herzlich lachen – auch wenn das berühmte Gran Wahrheit in der Antwort steckt. Aber eine so hinreißende Formulierung habe ich davor und danach nicht wieder gehört.

Worin liegt nun der Unterschied?

Mit HIV bezeichnet man die Infektion – mit Aids den Zustand des Körpers nach dem Zusammenbruch des Immunsystems. Aussagen wie »Ich bin HIV-positiv« oder »Ich habe HIV« belegen, dass HI-Viren bzw. HIV-Antikörper im Blut festgestellt wurden. Nun liegt es am Betroffenen, ob er sich in ärztliche Behandlung begibt und/oder einer medikamentösen Therapie zustimmt. »Besser is' das«, würde der Norddeutsche sagen, denn nur eine behandelte Infektion reduziert die Ansteckungsgefahr und das Risiko, dass sich die Infektion zum Vollbild Aids entwickelt.

Dass Aids nach wie vor Bestandteil vieler Namen wie Aidshilfe und Bezeichnungen wie Welt-Aids-Tag ist, liegt wohl vorrangig daran, dass dieser Begriff schon länger verwendet wird. Der allererste Name GRID (Gay Related Immune Disease), der im Deutschen salopp mit Schwulenseuche übersetzt worden war, wurde 1982 durch Aquired Immune Deficiency Syndrom/Erworbenes Immunschwächesyndrom oder kurz Aids ersetzt. Erst 1986 hielt die Bezeichnung HIV für das Virus Einzug in den Sprachgebrauch. Mittlerweile ist der Begriff Aids aber wohl so etwas wie eine Marke geworden und klingt vielleicht – sogar wahrscheinlich – einfach bedrohlicher. Spätestens wenn es in Boulevardzeitungen um prominente Betroffene geht (wie z.B. 2009 die NO ANGELS-Sängerin Nadja Benaissa), wird gerne der falsche, aber plakativere Begriff »Aids« verwendet.

Die Mär von den Symptomen oder: Der Dämon in meinem Kopf

»Ich bin 25 Jahre jung und denke seit 8 Jahren, dass ich HIV-positiv sein könnte. Ich weiß zwar, dass ich einfach einen Test machen könnte und auch sollte, anstatt fast täglich zu rätseln oder anhand von Symptomen zu glauben, dass ich es habe. Nur habe ich einfach eine große Angst vor einem positiven Ergebnis. Ich wüsste auch nicht, wie meine Familie oder Freunde damit umgehen würden.« (aus einem Internetforum, 4. September 2014)

Sie scheinen unausrottbar, die »Symptome«, an denen HIV untrüglich zu erkennen sein soll. Immer wieder wird von »grippeähnlichen Symptomen« oder »Nachtschweiß«, von »Ausschlag« oder »Gelenkschmerzen« unweigerlich auf eine Infektion geschlossen, obwohl gerade diese Begriffe selbst für ausgebildete Mediziner so diffus sind, dass sie alle möglichen Ursachen haben können. Und genau so ist es auch: Alles, was man im Internet an angeblich typischen Symptomen findet, kann völlig andere Gründe als eine HIV-Infektion haben – und hat in der überwiegenden Mehrzahl auch andere Ursachen. Erschwerend kommt hinzu, dass es Infektionen gibt, die, wie z.B. bei mir, völlig symptomfrei verlaufen. Es ist also auf nichts mehr Verlass -– weder auf das Vorhandensein noch auf die Abwesenheit dieser angeblichen Begleiterscheinungen.

Seit Jahrzehnten ist Selbstmedikation bei Krankheiten aller Art für viele Menschen zu einer Normalität geworden. Die Pharmaindustrie bietet eine große Anzahl freiverkäuflicher Arzneimittel, die Krankenkassen werden immer knauseriger in der Erstattung von Medikamentenkosten, und in der latenten Unsicherheit des Arbeitsplatzes liegt begründet, dass statt eines vielleicht notwendigen Arztbesuches während der Arbeitszeit lieber erst einmal selbst herumgedoktert wird.

Das Internet treibt diese Do-it-yourself-Mentalität noch auf die Spitze. Nun reicht die Selbstmedikation nicht mehr aus, jetzt kommt die Eigendiagnose dazu. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, Ärzte und medizinisches Personal seien nicht mehr notwendig; WIKIPEDIA und GOOGLE geben auf alle Fragen eine Antwort. Und so verbreitet sich auch die Mär von den Symptomen fröhlich weiter.

WIKIPEDIA beschreibt die akute Phase einer HIV-Infektion so: »Diese ist durch Fieber, starken Nachtschweiß, Abgeschlagenheit, Hautausschläge, orale Ulzerationen oder Arthralgie (Gelenkschmerzen) gekennzeichnet. Wegen der Ähnlichkeit mit grippalen Infektionen bleibt die akute HIV-Infektion meistens unerkannt.« Abgesehen davon, dass der Begriff orale Ulzerationen – Geschwüre im Mundbereich – eine nicht gerade populärwissenschaftliche und daher für den durchschnittlichen WIKIPEDIA-Nutzer unverständliche Formulierung ist, müsste der letzte Satz eigentlich richtig heißen: »Durch diese Definiton werden grippale Infektionen aus Angst schnell zur unheilbaren HIV-Infektion hochstilisiert.« Denn es steht wohl außer Frage, dass es pro Jahr mehr grippale Infekte als neu diagnostizierte HIV-Infektionen gibt.

Die bei WIKIPEDIA und auf anderen Webseiten im Zusammenhang mit HIV beschriebenen Symptome sind zumeist erst nach einem positiven Testergebnis – also aus der Erinnerung heraus – aufgezeichnet worden. Leider steht dies aber nirgendwo. Und so werden Menschen, die sich nach einem tatsächlichen oder angeblichen Risikokontakt hektisch über HIV zu informieren suchen, auf alle diese Symptome, die sie auch an sich erkannt haben wollen, aufmerksam und machen in den meisten Fällen den ersten gravierenden Fehler: Sie ziehen Umkehrschlüsse, die nicht nur falsch, sondern sogar gefährlich sind. Wurde im Rahmen eines positiven HIV-Tests z.B. von Nachtschweiß berichtet, wird sofort daraus geschlossen, dass das Auftreten von Nachtschweiß gleichbedeutend mit einer HIV-Infektion sein müsse. Dass Nachtschweiß viele unterschiedliche und auch harmlosere Gründe haben kann, wird ausgeblendet. Dies gilt sinngemäß für alle Symptome, die im Internet zu finden sind. Denn nach wie vor gibt es kein einziges Symptom, das ausschließlich auf eine HIV-Infektion hinweisen würde.

Der zweite große Fehler ist die häufig auftretende Selbstüberschätzung in der Diagnose bzw. der Deutung medizinischer Fachbegriffe. In dem HIV-Forum, in dem ich als Betroffener informiere und Fragen beantworte, finden sich solche Fälle häufig: