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Das Buch

Beruflich und auch sonst gestresst erfüllt sich Lisa einen Wunschtraum und nimmt eine Auszeit. Sie fährt für 9 ½ Wochen nach New York City. Neugierig und offen lässt sie erst einmal alles auf sich zukommen.

Vom ersten Moment an spürt sie das besondere Gefühl der neuen Freiheit. Am liebsten würde sie ihr Glück laut heraus schreien, da sie endlich einmal ohne Verantwortung ist.

Fast jeden Tag erlebt sie in ihrem selbst gewählten Exil Aufregendes und Neues, findet alles äußerst prickelnd und spannend.

Sie erkundet bereits in der ersten Woche temporeich und weitgehend zu Fuß ihre neue Umgebung, denn sie will ihren drei Besuchern, die nacheinander anreisen, alles zeigen. Ein anspruchsvolles Sightseeing-Programm steht bevor.

Nach der Hälfte der Zeit, alle sind wieder weg, kehrt Ruhe ein. Lisa reflektiert ihr Leben in New York City, die stets präsente Polarität und stellt sich viele Fragen, durchaus auch kritisch.

Ihr neues „Selbsf“-Bewusstsein führt sie zu der Frage, ob sie in New York dauerhaft leben möchte. Und was würde ihr Partner, ihre Familie und ihre Freunde dazu sagen? Nichts erscheint plötzlich wichtiger als die neu entdeckte Selbstbestimmung. So lernt sie zunehmend ihren eigenen Wert schätzen und begreift, dass das Urteil anderer gar nicht wichtig ist. Dabei schwankt sie ständig zwischen der Sehnsucht in New York City zu bleiben, um ein neues Leben zu beginnen und der Freude auf ihre Rückkehr nach Deutschland.

Die Autorin

Lisa Krämer, geboren 1963, lebt in Bad Kreuznach, ist Personalkauffrau und derzeit als Abteilungsleiterin im Personalbereich tätig. Neben dem Schreiben malt sie und treibt leidenschaftlich Sport. Daneben liebt sie gutes Essen und feinen Wein (vorzugsweise Chardonnay).

Weitere Informationen finden Sie unter: www.newyorkfuerblonde.de

Ich widme dieses Buch……
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Inhalt

Kapitel 1

Erst einmal ankommen - Die Anreise, Sounds and no silence

Kapitel 2

Mannahatta - Gummistiefel und der blonde Kolumbus

Kapitel 3

American Pie - Ein dickes Eichhörnchen und ein Vogelmann

Kapitel 4

Englischlehrer gesucht - Asienflucht und Männerattacke

Kapitel 5

Downtown - Ground Zero und der Sexiest Man Alive

Kapitel 6

Martini on the Rock(s) - Das Verhältnis zum Alkohol

Kapitel 7

Kunst oder Mode - Modekunst für Shopaholics

Kapitel 8

Bad Manners - Rüpel und Tierquälerei

Kapitel 9

Empire State of Food - New York Cut, Soul Food und Bagels

Kapitel 10

Hotdogs, das „Heidelberger“ und Baseball

Kapitel 11

Berühmter Blick auf die Skyline - Österreicher im Lichtermeer

Kapitel 12

Nur fünf Tage New York - Shoppinglust versus Shoppingfrust

Kapitel 13

Fremdheit - Harlem Renaissance und ein neuer Freund

Kapitel 14

Imagine - Strawberry fields forever

Kapitel 15

Times Square - Showtime!

Kapitel 16

Upper Lifting Class - Klischee und Polarität

Kapitel 17

Summer in the City - Das Event des Events und alles umsonst

Kapitel 18

Sex and the City - Robert und kein Date

Kapitel 19

In-Spots und Statisten - „Mein“ Promi und mein Kleid

Kapitel 20

Abschied - Amerikanische Turnschuhe

Freiheit

Epilog

Kapitel 1

Erst einmal ankommen - Die Anreise, Sounds and no silence

„I’m between two jobs and I’d like to improve my English communication skills.” Das war der erste englische Satz, den ich zu dem Beamten am John F. Kennedy Airport sagte, der mich streng und mürrisch musterte.

„Please let me take your finger prints.“ Ich legte langsam und gewissenhaft einen Finger nach dem anderen auf den Scanner.

„And your thumb“, hörte ich aus seinem Mund.

Was bedeutet „thumb“? Ich war ratlos.

„And your thumb“, wiederholte er mürrisch, und ich verstand es nach der dritten Aufforderung noch immer nicht. Schließlich nahm er entnervt meine Hand und drückte selbst meinen Daumen auf den viereckigen kleinen Kasten.

Auf seine misstrauische Frage, warum ich neuneinhalb Wochen bleiben wollte, antwortete ich stotternd: „Weil mein Englisch so schlecht ist.“ Na ja, wer „thumb“ nicht versteht, der muss Englisch lernen, so habe ich jedenfalls seinen gleichgültigen Blick gedeutet, mit dem er mich verabschiedete und mit einer lässigen Handbewegung durchwinkte.

Hier stehe ich also – in der Ankunftshalle des JFK Airport. Die erste Hürde, das Durchwinken des Immigration Officer, habe ich geschafft. Meine Nervosität hat mich zum Stottern gebracht. Die Angst bei der Einreise war durchaus berechtigt: Zahlreiche Besucher wurden schon heimgeschickt, weil der Wunsch nach einem Aufenthalt in den Staaten nicht plausibel oder gar zweifelhaft erklärt worden war.

Jetzt fällt die Anspannung ab, und ich bin nur noch gespannt darauf, was mich erwartet. Mich, die Business-Woman – rastlos, karriereorientiert, meist ungeduldig und neugierig, gelegentlich aber etwas unbedarft und wenig tiefgründig. Vielleicht, weil ich blond bin? Peinlich, dass ich „Mr. Ich-entscheide-ob-du-reindarfst“ nicht richtig verstanden habe. Deshalb schlage ich gleich in meinem Wörterbuch nach, wie denn die restlichen Finger im Englischen heißen. Wer weiß, wozu ich es noch brauchen kann?

Was hat mich eigentlich hierhergebracht?

Ich lebe in Bad Kreuznach, einer idyllischen Stadt an der Nahe, bin eine Frau im besten Alter und beruflich sehr engagiert. Ich bin tatsächlich zwischen zwei Jobs und will mein Englisch verbessern. Aufgrund meines Resturlaubs, Mehrarbeit und einer guten finanziellen Ausgangslage kann ich mir in diesen knapp zehn Wochen zwischen dem Ende des alten und dem Anfang eines neuen Jobs einen langgehegten Wunschtraum erfüllen – eine Reise nach New York inklusive eines längeren Aufenthalts!

Englisch zu lernen ist das erklärte Ziel. Bei meinen wochenlangen Planungen hatte ich zunächst überlegt, in New York ein Praktikum zu machen oder irgendwo zu jobben. Da sich aber bald schon abzeichnete, dass mich mindestens drei meiner lieben Mitmenschen in New York besuchen würden, entschloss ich mich, einfach so loszufahren.

Auch die Schwierigkeiten, in den USA für die Ausübung eines Jobs eine Erlaubnis zu bekommen, waren ein willkommener Grund, es beim Urlaubmachen zu belassen. Ich hatte mir vorgenommen, mich erst vor Ort zu entscheiden, was genau ich unternehmen wollte – alles Weitere würde sich finden.

Eine erholsame Auszeit habe ich mir schließlich verdient. Die letzten Wochen, in denen ich als Personalleiterin hundert Kollegen entlassen musste, weil die Firma, in der ich vier Jahre gearbeitet hatte, in die Insolvenz schlitterte, sind nicht spurlos an mir vorübergegangen. Ich bin müde, abgespannt, gestresst und ausgelaugt. Unter diesen Belastungen hat auch meine langjährige Beziehung gelitten. So soll diese Zeit in New York auch eine kleine Flucht aus dem privaten Alltag sein.

Wie bezeichnend, dass ausgerechnet meine Lieblingsserie „Sex and the City“ mich auf das Reiseziel New York gebracht hat. Durch diese Fernsehserie wurde ich das erste Mal neugierig auf die gewaltige Weltmetropole. Da wollen alle hin. Und doch wusste ich vom Big Apple kaum mehr als das, was ich der Serie entnehmen konnte. Aber ich wollte sie kennenlernen, diese mit Klischees und Sehnsüchten behaftete Stadt, „die niemals schläft“. Ich habe mich gefragt, was den Reiz ausmacht: Ist es vielleicht die Verlockung des „Land of the Free“ – der heimliche Traum, endlich so sein zu können, wie man sein will? Oder ist es die prickelnde Vorfreude auf das Ungeahnte, was auch immer es sein mag? Ist es nicht so, dass viele in diese Stadt gekommen sind, weil sie auf der Suche nach etwas waren, was sie bisher nicht gefunden hatten? Was erhoffe ich mir ganz persönlich? Ein Abenteuer? Noch habe ich keine Ahnung, auf was ich mich eingelassen habe.

Mein erster langer Tag

Der Flug mit Singapore Airlines war erholsam und wohltuend gewesen. Ich erkläre sie hiermit zur besten Fluggesellschaft der Welt! Nach schlechten Erfahrungen mit Billigfliegern war alles, was ich mit Singapore Airlines erlebt habe, ein wahrer Genuss. Die hübschen, zierlichen Stewardessen mit ihren langen bunten Kleidern und knallrot geschminkten Lippen machen ihren Job offensichtlich mit sehr viel Freude. Sie geben sich natürlich und sehr zuvorkommend. Die Verpflegung an Bord ist gut, es gibt feinen Wein und mehr als 40 Filme zur Auswahl. Danach habe ich aufgehört zu zählen. Der Blockbuster „Benjamin Button“ mit Brad Pitt ist allerdings langweilig – ein Grund, zwischendurch mal eine halbe Stunde die Augen zuzumachen.

Am 8.6.2009 betrete ich also amerikanischen Boden. Ein Taxi soll mich in die Stadt bringen, das habe ich schon zu Hause entschieden. Mit meinem großen, silberfarbenen Alukoffer, den ich mir extra für die Reise gekauft habe, scheint es mir bequemer, und ich betrachte die 45 Dollar plus Tip als meine erste sinnvolle Investition. Während ich aus dem Taxi heraus von weitem die gewaltige und endlos erscheinende Silhouette der Stadt zum ersten Mal sehe, stellt sich noch keine Euphorie ein. Stattdessen sage ich mir innerlich: „So, meine Liebe, jetzt bin ich da, und wir beide müssen miteinander klarkommen. Was machen wir damit? Wie gehen wir miteinander um?“

Werde ich New York positiv erleben? Viele Fragen spuken in meinem Kopf herum. Vor allem aber sind es Neugier und Gelassenheit und ein Gefühl, als ob mich diese Stadt erwartet hätte. Sie scheint sich ihrer Schönheit, ihrer Reichtümer und ihrer Eleganz durchaus bewusst zu sein. Ja, ich bilde mir ein zu spüren, dass New York mir wohlgesinnt ist, und das ist schließlich umgekehrt genauso.

Meine Vermieterin Susanna habe ich übers Internet kennengelernt. Viele, die in New York leben, vermieten einen Teil ihrer Wohnung („bedroom apartments“), denn die Mieten sind für eine Person allein oft nicht bezahlbar.

Ich inserierte meine Reise- und Anwesenheitszeiten, und Susanna antwortete mit einer netten E-Mail. Sie suchte eine Mitbewohnerin für ihre Wohnung, die aus einem Schlafzimmer und einem Wohnraum (1-bedroom) bestand. Einige Bilder waren der E-Mail angehängt. Der Schlafplatz befindet sich in Susannas Wohnraum. Sie schläft und wohnt in ihrem Schlafzimmer. Als ich die Raumaufteilung sah, sagte ich zunächst ab. Das Zimmer grenzt an die Küche, die nur durch eine Theke vom Raum abgeteilt ist, und an die Eingangstür. Ein Paravent soll dem Schlafbereich zwar Sichtschutz und etwas Intimsphäre bewahren, doch der Gedanke, dass eine fremde Person immer durch mein Zimmer müsste, um in ihr eigenes zu kommen, verschaffte mir zunächst Unbehagen.

Susanna blieb jedoch beharrlich und schickte mir weitere Mails. Schließlich überzeugte sie mich mit ihrer netten Art und der Information, dass sie selbst drei Wochen lang nicht da sein würde und ich dann das Apartment für mich ganz alleine hätte.

Anschließend war alles ganz einfach. Für eine kurze Urlaubsreise hätte ich wahrscheinlich ein Hotel bevorzugt, aber für 66 Tage schien mir eine häusliche Umgebung komfortabler.

So sagte ich ihr zu, und später stellte sich heraus, dass diese Wohngemeinschaft mit einer Fremden tatsächlich funktionierte.

Jetzt bin ich sehr zufrieden mit meiner Entscheidung, denn das Apartment ist fantastisch. Es ist ein modernes, schönes und einfach eingerichtetes Zimmer im 30. Stock – mit einem atemberaubenden Blick. Das Panoramafenster ermöglicht eine spektakuläre Sicht unter anderem auf das Empire State Building und Downtown. Gegenüber von meinem schmalen und hohen Bett stehen ein Schreibtisch und eine kleine Vitrine mit Büchern und vielen Fotos von Susanna und ihrer Familie. Daneben zieren ein paar Drucke die dunkelrot gestrichenen Wände. Hinter dem Paravent am Fußende des Bettes steht ein Fernseher und gegenüber ein schon etwas in die Jahre gekommenes helles Ledersofa, dem man leider ansieht, dass bisher anscheinend nicht alle Mitbewohner sehr rücksichtsvoll mit der Einrichtung umgegangen sind. Susanna stellt mir sogar einen eigenen großen und in der Wand eingebauten Kleiderschrank zur Verfügung. „Closet“ nennt sie ihn. Irgendwie hört sich das Wort seltsam an, in der Schule habe ich gelernt, dass Schrank „Cupboard“ heißt. Ich frage sie aber nicht, denn nach der Peinlichkeit am Flughafen will ich nun keine weitere riskieren. Es wird wohl stimmen.

In New York ist es nicht ungewöhnlich, dass in Wohnungen dieser Größe zwei bis vier Menschen leben, erzählt mir Susanna. Die Wohnungsmieten liegen zwischen 2.500 und 4.500 Dollar, je nach Größe, Ausstattung und Lage, so können sich nur die Besserverdiener ein Zuhause für sich allein erlauben.

Schön ist, dass diese Apartmenthäuser Tag und Nacht bewacht sind, über ein Fitness-Studio, eine Laundry (Wasch- und Trockenraum) und den Service der „Doormen“ verfügen.

Susanna übergibt mir die Schlüssel mit einer kurzen und knappen Einführung sowie einen handgeschriebenen Zettel, auf dem alles Wichtige noch einmal festgehalten ist. So auch der wohlgemeinte Hinweis, dass ich mir die Hände waschen soll, sobald ich von draußen das Apartment betrete. Seltsam, denke ich; doch noch am selben Abend werde ich verstehen, was sie damit meint.

Meine „Roommate“, knapp 30 Jahre alt, groß, schlank mit hennaroten, langen Haaren und strahlend weißen Zähnen, hat wenig Zeit, denn sie ist Sängerin und häufig auf der Suche nach Engagements. Sie lässt mich erst einmal allein, da sie zu einer Probe muss.

Ich öffne zuerst das riesige Schiebefenster, das sich nur schwer bewegen lässt. Anscheinend macht man das hier nicht sehr oft. Dann atme ich kräftig ein und lasse den Blick in alle Richtungen schweifen.

Die Aussicht auf die Skyline im Süden ist grandios. Rechts sind der Hudson River und links das berühmte Empire State Building zum Greifen nahe. Ich halte die Luft an. Dann geht mein Blick besorgt in die Tiefe, in der es wie in der Hölle brodelt. Dort befindet sich eine Auffahrt zu einem Tunnel, an dem die Busse tagein, nachtaus unter dem Hudson River hindurch nach New Jersey fahren. Mehrere autobahnbreite Straßen, aus denen jeweils drei weitere Straßen hervorgehen, führen in alle möglichen Richtungen. Von oben sieht es aus wie ein gigantisches Autobahnkreuz.

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Blick aus dem 30. Stock meines Apartmenthauses

Ich atme aus und halte die Luft einen Moment lang an. Es ist laut – nein, es ist sehr laut! Einige Minuten später stelle ich fest, dass ich wegen des brüllenden Lärms bei offenem Fenster gar nicht telefonieren kann. Und nach meiner ersten Nacht weiß ich, dass es unmöglich ist, nachts bei geöffnetem Fenster zu schlafen, auch mit Ohrenstöpseln.

Zunächst telefoniere ich via Internet mit meinem „Mr. Big“, der mich schon jetzt sehr vermisst. Für ihn war es nicht einfach, dass ich ihn alleine lasse. Es war auch für mich nicht einfach, ihm und meinen Mitmenschen zu erklären, wie wichtig mir diese Reise und der Abstand zu allem sind. Wenige haben verstanden, dass ich es bevorzuge, in dieser Übergangsphase ganz für mich zu sein und zur Abwechslung einmal nur Verantwortung für mich selbst zu übernehmen, gerade nach den letzten Monaten. Ich möchte wissen, wie sich Freiheit anfühlt, das Recht habe ich, und ich nehme es mir heraus. Und ich habe überhaupt kein schlechtes Gewissen, denn diese Reise wollte ich mir ganz bewusst gönnen. Und ich werde sie auch genießen. Und schließlich gibt es ja Skype, über das man sich dank Webcam sogar sehen kann. Das entschädigt zwar nicht für die fehlende körperliche Nähe, ist aber ein kleiner Trost für ihn wie auch für mich.

Ich bin müde, spüre aber auch den Drang, mich nach dem langen Flug zu bewegen und endlich meine neue Umgebung kennenzulernen. Mit dem Aufzug fahre ich nach unten und bemerke jetzt erst, wie schön, elegant und vornehm die Lobby dieses insgesamt 35 Stockwerke hohen Apartmentgebäudes ist. Sie gleicht einer noblen Hotellobby, und hier geht es ähnlich geschäftig zu. An der Rezeption steht ein Computerterminal, Nachrichten für die Bewohner und andere Informationen können dort abgerufen werden. Post und andere Zustellungen werden hinterlegt, und Besucher müssen sich bei den Doormen anmelden, bevor sie den Aufzug zu den Apartments nehmen dürfen.

Ich verlasse das Apartmenthaus, das sich in der 42. Straße, zwischen der 9th und 10th Avenue, in der Hell’s Kitchen „Neighborhood“ (Wohngegend) befindet, aber davon später mehr.

Es ist jetzt 13 Uhr. Der Juni garantiert auch in New York angenehme Temperaturen. Die Sonne scheint, und ein leichter, frischer Wind weht durch die Straßen. Ohne ein Ziel zu haben, laufe ich zur 9th Avenue, die sich nur einige Meter entfernt befindet. An der Kreuzung bleibe ich erst einmal stehen. Was hier um die Mittagszeit los ist! Zahlreiche Autos, unzählbare Yellow Cabs, riesige und krachende LKWs und schwarzen Ruß ausstoßende Busse in mehreren Reihen dicht an dicht – stop and go. Und über alldem: Abgasgestank und lautes Dröhnen.

Das Straßenbild wird hauptsächlich von den Yellow Cabs bestimmt, die sich unerhört frech und rücksichtslos durch das dichte Gedränge durchkämpfen. Auch die etwa acht Meter breiten Bürgersteige sind voller Menschen. Ich drehe mich in alle Richtungen. Hinter mir befindet sich ein abrissreifes, knallgelbes Haus mit abgeblätterter und verwitterter Wand- und Reklamebemalung. Ein erbärmlicher Anblick.

Ich werde von einem Passanten angerempelt. Er sieht mich nicht! Nur ein flüchtiger Blick, während er die Straße überquert, und dann schaut er wieder nach unten.

Ein solches Verhalten ist mir, als einem Menschen mit einem offenen Blick, völlig fremd. Ich sollte nicht so lange auf einer Stelle stehen bleiben, das macht man hier wohl nicht. Also weiche ich ein paar Schritte nach hinten zur Hauswand zurück, um das Szenario in Ruhe betrachten zu können. Die 42. Straße, in deren Nähe sich auch der Times Square befindet, scheint ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt zu sein.

Gegenüber befindet sich ein Imbiss – hier verkauft ein Pizzabäcker über die Theke große Pizzastücke für nur 99 Cent; von weitem sieht es sogar appetitlich aus. Etwas weiter daneben steht ein schmales, dreistöckiges heruntergekommenes Hotel; die Fenster sehen aus, als wären sie ein Jahrzehnt lang nicht geputzt worden.

Wohin ich mich auch wende, überall entdecke ich banale und dabei doch aufregende Dinge. Am meisten beeindruckt bin ich von den in einer Reihe stehenden Glasriesen mit Spiegelfronten und glanzvollen Fassaden, die in die Höhe ragen. Eines dieser hohen Buildings wird von unten ausgehend breiter, was ungewöhnlich ist. Ich habe gelesen, dass die New Yorker Stadtplaner den Bauherren zur Auflage machten, die Gebäude terrassenförmig, von unten nach oben schmaler werdend zu bauen, damit Sonnenlicht in die Straßen dringen kann. Später genügte es, wenn man offene Plätze im Umkreis schuf. Viele der jüngeren Hochhäuser verfügen über wunderschöne Freiflächen und Gärten im Innenhof, die man von außen gar nicht sieht, stelle ich später fest.

Zu meiner Linken befinden sich ziegelrote Backsteinhäuser, die ebenso riesig sind. Dort kann man sich bestimmt auch einmieten. Ich bekomme gleich eine Nackenstarre! In der Ferne blitzt und blinkt es. Das lässt mich vermuten, dass der Times Square nicht weit ist. Aber der muss noch warten.

Busse brummen vorüber, um auf das sehr kompliziert wirkende Zubringersystem zu kommen, das die Menschen aus der Stadt hinaus nach New Jersey bringt. Ein Kurier auf einem Skateboard zischt an mir vorbei. Die Menschen scheinen mir äußerst geschäftig, eilig – sie sprechen in ihr Handy, essen oder trinken etwas im Gehen und schauen kaum auf; ein unglaubliches Tempo beherrscht die Stadt. Seit langem habe ich zum ersten Mal viel Zeit und komme mir dabei vor wie der langsamste Mensch der Welt.

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Geschäftige New Yorker

Ich entdecke einige Telefonkabinen, nach vorne hin offen, doch es ist viel zu laut zum Telefonieren. Ich bin verwirrt. Alles ist so gegensätzlich. Erst die fantastische Aussicht aus dem Fenster auf das Empire State Building, dann der Blick nach unten zur Verkehrshölle, die luxuriöse Lobby, die schmuddelige Ecke 50 Meter weiter, der freundliche Doorman, der mir die Tür öffnet, der ignorante, mich anrempelnde Passant. Wild wedelnde und den Verkehr mit ihren Trillerpfeifen regelnde Polizisten neben denen, die rücksichtslos bei Rot über die Straße eilen. Menschen mit Kopfhörern im Ohr, die an den Telefonkabinen vorbeieilen, in denen andere laut in den Hörer brüllen, weil sie selbst nichts verstehen, und die Masse steht nicht still. Das ist Großstadt, das ist Leben!

In der Ferne bilden eine ehrwürdige kleine Kirche und alte Backsteingebäude mit grüner Patina auf den Dächern einen bizarren Kontrast zu den Glasriesen, die in den Himmel ragen. Mir erscheint Hell’s Kitchen weniger als die im Reiseführer beschriebene Restaurantmeile – eher als die Hölle selbst.

Ganz hinten ragt die Spitze des berühmten Chrysler Buildings, das sich im Osten der Stadt befindet, aus dem Häusermeer. Dieses berühmte Gebäude macht mir gerade bewusst, wo ich mich befinde – in New York!

Ich schlängele mich ein paar Meter durch die vorwärtsdrängenden Menschenmassen hindurch, entlang der 9th Avenue in Richtung Süden. Ich habe von Anfang an den Vorsatz, mir die Stadt zu erlaufen. Jede Straße, jeden Park, jedes Gebäude und jede noch so unwichtige Kleinigkeit möchte ich unmittelbar wahrnehmen und erleben, und das ist nur zu Fuß möglich.

Um nicht als Touristin aufzufallen, passe ich mich meinen Mitmenschen auf der Straße unvermittelt an. Das „Jaywalking“, das Übertreten der Straße bei Rot, ist hier die Norm, was sicherlich auch ein Grund für das Verkehrschaos und das lautstarke Gehupe ist.

Bevor die Ampel rot wird, blinkt eine rote Warnleuchte in Form einer Hand. Ein guter Jaywalker beobachtet vorausschauend, ob die Autos noch stehen oder schon anfahren. Stehen sie, überquert man auf jeden Fall noch schnell die Straße. Wenn sie bereits anfahren, muss man eben schneller gehen. Und wenn sie rot ist und die Autos auf der Kreuzung stehen bleiben müssen, schlängelt man sich an ihnen vorbei.

Ich habe gelesen, dass man in New York den Kindern als erste Überlebensregel das Jaywalking beibringt. Früher stand auf den roten Ampeln „Don’t walk!“. Die Eltern lehrten ihre Kinder, dass „Don’t walk!“ nicht „Bleib stehen!“, sondern „Renn um dein Leben!“ heißt.

Aber Vorsicht, die Verhaltensweise der New Yorker verführt mich dazu, überhaupt nicht mehr auf den Verkehr zu achten und einfach loszulaufen. Ob die Bremsen der anbrausenden Yellow Cabs immer einwandfrei funktionieren, wage ich zu bezweifeln.

Vor den Fahrradfahrern muss man sich besonders hüten. Sie rasen kreuz und quer über die Straßen und biegen so schwungvoll um die Ecke, dass sie mit ihren Knien über den Boden streifen. Bei dem rücksichtslosen Verkehr ist Fahrradfahren eine Herausforderung. Dennoch tragen Radfahrer keine Helme, dafür aber ihre Fahrradschlösser als riesige Ketten um den Hals oder um die Hüften. Fahrräder werden hier offensichtlich oft geklaut.

Und schon eile ich mit der Menschenarmee bei Rot über die Straße. Manche überrennen mich fast oder rempeln mich an und sagen „Sorry“.

Werde ich dabei fast zu Boden geschleudert, sagen sie „I’m very sorry!“. Da ich schnell lerne und nicht im Weg stehen möchte, halte ich nahe den Häuserwänden immer mal wieder an, weil ich aus dem Staunen nicht mehr herauskomme. Nun blicke ich nach links und strecke meinen Hals: Dort steht das schlanke, anmutige und völlig verglaste Hochhaus der „New York Times“, das wohl größte Verlagshaus der Stadt, nach dem auch der Times Square benannt ist.

Erstaunt bin ich allerdings auch über den Schmutz. Die großen grünen, korbartigen Mülltonnen quellen über, und es stinkt aus allen Ecken. Es riecht auch nach verdorbenem Fleisch aus dem Supermarkt rechts, der zahlreiche Angebotsplakate im Schaufenster hängen hat, so dass man von außen nicht hineinsehen kann. Neugierig betrete ich den Laden und entdecke eine Metzgereitheke und Auslagen, die den Namen Frischfleisch nicht mehr verdienen. Hier werde ich bestimmt nichts kaufen.

Ein paar Meter weiter gibt es einen kleineren Lebensmittelladen, eine „Grocery“. Die Grocery Stores, auch Delis genannt, sind oft winzige Läden, in denen man fast alles bekommt, was man für den täglichen Bedarf benötigt. Von Gemüse, Wurst und Käse bis zu Taschentüchern, Toilettenpapier und Waschpulver. Meist bieten sie zusätzlich eine breite Auswahl frisch zubereiteter Salate, Sandwichs und weiterer warmer und kalter Speisen sowie Kaffee an. Und das an jedem Tag der Woche und zu jeder Stunde, nur eben nicht mit dem umfangreichen Produktsortiment wie in Supermärkten. Grocery Stores werden meist von Inhabern selbst geführt. Das Personal besteht häufig aus Familienmitgliedern, die ihre Stammkunden, deren Lebensgewohnheiten und -geschichten kennen. Dieser Laden sieht gepflegter und sauberer aus als der Supermarkt. Hier würde ich mit einem guten Gefühl einkaufen können.

Auf der gegenüberliegenden Seite entdecke ich sehr alte Häuser mit drei Etagen, an deren Häuserfronten außen die für New York typischen Feuerleitern angebracht sind. Im Erdgeschoss befindet sich ein Coffee & Tea Shop.

Noch ein paar Meter weiter sehe ich den Eingang des Busbahnhofs Port Authority, vor dem zahlreiche Polizeiwagen stehen. Möchte man die Menschen, die hier ankommen, verschärft im Blick haben? Das wirkt nicht gerade vertrauenerweckend, grüble ich und blicke dabei rechts in einen Aufenthaltsraum für die „Homeless People“, die dort einen Kaffee und eine Kleinigkeit zu essen bekommen. Manche der Obdachlosen sitzen draußen auf umgedrehten Kartons. Sie tragen den Schmutzfilm der Straße auf ihrer Haut und warten darauf, dass ihnen jemand ein paar Dollar in den Pappbecher fallen lässt. Sie lächeln freundlich und zahnlos, wenn man sie ansieht. Ich lächele zurück.

Ich habe noch Zähne, und ich habe auch einen warmen und sauberen Platz zum Schlafen und kann mir jeden Tag eine Mahlzeit leisten. Sie haben nur die Luft zum Atmen, sonst nichts. Sie haben ein Lächeln verdient. Ich glaube, sie bekommen nicht oft Blickkontakt.

Jetzt laufe ich an einem spanischen Restaurant vorbei, dann wieder an einem „Food Store “ und an einem Fischgeschäft, dessen frische Ware auf dem Eis zwar lecker aussieht, dafür aber auch bis auf die Straße stinkt. Ich schätze die Temperatur heute auf 30 Grad – zu heiß für frischen Fisch. Die Busse biegen auf ihren Zubringer, während ich einen neuen Geruch aus einem Kellereingang auf dem Bürgersteig wahrnehme: Chemikalien. Kein Wunder, denn vor der Reinigung steht die Kellertür offen. Die Kellereingänge auf den Bürgersteigen werden von schweren, aufklappbaren Eisentüren geschlossen gehalten. Sie ersetzen die Kellertüren, die bei uns üblicherweise im oder am Haus sind. Manchmal stehen sie offen, so wie hier gerade. Die Treppen führen vom Bürgersteig aus steil und tief hinunter. Das birgt Verletzungsgefahr für einen Schussel wie mich. Doch hier warnt vorbildlich ein orangefarbener Zylinder, der vor der offenen schweren Klappe steht.

Was für eine Vielfalt an Geschäften, Waren und Angeboten, die aber leicht zu erklären ist. Jede neue Einwandererwelle brachte neue Essgewohnheiten und Lebensmittel mit in die Stadt, das ist unschwer zu erkennen. Das Troy Turkish Grill Restaurant, eine Diner Galery, ein marokkanischer Imbiss und das Garden City Café, all das und mehr ist hier entlang der 9th Avenue angesiedelt.

An dem gigantischen Straßenkreuz, das ich von meinem Fenster aus gesehen habe, bin ich jetzt vorbei. Die Busse sind schon abgebogen, doch der Schwerlastverkehr, der durch die Stadt donnert, sorgt weiter für Lärm.

Nach acht Blocks, zwischen der 35. und 34. Straße, entdecke ich das erste Restaurant auf diesem Weg, das auf mich einladend wirkt. Uncle Jack’s Steakhouse bietet ein Steak für 45 Dollar an. Was sagt wohl derjenige zu dem Preis, der sich weiter oben vor fünf Minuten ein Stück Pizza für knapp einen Dollar gekauft hat?

Jetzt wird es auch auf der Straße etwas ruhiger, bis die Ampeln auf Grün schalten und der Verkehr in Richtung Downtown weiterzieht. Der Straßenbelag ist an vielen Stellen beschädigt, ausgebessert und geflickt. Die Löcher, die teilweise kleinen Kratern gleichen, werden nur provisorisch gestopft. Aber nicht alle, einige bleiben offen, sie sind dann mit orangefarbenen Streifen markiert, die die Fußgänger und Fahrradfahrer warnen sollen.

Übersieht man die Warnung, kann man sich einen Fuß brechen, so breit und tief sind sie. Dadurch sind die Straßen sehr uneben. An den Bordsteinkanten der Fußgängerüberwege fallen sie besonders schräg ab. Nach einem heftigen Regenguss muss man über großflächige Pfützen springen und vom Bordstein weit entfernt stehen bleiben, denn die Fahrzeuge nehmen keine Rücksicht. Sie spritzen beim Vorbeifahren einen braunen Wasserschwall auf jeden, der sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringt – ich sollte das noch am eigenen Leib erfahren.

Ich erreiche die 34. Straße, die in Richtung Süden die nächst größere und vielbefahrene Querstraße ist. Mit einem ohrenbetäubenden Lärm der Sirene rast eine Ambulanz mit Blaulicht an mir vorbei, wird aber von den anderen Verkehrsteilnehmern weitgehend ignoriert. Das ist alles überaus befremdlich für mich.

Als Entschädigung für den fast unerträglichen Krach lockt mich jetzt links in der Ferne das Empire State Building an. Es strahlt, von der Sonne beschienen, als ob es mich einladen wollte. Du musst noch warten, denke ich.

Ab der 34. Straße beginnt Chelsea, das Künstlerviertel. Das Stadtbild wird von kleineren und mittelgroßen kastenartigen, rotbraunen Backsteinhäusern geprägt – ganz anders im Vergleich zu den Häusern ein paar hundert Meter weiter oben. Einladende und sehr charmante Restaurants, attraktive Geschäfte mit eleganter Herren- und Damenmode, ausgefallenen Wohnaccessoires, edlem Porzellan und Glas und dazwischen immer wieder Grocery Stores.

Jetzt erst sehe ich, dass hier auch Bäume stehen – klein, mit dünnem Geäst und nur wenig Laub. Manche sehen ausgedorrt oder richtig krank aus, andere sind mit Blumenbeeten und einem niedrigen Eisenzaun eingerahmt, der diese kleinen Gärten vor Hundedreck schützen soll.

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Eingezäunte Minigärten sieht man oft in New York

Bezaubernd sind auch die unzähligen Winkel und Ecken, wie die Eingänge der Souterrainwohnungen, vor denen wunderschöne Kräuterarrangements in Kübeln aufgestellt sind. Eine Gruppe Kindergartenkinder trippelt an mir vorbei. Sie sind durch eine Leine mit Schlaufen untereinander und mit ihren Erzieherinnen verbunden. Die Kleinen halten sich sehr gewissenhaft an den Schlaufen fest; vermutlich hat man ihnen beigebracht, dass sie in den Menschenmassen und der Hektik sonst schnell verlorengehen könnten.

Ich sehe außerdem unzählige Hunde, was mich zunächst überrascht in einer Stadt, in der der Lebensraum knapp und teuer und von viel grauem Asphalt und wenig Grün bestimmt ist. Hier gibt es mehr Hunde als bei mir zu Hause im ländlichen Umfeld. Für die New Yorker gehören die treuen Vierbeiner offensichtlich zum Leben wie für andere ein Auto oder ihr Hobby.

Einige der sogenannten Dogwalker spazieren mit mehreren Hunden an der Leine an mir vorbei.

Ich wandere weiter und komme schließlich in der 14. Straße an. Hier beginnt das malerische Village, das sich geografisch ins West Village, Greenwich Village und East Village aufteilt.

Im Washington Square Park, dem grünen Zentrum des Village, setze ich mich zum ersten Mal hin. Ich beobachte die Menschen und die vielen Künstler, die die Besucher des Parks unterhalten. Zahlreiche junge Leute sind im Park, vermutlich weil er das Zentrum der New York University ist, eine der beiden Hochschulen der Stadt. Hier im Park ist es nicht so laut und betriebsam wie in den Straßen. Die Klänge der Musiker, Mütter mit ihren Kinderwagen, einige verliebt wirkende Paare auf Bänken – und ein Schwuler, der seinen Hintern auffällig an mir vorbeiwackelt, bringen mich zum Lächeln. Ich bin endlich angekommen! Mein Traum ist zur Realität geworden. Ich fühle mich plötzlich so glücklich, dass ich die fremden Menschen in meiner Nähe am liebsten umarmen und meine Freude laut herausschreien möchte. New York hat mich jetzt schon erobert.

Hinter dem strahlend weißen, imposant und prächtig anmutenden Brückenbogen des Parks, dem Washington Square Arch, der mich an den Arc de Triomphe in Paris erinnert, entspringt die berühmte 5th Avenue, der ich nach meiner kleinen Rast Richtung Uptown folge.

Plötzlich bleibe ich in der 23. Straße erstaunt stehen, weil viele Touristen in meine Richtung fotografieren. Ich drehe mich suchend um. Mich können die ja nicht meinen – ist ein Promi in Sicht?

Jetzt merke ich, dass ich vor dem wunderschönen Flatiron stehe, dem berühmten Haus in Bügeleisenform, das ich von Süden kommend nicht gleich erkannt habe.

Das Flatiron ist eine Hauptattraktion (man sagt hier auch „Landmark“) und das am häufigsten fotografierte Gebäude. Es wurde 1902 erbaut und ist 20 Stockwerke hoch. Bei seiner Fertigstellung war es eines der größten Bauwerke der Stadt. Besonders ist, dass die Schmalseite an der Straßenkreuzung lediglich zwei Meter breit ist.

Ich habe gelesen, dass die aerodynamische Form des Gebäudes dazu führt, dass sich in den Straßen starke Winde bilden. Frauen müssen daher aufpassen, dass ihre Röcke nicht hochgeweht werden. Es heißt auch, dass in den frühen Tagen des Gebäudes Männer genau deswegen zum Flatiron gekommen sind, um den damals seltenen Anblick unbedeckter Frauenbeine erhaschen zu können.

Als ich den Bryant Park erreiche, ist es bereits früher Abend. Der Park liegt an der 42. Straße zwischen der 5th und 6th Avenue und befindet sich somit ganz in der Nähe meines neuen Zuhauses. Da die meisten Apartmenthäusern und Wohnungen Manhattans nur selten Balkone besitzen, leben die New Yorker ähnlich den Südeuropäern im Sommer viel draußen. Überall im Park und auf der Wiese stehen zahlreiche dunkelgrün lackierte schmale Tische und Stühle aus Metall. Es wird gegessen, getrunken, geredet und gelesen. Mein erster Eindruck ist, dass es sich um ein Restaurant handeln muss. Doch ich erkenne schnell, dass die Bänke, Stühle und Tische für alle da sind und offenbar jeder, der Platz findet, in die gesellige Runde eingeladen ist. Diese Einladung nehme ich gerne an, stelle mich allerdings an die Freiluftbar und trinke einen kühlen, spritzigen Chardonnay. So komme ich in den Genuss meiner ersten Afterwork-Parkparty zwischen den Anzug und Kostüm tragenden Berufstätigen, die ihren Feierabend genießen. Ich finde es herrlich, so zu tun, als wenn ich heute auch gearbeitet hätte. Ich bin ziemlich fertig nach dem langen Tag, außerdem müde und abgespannt. Und ich bin jetzt auch vom Schmutzfilm und Geruch dieser aufregenden Stadt überzogen. Unterwegs musste ich mir ständig mit dem Wasser aus meiner Trinkflasche die Hände waschen. Alles fühlt sich dreckig an, die Türgriffe der Eingänge, die Handläufe an Rolltreppen, die Druckknöpfe im Fahrstuhl, einfach alles. Jetzt wird mir auch Susannas Hinweis verständlich. Hygiene ist in dieser Stadt ein anstrengendes Unterfangen. Später bekomme ich mit, dass Susanna immer eine Lotion in der Handtasche hat, mit der sie zur Desinfektion immer wieder ihre Hände einreibt, wenn sie unterwegs ist. So übertreiben will ich es aber nicht.

Welche Eindrücke habe ich an diesem ersten langen Tag gesammelt?

New York ist eine unglaublich große, wunderbare und rast- und ruhelose Stadt, durch die man zu Fuß schneller läuft, als die Autos fahren. Einen Teil der erwarteten Klischees – die Menschenmassen, der ohrenbetäubende und dichte Verkehr mit den unzähligen Yellow Cabs, die zahlreichen Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten, die eine Rund-um-die-Uhr-Versorgung sichern – habe ich heute bereits bestätigt bekommen.

Vieles ist aber auch neu und völlig fremd für mich. Mir war nicht klar, dass die Stadt diesen Geruch aus der Mischung von Teer, Abfall, Chemikalien, Essen, Abgasen, Schweiß, Pflanzen und Flüssen zu einem ganz eigenen süßen Duft vermischt, der sie umweht wie ein Parfüm, speziell für New York gemacht.

Oder die Hektik der Bewohner, die den Eindruck erwecken, dass jeder Einzelne ums Überleben kämpfen muss. Sie kämpfen um ein Taxi bei Regen, um den besten Platz im Restaurant, um ein Ticket für ein erfolgreiches Stück am Broadway oder einfach nur um einen Platz zum Schlafen.

Es ist eine Stadt voller Gegensätze. Neben einem erstklassigen Steakhouse-Restaurant befindet sich ein schmuddeliger Supermarkt. Neben teuren Blumenständen – ein kleiner Strauß Blumen kostet acht Dollar aufwärts – kann man ein großes Stück Pizza für 99 Cent kaufen. In unmittelbarer Nähe der Glitzerwelt des Times Square und des Broadways bieten ärmlich aussehende Menschen an Klapptischen einen Beutel Obst zu einem Spottpreis von zwei Dollar an, während der Eintritt ins Wachsfigurenkabinett knapp 30 Dollar pro Person kostet.

Genauso widersprüchlich, wie ich New York wahrnehme, nehme ich meine Gefühle und Empfindungen wahr und verändere mich dabei selbst: Meine eiserne Disziplin wird durch Regellosigkeit ersetzt. Meine plötzliche Planlosigkeit herrscht über die sonst strenge Organisationswut und ich, die nimmermüde und gesellige Networkerin, genieße plötzlich die Anonymität. Meine Schwärmerei befindet sich im ständigen Wechsel mit Entsetzen, und all das macht mir klar, dass alles zwei Seiten hat. Beides, das Gute und das Schlechte, sind immer vereint. Wie einfach, wie logisch und bildhaft erscheint mir die Polarität, die mir hier gerade offenbar wird.

Es ist unbeschreiblich, was es alles zu sehen gibt – Menschen aller Nationalitäten, Altersklassen und Schichten. Und egal, wie man sich verhält, sich kleidet und benimmt, man fällt nicht auf. Die Leute scheinen sich so zu akzeptieren, wie sie sind. Keiner beachtet den, der vielleicht etwas anders ist als man selbst und manchmal richtig „crazy“ wirkt. Das ist etwas ganz Besonderes, und das gefällt mir gut, sehr gut sogar.

Während ich, wieder zurück in meinem Apartment, meine Aufzeichnungen über die ersten Stunden in mein Reisetagebuch mache, überfällt mich eine zufriedene Müdigkeit. Mein Herz schlägt immer noch aufgeregt, wenn ich aus dem Fenster blicke. Jetzt ist es fast schon dunkel. Die Lichter gehen an, und die Stadt kommt allmählich zur Ruhe. Ich öffne die Schiebetür des riesigen Fensters und lausche in die Nacht. Später, im Schlaf, wird mich der Lärm ärgern, aber jetzt ist es wie Musik in meinen Ohren. Ich spüre den Wind im Gesicht und schaue sorgenfrei ins Weite. Bald schlafe ich friedlich und mit neuen Ohrstöpseln ein.

Kapitel 2

Mannahatta - Gummistiefel und der blonde Kolumbus

In der Frühe wache ich auf und muss das Fenster schließen, es ist einfach zu laut, Ohropax hin oder her. Leise klettere ich aus meinem Bett, um Susanna nicht zu wecken, und recke und strecke mich am Fenster aus. Zu Hause ist jetzt schon später Vormittag, nehme ich mit einem Blick auf meine Armbanduhr wahr, die ich immer noch nicht umgestellt habe. Draußen geht gerade die Sonne auf.

Wow! Der bombastische Blick auf die sich vor mir ausbreitende Stadt, die sich farbenprächtig Meile für Meile in alle Richtungen spannt, ist kaum zu beschreiben. Alles scheint wie mit Pastellfarben gemalt – gelb, rosa und orange –, und Millionen Fensterflächen spiegeln sich grau, silber- und eisblau im Licht der aufgehenden Sonne.

Meine müden Augen müssen sich anstrengen, um dieses gewaltige Farbenspiel in seiner ganzen Schönheit aufzunehmen. Die Straßenlampen und Lichter in den Hochhäusern sind noch hell erleuchtet. Auf dem großen Parkdeck links unter mir steht noch kein einziges Auto, doch die ersten kommen gerade aus New Jersey durch den Tunnel gefahren, gemeinsam mit all den Trucks, die die Versorgung der Insel sicherstellen.

Dieser Ausblick entschädigt für den enormen Lärm – das Getöse unter mir ist seit meiner Ankunft unverändert laut. Sinatra hatte Recht, diese Stadt schläft wirklich nie. „Ich geh nochmal ins Bett, Franky-Boy“, murmele ich leise vor mich hin, während ich mich wohlig in meine Decke eingrabe. Welch ein Genuss, wenn man sonst Tag für Tag früh aus den Federn muss – arbeiten, was ist das? Und schon schlummere ich wieder.

Nach einem insgesamt doch erholsamen Schlaf bin ich ausgeruht und fit. Da ich gestern viele Kilometer auf den Beinen war und den Mittagsschlaf ausgelassen habe, konnte ich den Jetlag überlisten. Ich packe meinen Rucksack, denn auch heute will ich die Stadt weiter zu Fuß erkunden. In meinem täglichen Gepäck befinden sich der Reiseführer von Lonely Planet, mein kleines schwarzes Moleskine City Notebook New York, eine abwaschbare und reißfeste Straßenkarte, eine Flasche Wasser, Portemonnaie, Handy und Schlüssel. Später wird wegen der häufigen Regengüsse auch ein Schirm zum täglichen Begleiter.

In der Empfangshalle des Apartmenthauses steht hinter dem Tresen John, der Doorman. John hat sich gestern schon bei mir vorgestellt und mich gefragt, woher ich komme, wie lange ich bleibe und was ich hier mache. Die Doormen sind eine typische New Yorker Institution. Ein Beruf, den es in Deutschland so nicht gibt, vergleichbar aber etwa dem Portier eines Hotels. John und seine Kollegen, die sich im Schichtdienst abwechseln, tragen dunkelblaue Anzüge mit rot abgesetzten Revers und darunter weiße Hemden. Mit ihren Portiersmützen wirken sie sehr adrett, fast elegant und begegnen einem mit einer professionellen Freundlichkeit. Immer hält mir einer von ihnen die Tür auf und gibt mir noch ein nettes Wort mit auf den Weg. Mit John, der aus Albanien stammt, werde ich noch häufig ins Gespräch kommen. Der korpulente 1,90 Meter große Familienvater mit rundem Kopf, wenigen Haaren, warmen Augen und einem herzlichen Lächeln, das kleine, gerade Zähne zeigt, gibt mir immer wieder zahlreiche Tipps und Informationen.

Ich oute mich als Deutsche, und John erzählt mir lächelnd, dass er die Deutschen schätzt, wegen der tollen Autos, die wir bauen, und weil wir so gut Fußball spielen. Wir plaudern noch eine Zeitlang über die Region, in der ich lebe, den guten Wein und den Fasching in Bad Kreuznach. Er erzählt mir von seiner Frau, die in einem Einkaufscenter in Queens arbeitet, und erwähnt stolz, dass der älteste seiner drei Söhne an der Columbia University studiert. Doch was mich besonders interessiert, ist seine Geschichte über die Entstehung Manhattans.

Mannahatta, der ursprüngliche Name der Stadt, stammt aus der Sprache der Indianer und bedeutet „hügeliges Land“. Ein Italiener, Giovanni da Verrazano, hatte die Insel bereits 1524 entdeckt – sie aber als unwichtig erachtet. Die Besiedlung aus Europa begann 1609 mit dem Engländer Henry Hudson. Später kamen die Holländer und mit ihnen Peter Minuit. Angeblich kaufte er den Indianern die Insel dann für Waren im Wert von 60 niederländischen Gulden ab – der Gegenwert von 24 Dollar.

John erzählt, dass Manhattan der älteste und kleinste der fünf Stadtteile von New York City und auch der berühmteste ist. Alleine dort sollen 1,8 Millionen Menschen leben. Im Internet habe ich dann noch Folgendes recherchiert: Die Insel, das Herz der Stadt, ist circa 22 Kilometer lang und zwischen 1,3 und 3,7 Kilometer breit. Dank des simplen Straßengitters („Grid“) findet man sich schnell zurecht. Es ist einfach zu durchschauen, was die Orientierung gerade für Ortsfremde erleichtert. Von Süden nach Norden (oder für Blonde wie mich: von unten nach oben) durchschneiden zwölf parallel verlaufende „Avenues“, aufsteigend durchnummeriert, die Stadt. Die 5th Avenue ist die Trennlinie der East und West Side. Quer dazu, „Crosstown“, verlaufen die „Streets“, von Ost nach West (ja, richtig: von rechts nach links), die ebenfalls von unten nach oben aufsteigend nummeriert sind.

Wie ich mir habe sagen lassen, gibt es komplizierte mathematische Formeln, um herauszufinden, auf welcher Höhe der Avenues sich eine bestimmte Hausnummer befindet. Deren Logik hat sich mir allerdings nicht erschlossen. Vielleicht habe ich mich deshalb auch mehrfach verlaufen, mathematisches Geschick gehört nicht zu meinen Primärtugenden! Als Faustregel gilt jedoch, je kleiner die Hausnummer, desto näher befindet sich die Adresse an der 5th Avenue.

New York City – nicht zu verwechseln mit dem Bundesstaat New York – mit den umliegenden Stadtteilen entstand im Jahr 1898. Manhattan wurde mit den unabhängigen Gemeinden, die in der Bronx und in Queens lagen, und mit der Stadt Brooklyn und der kleinen Insel Staten Island verbunden und somit zu einer der größten Städte der Welt. Übrigens ist von diesen fünf „Boroughs“ (Bezirken) lediglich die Bronx mit dem Festland verbunden. Alle anderen sind Inseln.

Nach dieser kurzen Einführung lächelt mich John freundlich an, wünscht mir noch einen schönen Tag und hält mir die Tür auf. Ich unterhalte mich gern mit Einwanderern, da sind meine sprachlichen Hemmungen weniger groß. All diese Menschen kennen die Geschichte von Peter Minuit und den 60 Gulden; sie ist vermutlich Teil des Lehrprogramms im Einbürgerungsverfahren.

Heute will ich als Erstes „mein Drittel“ erkunden, Midtown also! Ich verlasse das Haus und sehe, dass es geregnet hat, da die Frauen tatsächlich alle in Gummistiefeln unterwegs sind. Im Gegensatz zu den bei uns üblichen gelben, einheitlich hässlichen Gummibooten zeigen die New Yorkerinnen selbst bei diesem eher praktischen Schuhwerk modisches Bewusstsein: Die Stiefel sind modern, bunt, flippig und teilweise richtig edel! Die New Yorker Damenwelt trägt die Stiefel zu aller Art von Kleidung: Sommerkleider, lange oder kurze, elegante oder schlichte Kleider, bunte oder unifarbene, aber auch zu Kostümen, Leggings, Jeans oder Shorts. Mir fällt auf, dass aus ihren riesigen Handtaschen immer ein Paar Ersatzschuhe hervorlugen. Flip-Flops oder Gummistiefel im Austausch mit Pumps.

So machen die das also, denke ich – das erklärt auch die riesigen Handtaschen, die alle hier tragen. Und die Männer? Die sind offenbar nicht so clever, haben aber auch nicht so große Handtaschen, in denen sie ihre Schuhe einpacken könnten. Nur einmal werde ich einen im Businessanzug sehen, der während der Mittagszeit auf der Straße grasgrüne Chucks trägt. Sehr lustig und originell; seine schwarzen, zum Outfit passenden Schuhe hatte er bestimmt in seinem schmalen Aktenkoffer verstaut.

Neben Freizeitkleidung trägt man in Midtown, dem Geschäftsbezirk, hauptsächlich Businesskleidung, und trotz der hohen sommerlichen Temperaturen sind die Beine der Damen mit Seidenstrümpfen bedeckt. Dazu tragen sie klassische Pumps – wenn sie nicht gerade in den Handtaschen stecken.

Irgendwie scheinen hier jedenfalls alle für einen plötzlichen Regenguss gewappnet zu sein. Ich frage mich aber, wo sie ihre Sachen verstauen, wenn sie die Stiefel gerade nicht brauchen – in engen Apartments ohne Keller und Speicher?

Ich entscheide mich spontan für einen weiteren langen Spaziergang, allerdings oberhalb der 42. Straße und schlendere langsam und gemütlich die 9th Avenue in Richtung Norden.

Ab der 59. Straße – hier beginnt Uptown – wird die 9th Avenue zur Columbus Avenue. An der 72. Straße biege ich rechts ab. Mich zieht es jetzt in den Central Park, über den ich schon so viel gehört und gesehen habe. In zahlreichen Filmen dient er als Schauplatz.

Hier überkommt mich sofort das Gefühl, einen besonderen Ort zu betreten. An den meisten Stellen im Park ist der Blick auf die umliegenden und teilweise sehr prachtvollen Hochhäuser unverstellt. Das lässt ihn so unwirklich erscheinen. Doch in natura ist er wie eine Oase, ein magischer Ort, die grüne Lunge New Yorks.