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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Dariuš Zifonun

Hans-Georg Soeffner

Klassiker der Wissenssoziologie, 18

Halem: Köln 2020

Die Reihe Klassiker der Wissenssoziologie wird herausgegeben von Prof. Dr. Bernt Schnettler.

Dariuš Zifonun ist Professor für Soziologie an der Philipps-Universität Marburg.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2020 by Herbert von Halem Verlag, Köln

ISSN 1860-8647

ISBN (Print):978-3-7445-1963-2

ISBN (PDF):978-3-7445-1964-9

ISBN (ePub):978-3-7445-1965-6

Den Herbert von Halem Verlag erreichen Sie auch im
Internet unter http://www.halem-verlag.de

E-Mail: info@halem-verlag.de

EINBAND: Herbert von Halem Verlag; Susanne Fuellhaas, Konstanz

EINBANDFOTO: Naber Photographie

SATZ: Herbert von Halem Verlag

LEKTORAT: Julian Pitten

DRUCK: docupoint GmbH, Magdeburg

Copyright Lexicon ©1992 by The Enschedé Font Foundry.

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Klassiker der Wissenssoziologie

Dariuš Zifonun

Hans-Georg Soeffner

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Danksagung

Mein Dank gilt Hans-Georg Soeffner, Bernt Schnettler, Norbert Schröer, Jo Reichertz, Ehrhardt Cremers, Lara Pellner, Carina Liebler, Thorsten Szydlik, Julia Peter und Noreia Becker.

Inhalt

Danksagung

I.Einleitung

II.Eine wissenschaftsbiografische Skizze

III.Grundlinien des Werkes

Subjekttheoretisch begründete Soziologie

Antidualistische Soziologie

Soziologie und soziale Ordnung

Sequenzanalyse und die Rekonstruktion von Ordnung

Alltagssoziologie und rituelle Ordnung

IV.Methodologie und Verfahren

Grundzüge der Methodologie

Alltagsverstand und Wissenschaft – Anmerkungen zu einem alltäglichen Mißverständnis von Wissenschaft (1983)

Interaktion und Interpretation – Überlegungen zu Prämissen des Interpretierens in Sozial- und Literaturwissenschaft (1979)

Qualitatives Vorgehen – ›Interpretation‹ (SOEFFNER/HITZLER 1994)

Strukturanalytische Feldstudien (1988)

Handlung – Szene – Inszenierung. Zur Problematik des ›Rahmen‹-Konzeptes bei der Analyse von Interaktionsprozessen (1986)

Die Geste in der Photographie. Zur Hermeneutik des Sehens (2018)

V.Forschungsfelder und soziale Welten

(1)Symbol: Transzendenz, Gemeinschaft, Milieu

Zur Soziologie des Symbols und des Rituals (1991)

Der fliegende Maulwurf (Der taubenzüchtende Bergmann im Ruhrgebiet) – totemistische Verzauberung der Realität und technologische Entzauberung der Sehnsucht (1990)

(2)Ästhetik: Kunst, Politik, Lebensstil

Zen und der kategorische Konjunktiv (2014)

Erzwungene Ästhetik. Repräsentation, Zeremoniell und Ritual in der Politik (1997)

Geborgtes Charisma – Populistische Inszenierungen (1992)

Stil und Stilisierung. Punk oder die Überhöhung des Alltags (1986)

(3)Individualität: Identität, Transzendenz, Körper

›Typus und Individualität‹ oder ›Typen der Individualität‹? – Entdeckungsreisen in das Land, in dem man zuhause ist (1983)

Luther – Die Formierung eines protestantischen Individualitätstypus durch die Reformierung des biblischen Welt- und Menschenbildes (1988)

Das ›Ebenbild‹ in der Bilderwelt – Religiosität und die Religionen (1994)

Körperlichkeit in Interaktionsbeziehungen (RAAB/SOEFFNER 2005)

VI.Zeitdiagnose, Rezeption, Herrschaftskritik, Tendenzen

Zeitdiagnose: »Auf dem Rücken eines Tigers«

Rezeption

Herrschaftskritik

Tendenzen: Widersprüchlichkeit, Historizität, Interdisziplinarität, außereuropäische Kulturen

VII.Literatur

(1)Schriften von Hans-Georg Soeffner

(2)Sekundärliteratur und weitere zitierte Literatur

Zeittafel

Personenregister

Sachregister

»Das Wesen des Sozialen besteht im Schein […], in der Produktion und im Austausch von Bilderwelten und Typisierungen, die als ›unverfälschte Erscheinungen‹ genommen werden wollen, obwohl sich über sie unausweichlich die Kleider oder Schleier von Selbst- und Fremdentwürfen legen. So bewegen wir uns in unseren Handlungen und Orientierungen durch eine Textur sozialer Typen, durch semantische Felder menschlicher Erscheinungen, an die sich die Syntax unserer Handlungsentwürfe anpaßt«.

(SOEFFNER 2000-6: 300)

I.Einleitung

Über die Eigentümlichkeit des Menschen weiß Nietzsche zu sagen, »daß auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend« (NIETZSCHE 1980: 310f.). Dieser Passage aus Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne entnimmt Hans-Georg Soeffner den Titel seines Beitrages zu einer Aufsatzsammlung, die 1997 von Wilhelm Heitmeyer veröffentlicht wurde. Die Frage des Bandes »Was hält die Gesellschaft zusammen?« – gemeint ist die der Bundesrepublik Deutschland – beantwortet Soeffner in ›Auf dem Rücken eines Tigers‹. Über die Hoffnung, Kollektivrituale als Ordnungsmächte in interkulturellen Gesellschaften kultivieren zu können auf paradoxe Weise: nicht viel; und genau das hält sie zusammen.1 Ebenso paradox muss es anmuten, dass der Begründer der ›Hermeneutischen Wissenssoziologie‹, Alltagssoziologe und Handlungstheoretiker Soeffner Nichtwissen, Träume und das ›Ruhen‹ als Formelemente menschlicher Existenz aufruft.

Als Autor gibt Soeffner manche Rätsel auf. Er liefert keine einfachen Antworten auf Fragen, die ihn beschäftigen und die seine Soziologie prägen. Die Rätselhaftigkeit und Komplexität seiner Schriften dürfen als Herausforderungen und als Anregung verstanden werden, sich mit seinem Werk intensiver auseinanderzusetzen. Dieses Buch ist als Einladung dazu gedacht. Als Leitfrage soll dabei die nach Soeffners Beitrag zur Wissenssoziologie dienen. Dieser besteht, wenn man die Antwort vorab in knapper Form geben möchte, darin, die Wissenssoziologie (1) als allgemeine Soziologie formuliert zu haben, die er (2) handlungstheoretisch und subjekttheoretisch fundiert, (3) hermeneutisch öffnet und (4) mit einer Methodik verknüpft, (5) interaktionistisch ausformuliert, (6) hinsichtlich der Bedeutung des Symbolischen im Alltag zuspitzt und (7) in den verschiedensten Forschungsfeldern und sozialen Welten nutzbar macht.

Wissenssoziologie wird von Soeffner als allgemeine Soziologie verstanden, die, im Gegensatz zu speziellen Soziologien, nicht nur einen gesellschaftlichen Teilbereich im Blick hat, und, im Gegensatz zu einer grundbegrifflich oder theoretisch begründeten allgemeinen Soziologie, ein analytisches Paket aus Sozialtheorie, Methodik, Gesellschaftstheorie und empirischer Forschung anbietet, die sich wechselseitig befruchten und kontrollieren. Soeffner erachtet den Menschen als den Ausgangspunkt von Gesellschaft und den Ansatzpunkt für die soziologische Analyse. Er begründet dies zum einen handlungstheoretisch, indem er auf die menschliche Produktion von und den Umgang mit Wissen verweist. Der Aufbau, die Reproduktion und der Wandel gesellschaftlicher Ordnung als Wissensordnung vollziehen sich in gesellschaftlichen Handlungsakten. Zum anderen argumentiert er subjekttheoretisch, indem er auf das Solitärsein und die Gesellschaftsbedürftigkeit des Menschen hinweist. Der Mensch erlebt sich auch als außerhalb der Gesellschaft stehend und vereinzelt, erfährt mithin also, dass er auf Gesellschaft angewiesen ist und doch nicht in ihr aufgeht. Soeffner öffnet die so verstandene allgemeine subjektorientierte Handlungstheorie der Wissenssoziologie in einem doppelten Sinne hermeneutisch: Zum einen, indem er die subjektiven Deutungsakte, die Verstehensleistungen, die das alltagsweltliche Handeln begleiten und ihm Sinn verleihen, ins Zentrum rückt. Zum anderen leitet er aus der alltagshermeneutischen Disposition des Menschen auch die hermeneutische Methodik ab, die er der Wissenssoziologie in Form von strukturanalytischer Feldforschung, Sequenzanalyse und Bildhermeneutik beigibt. Dem Umstand, dass der Einzelne zwar der Erfahrungsort (gesellschaftlicher) Wirklichkeit ist, im sozialen Alltag jedoch nicht auf sich allein gestellt ist und Gesellschaft nicht in heroischen Akten aus sich selbst heraus schöpft und aufrechterhält, wird Soeffner durch die interaktionistische Ausformulierung seiner Wissenssoziologie gerecht. Es sind die aufeinander bezogenen Handlungs- und Verstehensakte, die er fokussiert und deren Verstehen allein das soziologische Verstehen von Gesellschaft ermöglicht. Die besondere Pointe der Soeffner‘schen Wissenssoziologie liegt in seiner Aufmerksamkeit für die symbolischen Verstehens- und Ordnungsbildungsleistungen. Die symbolische Sinnschicht, mit ihrer eigentümlich widersprüchlichen Struktur und der eigentümlichen Integrationsleistung, die sich aus ihrer Widersprüchlichkeit ergibt, gibt menschlicher Gesellschaft ihre fragile Stabilität. Diese fragil-stabile Ordnungsstruktur des Wissens hat Soeffner als eine differenzierte Struktur eigensinniger, dabei miteinander verwobener Sinnbezüge empirisch rekonstruiert und im Wechselspiel zwischen empirischer Analyse in verschiedensten Forschungsfeldern und sozialen Welten und Theoriearbeit seine Wissenssoziologie über viele Jahre beständig weiterentwickelt.

Eine Gesamtschau des Werks von Hans-Georg Soeffner erweist sich aus diversen Gründen als schwierig. Zunächst einmal ist das Werk nicht abgeschlossen. Soeffner ist gerade in den späten 2010er-Jahren noch ein äußerst produktiver Autor. Außerdem ist er ein äußerst vielseitiger Autor, der sich zum einen einer Fülle unterschiedlicher Themen gewidmet hat und zum anderen immer wieder zu diesen Themen zurückgekehrt ist. Schließlich betreibt er eine eigenwillige Publikationspolitik. Immer wieder erscheinen Aufsätze an obskuren Orten, um dann später in Aufsatzsammlungen erneut publiziert zu werden. Während dieses unveränderte Wiederveröffentlichen von Aufsätzen dazu dient, Texte für eine neue Leserschaft verfügbar zu halten, publiziert Soeffner bereits veröffentlichte Arbeiten auch in veränderter, überarbeiteter Fassung oder stellt Aufsätze und Textausschnitte bei der Wiederveröffentlichung in Aufsatzsammlungen neu zusammen und verleiht ihnen durch die Rekontextualisierung eine veränderte Bedeutung. Seine bevorzugte Textgattung ist der soziologische Essay (REHBERG 2004: 10) bzw. die soziologische Novelle (SOEFFNER 1992-2: 17f.; SOEFFNER 1994-7: 319). Es findet sich überhaupt nur eine publizierte Monografie (SOEFFNER 1974-1/2019-2). Unter den kürzeren Texten stellen Berichte und analytische Papiere die Minderheit dar. Es scheint, als wolle der Autor seinem fragmentierten, labilen, sich beständig wandelnden Gegenstand – dem Menschen und seinen gesellschaftlichen Ordnungskonstruktionen – in einer Textart begegnen, die ihm in seiner Form entspricht. Und mehr noch: Es ist die essayistische Einzelfallstudie, in der Form und Inhalt von Soeffners Soziologie zur Deckung kommen. Am Fall zeigt sich, dass Subjektives und Interaktives, Kommunikatives und Metakommunikatives, Deuten und Handeln, Symbolisches und Pragmatisches, Vieldeutigkeit und Vereindeutigung, Offenheit und Schließung, Typus und Individuum auf einander verweisen und deshalb auch nicht isoliert behandelt werden können.

Jeder von Soeffners Texten bildet seinen eigenen argumentativen Kontext aus, der nicht identisch ist mit dem anderer Texte. Er nutzt das Anregungspozential seiner jeweiligen Fragestellung zur Formulierung eines jeweils eigenen thematischen Rahmens, in dem er seine Antworten präsentiert. Diese Konstellation soll in diesem Buch weitgehend erhalten bleiben und nur vorsichtig modifiziert werden. Deshalb nimmt die Darstellung des Werkes von Soeffner die Form der Darstellung von Einzelbeiträgen an. Die Einzelbeiträge werden zwar grob unterschieden, indem ich (eher) methodologische und (eher) materiale Texte zueinander gruppiere und im Fall der materialen Analysen nochmals thematische Gruppierungen vornehme. Als Einheiten werden trotzdem die Texte selbst erkennbar bleiben. Soeffner bietet keine vereinheitlichende Geschichte an. Weder von der Gesellschaft, noch vom Menschen oder von der Soziologie. Wenn es überhaupt etwas Übergreifendes in seinem Werk gibt, dann die tiefgreifende Skepsis gegenüber geschlossenen Einheiten, Strukturen, Ordnungen. Die Teile des vorliegenden Buches, in denen sich die Zwänge der Gattung Biografie durchsetzen (Kapitel II und Kapitel VI, Vor-, Zwischen-, Abschlusspassagen), der zufolge sich u. a. die Einheit des Werkes (das Außen) zwanglos aus der Einheit des Autors (dem Innen) ergibt und die Entwicklungsgeschichte der Person den Wandel der Schriften vorzeichnet, erkennt der Leser auch daran, dass dort kaum auf Primärtexte verwiesen wird. Werk und Autor sind in diesen Passagen des vorliegenden Buches meine Konstruktionen. In den anderen Teilen des Buches wird ausgiebig auf die Arbeiten Soeffners Bezug genommen und der Anspruch erhoben, dass die Interpretation seines Werkes von diesen Texten als ›Daten‹ abgedeckt ist.

Eine (umfangreiche) Auswahl von Soeffners Schriften findet sich im Schriftenverzeichnis dieses Buches. Im Folgenden wird auf seine Schriften mit Hilfe der Siglen verwiesen, die im Schriftenverzeichnis verwendet werden. Der Vorteil dieses Vorgehens ist, dass so ein eindeutiges und einfaches Verweissystem Verwendung findet. Dadurch werden jedoch die zahlreichen Co-Autoren Soeffners in den Verweisen unkenntlich. Daher werden diese im laufenden Text benannt und finden sich auch unter den Siglen in der vollständigen Angabe der Autorenschaft wieder.

Zum Aufbau des Buches: In Kapitel II findet sich zunächst eine wissenschaftsbiografische Skizze, in der die Themen und Richtungen, personalen und institutionellen Bezüge von Soeffners Werk entlang seiner Biografie eingeführt werden und der Blick auf sein Wirken im akademischen Feld und über dessen Grenzen hinaus eröffnet wird. Kapitel III liefert einen Überblick der Grundzüge des Werkes und sortiert die Kerngedanken, die sich in Soeffners Werk ausmachen lassen, nicht mehr biografisch, sondern bringt sie in eine soziologische Perspektive. Das anschließende Kapitel IV widmet sich der Methodologie und den von Soeffner entwickelten und genutzten Forschungsmethoden und stellt zentrale Aufsätze zu diesem Themenfeld vor. Während es in diesem Kapitel also um das ›Wie‹ geht, präsentiert Kapitel V wesentliche Erkenntnisse Soeffners über Forschungsfelder und soziale Welten, die er in seinen materialen und konzeptionellen Analysen diskutiert (das ›Was‹). Auch hier orientiert sich die Darstellung vorrangig an wichtigen Einzelstudien. Kapitel VI schließlich resümiert die Betrachtungen, geht auf Rezeption und Wirkgeschichte ein und verweist auf Tendenzen des Werkes, die für die weitere Entwicklung der Wissenssoziologie richtungsweisend erscheinen. Der Band wird vervollständigt durch Verzeichnisse der Schriften Soeffners und der verwendeten Literatur, eine Zeittafel sowie ein Sach- und ein Personenregister, die dem Leser die Nutzung des Bandes erleichtern sollen.

1Wie Soeffner diese Antwort begründet und welche Folgen das für seine Analyse des ›Zustandes‹ von Gegenwartsgesellschaften hat, wird in Kapitel VI nachgezeichnet.

II.Eine wissenschaftsbiografische Skizze

In einer der seltenen persönlichen Anmerkungen, die sich in Soeffners Werk finden, heißt es zu Beginn seines Aufsatzes über die taubenzüchtenden Bergleute im Ruhrgebiet:

»Als ich zehn Jahre alt war, zog meine Familie von einer kleinen Universitätsstadt in Süddeutschland in eine der Großstädte des Ruhrgebietes. Nur wenige Straßen von unserem Haus entfernt lag eine Bergmannssiedlung. Die meisten meiner Schulfreunde wohnten dort. Zwanglos wurde ich zum Mitglied ihrer ›street corner society‹. Ich trieb mich nach der Schule mit ihnen herum, profitierte von den Nachkriegssegnungen des Bergmannsstandes (Kohle-, Holz- und Lebensmittelzuweisungen) und sah, wie am Abend viele der Bergleute unmittelbar zu denen gingen, die sie am meisten anzuziehen schienen: zu ihrem Tauben« (SOEFFNER 1992-6: 131).

Als biografisch prägend erweisen sich Soeffners Kindheit und Jugend im Ruhrgebiet. Er entstammt einer Familie, so Soeffner 2005 im Interview mit Ronald Kurt, »die früher zum Bildungsbürgertum gezählt worden wäre, die aber ins Ruhrgebiet verpflanzt worden ist und, was mich angeht, die sich da auch wohl gefühlt hat« (Soeffner in KURT 2006: 185).

Hans-Georg Soeffner wird am 16. November 1939 in Essen geboren, wird während des Krieges mit seiner Mutter und Schwester ›evakuiert‹ und verbringt den größten Teil der folgenden Jahre in Tübingen. Er ist zehn Jahre alt, als die Familie nach Essen zurückkommt und in die Nähe der erwähnten Bergmannsiedlung zieht, die zur Zeche Ludwig im Essener Süden gehört. Von 1950 an besucht Soeffner das Essener Helmholtz-Gymnasium, eine Schule mit einem ausgeprägten Schwerpunkt im Sport. Das kommt dem sportbegeisterten Soeffner entgegen, der später nicht nur Fußball spielen, sondern auch rudern, boxen und klettern wird. Biografisch bedeutsam wird die Schule aber wegen eines Kurses über Martin Heideggers Was ist Metaphysik?, den ein ehemaliger Schüler Heideggers anbietet und über den Soeffner zur Philosophie kommt.

Soeffner studiert ab 1960 zunächst an der Eberhard Karls Universität Tübingen Philosophie und Germanistik. 1962 geht er für ein Jahr an die Universität zu Köln, kehrt von dort zunächst nach Tübingen zurück und wechselt 1964 schließlich an die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, wo er 1966 sein Studium mit dem Ersten Staatsexamen abschließt.

In Tübingen besucht Soeffner Vorlesungen des Volkskundlers Hermann Bausinger, des Altphilologen Wolfgang Schadewaldt und des Philosophen Walter Schulz, der sein Denken nachhaltig beeinflussen wird. Schulz macht ihn mit Immanuel Kant und Søren Kierkegaard vertraut. Schulz hat »es geschafft, den Kerngedanken oder die zentralen Denkfiguren eines Denkers am Text zu rekonstruieren« (Soeffner in REICHERTZ 2004: 8), ein Vorgehen, das Soeffner in den 1970er-Jahren in die sozialwissenschaftliche Textinterpretation übernehmen wird und das sein Verständnis der Sozialwissenschaften als Textwissenschaften prägt.

In Köln ist es vor allem der Gadamer-Schüler Karl-Heinz Volkmann-Schluck, der Soeffner mit seiner interdisziplinären Offenheit anregt. In Bonn nimmt er zum einen an Veranstaltungen des Germanisten Richard Alewyn teil. Zum anderen besucht er die Vorlesungen des Philosophen Gottfried Martin, über den er den Informatiker und Kommunikationsforscher Gerold Ungeheuer kennenlernt. Beide übernehmen später die Betreuung seiner Dissertation.

Kindheit und Jugend sind damit zum einen geprägt von der Gleichzeitigkeit bürgerlicher Milieuzugehörigkeit und dem Aufwachsen in der von Bergbau und einer langen Einwanderungsgeschichte geprägten Kultur des Ruhrgebietes, zu der Soeffner als Kind durch die räumliche Nähe und als junger Mann durch seine Tätigkeit als Hilfsarbeiter Zugang findet. Soeffner arbeitet während des Studiums als angelernter Bauarbeiter u.a. auf der Großbaustelle des Essener Hauptbahnhofs und nimmt immer wieder die Rolle des Vermittlers zwischen Arbeitern und Bauleitung ein.

Zum anderen schafft die Erfahrung der 1950er-Jahre, in denen man sich »irgendwie durchschlagen musste«2 und des anschließenden schnellen Wiederaufstiegs eine Verbindung zwischen den Generationen. Die Angehörigen seiner eigenen Kohorte sind außerdem durch ihre besondere Lage miteinander verbunden. Prägend ist hier die politische Sozialisation während des Studiums. Soeffner wird Mitglied des SDS und nimmt an der Bonner Universität an der Besetzung des Dekanatssaals teil. Entgegen der Links-Rechts-Unterscheidung eint seine Generation deutscher Akademiker, in Soeffners Empfinden, jedoch die geteilte Sozialisation in der Adenauer-Zeit, die prägende Erfahrung des Erziehungsstils dieser Zeit und die mit ihr einhergehende familiäre Werteprägung. Bei vielen seiner Lehrer findet er diese traditionelle Werthaltung wieder, die sich bei ihnen mit einer liberalen Wissenschaftsauffassung verbindet. Eindrücklich in Erinnerung bleibt Soeffner, wie ihm Gottfried Martin im Bonner Dekanatssaal beim Sturm durch das Fenster mit »Was machen Sie denn hier, Herr Soeffner?« entgegentritt. Auch von Alewyn, der sich von den Studentenprotesten an den Nationalsozialismus und dessen gewaltsame Übergriffe auch auf die Universitäten erinnert fühlt, wird dies nicht akzeptiert. Alewyn und Martin erscheinen – in Martins spontaner Reaktion – gleichsam als Sinnbilder bürgerlichen Taktes und – indem beide in der Folge den Diskurs mit den Studenten suchen und Soeffner gerade nicht die akademische Unterstützung entziehen – als Vertreter eines liberalen Wissenschaftsverständnisses, das sich an den Regeln des rationalen Argumentierens, des Schutzes der und der Distanz zur Person des Gegenübers orientiert.

Nach dem Studium wechselt Soeffner 1967, zunächst als Hilfskraft, an das Institut für Kommunikationsforschung und Phonetik an der Universität Bonn (IKP), das von Gerold Ungeheuer geleitet wird. Unter der Herausgeberschaft von Gottfried Martin und gefördert durch die DFG wird am IKP »von 1960 bis 1972 systematisch das Gesamtwerk Immanuel Kants elektronisch erfasst« (LENDERS 2003: 3). Martin trägt zum ›Kant-Index‹ die philosophische, Ungeheuer die informationstechnologische Expertise bei. Soeffner wird Mitarbeiter dieses Großprojektes, hier entsteht auch seine erste Publikation, die insofern aufschlussreich ist, als dass in ihr zum einen noch ganz der Philosoph und Literaturwissenschaftler zutage tritt. Zum anderen befasst er sich aber bereits hier mit Fragen der Möglichkeit des Verstehens, aber eben mit Blick auf das Verstehen von (philosophischen) Texten und die texthermeneutischen Verfahren, die dafür in dieser Zeit zur Verfügung stehen und die Soeffner einer Kritik unterzieht (SOEFFNER 1970-1). Lösungschancen für die Probleme der Hermeneutik macht er in den neuen Computertechnologien aus, die am IKP erprobt werden:

»Das Problem, wie aus einem Text der Sprachgebrauch eines Autors rekonstruiert und zu einem sprachlichen Regelsystem zusammengefaßt werden kann, ohne daß sich das subjektive Vorverständnis des Interpreten mit einschleicht, ist durch die Möglichkeiten der linguistischen Datenverarbeitung erheblich erleichtert worden« (SOEFFNER 1970-1: 63).

Später wird sich Soeffners Perspektive deutlich verschieben. Sein Interesse richtet sich dann auf das gesellschaftliche Sinnsystem, den interaktiven Zeichengebrauch und die gemeinsame Bedeutungsherstellung der Interaktanten sowie die Methoden, mit denen diese analysiert werden können. Softwareprogramme zur Datenanalyse bringt er nicht mehr zum Einsatz. Neben seiner Tätigkeit am IKP ist Soeffner in dieser Zeit auch an der PH Bonn im Bereich Germanistik als Lehrbeauftragter tätig, wo er 1970 Jo Reichertz kennenlernt, der dort studiert.

Von 1970 bis 1972 arbeitet Soeffner zudem an seiner Dissertation, die 1974 unter dem Titel Der geplante Mythos erstmals erscheint und 2019 wiederveröffentlicht wird (SOEFFNER 1974-1; SOEFFNER 2019-2). Soeffner unternimmt hier die Rekonstruktion des Wandels utopischen Denkens:

»›Die Geschichte der Utopie verläuft merkwürdig. Das utopische Denken fängt mit großen Gesellschaftsentwürfen an … und dann, auf ein Mal im 19. Jahrhundert, von dem behauptet wird, da höre das utopische Denken auf, da gerade setzt es aus meiner Sicht neu an‹ (SOEFFNER 2005: 8). Das utopische Denken individualisiert sich, zum Beispiel bei Kierkegaard; ›es weist, jedenfalls in der westlichen Welt, auf denjenigen hin, der eigentlich die gesamte Zeit am Werk ist, auf das unzufriedene Individuum, also auf den bedürftigen, unzufriedenen Einzelmenschen, nicht auf das Kollektiv‹ (ebd.). Es ist der Wunsch nach einer besseren Welt, der bewirkt, dass Menschen ihren Möglichkeitssinn mobilisieren und der Wirklichkeit in Form von Utopien Alternativen gegenüberstellen. Die Erkenntnis der ›strukturellen Unzufriedenheit von Menschen mit dem, was sie sind und mit dem, was sie erwartet« (ebd.) führt Hans-Georg Soeffner, Søren Kierkegaard folgend, zu der Auffassung des Individuums als eines ›Verhältnisses, das sich zu sich selbst verhält, aber keinen Wesenskern hat‹ (ebd., vgl. KIERKEGAARD 1971: 396). ›Und des Verhältnisses zu sich selbst kann ein Mensch nicht quitt werden‹ (KIERKEGAARD 1971: 401; vgl. auch SCHULZ 1994: 275f.)« (KURT 2006: 186f.).

In der Dissertation finden sich damit drei Themen, die Soeffner in späteren Arbeiten vertiefen wird, jedoch, wie auch im Fall der Überlegungen, die er im Kontext des Kant-Indexes anstellt, in modifizierter Form: Fragen der Identität, der Individualität und des Symbolischen (siehe dazu Kapitel V).

In dieser Zeit befindet sich Soeffner in einem intensiven Austausch mit Ungeheuer, der ihn auch auf Alfred Schütz hinweist (Soeffner in REICHERTZ 2004: 10). Die Sozialwissenschaften interessieren Soeffner bis zu diesem Zeitpunkt kaum, wohl aber der Gegenstand Gesellschaft. Dies wird für Ungeheuer zum Anlass, ihn mit dem Auftrag zu versehen, gemeinsam mit Dieter Krallmann eine sozialwissenschaftliche Abteilung am IKP aufzubauen, die sich der empirischen Kommunikationsforschung widmen soll. Krallmann war Toningenieur, hatte Linguistik studiert und sich auf maschinelle Linguistik und Künstliche Intelligenz spezialisiert. Der Weg zur sozialwissenschaftlichen Kommunikationsforschung war für ihn mithin noch weiter als für Soeffner.

Die Ergebnisse ihrer Bemühungen fassen Krallmann und Soeffner in ihrem Buch Gesellschaft und Information zusammen, das 1973 erscheint. Die Autoren entwerfen hier einen dezidiert interdisziplinären Zugang zur Kommunikationswissenschaft, die sie gleichwohl auf ein soziologisches und nicht medienwissenschaftliches Fundament stellen möchten. Ausgehend von einer Diskussion der Soziologie Talcott Parsons entwerfen Soeffner und Krallmann das Modell eines »sozial-transaktionalen Systems« (SOEFFNER 1973-1: 26ff.), dessen zweiter wesentlicher Bezugstheoretiker George Herbert Mead ist. Wie stark ›soziologisiert‹ Soeffners Denken in dieser Zeit wird, verdeutlicht folgendes Zitat: »›Individuelle‹ Erfahrung als solche erweist sich, da sie grundsätzlich im Rahmen sozialer Systeme erfolgt, als Fiktion« (ebd.: 33). Eine wesentliche Korrektur erfährt diese Überzeugung, wie sich in Kapitel IV zeigen wird, durch Soeffners Lektüre des Werks von Helmuth Plessner, mit dessen Hilfe er das Subjekt als Instanz rekonstruiert, die gerade nicht in Gesellschaft aufgeht.

Krallmann wird 1973 auf einen Lehrstuhl an der im Jahr davor gegründeten Universität Gesamthochschule Essen berufen und soll dort das Fach Kommunikationswissenschaft aufbauen. 1974 folgt Soeffner Krallmann nach Essen, zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter, dann als Akademischer Rat und ab 1978 als apl. Professor. 1976 wird Soeffner in Essen mit kommunikationswissenschaftlichen Untersuchungen habilitiert, in denen er die Begriffe Rezeption, Kommunikation, Situation, Information und kommunikative Handlung einer Diskussion und Bestimmung unterzieht (REICHERTZ/SCHRÖER 1999).

In Essen waren Kommunikationswissenschaft, Anglistik, Germanistik und Philosophie wegen der geringen Größe der Einzelfächer auf Zusammenarbeit angewiesen, was Soeffner wegen seiner Ausbildung entgegenkommt und sich auch in einer interdisziplinär ausgerichteten Lehre niederschlägt. Gemeinsam verfolgen Krallmann und Soeffner in Essen ein groß angelegtes Forschungsprojekt zur ›Interaktionskapazität‹, in dem sie sich empirisch mit ›Zwangskommunikation‹ in institutionellen Kontexten befassen, die eben diese Interaktionskapazität einschränken. In diese Zeit fallen auch Besuche der Essener Arbeitsgruppe in Bielefeld, wo Fritz Schütze an ähnlichen Fragestellungen arbeitete und wo man nun gemeinsam ethnomethodologische Datenanalysen durchführt. Schütze ist in den 1970er-Jahren als Mitglied der ›Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen‹ mitverantwortlich für die vermehrte Rezeption der amerikanischen qualitativen Sozialforschung in Deutschland (ARBEITSGRUPPE BIELEFELDER SOZIOLOGEN 1973; ARBEITSGRUPPE BIELEFELDER SOZIOLOGEN 1976).

Zu Soeffners Arbeitsgruppe in Essen zählen neben Jo Reichertz und Ehrhardt Cremers auch Jochen Muth, Rainer Seidel und Eva Kessler sowie Norbert Schröer, der als Student an einem seiner Seminare zur Soziolinguistik teilnimmt und dann studentische Hilfskraft wird.

Entscheidend für die methodische Prägung Soeffners genauso wie für seine Sichtbarkeit im akademischen Feld ist die von ihm organisierte Tagung »Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften«, die vom 9. - 11. November 1977 in Essen stattfindet und an der u.a. Konrad Ehlich, Jochen Rehbein, Peter Gross, Bruno Hildenbrand, Melvin Pollner und Fritz Schütze teilnehmen und die sich für die Entwicklung der deutschsprachigen qualitativen Sozialforschung als richtungsweisend herausstellen sollte (SOEFFNER 1979-1). Bei dieser Tagung trifft Soeffner auch Ulrich Oevermann und Thomas Luckmann erstmals persönlich, mit denen sich in der Folgezeit ein intensiver Austausch etabliert: »Es gab regelmäßige jährliche Treffen, die immer in Konstanz stattfanden. Die Luckmann’sche Gruppe, das waren Walter Sprondel, damals war auch noch Peter Gross dabei und Jörg Bergmann. Die Oevermann’sche Gruppe, das war Ulrich Oevermann, Constans Seyfarth, Tilmann Allert und Ulf Matthiesen. Außerdem war noch Hansfried Kellner meistens dabei. So entstand eine über Jahre kontinuierliche Zusammenarbeit« (Soeffner in REICHERTZ 2004: 12).

Kapitel IV