Für Andreas

Beiträge zur Wissenschaftspsychologie

Bernhard J. Schmidt

Autismus

und der Kühlschrankmutter Mythos

Eine Rehabilitierung Bruno Bettelheims

© 2017 Bernhard J. Schmidt,

Oberwarmensteinach

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3744805544

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort
  2. Historischer Kontext
    1. Behandlung von Autisten
    2. Wissenschaftspositionen
      • 2.1.a Rimland – Nature
      • 2.1.b Bettelheim – Nurture
      • 2.2 Vygotskij – KHK
    3. Therapeutische Positionen
      • 3.1 Bettelheim „Erfolgreiche Therapie autistischer Kinder“
      • 3.2 Rimland: ABA
    4. Rimland und Lovaas
  3. Problematische Perspektiven Bettelheims
    1. KZ-Erfahrung
    2. Stress und Stimming
    3. Viszerale Reize / Hyposensibilität
    4. Psychoanalytische Perspektive
    5. Missbrauch
  4. Richtige Positionen
  5. Der Kampf um Deutungshoheit
    1. Bettelheims Kritik an Rimland
    2. Bettelheims Kritik an ABA
    3. Diskreditierung Bettelheims
      • 3.1 Angriff 1: der Kühlschrankmutter Mythos
        • 3.1.a Belege für die „Kühlschrankmutter“
        • 3.1.b Belege dagegen
        • 3.1.c Zusammenfassung
      • 3.2 Angriff 2: Zweifel an der Befähigung/Ausbildung Bettelheims
      • 3.3 Angriff 3: Gewaltvorwürfe gegen Bettelheim
    4. Vermischung von Wissenschaft und Elternschaft
      • 4.1 Narzissmus
    5. Verdrehung der Tatsachen
  6. Rückblick
    1. Aus Wissenschaft wird ein gefährlicher Mythos
      • 1.1 Beschränkung der Therapieansätze
      • 1.2 ABA als vermeintlicher „Goldstandard“
  7. Ausblick

I. VORWORT

Die „Kühlschrankmutter“ ist einer der zentralen Mythen im Bereich der Autismus-Forschung. Und wurde und wird immer mit Bruno Bettelheim und seinem Buch „The Empty Fortress“ in Zusammenhang gebracht.

Doch das ist ein Mythos!

Und es ist ein Mythos, der sowohl die Autismus-Forschung als auch die Entwicklung von Förderungen für Autisten über mehr als 50 Jahre negativ geprägt hat.

Durch die Diskreditierung Bettelheims und seines psychodynamischen Ansatzes durch den „Kühlschrankmutter“ Mythos, so meine Hypothese, ist jegliche Entwicklung verhindert worden.

Wie auf dem Jahrmarkt das Karussell, so dreht sich seit 50 Jahren die „Forschung“ ergebnislos um die Suche nach neurophysiologischen Ursachen.

Und die „Therapie“ für Autisten ist bis heute über ABA (Applied Behavior Analysis) kaum hinausgekommen.

Ausnahmen bilden hier nur die „Kind zentrierten“ Ansätze, die sich parallel zur „Forschung“ in einigen Ländern entwickelt haben.

Im Folgenden geht es um eine kritische Darstellung des Ansatzes von Bettelheim, ohne diesen in irgendeiner Weise idealisieren oder glorifizieren zu wollen.

An Bettelheim gibt es viel zu kritisieren – aber eine „Kühlschrankmutter“ als Ursache von Autismus findet sich bei ihm definitiv nicht!

Dies ist ein Mythos, der, so eine weitere Hypothese, von den Widersachern Bettelheims, insbesondere Rimland und Lovaas, in die Welt gesetzt wurde.

Die Überprüfung dieser Hypothese überlasse ich gerne Historikern, die über eine entsprechende Ausbildung verfügen.

Sicher dagegen ist, dass durch den „Kühlschrankmutter“ Mythos die wissenschaftliche Ebene verlassen und auf eine emotionale verschoben wurde.

Statt den psychodynamischen Ansatz Bettelheims wissenschaftlich auf seine Fehler und Stärken zu überprüfen, hieß es fortan „Bettelheim beleidigt die Mütter/Eltern“.

Wenn es also im Klappentext der Auflage zum 50jährigen Jubiläum von Rimlands „Infantile Autism“ heißt:

He [Rimland] single-handedly realigned the field from a psychodynamic, parent-blaming perspective to a scientific, physiological course of action.“, dann ist das genaue Gegenteil der Wahrheit. Mit dem Mythos des „parent-blaming“ wurde der wissenschaftliche Boden definitiv verlassen. Dazu muss aus heutiger Sicht festgestellt werden, dass Bettelheim der Lösung des Autismus-Rätsels wesentlich näher war als Rimland und Lovaas.

Hervorhebungen in den Zitaten immer durch mich.

II. HISTORISCHER KONTEXT

Aus heutiger Sicht erscheint vieles als merkwürdig, was vor mehr als 50 Jahren gedacht und gemacht wurde.

Beurteilt man das Denken und Handeln der Menschen von damals mit unseren heutigen Erkenntnissen, dann führt das zu einer Verzerrung der Wahrnehmung. Der historische Kontext, auch zur Beurteilung der Leistung Bettelheims, ist also in Betracht zu ziehen.

1 Behandlung von Autisten

In den 1960er Jahren fand die „Behandlung“ von Kindern mit geistiger Behinderung oder psychischen Störungen auf einer sehr rudimentären und häufig aus heutiger Sicht grausamen Stufe statt. So schildert Bettelheim, „... daß ein zweites Kind, ein Jahr bevor es zu uns kam und ohne daß wir darüber informiert worden wären, einer langen Elektroschockbehandlung unterzogen worden war, ...“ [Bettelheim (1983)]

Eine Unterbringung in „Heilanstalten“, in denen die „Behandlung“ häufig wenig zimperlich und in keiner Weise psychotherapeutisch ausgerichtet war, war eher die Regel als die Ausnahme. Es waren mehr oder weniger Verwahranstalten.

Ungefähr ein Jahr später erfuhren wir, daß man Laurie kurz nach ihrem Fortgehen von uns in eine öffentliche Heilanstalt für geistesgestörte Kinder gegeben hatte.“ [Bettelheim (1983)]

Der Ansatz der „Orthogenic School“, deren Leiter Bettelheim über viele Jahre war, war somit für damalige Verhältnisse wirklich revolutionär.

2 Wissenschaftspositionen

Anders als in Russland, wo Vygotskij bereits 1929 [Vygotskij (1929)] durch das „Kultur Historische Konzept“ eine Synthese aus Anlage und Umwelt entwickelt hatte, wurden in Westeuropa und den USA Anlage (Nature) und Umwelt (Nurture) nicht nur im Bereich Autismus noch als sich weitgehend ausschließende Gegensätze gedacht.

Dabei steht Bettelheim stellvertretend auf der „Nurture“ (Umwelt), sein Widersacher Rimland dagegen auf der „Nature“ (Anlage) Seite.

"Vor einiger Zeit hat Bloom (1964) eine scharfsinnige Analyse veröffentlicht, die sich mit allen ernstzunehmenden Längsschnittuntersuchungen zur menschlichen Entwicklung befaßte. Diese Analyse zeigt auf, auf welche Weise und in welchem Maße die Umwelt gewisse menschliche Merkmale, vor allem aber die Intelligenz, beeinflussen kann. Sie belegt, daß die Auswirkungen einer ungünstigen Umwelt hauptsächlich dazu führen, daß die Entwicklung dieser Merkmale blockiert wird. Die Entwicklung anderer Merkmale kann durch eine solche Umwelt gestört werden, doch ist eine derartige Umgebung nicht in der Lage, Wesensmerkmale zu erzeugen, die nicht in allen Menschen vorhanden sind.

[Bettelheim (1983)]

Bettelheim schließt aber die Diskussion über (Erb-)Anlagen nicht aus, hält diese nur nicht für fruchtbar.

Obwohl es mannigfache Forschungsarbeiten gibt, die sich mit dem Problem des Autismus befassen, ja obwohl es ganze Bücher zu diesem Thema gibt – man denke nur an die Werke von Rimland, Bosch und an das hier vorliegende Buch -, weiß man immer noch zu wenig über den infantilen Autismus, um das Problem Organizität versus psychogener Ursprung lösen zu können. Als heuristische Hypothesen sind beide Ansätze insofern von Wert als sie – zusammen genommen – keine Möglichkeit außer acht lassen. Obgleich ich die Hypothese, wonach der Autismus auf einen ursprünglich organischen Defekt zu