Zur Erinnerung an meine Mutter

Trude Müller-Teut (1895-1986)

Malerin des deutschen Impressionismus

Copyright : Olaf Müller-Teut

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7392-7690-8

Überhastet euch nicht, sondern gehe jeder seinen natürlichen Gang!

Ihr seid sicher, ans Ziel zu gelangen.

Laufet nicht!

Aber vor allem, bleibt nicht stehen!

Die Religion ist eine Straße zu Gott. Eine Straße ist kein Haus…

Es ist für alle die gleiche Straße.

Aber manche sind schon lange unterwegs, da rückt das Ziel näher …

Swami Ramakrishna (1836-1886)

aus Romain Rolland

“Das Leben des Ramakrishna“,

Rotapfelverlag 1964

In the afternoon they came unto a land

in which it seemed always afternoon.

All round the coast the languid air did swoon, breathing like one that hath a weary dream.Full-faced above the valley stood the moon.

Alfred Tennyson (1809-1892)

“The Lotos-Eaters” (1832/1842)

1

Er stellte die Jazzmusik noch lauter. Miles Davis und Sonny Rollins. Rhythmen die ihn inspirierten, Musik, die den Raum ausfüllte. Irene rief er zu: “Diese Musik schreit nach Farben, nach visuellem Ausdruck!”

Rolf rückte seinen Schemel zur Seite, ging zweimal, dreimal um die Staffelei herum, blieb schließlich davor stehen und verstärkte den plastischen Ausdruck des Ölbildes durch mehrere heftige Pinselstriche. Irene beachtete er nicht. Sie schaute ihm seit einer halben Stunde zu. Sie wusste, dass er nicht gestört werden möchte, aber eine liebevolle Betreuung schätzte, ja geradezu erwartete. So hielt sie Fingerfood und eine Kanne dampfenden grünen Tee für ihn bereit. Er könnte ja unerwartet aufstehen, nach den Sandwiches greifen oder nach einem Glas Tee, und dann erneut durch das Zimmer eilen und seine Emotionen durch so etwas wie einen Urschrei befreien.

Das Atelier hatte drei große Fenster ohne Gardinen, Rolf liebte sonnendurchflutete Räume. Irene hatte sich bemüht, den Raum wohnlich zu gestalten, mit Blumensträußen und einer kleinen Kommode mit zierlichen Intarsieneinlagen. Vergeblich. Rolf verstellte regelmäßig alle Schränke mit seinen Bildern. Nur das Sofa neben dem rechtem Fenster und die zwei Beistelltische für Tee und Sandwiches lockerten die nüchterne Arbeitsatmosphäre auf. Immer wenn es die Arbeit in der Kanzlei erlaubte, besuchte Irene das Atelier und schaute Rolf beim Malen zu.

Wenn er malte, war er unberechenbar, etwas schien in ihm zu kochen. An einigen Tagen war er zärtlich und herzlich zu Irene, an anderen Tagen wirsch und kurz angebunden: „Stör mich nicht“ oder „Der Tee ist schon wieder zu heiß“.

Nachmittage voller Kreativität wechselten mit langen Stunden, in denen er nur vor sich hin starrte und kaum die Leinwand berührte. Die Musik drehte er dann bis zum Anschlag auf, so als würde sie ihm helfen, neue Energie zu tanken.

An solchen Tagen verließ er gelegentlich spontan sein Atelier, um mit Irene an der Außenalster zu joggen. Nach einer Weile beruhigte ihn das, er sprach von anderen Dingen, nur nicht von der Kunst und schon gar nicht von seinen Bildern, nein, nur von banalen Alltagsdingen oder von der Kanzlei. Es war, als lebte er in mehreren Welten zugleich, die sich nicht berührten.

Irene wollte ihm helfen seine Bilder zu verkaufen. Behutsam versuchte sie ihn davon zu überzeugen, dass er nur so mit seiner Kunst anerkannt werden könnte. Rolf schien das wenig zu interessieren.

„O ja, ausstellen möchte ich auch, vielleicht sogar einmal ein Bild verkaufen. Darum kannst du dich bemühen, ich habe momentan nicht die Kraft dazu.“

Vor einigen Monaten hatte Irene drei Bilder in Konsignation an eine Galerie moderner Kunst in Hannover gegeben. Der Händler bewunderte seinen ungewöhnlichen abstrakten Stil, die sinnlichen Farben, aber es fanden sich nur zwei Interessenten, die schließlich doch nicht kauften. Rolf kommentierte weder Erfolg noch Enttäuschung.

„Meine Bilder sind etwas Besonderes, das weiß ich. Kommt der richtige Zeitpunkt, werden sie bestimmt als solches anerkannt. Wahrscheinlich ist die heutige Zeit einfach noch nicht reif dafür, aber ich habe keine Eile.“

An Tagen, an denen er sich inspiriert fühlte, ver nachlässigte er die Anwaltskanzlei, ließ Termine platzen, informierte seinen Partner in barschem Ton und eilte in sein Atelier. Mandanten könnten warten. Irene, die ihm in der Kanzlei half, hatte anschließend Mühe, die Wogen wieder zu glätten.

Und dann kam der Tag, an dem ihn Georg besuchen wollte. Rolf arbeitete gleichzeitig an zwei Gemälden, ein Arbeitsstil, den er gelegentlich bevorzugte, so als befreie er seine Energie mit dem einen Bild und beruhige seine Emotionen mit dem zweiten. Das wichtigere war großformatig; dicke farbengetränkte Pinselstriche. Er verausgabte sich, er schrie, er stöhnte, er stampfte mit den Füßen, er lebte in Farben wie in einem Rausch. Es war, als müsste er sich von aller negativen Energie befreien, als würde er sein Karma säubern.

Als es draußen verstimmt klingelte, blickte Rolf verstimmt zur Wohnungstür und drehte sich demonstrativ zur Leinwand. Irene öffnete leise und ließ Georg in das Atelier eintreten, Er wollte sich über die neuen Bilder

informieren, da er in seinem kleinen Antiquitätengeschäft mitunter auch moderne Gemälde verkaufte.

Rolf und Georg kannten sich seit mehreren Jahren, gemeinsam hatten sie an der Kunstschule studiert. Seit seinem Unfall ging Georg etwas unbeholfen, und war bemüht, nicht an die Leinwände zu stoßen, um Rolf nicht zu stören. Rolf ignorierte ihn und malte weiter. Als Irene und Georg ganz leise miteinander sprachen, stand Rolf auf, stieß dabei seinen Schemel um und stellte die Musik noch lauter.

„Night and Day“ dröhnte es durch den Raum. Verstärkt konzentrierte er sich auf sein Bild.

Georg kannte das inzwischen. Er wusste, dass Rolf keine Ablenkung schätzte, dass er seine Emotionen nicht zu bändigen vermochte, wenn er seine „kreative Phase“ durchlebte, wie er es nannte. Irene brachte Georg ein Glas Tee, er lächelte dankbar und setzte sich, sie schwiegen. Er würde wiederkommen, morgen oder übermorgen.

Auf fremde Besucher wirkten seine schroffen Reaktionen beunruhigend, ja unhöflich. Rolf spürte nicht, dass er damit potentielle Käufer abschreckte.

Rolf arbeitete intensiv, er schien nicht zu merken, dass sich Georg leise von Irene verabschiedete. Eine halbe Stunde später legte er seine breiten Pinsel zur Seite, schob seinen Schemel vor die zweite Leinwand, einem kleinen Bild, einer dörflichen Landschaft, die verträumt in sich ruhte – ein total konträrer Stil, nun fast schon gegenständlich.

Bevor er an diesem Bild weitermalte, setzte er sich zu Irene auf das Sofa und trank mit ihr mehrere Gläser Tee. Er sagte nichts, aber kam wohl langsam innerlich zur Ruhe. Die Musik stellte er leise, gedämpfte Rhythmen von Stan Getz. Es war, als säße dort ein anderer Maler.

Nach zwei Stunden an dem kleineren Bild schob er den Schemel weg und setzte sich auf das dunkelblaue Ledersofa. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und lächelte Irene zu. Wie jung wirkte er jetzt, wie ruhig, wie sorgenfrei. Strähnen seines hellblonden Haares fielen ihm auf die Stirn. Er sah so gesund, so kräftig aus, viel jünger als seine 32 Jahre, so, als sei er noch immer der neugierige Student, der alles erkunden, alles probieren, alles erproben wollte. Das war wieder so einer der Momente, die Irene liebte.

Beide waren groß und sportlich, Rolf nur wenige Zentimeter größer und nur ein Jahr älter. Irene wirkte fast orientalisch mit ihrem dunkelbraunen Haar, dem sinnlichen Mund, der zarten, leicht gebräunten Haut. Rolf dagegen wie ein kräftiger Wikinger-Typ mit markantem Kinn und einer tiefen Stimme, die beruhigte, wenn es ihm gelang, sein inneres Feuer zu dämpfen.

Freunde meinten, sie seien ein ideales Paar, das sich perfekt ergänzte. Nur Irene in ihrer ruhigen, sachlichen Art vermochte seine abrupten Eruptionen zu bändigen. Sie liebte seine Spontaneität, seine Künstlernatur, schon damals, als sie beide Jura studierten, war das so. Rolf lebte in einer Traumwelt, die durch plötzliche Entschlüsse aufbrach, unerwartete Aktionen, mit denen niemand rechnen konnte. Manchmal fürchtete Irene, ihn dadurch zu verlieren. Nach so vielen Jahren.

Rolf tat nur solche Dinge, die er für richtig hielt, er fragte andere nicht, er wusste, dass er durch das unerwartete Erbe dem täglichen Erwerbsdruck entronnen war, dass es ihn auch vieler lästiger Pflichten entband.

Er kannte seinen Onkel kaum. Verschwommene Kindheitserinnerungen: Der große Garten, in dem er spielen durfte, ganz alleine, das Haus an einem Waldrand. An seine Tante konnte er sich nicht erinnern.

Späterhin, als Student, traf er ihn nur selten. Ein großer, eleganter Herr, ja, ein Herr, denn er wirkte immer so distinguiert, graue Schläfen, ein kleiner schwarzer Schnurrbart, sorgfältig gebundene, konservative Krawatten, die er sogar im Haus trug. Rolf achtete ihn, er bemühte sich, besonders höflich und aufmerksam zu sein, aber er vermisste die Herzlichkeit, die Wärme.

Dann, vor drei Jahren, erhielt er einen Anruf, sein Onkel sei verunglückt. Zu der Beerdigung kamen nur wenige Personen. Rolf stand in der letzten Reihe, er kannte niemanden, keinen der ehemaligen Kollegen des Onkels und seiner Freunde aus dem Schützenverein. Einige Tage später wurde Rolf zur Testamentseröffnung gebeten. Er erwartete zahlreiche Teilnehmer, stattdessen war er alleine mit dem Notar. Rolf war Alleinerbe, der Onkel hatte keine Kinder und keine anderen Verwandten. Das überraschte Rolf, er hatte seinen Onkel doch kaum gekannt und der Kontakt blieb lose, auch nach dem frühen Tod seiner Eltern.

Er beschloss, das Haus zu verkaufen und das Geld in kleine, moderne Wohnungen zu investieren, die sich schnell und gut vermieten ließen. Er wurde Partner in der Kanzlei und betreute dort nur wenige und möglichst unkomplizierte Fälle.

Nebenbei aber besuchte er die Kunstschule, nicht nur abends. An vielen Tagen vernachlässigte er die Kanzlei. Die Malerei wurde zunehmend sein Lebensinhalt. Rolf experimentierte mit Farben, mit Stilrichtungen, studierte die Formen des amerikanischen Expressionismus. Irene traute sich nicht zu fragen, ob er auch an der Kunstschule diese ekstatischen Ausbrüche hatte. Wenige Tage nach dem Besuch von Georg, an einem Sonntag, standen Rolf und Irene ungewöhnlich früh auf, frühstückten zusammen, um dann die klare Frühlingsluft an der Alster in Hamburg zu genießen, die Sonne, die schon Kraft hatte, die frühen Ruderer, die Schwäne, die das stille Wasser zerschnitten, die wenigen Frühaufsteher. Stille, beruhigende Farben, die immer mehr erwachten.

Sie joggten in gemäßigtem Tempo, so konnten sie dabei plaudern. Sie sprachen über einige Fälle in der Kanzlei und Irene berichtete von einem spannenden Roman, den sie gerade las.

Rolf schwieg eine Weile. Ganz leise begann er:

„Ich habe ebenfalls ein interessantes Buch gelesen, die Geschichte der Brooke Dynastie, der ´weißen Raja´, wie sie genannt werden, Engländer, die mehr als 100 Jahre über Malaien, Iban und Chinesen in Sarawak in Nord-Borneo, herrschten.“

Irene hörte ihm kaum zu. Sie war noch etwas verschlafen und genoss einfach die sanfte erfrischende Brise.

Rolf strich sich seine Haare aus der Stirn und erzählte nun etwas lauter: “Sie waren kleine Könige in einem unruhigen Land. James Brooke, der Gründer der Dynastie, kam 1839 nach Sarawak und segelte mit der ‘Royalist’ entlang des Sarawak Flusses nach Kuching, um den Raja Muda Hassim zu treffen. Er half ihm, Rebellen und Piraten zu bekämpfen. Nur drei Jahre später ernannte ihn der Sultan von Brunei zum Herrscher über Sarawak.”

Rebellen und Piraten, das klang nach einer jugendlichen Abenteuergeschichte, fand Irene.

„Die exotische Atmosphäre hat James Brooke betört und gleichermaßen seine Nachfolger Charles und Vyner, die das Herrschaftsgebiet erweiterten. Sie lebten bescheiden und waren bemüht, gerecht zu sein, was nicht immer ganz einfach war bei so unterschiedlichen Vasallen wie malaiischen Prinzen, Fischern, chinesischen Händlern und Minenarbeitern, Piraten und Iban – Kopfjägern am Rande der Urwälder. Sie verwalteten das Land, versuchten Streit zu schlichten und förderten den Handel.”

Offensichtlich war Rolf davon fasziniert, er hatte eine neue fremde Welt entdeckt.

Dann aber wurde Irene hellwach, sie war so überrascht, dass sie zunächst nichts sagen konnte.

“Ich denke seit Tagen darüber nach. Ich habe Fotos gesehen von riesigen Wäldern und bunten Vögeln, von lachenden Menschen in farbenfrohen Sarongs, neue Farben, eine andere, intensivere Welt, nur in Randzonen westlich geprägt, da, wo sie von modernen Einflüssen gestreift wurde. Ich glaube, dort könnte ich neue Anregungen bekommen, vielleicht sogar einen anderen Malstil entwickeln.

Irene, ich brauche neue Ideen, neue Farben, eine andere Umwelt! Ich möchte der Routine entfliehen, ich bin noch jung, vielleicht finde ich nicht nur neue Farben, sondern auch andere, unerwartete Aufgaben in Sarawak.“

Rolf strich sich erneut die Haare aus der Stirn, blieb stehen und sah Irene direkt an.

„Ich werde nach Kuching fliegen, um das Land kennenzulernen und neue Erfahrungen zu sammeln. Ich möchte Bilder malen, die etwas Besonderes vermitteln, Bilder, die meine Zeit überdauern. Unter Umständen bleibe ich einige Monate, vielleicht kann ich dort malen und arbeiten.”

Irene war stehen geblieben, ihre Hände zitterten. Damit hatte sie nicht gerechnet. Es war ihr, als zerplatzten alle Träume. Sie war nicht Teil seiner Pläne und dabei hatte sie doch gefühlt, dass sie sich gerade in der letzten Zeit immer nähergekommen waren. Sie war ratlos, sie fühlte sich leer und enttäuscht. Zunächst vermochte sie gar nichts zu sagen und dann kamen nur einige banale Worte mit zaghafter, weicher Stimme: “Und die Kanzlei? Du kannst unmöglich alles liegen und stehen lassen.”

Rolf schwieg, ehe er ergänzte, so, als hätte er sie nicht gehört: “Die Iban respektierten auch James Brooke, den ‘weißen Rajah’. “.

Nur das. Er wisse nicht, was ihn erwarte.

“Wenn ich nichts erreichen kann, fliege ich eben zurück.”

Einfach so. Irene hatte Mühe ihre Tränen zu unterdrücken.

“Schau, mein Handteller, die gerade Linie bis zum Mittelfinger. Viel Geld werde ich verdienen. Ich glaube, ich habe ein Gespür für den internationalen Handel, für das Fremde, für andere Mentalitäten. Ich weiß noch nicht, ob ich ein guter Jurist sein kann, ja, sein möchte.”

Wenige Tage später reiste er, so, als sei es ein kurzer Ausflug. Zwei Koffer, einer davon gefüllt mit Leinwänden und Farben.

Dann kamen sporadische Nachrichten, fremde Namen, Orte, seltsame Bemerkungen. Für Irene war das Leben ohne ihn fade und hohl.

Ihr Entschluss stand fest: In den Ferien würde sie ihn an seinem Fluss besuchen, ohne Ankündigung, sie musste unbedingt wissen, ob es eine Zukunft für sie gab.

Inhaltsverzeichnis

2

“Dort, siehst du ihn? Nein, nicht so weit unten, weiter oben, wo sich die Bäume lichten, ganz unbewegt, blaues Gefieder, ein Ast, Blätter, ich kann ihn nicht mehr sehen, vielleicht war der Motor zu laut. Versuch doch bitte das Boot ganz leise ans Ufer zu steuern, ach ja, die Strömung, ich vergaß, schade.“

Irene war erregt, ihre Worte kamen hektisch, wie im Stakkato. Sie war begeistert von der Natur des Dschungels. Das Boot glitt dahin. Sie beruhigte sich, langsam ließ sie ihre Gedanken kreisen und genoss den Fahrtwind. Wann hatte sie Rolf zuletzt gesehen? Es waren einfach zu viele lange und einsame Monate.

Sie hatte sein Bild vor Augen, schlank und muskulös, aber auch fahrig und häufig nervös. Nie konnte er ruhig sitzen, kaum einmal wirklich zuhören, ständdig unterbrach er sie, wechselte das Thema, rieb sich die Augen, gähnte und strich sich die Haare glatt. Das war seit eh und je eine Angewohnheit von ihm. Und dennoch – sie konnte sich nicht losreißen, selbst jetzt nicht.

Seltsam, dass er ohne zu zögern davongefahren war. Das erinnerte sie an Paul Gauguin, den großen französischen Maler, der seine Familie im Stich gelassen hatte und in die Südsee emigriert war. Nur dass Rolf eben keine Familie hatte, nur Freunde, wenige Freunde – und natürlich sie, Irene. War das so? Damals im Frühling an der Alster fiel zum ersten Mal das Wort Sarawak. Sie konnte sich nicht entsinnen, ob er schon früher davon gesprochen hatte. Vielleicht war das ja ein alter Kindertraum oder war es einer seiner plötzlichen Einfälle, von dem Buch über die Brooke-Dynastie inspiriert?

Vom Sungei Baleh Fluss fuhren sie in den Sungei Gaat und dort sah sie die ersten Langhäuser.

Das Boot schaukelte, kleine Stromschnellen ließen es von einem Ufer zum anderen schlenkern. Irene hielt sich rechts und links am verwitterten Bootsrand fest. Gut, dass sie einen Hut trug, die Sonne brannte nicht nur, nein, sie stach, sie biss, immer mehr, immer mehr.

Der Bootsmann war freundlich, er sprach etwas Englisch und kannte offensichtlich den Weg. Irene vermutete, dass er ein Iban war.

Seltsame Vogelstimmen übertönten den Motorenlärm, Warnrufe, Lockrufe. Hinter den Uferbäumen verdeckte dichtes Gestrüpp die Sicht. Begann dort der echte Dschungel?

Unerwartet blieb das Boot in den Ästen eines umgefallenen Baumes hängen. Für Minuten stand die Luft, stickig und sumpfig. Der Schweiß floss in Bächen von ihrem Rücken. Sie versuchte jede unnötige Bewegung zu vermeiden. Als das Boot weiterfuhr, genoss Irene den erfrischenden Fahrtwind.

Das Boot erreichte einen schmalen Steg. Da kam schon Rolf langsam die steile Stiege des Langhauses hinunter. Er lachte ganz unbekümmert, genauso wie er in ihrer Erinnerung lebte.

“Ich freue mich! Ich wusste, du würdest kommen.”

Woher konnte er das wissen? Er sagte es nicht. Es gab hier doch keine Urwaldtrommeln oder geheimen Rauchzeichen.

Alles war plötzlich ganz einfach. So, als sei es ganz selbstverständlich, trafen sie sich hier am Rande des Dschungels, am Eingang eines Langhauses, nach vielen Monaten der Trennung.

Er sah selbstsicher aus, noch ein bisschen schlanker, braun gebrannt, sein blondes Haar war länger, es schien sich nur ein wenig an den Seiten zu lichten. Aber was war das? Sie war überrascht, er hatte sich einen Vollbart wachsen lassen. “Der steht dir gut.”

“Die Iban staunen bis heute darüber. Einige glauben, so ein Bart verleihe besondere Kräfte, das gilt hier als ein erstrebenswertes Attribut.”

Er trug Bermudas und ein braunes Batikhemd mit roten Blumen, seine nackten Füße steckten in weißen Turnschuhen. Sie hatte erwartet, dass er grau von Staub und von Schmutz sei. Stattdessen war sein Hemd makellos sauber, wies nicht einmal Schweißspuren auf und seine Schuhe sahen wie neu aus. Sie fühlte sich verschwitzt, ungewaschen, ungekämmt, wie ein Eindringling.

„Geh ganz langsam. Es ist heiß, du musst dich erst an die Temperatur gewöhnen, denn erst gegen Abend kommt eine leichte Brise auf.”

Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, behutsam, die Kerben der Stiege waren unregelmäßig.

Er half ihr. Sie spürte seine Hand, männlich, hart und kräftig. Sie zog ihre Schuhe aus, wie es üblich war, und betrat das Langhaus. Er lachte wie ein Junge.

„Hier gibt es keine Formalitäten. Du bist mein Gast und damit Gast des Langhauses. Das ist alles ganz unkompliziert, du bist willkommen.”

Sie hatte davon gelesen, von den Langhäusern, von der großen gemeinsamen Veranda, der Ruai, auf der die Familien den Tag verbrachten. Dennoch war sie überrascht über die zahlreichen Bewohner, Kinder und Alte, sie schüttelte viele Hände, hörte immer wieder neue Namen, die einfach an ihr vorbeirauschten, fühlte sich fremd, dunkle Gesichter blickten auf, Gespräche verstummten, um dann umso lebhafter erneut zu beginnen.

Sie sah vor allem Frauen, viele webten farbenfrohe Pua-kumbu-Decken.

“Die Männer kommen erst gegen Abend heim, von der Feldarbeit oder von der Jagd.”

Der Tuai Rumah, der gewählte Häuptling, der Headman des Langhauses, trug einen bunten Sarong und hockte auf der geflochtenen Matte, Rolf und Irene saßen ihm gegenüber. Sie hatte die üblichen Geschenke mitgebracht, Süßigkeiten, Zigaretten, eine Flasche Whiskey und als besondere Überraschung für die Kinder einen großen Kasten mit Lego-Bausteinen und -Figuren.

Der Alte, mit stark ausgeprägten Gesichtszügen, hatte einen warmherzigen Blick. Seine Arme und Beine waren mit Drachenmustern und Tierfiguren tätowiert und sogar sein Nacken, Zeichen für außergewöhnlichen Mut.

“Ich habe geträumt, eine schöne weiße Frau würde uns besuchen, mit braunen Haaren und strahlenden Augen. Träume sind wichtig, sie geleiten uns durch den Dschungel des Lebens. Träume können Reichtum bringen, Botschaften der Geister übermitteln.”

Er verstummte und sah sie ruhig an: “Ich wurde nicht enttäuscht.”

Er reichte ihr ein Glas Tee und kleine Stücke Reiskuchen. Sie erzählte von dem langen Flug, den Tagen in Kuching, der endlosen Bootsfahrt und dem freundlichen Steuermann.

Selbst hier spürte sie die Hitze. Immer wieder wischte sie sich den Schweiß aus dem Gesicht. Rolf