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Marion Esser, Dipl.-Pädagogin, Psychomotorik-Therapeutin, Bonn, Ausbilderin der Association Européenne des Ècoles de Formation à la Pratique Psychomotrice (ASEFOP), Brüssel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02925-9 (Print)

ISBN 978-3-497-61288-8 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61289-5 (EPUB)

5., aktualisierte Auflage

© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU
Satz: Rist Satz & Druck GmbH, 85304 Ilmmünster

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort zur 1. Auflage von Walther Dreher

Vorwort zur 5. Auflage von Walther Dreher

Einführung: Kinder unter Druck

1     Die Entwicklung der psychomotorischen Praxis und Theorie von Bernard Aucouturier

2     Theoretische Grundlagen für die psychomotorische Intervention

Die Bedeutung des Körpers in der Entwicklung des Menschen

Somatische Expressivität

Die Ganzheit des Körpers und sein Mangel

Schlussfolgerungen und Zielvorstellungen für die psychomotorische Praxis

3     Handlungskonzepte und Handlungsprinzipien in der therapeutischen Praxis

Der Bereich für motorische Expressivität

Der Bereich für grafische und plastische Expressivität

Die psychomotorische Beobachtung

Die Aufgabe der Psychomotorik-Therapeutin und ihre Ausbildung

Die Kinder, ihre Auffälligkeiten und das Problem der Diagnose

Einzeltherapie

Die gruppentherapeutische Phase

Beispiele aus Psychomotorik-Stunden

Das Verständnis von und der Umgang mit aggressivem Verhalten bei Kindern

Die Zusammenarbeit mit den Eltern

4     Psychomotorik – ein therapeutisches Konzept?

Danksagung

Literatur

Adressen von Ausbildungsinstituten

Das Buch ist Madeleine und Dominique gewidmet, stellvertretend für alle Kinder, die es schwerer als andere haben, ihren Platz in der Welt zu finden.

„Worte sind Gefäße, die wir mit Erlebnissen füllen, doch diese quellen über das Gefäß hinaus. Worte weisen auf Erleben hin, sie sind nicht mit diesem identisch. In dem Augenblick, in dem ich ein Erleben vollständig in Gedanken und Worte umsetze, verflüchtigt es sich; es verdorrt, ist tot, wird zum bloßen Gedanken. Daher ist Sein nicht mit Worten beschreibbar und nur durch gemeinsames Erleben kommunikabel.“

Erich Fromm, Haben oder Sein

Vorwort zur 1. Auflage

„Beweg-Gründe“ – ein Titel, der zum Wortspiel animiert? Was soll bewegt werden oder wer? Geht es nur um Bewegen und Bewegung, ein Phänomen, von dem Viktor von Weizsäcker meinte, dass es den Kern des Lebendigen ausmacht? „Wenn wir nämlich feststellen, ob ein Ding lebt, so beachten wir, besonders bei Tieren, die Bewegung (…), die Sprache mit ihrer einfachen und dichten Prägung wählt dabei den Ausdruck: Es bewegt sich, also lebt es“ (Der Gestaltkreis, 1968, 1). „Beweg-Gründe“ also ein Hinweis auf das, was Lebendiges charakterisiert? Oder könnten auch Be-Weg-Gründe gemeint sein: Quellen, die den Lebensweg bestimmen und ihn geradlinig oder gewunden, als Auf und Ab oder in Gleichmäßigkeit geführt erscheinen lassen? Könnten es schließlich aber auch Be-Weggründe sein, vielleicht mit einer etwas eigenwillig unterstellten Bedeutung: Gründe, die von etwas wegführen, entfernen, Anlass geben für …, Abstand nehmen von … oder Zuflucht suchen bei …?

Das vorliegende Buch von Marion Esser hat zu all dem etwas Wesentliches zu sagen. Es ist einmal befasst mit dem, was unter Bewegung im engeren Sinn in der Psychomotorik gemeint ist. Es handelt aber auch von Wegen: dem Lebensweg von Kindern in ihrer oft gestörten Lebenswelt, dem Weg Bernard Aucouturiers, und ebenso werden Mosaiksteinchen des Weges der Verfasserin sichtbar. Darin verbergen sich dann auch die „weg-Gründe“ als Gründe weg von gewohnten Sichtweisen, weg von Lebensumständen von Kindern, die ihnen Leben vorenthalten und sie – in der paradoxen Form störenden oder gestörten Verhaltens – sich selbst entfremdet werden lassen.

All diese Gründe zusammengenommen geben Einblicke in ein Geflecht von Erfahrungen und Erkenntnissen, die den Umgang mit gestörten Beziehungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene in ein neues Licht rücken. Leiten lässt sich die Autorin von der Praxis und Theoriebildung Bernard Aucouturiers und dessen Verständnis psychomotorisch-therapeutischer Intervention. Als unausgesprochener Hintergrund fungiert die Tradition der französischen Denker wie Jean-Paul Sartre, Gabriel Marcel und Maurice Merleau-Ponty und deren Verständnis des Menschen als eines leiblichen Wesens: Sartre, der so eindringlich gezeigt hat, wie der Mensch durch den Blick des anderen konstituiert wird, Marcel, der vom Körper-Haben und Leib-Sein spricht, und schließlich Merleau-Ponty, der als der Philosoph des Leibes aufspürt, wie der „Geist“ sich in einem persönlichen Leben „durch einen Leib hindurch“ (à travers mon corps) formt.

Wenn in diesem Zusammenhang von Körper die Rede ist, so ist damit nicht der Körper als Objekt naturwissenschaftlichen Denkens gemeint, sondern es geht hier um „jemandes Leib“, durch den der Mensch schon vor aller Reflexion die Welt versteht und durch den er immer schon in der Welt situiert ist. Die deutsche Sprache hat hier die Möglichkeit des unterscheidenden Ausdrucks durch die Begriffe „Körper“ und „Leib“, während das Französische nur „le corps“ kennt. Solche sprachlichen Unterscheidungen können Fingerzeige auf wesentliche Nuancen sein, wie sie sich auch an Begriffen wie „Motorik / Sensorik“ und „Bewegung / Wahrnehmung“ ablesen lassen. Obgleich als Fachtermini allgemein unhinterfragt akzeptiert, klingt bei Motorik / Sensorik noch etwas an von der objektiven, das heißt distanzierenden und von subjektiver Sinngebung abstrahierenden Einstellung zu sich selbst, den eigenen Potenzialen und Bestimmungen, wogegen Bewegung und Wahrnehmung schon im Begriff etwas von der personalen Anteilnahme und der Verantwortlichkeit für den Weg und das Wahre – ohne dies jetzt inhaltlich festlegen zu wollen – als immerwährende Aufgabe des Menschen ausdrücken. Diese Weisheit der Sprache wird im Text durch die anschaulichen Beispiele mit Inhalt gefüllt.

Und ein letzter Aspekt ist noch des Hervorhebens wert: das Handlungskonzept des vorgestellten Ansatzes. Stützt sich die Verfasserin im Theoriegebäude auf Aucouturier und ebenso im äußeren Arrangement des „psychomotorischen Raumes“, so drückt sich in der Beschreibung der therapeutischen Begegnung mit den Kindern ihre ganz eigene pädagogische Authentizität aus. Sie gewinnt Gestalt in der Haltung: „Nicht die Diagnose steht im Vordergrund, sondern der Versuch, das Kind in eine Entwicklungsdynamik zu führen, in der es wieder Mut fasst, sich dem Umgang mit Menschen und Dingen anzunähern“ (S. 79).

Wenn deutlich wird, dass die Sorge für junge Menschen, die mehr Schwierigkeiten haben als andere, die Seelentiefe des Kindes berühren und dessen Körper wahrnehmen muss und dies vor dem Hintergrund gemeinschaftlicher Verantwortung zu geschehen hat, dann wird die Arbeit dem Anspruch gerecht werden, dem „Ganzsein“ des Menschen näher gekommen zu sein, auch wenn dies von uns nie erreicht werden kann.

Köln, 1992 Prof. Dr. Walther Dreher

Vorwort zur 5. Auflage

Seit diesem Vorwort zur 1. Auflage des Buches sind mehr als fünfundzwanzig Jahre vergangen. Es ist ein Zeitraum, der sich rück- und vorausblickend als Weg wahrnehmen lässt. Daher möchte ich an das Bild der „Be-Weg-gründe“ anknüpfen und etwas von dem zur Sprache bringen, was sich weiter entfaltet und gewandelt hat:

Entfaltet haben sich das Wissen und die Erfahrungen, wie sich an weiteren Publikationen ablesen lässt. Es erschienen zwei übersetzte Werke von Bernard Aucouturier: „Symbolik der Bewegung“ (Lapierre / Aucouturier 2002) und „Der Ansatz Aucouturier – Handlungsfantasmen und psychomotorische Praxis“ (2006). Marion Esser fügte die monografische Arbeit „Beziehung wagen – Mit Körper und Bewegung (psycho-)therapeutisch arbeiten“ (2009) hinzu und ist Herausgeberin des Buches „Psychische Reife fördern – Psychomotorische Praxis Aucouturier in verschiedenen Arbeitsfeldern“ (2011), in dem verschiedene AutorInnen „Arbeitsfelder und institutionelle Zusammenhänge“ aufzeigen, „in denen der ‚Ansatz Aucouturier‘ in der Praxis Anwendung findet und umgesetzt wird“ (2011, 5). Das neue Werk von Aucouturier „Handeln, Spielen, Denken“ ist im Sommer 2019 im proiecta Verlag Bonn in deutscher Sprache erschienen, ebenfalls übersetzt von Marion Esser.

Ich erinnere mich noch daran, als Marion Esser zum ersten Mal nach Tours gefahren ist, um vor Ort kennenzulernen, was uns damals im Therapiebericht „Bruno“ begegnete. Inzwischen haben sich das Wissen und die Erfahrungen durch deren Weitergabe in einer fundierten Aus- und Weiterbildung gewandelt. Die „Fußspuren Aucouturiers“ sind Richtungsweiser und Maßeinheit für alle, die diesen Weg gehen. Und doch prägt zugleich jeder Einzelne diesen Weg durch seine einmalige und Maß-gebende Spur. Hier denke ich an das Bild von Paul Klee „Hauptweg und Nebenwege“ (1929), das breite und tiefsinnige Interpretationen erfahren hat. Was ich im Kontext der „Beweg-Gründe“ und der weiterführenden Spuren assoziiere, bezieht sich auf die horizontalen Linienführungen und Feldflächenbildungen des Hauptweges, die diesen in seiner klaren Richtung prägen, aber im Übergang zu den Nebenwegen Flechtwerke bilden, „mittendrin auslaufen“, um dann wieder neu zu beginnen. Und ob sie in den Horizont gerade so hineinlaufen oder dort auf Quer-Wege stoßen, bleibt im Bild offen. Symbolisieren „Hauptweg und Nebenwege“ etwas von der Dynamik des psychomotorischen Ansatzes mit seiner präventiven und therapeutischen Ausrichtung und dessen weiteren Aus-Gestaltung im institutionalisierten Setting? Ich finde kleine Hinweise, die andeuten, dass es hier nicht „nur“ um das Feld des Kindes geht, sondern auch um „die Tiefe des Ansatzes für jeden Erwachsenen, (…) jeden Menschen“, und es geht nicht darum, „den Menschen zu verändern, sondern ihn in eine Veränderungsdynamik zu begleiten. (…) Dafür stellen wir einen Rahmen zu Verfügung“ (2009, 7f).

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Paul Klee: Hauptweg und Nebenwege

Dieser Rahmen schließt das ein, was Marion Esser in vielen Jahren am Centre d’Education Physique Spécialisée in Tours hat lernen und wodurch sie sich selbst hat qualifizieren können. Seit 2002 ist ZAPPA als Zentrum für Aus- und Fortbildung in Psychomotorischer Praxis Aucouturier in Bonn der institutionelle Ort für ihre Arbeit. Er stellt zugleich das deutsche Institut der ASEFOP (Association Européenne des Ècoles de Pratique Psychomotrice) mit Sitz in Brüssel dar, dem Dachverband der Ausbildungsinstitute, die in Europa nach Aucouturier arbeiten.

Institutionelle Formen sind haltgebend, ohne statisch sein zu müssen. Sie sollen persönlichen Potenzialen Raum geben, die ein thematisches und vielleicht auch methodisches Sichöffnen in neuen Aufgabenfeldern ermöglichen. Darin liegen für Marion Esser, ihrem Team und den vielen Weg-Begleitern und -Begleiterinnen neue kreative Herausforderungen.

Horst, April 2019 Prof. i. R. Dr. Walther Dreher Department Heilpädagogik und Rehabilitation Universität zu Köln

Einführung: Kinder unter Druck

Die am 14. Februar 2011 ausgestrahlte Dokumentation der ARD „Deutschland unter Druck – Die überforderten Kinder (Teil I)“ befasst sich mit dem Thema „Kindheit heute“: Die Eindrücke und Ergebnisse dieser Dokumentation geben Anlass zur Beunruhigung. Aus Sorge um ihre Zukunftschancen setzen immer mehr Eltern ihre Kinder einem ungeheuren Leistungsdruck aus. Bildung scheint späteren Erfolg zu garantieren. Kognitive Förderung soll möglichst früh beginnen. Mehr Bildung soll in immer kürzerer Zeit erworben werden. Ruhe, Ordnung und Disziplin – Prinzipien der Erwachsenenwelt – sollen möglichst früh eingeübt werden, um später konkurrenzfähig zu sein. „Nur die Besten kommen durch“ heißt es mehrfach in dem Film. Private Kindertagesstätten nach amerikanischem Vorbild, die als Kette / Franchiseunternehmen in Deutschland Fuß fassen, verstehen sich als frühe Bildungseinrichtungen. Dem Druck halten jedoch nicht alle Kinder stand.

Nicht nur die chronischen Krankheiten wie Allergien, Asthma und Neurodermitis nehmen zu, sondern auch psychosomatische Beschwerden: Zunehmend mehr Kinder und Jugendliche klagen über Kopfschmerzen, Nervosität, Unruhe, Rückenschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten, Schwindelgefühle, Essstörungen, Magenbeschwerden und Schlafstörungen. Auch Burn-out-Syndrome, „an denen sonst nur Manager leiden“, wie es im Film heißt, sind schon bei 13-Jährigen zu beobachten. Die BELLA-Studie 2017 (Bella-Welle 4, 2014-17, Zusatzmodul KIGGS-Studie, Robert-Koch-Institut) zeigt auf, dass die psychischen Störungen wie Depressionen und Angststörungen zu den häufigsten Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter gehören. Betroffen sind schätzungsweise 20 % der deutschen Kinder und Jugendlichen. Diese Erkrankungen gehen laut Studie einher „mit erheblichen Beeinträchtigungen im familiären, schulischen und sozialen Umfeld“ (Klasen et al. 2017, 55).

Diese Gesundheitsbeeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten drücken die Probleme aus, die Kinder und Jugendliche heute im Umgang mit dem eigenen Körper und der sozialen und dinglichen Welt haben. Sie zeigen, dass die Auseinandersetzung mit den heutigen Anforderungen und Herausforderungen nicht befriedigend gelingt.

Hinzu kommt auf gesellschaftlicher Ebene die Lockerung sozialer und kultureller Bindungen, der Verlust an Wert- und Orientierungsmaßstäben und soziale Unsicherheit.

Martin, fünf Jahre, leidet unter Schlafstörungen und Unruhe. Er wird als hyperaktives Kind bezeichnet. Eltern und Erzieherinnen klagen darüber hinaus über seine Aggressivität, die mit weinerlichem Verhalten abwechselt. Martin wacht um 5 Uhr morgens auf, wandert durch die Zweizimmerwohnung, möchte spielen. Gegen 8 Uhr bringt die Mutter ihn zum Kindergarten. Die Familie isst gemeinsam zu Mittag. Der Vater kommt von seiner Schicht zurück, die Mutter macht sich auf den Weg zu ihrer Arbeitsstelle. Am Nachmittag legt der Vater sich schlafen, Martin soll in dieser Zeit leise sein. Martin schaut fern oder sieht sich eine DVD an. Sein Kopf ist voll von wirren Fantasien über „Action, Fire“, gute und böse Comicfiguren, die sich in nie endendem Kampf gegenüberstehen. Rasch wechselnde Bilderfolgen, die die Kinder in Spannung halten. Der Handlungsablauf, die zu erzählende Geschichte ist dabei nebensächlich. Martin hat gravierende Sprachauffälligkeiten. Wenn seine Mutter am Abend von der Arbeit zurückkehrt, ist es für Martin Zeit, schlafen zu gehen.

Könnte er nicht wenigstens am Nachmittag draußen spielen? Es gibt einen Spielplatz in der Nähe. Um dort anzukommen, müsste Martin zwei stark befahrene Straßen überqueren. Wegen seiner Unruhe und Impulsivität haben seine Eltern Angst, ihn alleine dort hingehen zu lassen. Und Martin selbst möchte auch nicht. Bei all seiner Aggressivität und Unruhe ist er ein ängstliches Kind. Er hat Angst, dass seine Eltern weggehen, und er hat Angst vor anderen Menschen.

Von Martin werden wir an anderer Stelle in diesem Buch noch hören. Er ist eines der Kinder, die im Alter von vier bis sieben Jahren bei den Vorsorgeuntersuchungen im Kindergarten auffällig geworden waren und in der Folge an den psychomotorischen Stunden teilnahmen. (Sämtliche Vor- und Nachnamen der im Buch erwähnten Kinder wurden geändert.)

Pädagogen in Kindergärten und Grundschulen klagen über zunehmende Bewegungsunruhe, zunehmenden Konzentrations- und Ausdauermangel und geringes Sozialverhalten der Kinder. Kein ausreichendes Bewegungsangebot, Bewegungsmangel, eine hektische und schnelllebige Zeit und der Verlust von stabilen Bindungen stehen dem als gesellschaftliche Phänomene gegenüber. Der Ruf nach präventiven Maßnahmen wird laut. In diesem Zusammenhang bekommt die Psychomotorik eine besondere Bedeutung.

Die Psychomotorik versteht sich als ein Ansatz, „der den Zusammenhang von motorischen Abläufen und affektiven Prozessen betrachtet“ (Willke 1981, 40). Sie legt die Vorstellung der psychosomatischen Einheit des Menschen zugrunde und ist in diesem Sinne eine geeignete Möglichkeit, der Komplexität der Beeinträchtigungen der Kinder gerecht zu werden.

Jedoch gibt es nicht die Psychomotorik. Obgleich in den verschiedenen Ansätzen grundlegende Konzepte beispielsweise aus der Psychoanalyse, der Entwicklungspsychologie, der kindlichen Sozialisationsforschung als gemeinsames theoretisches Fundament dienen, sind die daraus gewonnenen Schlussfolgerungen für die Umsetzung in die Praxis, für das konkrete pädagogische und therapeutische Handeln unterschiedlich.

Ich möchte in diesem Buch den französischen Ansatz zur Psychomotorik von Bernard Aucouturier vorstellen. Meine Beschäftigung mit diesem Thema begann mit „Bruno“, dem damals einzigen ins Deutsche übertragenen Werk von Bernard Aucouturier (Aucouturier / Lapierre 1982 / 1999). Die psychomotorische Therapie mit „Bruno“ fand 1975 statt. Seitdem wurden die theoretischen und praktischen Konzepte von Aucouturier und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der ASEFOP Brüssel (Association des Ecoles de Formation à la Pratique Psychomotrice – Europäischer Dachverband der Ausbildungsinstitute in Psychomotorischer Praxis Aucouturier) ständig verändert und weiterentwickelt. „Beweg-Gründe“ versteht sich als Einführung in die theoretischen und praktischen Grundlagen in einem Zeitraum, in dem noch keine Übersetzungen zum Werk von Bernard Aucouturier vorlagen. Inzwischen sind Werke von Bernard Aucouturier in die deutsche Sprache übertragen worden und einige weiterführende, neue Arbeiten erschienen, die in lebendiger und anschaulicher Weise zeigen, wie dieser Ansatz der Psychomotorik in der Praxis in Deutschland umgesetzt wird (Aucouturier 2006; Esser 2009 und 2011; Aucouturier 2019 sowie weitere Artikel, die dem Literaturverzeichnis zu entnehmen sind).

Die vorliegende Arbeit ist ein subjektiver Ausschnitt aus den theoretischen und praktischen Grundlagen. Ich greife die Aspekte aus dem „Ansatz Aucouturier“ heraus, die nach meinem therapeutischen Verständnis die Bedeutung des Körpers für die Entwicklung des Menschen und die grundlegende geistige Haltung gegenüber dem Menschen am besten widerspiegeln.

Psychomotorik zielt in unserem Verständnis nicht auf die Wiederherstellung einer Funktion, das heißt auf den instrumentellen Aspekt, sondern besteht auf einer erweiterten Perspektive. Psychomotorik will und kann kein neues „Abhilfeprogramm“ sein, das die von einer wachsenden Zahl von Psychologen, Medizinern und Pädagogen diagnostizierten Mängel und Störungen beheben will.

Als Antwort auf die psychosoziale Situation der Kinder heute geht es mehr denn je darum, dass Kinder einen Sinn in ihrer Existenz finden, sich selbst wertschätzen und tiefe zwischenmenschliche Beziehungen leben. Es geht darum, dem beschriebenen Mangel an Beziehungs-, Erlebnis- und Konfliktfähigkeit etwas entgegenzusetzen. Psychomotorische Praxis knüpft hier an. Sie basiert auf einer tragfähigen Beziehung zwischen Erwachsenem und Kind. Psychomotorische Praxis heißt, den eigenen Körper intensiv zu erleben und die bei immer mehr Kindern verschüttete Fähigkeit zu entwickeln, kommunikativ und kreativ zu sein. In der oben angeführten Dokumentation heißt es: „Nur die Besten kommen durch. (…) Nicht, was ich bin, ist gefragt, sondern, was ich kann.“

Fantasie und Träume bleiben in einem solchen Denken auf der Strecke. (…) Man kann es auch ganz anders sehen: Lebensfreude und Lebenslust, Kreativität und Schaffenskraft, Lebendigkeit und Ideenreichtum, Bewegung und Beweglichkeit im übertragenen Sinne – um nur einige wichtige Schlüsselwörter der Psychomotorik zu nennen – sind wichtige „Rohstoffe“ für Entwicklung und Fortschritt.

In diesem Sinne kann der Ansatz und das Denken von Aucouturier und seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der ASEFOP sowohl unter therapeutischen als auch unter präventiven Gesichtspunkten einen besonderen Beitrag für gesellschaftliche Entwicklung heute leisten.

1     Die Entwicklung der psychomotorischen Praxis und Theorie von Bernard Aucouturier

„Jede Pädagogik, die sich nicht erneuert, wird schnell starr“ (Lapierre / Aucouturier 1984, 7; diese und folgende Übersetzungen aus dem Französischen von Marion Esser). Mehr oder weniger offene Routine, die Sicherheit, die ein festgelegtes methodisches Vorgehen dem Praktiker bietet, und Ziele, die es zu erreichen gilt, begrenzen in jedem Augenblick eine authentische psychopädagogische Arbeit. „Wir misstrauen schönen psychopädagogischen Theorien, die auf einer abstrakten Konzeption von der Psychologie des Kindes beruhen; die Praxis ist dann nur die Durchführung einer Theorie, die sie zu bestätigen sucht“ (Lapierre / Aucouturier 1984, 11).

Bernard Aucouturiers Vorgehensweise ist umgekehrt. Er geht von seiner praktischen Arbeit mit Kindern und Erwachsenen aus. Auf der Grundlage dieser pädagogischen Erfahrungen entwirft er seine Theorie und entwickelt sie weiter. Zwar wendet er sich von Zeit zu Zeit Konzepten von Freud, Wallon, Piaget, Rogers, Lacan u. a. zu, wenn sich diese Konzepte mit seinen eigenen Beobachtungen decken. Aucouturier gehört aber keiner Schulrichtung an. Er will nicht abhängig sein, weder von einer „Ideologie“ noch von einer Methode. „Unsere Theorie lebt von der ständigen Dialektik von Denken und Handeln“ (Lapierre / Aucouturier 1984, 12). „Nichts ist bei dieser dialektischen Konstruktion jemals vollendet, nichts ist endgültig (…). Unsere Forschungsarbeit unterliegt einer ständigen Entwicklung“ (Aucouturier / Lapierre 1999, 10).

Bernard Aucouturier, geb. 1934, ist von der Grundausbildung Sportpädagoge. Über mehr als vierzig Jahre beschäftigte er sich mit der Konzeptionierung eines eigenständigen Ansatzes in der französischen Psychomotorik. Aucouturier leitete von 1961 bis 1997 das „Centre d’Education Physique Specialisée“ in Tours, das früher ein Zentrum für Schulsonderturnen und Leibeserziehung war, in dem Kinder mit den unterschiedlichsten motorischen Auffälligkeiten behandelt wurden. Unter seiner Leitung wurden dort später Kinder mit motorischen und / oder Verhaltensauffälligkeiten, mit Schul- und Lernschwierigkeiten, mit autistischen Zügen oder geistiger Behinderung aufgenommen und betreut. Auch am „Centre Régional de l’Aide à l’Integration Scolaire“, einem regionalen Förderzentrum für schulische Integration, unterrichtete Aucouturier.

Aucouturier ist Koautor mehrerer Werke zur psychomotorischen Erziehung und Therapie. Im Rahmen seiner Studien wurden ihm mehrere Auszeichnungen verliehen, u. a. der „Académie Nationale de Médecine“ (1971). Er ist Gründungspräsident der „Association Européenne des Ecoles de Formation à la Pratique Psychomotrice“ (ASEFOP Brüssel), der europäischen Dachorganisation der Ausbildungsinstitute, die nach seinem Ansatz arbeiten.