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Die Autorin und der Autor

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Dr. phil. Kathrin Berdelmann arbeitet am DIPF | Leibniz Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. Sie ist dort derzeit Leiterin des Forschungsbereichs der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind historisch-praxeologische Forschung zu pädagogischen Praktiken, Geschichte der pädagogischen Beobachtung, praxistheoretische Schul- und Unterrichtsforschung, methodologische Fragen der Erforschung von pädagogischem Raum und Materialität.

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Dr. phil. habil. Thomas Fuhr ist Diplompädagoge und lehrt und forscht als Professor für Erwachsenenbildung/Weiterbildung an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Lehren und Lernen im Erwachsenenalter und pädagogische Ethik.

Kathrin Berdelmann Thomas Fuhr

Zeigen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-022468-1

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026808-1

epub:    ISBN 978-3-17-026809-8

mobi:    ISBN 978-3-17-026810-4

Vorwort der Herausgeber

 

 

 

Das Spektrum pädagogischer Felder hat sich in den letzten Jahren erheblich ausdifferenziert. Es reicht von der Familie über den Kindergarten und die Schule bis zur Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung, betrieblichen Weiterbildung und Altenbildung und umfasst inzwischen auch den eher informellen Bereich von Lehr- und Lernprozessen in den Massenmedien und im Internet. So vielfältig wie die Arbeitsfelder sind die pädagogischen Praktiken. Trotzdem lassen sich diese auf eine begrenzte Zahl von Grundformen pädagogischen Handelns zurückführen (die so etwas wie die operative pädagogische Matrix bilden).

Die Reihe »Pädagogische Praktiken« hat dieses Spektrum pädagogischer Handlungsformen zum Gegenstand. Die einzelnen Bände informieren vor dem Hintergrund des relevanten erziehungswissenschaftlichen Wissens jeweils kompetent über eine dieser grundlegenden pädagogischen Praktiken und liefern dazu das institutionell und professionell differenzierte Erfahrungs- und Hintergrundwissen, das in der pädagogischen Praxis zum Einsatz kommt.

Die kompakten Einführungsbände sind so geschrieben, dass sie Studierenden eine Erweiterung und theoretische Fundierung ihres Erfahrungshorizontes ermöglichen. Die Reihe wendet sich gleichzeitig auch an Praktiker, die hier zur Reflexion, Differenzierung und Erweiterung ihres Handlungsrepertoires angeleitet werden.

Die Herausgeber

Dr. Birte Egloff (Universität Frankfurt)

Prof. Dr. Werner Helsper (Universität Halle-Wittenberg)

Prof. Dr. Jochen Kade (Universität Frankfurt)

Dr. Christian Lüders (Deutsches Jugendinstitut, München

Prof. Dr. Frank-Olaf Radtke (Universität Frankfurt)

Prof. Dr. Werner Thole (Universität Kassel)

Inhalt

 

 

  1. Vorwort der Herausgeber
  2. Einleitung
  3. 1 Fallbeispiele
  4. 2 Interdisziplinäre Perspektiven auf das Zeigen
  5. 2.1 Phänomenologie: Zeigen als »Sich-Zeigen«
  6. 2.2 Pragmatismus: Zeigen als Handeln
  7. 2.3 Evolutionspsychologie: Zeigen als Mittel kooperativer Kommunikation
  8. 2.4 Entwicklungspsychologie: Zeigen als Voraussetzung für Sprechen
  9. 2.5 Sozialanthropologie und Soziolinguistik: Die Kontextgebundenheit des Zeigens
  10. 2.6 Zusammenfassung
  11. 3 Das Zeigen in der Operativen Pädagogik
  12. 3.1 Lernen
  13. 3.2 Erziehen als Zeigen
  14. 3.3 Die Mikrostruktur des Zeigens
  15. 3.4 Die Mesostruktur des Zeigens: Artikulation und Synchronisation
  16. 3.5 Pädagogische Zeiträume im Lebenslauf
  17. 3.6 Kritische Würdigung
  18. 4 Zeigen als Praktik
  19. 4.1 Was sind Praktiken? Grundzüge der Praxistheorie
  20. 4.2 Die pädagogische Praktik des Zeigens
  21. 4.3 Die subjektivierende Seite des Zeigens: Anerkennung und Adressierung
  22. 4.4 Phänomenologisch-empirische Forschung: Zeigen und Lernen als Antwortgeschehen
  23. 4.5 Kritische Würdigung
  24. 5 Ostensives Zeigen und übendes Lernen
  25. 5.1 Vormachen und Vorzeigen
  26. 5.2 Der Weltbezug des Zeigens und das pädagogische Prinzip der Anschauung
  27. 5.3 Das den Umgang unterbrechende Zeigen und die Herausforderung der Synchronisation
  28. 5.4 Zeigen in der Konkurrenz mit dem Umgang
  29. 5.5 Arrangieren von Lernumwelten
  30. 5.6 Kritische Würdigung
  31. 6 Zeigen in der Schule
  32. 6.1 Zeigen durch Schülerinnen und Schüler in individualisierenden Unterrichtsarrangements
  33. 6.2 Zeigen durch Lehrerinnen und Lehrer in der Lernberatung
  34. 6.3 Zeigen im instruktionsbasierten Unterricht
  35. 6.4 Kritische Würdigung
  36. 7 Zeigen in der nachschulischen Bildung und Beratung
  37. 7.1 Zeigen im chirurgischen Praktikum
  38. 7.2 Zeigen in der nicht-direktiven Beratung
  39. 7.3 Zeigen in der Lernberatung im Studium
  40. 7.4 Zusammenfassung
  41. 8 Zusammenfassung und Ausblick
  42. Literatur

Einleitung

 

 

 

Wer Menschen in Lernprozessen unterstützt, wird vielfach auf Praktiken des Zeigens zurückgreifen. Eine Chemielehrerin zeigt im Experiment, dass sich Kochsalz in Wasser löst. Ein Erzieher zeigt einem Kind im Kindergarten, wohin das Spielgerät aufgeräumt wird: »Siehst du, hier kommt der Bauklotz rein«. Eine Sporttrainerin macht Jugendlichen eine Bewegung vor, damit sie lernen sie selbst auszuführen. Indem eine Trainerin in einem Unternehmen mit Teilnehmerinnen einer Weiterbildung Ansätze der Führung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bespricht und dabei Wissen über neuere Führungsansätze einbringt, »zeigt« sie den Teilnehmerinnen der Weiterbildung diese Ansätze; sie »zeigt« ihr Wissen, indem sie es mitteilt. Wenn schließlich Sozialpädagoginnen und -pädagogen den Jugendlichen eines Stadtteils ein Jugendhaus einrichten, in dem es einen offenen Bereich mit Getränkeausschank, kreative Kurse und andere Angebote gibt, so arrangieren sie damit eine Umwelt, in der die Jugendlichen bestimmte Erfahrungen machen können, die von den pädagogischen Fachkräften als hilfreich und wertvoll angesehen werden. Sie hoffen, dass die Jugendlichen sich in dem Jugendhaus geborgen fühlen, dass sie gerne kommen und dort Erfahrungen machen, die sie sonst vielleicht nicht machen würden. Die Umwelt soll den Jugendlichen etwas »zeigen«, das sie sonst nicht kennen.

In all diesen Praktiken wird etwas gezeigt, und zwar zumindest der Absicht nach so, dass die Lernenden das Gezeigte sehen und dieses Hinsehen eine Grundlage dafür ist, etwas zu lernen. Wenn wir einen weiten Begriff des Zeigens verwenden, so ist pädagogisches Tun oder Handeln – verstanden als solches, das vielerlei Arten von Lernprozessen unterstützt – ohne Zeigen nicht denkbar.

Mit Blick auf die in den letzten Jahren zahlreich erschienenen Publikationen zum Zeigen in unterschiedlichen Disziplinen kann von einer gewissen Popularität des Zeigens gesprochen werden. In Beiträgen der Philosophie, Evolutionspsychologie, Anthropologie, Bildwissenschaften, Soziologie und der Erziehungswissenschaft sowie der Kunstgeschichte und Filmwissenschaften ist die Vielfalt der Verwendung des Begriffes groß. Interdisziplinäre Werke zum Zeigen versuchen die variationsreichen Perspektiven auf das Zeigen in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu erfassen, die dem Verständnis von Zeigen als Tätigkeit zugrunde liegen. Zeigen bleibt dabei vielschichtig; die Konzeptionen des Zeigens in den unterschiedlichen Wissenschaften sind breit und unterschiedlich.

Es hat sich, gerade in pädagogischen Kontexten, eine »Kultur des Zeigens« (Wiesing 2013, S. 12) entwickelt. Das Zeigen ist einerseits eine bedeutende Praxis neben dem Sprechen und der geschriebenen Sprache. Andererseits hat auch das Sprechen eine deiktische Funktion, das heißt es weist auf etwas hin, zeigt etwas auf. In pädagogischen Kontexten wird selten gezeigt, ohne dass dazu auch gesprochen wird, aber das Zeigen ist nicht nur ein Beiwerk, das man auch lassen kann, sondern eine wichtige Praxis. Das Zeigen findet in Interaktionen und sozialen Kontexten statt, es prägt sich dort in vielfältigen Formen aus.

Das Zeigen gehört tatsächlich schon immer zum pädagogischen Handeln, in historischer Betrachtung finden sich zahlreiche Beispiele für das Zeigen. So kann bereits auf einer antiken Vase das Bild eines Schulmeisters mit einer Schreibtafel auf dem Schoß und dem Griffel in der Hand gefunden werden (image Abb. 1). Den Zeigefinger hat er – möglicherweise mahnend – erhoben. Die Vase wurde auf 300 v. Chr. geschätzt.

Auf einem Bild aus dem frühen 19. Jahrhundert zeigt der Lehrer mit dem Zeigestock auf einen Buchstaben auf einer Tafel (image Abb. 2). Dabei blickt er auf Kinder, die auf das von ihm Gezeigte schauen. Der Zeigestock mag geradezu als Kennzeichen des Lehrberufs gelten. Oft auch als Schlagstock verwendet, war er ein pädagogisches Mittel des Hinweisens und Disziplinierens.

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Abb. 1: Antike Vase

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Abb. 2: Die Schule, Kupferstich von Johann Michael Voltz
Quelle: Pictura Paedagogica Online – Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des DIPF,
Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation.

In diesem Buch wollen wir das Zeigen als eine grundlegende pädagogische Praktik, mehr sogar: als die eigentliche pädagogische Kernpraktik in Stellung bringen. Wir werden dazu das Zeigen in unterschiedlichen pädagogischen Feldern, das heißt in Handlungszusammenhängen, Institutionen und Orten, in denen pädagogisch gehandelt wird, untersuchen. Gleichzeitig werden wir den Blick weiten und das Zeigen in seinen interdisziplinären Bezügen verorten (image Kap. 2); es wird sowohl analytisch mit einer pädagogischen Theorie des Zeigens (image Kap. 3) und seinen theoretischen Weiterführungen als auch mit seinen empirischen Anschlüssen und der in den letzten zehn Jahren entstandenen pädagogischen Zeigeforschung in den Blick genommen (image Kap. 4 bis image Kap. 7). Unser Anliegen ist es, das Zeigen in einer Vielzahl von Ausformungen und Rahmungen in pädagogischen Handlungsfeldern möglichst facettenreich zu beleuchten. Dies geschieht vor dem Hintergrund von – vornehmlich – phänomenologischen, praxistheoretischen und handlungstheoretischen Ansätzen. Wir stellen ausgewählte Studien der letzten Jahre dar und ergänzen diese mit eigenen – teils empirischen – Analysen zum Zeigen als pädagogischer Kerntätigkeit.

Auf einige Felder des Lernens gehen wir nicht ein oder streifen sie nur. Das betrifft Forschungen dazu, wie Inhalte in den Medien des Zeigens, etwa Bücher oder Internetseiten, präsentiert werden. Ebenso gibt es eine breite Forschung zum Lernen mit Medien, bei dem Lernende mit Medien (wie Tablets, Computerprogrammen etc.) lernen, ohne dass die Verfasser des Gezeigten beim Lernprozess anwesend wären. Auf beide Felder gehen wir nicht ein. Wir beschränken uns auf Zeigepraktiken in pädagogischen Interaktionen mit anwesenden Personen. Nichtsdestotrotz wäre zu untersuchen, wie sich das Zeigen mit Medien gestaltet und unter welchen Bedingungen welche Medien überhaupt hilfreich sind.

Wir beginnen mit einem Einstieg in die konkrete Praxis des pädagogischen Zeigens anhand von breit gestreuten Fallbeispielen, die dem Zeigebegriff erste Konturen geben werden.

 

 

 

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Fallbeispiele

 

 

In jedem pädagogischen Handeln ist ein Zeigen enthalten, sei es direkt oder indirekt. Wenn man sich als Pädagogin oder Pädagoge fragt, wie man handeln kann, welche Methode, welcher pädagogische Ansatz hilfreich ist, um Lernprozesse zu unterstützen, so kann man diese Frage in zeigetheoretischer Hinsicht in die Fragen danach übersetzen, was man den Adressaten von sich und der Welt zeigen soll und wie es gezeigt werden kann. Das Zeigen selbst kommt in verschiedenen Arten – in Formen des Zeigens – vor, vom einfachen Hinzeigen über das sprachlich vermittelte Zeigen, wie dies beispielsweise in Lehrveranstaltungen und Workshops der Fall ist, bis zum Arrangieren von Lernumwelten, wie im obigen Beispiel der Jugendeinrichtung. Zeigen heißt, den Adressatinnen und Adressaten eine Erfahrung zu ermöglichen und sie gegebenenfalls sprachlich zu interpretieren.

In den Fallbeispielen werden wir insbesondere drei Formen des Zeigens unterscheiden, das gestische, das repräsentative und das indirekte Zeigen, und daran einige allgemeine Merkmale des Zeigens sowie einige Unterschiede zwischen den drei Zeigeformen herausarbeiten. Die Person, die etwas zeigt, nennen wir im Folgenden zeigende Person; die Person, an die sich die zeigende Person mit dem Zeigen wendet, nennen wir Adressatin bzw. Adressat oder die adressierte Person.

Das gestische Zeigen

Wenn jemand direkt auf etwas hinzeigt, so geschieht dies oft mit dem Zeigefinger (lat. index; engl. index finger, manchmal auch pointer finger; franz. l’index), der seinen Namen deshalb trägt, weil er für das Zeigen bevorzugt verwendet wird (image Abb. 3).

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Abb. 3: Zeigen mit dem Zeigefinger
Aufnahme: Nasser Parvizi

Manchmal zeigt eine Person mit dem Zeigefinger auf eine andere Person, die sie anklagt und für etwas verantwortlich macht: »Du bist schuld!«, wofür sie dann im Englischen vielleicht die Antwort erhält: »Don’t point your finger(s) at me!«, im Französischen »Ne me montre pas du doigt!« Im Deutschen könnte man sagen: »Zeige nicht mit dem Finger auf mich, ich habe nichts getan!«

Der häufigste Akt des Zeigens ist aber vermutlich, dass die zeigende Person nicht auf die adressierte Person zeigt, sondern auf etwas Drittes, beispielsweise ein Objekt oder in eine Richtung. Dieses Dritte nennen wir im Folgenden den Gegenstand des Zeigens. Beim gestischen Zeigen verwendet die zeigende Person Hilfsmittel, neben dem Zeigefinger beispielsweise die ganze Hand oder einen Pointer, um die Aufmerksamkeit der adressierten Person auf den Gegenstand des Zeigens zu richten.

Ein einfaches Beispiel hierfür wäre, dass eine Person jemanden nach dem Weg fragt und als Antwort bekommt: »Sie gehen immer geradeaus (die zeigende Person streckt die Hand in die entsprechende Richtung aus), bei der zweiten Straße rechts rein (die zeigende Person macht mit der Hand eine Bewegung nach rechts), und schon sehen Sie den Bahnhof vor sich.« Insofern hat das Zeigen eine triadische Struktur: Die zeigende Person zeigt auf den Gegenstand im Hinblick darauf, dass die Adressatin bzw. der Adressat auf den Gegenstand schaut.

Das gestische Zeigen kann auch ganz auf Zeigefinger und Hand verzichten; in diesem Fall werden andere Körperteile zur Ausführung der Geste benutzt, beispielsweise bei einer Fußballerin, die einer Mitspielerin signalisieren möchte, dass diese ihr den Ball in den Laufweg Richtung gegnerisches Tor zuspielen soll: Sie schaut zur Mitspielerin, die den Augenkontakt aufnimmt; daraufhin dreht sie den Kopf und die Schulter in die Richtung, in die sie laufen möchte, und geht davon aus, dass die Mitspielerin diese körperliche Bewegung richtig deutet und ihr den Ball in die Laufrichtung zuspielt. Sie macht die Drehung mit dem Kopf und der Schulter, bevor sie losrennt, vielleicht unbewusst. Sie zeigt gar nicht bewusst, aber ihrer Mitspielerin zeigt sich, dass sie sprinten wird und die Mitspielerin ihr den Ball in die Laufrichtung spielen kann. Die Fußballspielerin kann die Drehung aber auch bewusst einsetzen. Vielleicht hat die Trainerin ihr erklärt, dass sie mit der Drehung den Sprint andeutet und dass das eine Botschaft für die Mitspielerin ist. Sie soll in passenden Momenten den Sprint andeuten, schauen ob die Mitspielerin das Zeichen erkennt und dann je nachdem, ob sie es erkannt hat, den Sprint ausführen oder nicht.

Die Zeigehandlung wird auch als Zeigegeste bezeichnet. Insofern verstehen wir unter gestischem Zeigen – auch jenseits pädagogischer Natur – jeden Akt, mit dem eine Person eine andere Person mit einer körperlichen Geste auf einen Gegenstand hinweist.

Auch in pädagogischen Kontexten muss es nicht notwendig die Pädagogin oder der Pädagoge bzw. eine erwachsene Person sein, die etwas zeigt. Vielmehr muss zwischen den Positionen innerhalb des Zeigens unterschieden werden. Schon kleine Kinder strecken den Arm aus, wenn sie etwas haben wollen, je nach Dringlichkeitsgrad auch durch ein Weinen oder Schreien begleitet. Das ist zuerst einmal überhaupt kein Zeigen, sondern nur der Versuch, das Objekt zu ergreifen. Schon bald jedoch können Kinder die Bewegung als Geste einsetzen, um einer Person etwas mitzuteilen. Die Positionen der zeigenden und adressierten Personen können also wechseln. Mal zeigt die Mutter etwas dem Kind, mal das Kind etwas der Mutter, mal die Erwachsenenbildnerin etwas den Teilnehmern, mal eine Teilnehmerin etwas dem Erwachsenenbildner oder einer anderen Teilnehmerin. Auch Kinder einer Kita, Schülerinnen einer Klasse oder andere Lernende können sich gegenseitig etwas zeigen.

Das repräsentative Zeigen

Zeigegesten können stumm vor sich gehen, oftmals wird die Geste allerdings durch sprachliche Erläuterungen ergänzt. Wer jemandem eine Tür aufhält, sagt vielleicht: »Bitte, gehen Sie«; die Fußballerin ruft ihrer Mitspielerin zu, dass sie abspielen soll, weil diese vielleicht gar nicht sieht, dass sie frei ist.

In der frühkindlichen Erziehung zeigen Eltern nicht selten, das Kind auf dem Arm haltend, auf einen Gegenstand, etwa eine Figur, die im Regal steht, und benennen ihn: »Schau, das ist eine Tasse«, oder nur kurz: »Tasse«. Der ausgestreckte Zeigefinger gibt dem Kind an, welcher Gegenstand benannt wird, die Sprache liefert den Ausdruck dazu. Dem Kind gefällt das in der Regel und es spricht oftmals den Namen nach: »Tasse«. Wenn es zu einem Gegenstand kommt, den es schon kennt, so benennt es ihn nicht selten spontan, ohne dass zuvor jemand auf diese Sache gezeigt und sie benannt hätte – die Eltern fahren es mit dem Kinderwagen spazieren, kommen an einem Springbrunnen vorbei und das Kind sagt, mit dem Arm auf den Brunnen zeigend: »Wasser«.

Repräsentativ nennen wir dieses Zeigen, weil der sprachliche Ausdruck für den gezeigten Gegenstand steht. Repräsentativ gezeigt wird aber nicht nur durch das Benennen, sondern auch durch grafische Symbole, wie man sie etwa auf Schildern in öffentlichen Gebäuden oder auf Straßen findet (image Abb. 4).

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Abb. 4: Schilder

Schilder weisen durch ihre Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten auf das Bezeichnete hin. Sie abstrahieren das Bezeichnete so, dass die Adressaten das Bezeichnete – hier den Rollstuhl und den Notausgang – leicht und eindeutig identifizieren können. Sie verweisen darauf, dass das abgebildete Objekt an einer bestimmten Stelle zu finden ist, oder ein bestimmtes Verhalten erwartet bzw. verboten ist. Das Symbol verweist auf ein Bezeichnetes.

Schilder haben in solchen Fällen einen großen Vorteil: die zeigende Person muss nicht mehr anwesend sein. Gleiches gilt für gedruckte Texte in Büchern, im Internet oder anderen Medien. Das Zeichen wird von der zeigenden Person abgelöst, kann prinzipiell in unbegrenzter Auflage produziert werden und deshalb mehr Adressatinnen und Adressaten erreichen als das personengebundene Zeichen. Dennoch ist die triadische Struktur des Zeigens auch hier zu finden, denn im Gegensatz zu natürlichen Zeichen – etwa dem Rauch, der uns auf ein Feuer hinweist – sind sie von Menschen zum Zweck des Zeigens gefertigt und angebracht worden. Es wird weiterhin gezeigt, jedoch nicht direkt, sondern über das Schild vermittelt.

Repräsentativ gezeigt wird auch über Bilder, die gemalt werden, um etwa einen Weg zu erklären, sowie über Diagramme und andere Abbildungen, wie man sie auch in diesem Buch findet. Auch Musik, Kunstwerke und Filme zeigen etwas. Am differenziertesten kann die gesprochene und geschriebene Sprache zeigen. Es stehen dazu eine Vielzahl von Symbolen und Ausdrücken sowie Regeln ihrer Verknüpfung zur Verfügung, ebenso Redewendungen, Redegattungen vom Smalltalk bis zur mündlichen Beratung und Schreibgattungen von der Erzählung bis zur theoretischen Analyse, auf die man sich mehr oder weniger genau stützt, wenn man spricht oder schreibt.

Mithilfe von geschriebener und gesprochener Sprache und Bildern können Objekte vergegenwärtigt werden, die aktuell nicht in Sichtweite sind. Das Wissen über unsere Geschichte, über fremde Länder und Menschen, die wir nie selbst sehen konnten, haben wir nur so erhalten, vermittelt über Bilder, Filme oder Erzählungen.

Die gesprochene und geschriebene Sprache ermöglicht zudem die Darstellung komplexer Zusammenhänge. Mit der Sprache der Mathematik können komplizierte Thesen bewiesen und Algorithmen geschrieben werden, mit der Lautsprache komplizierte politische Thesen erläutert oder in einer Wohngemeinschaft wichtige Fragen des Zusammenlebens erörtert werden. Jedes Sprechen verweist auf etwas, das die oder der Sprechende zeigen möchte, sei es die politische These oder die eigene Sicht auf die Probleme des Zusammenlebens. Wenn man spricht oder schreibt, so kann man nicht nichts sagen, nicht auf nichts anderes, Drittes verweisen, denn jede Sprache verweist auf ein Objekt; sie zeigt das Dargestellte im Modus der Repräsentation.

Weil der Verweisungszusammenhang komplexer ist als beim gestischen Zeigen, beim Benennen oder bei grafischen Hinweisen, gewinnt die Frage nach der Interpretation – dem Verstehen – des Gesagten mit dem Zuwachs an Komplexität der Darstellung eine zunehmende Bedeutung, und wenn man überhaupt nicht mehr versteht, was die andere Person sagen will, so fragt man vielleicht: »Ich verstehe ja, was du sagst: aber worauf willst du hinaus? Was willst du mir zeigen?«, oder: »Ich verstehe was du meinst, aber ich stimme nicht zu. Du versuchst zu zeigen, dass du im Recht bist, aber deine Argumente sind zu schwach«, und bestätigt damit den Zeigecharakter der Sprache.

Das Zeigen provoziert nicht unbedingt ein Verstehen des Gezeigten. Nicht jedes Zeigen führt dazu, dass die adressierte Person das sieht, was die zeigende zu zeigen versucht. Und wenn wir nun annehmen, dass Verstehen eine Grundlage von Lernen ist, dann ist der Zusammenhang von Zeigen und Lernen ebenfalls nicht einfach. In einer ersten Annäherung an die Frage danach, wie Zeigen, Lernen und pädagogisches Handeln zusammenhängen, können wir festhalten: Pädagogik ist die Kunst zu entscheiden, was den Lernenden gezeigt werden soll und wie der Gegenstand den Lernenden so gezeigt werden kann, dass sie von ihrer Ausgangslage her verstehen können, was ihnen gezeigt wird und auf welches Drittes dieses Zeigen verweist, was also die Botschaft ist, die mit dem Zeigen verbunden ist.

Das indirekte Zeigen

Eine Variante des repräsentativen Zeigens ist das indirekte Zeigen. Indirekt wird gezeigt, wenn das Gezeigte zunächst auf etwas anderes verweist als auf das eigentlich Gemeinte. Das Kompliment, die Ironie, die Metapher oder die Synekdoche (»Solange du die Füße unter meinen Tisch streckst…«) verweisen auf etwas nicht Gesagtes. In der Rhetorik werden Ausdrücke, die auf anderes als das Gesagte verweisen, als Tropen bezeichnet, die entsprechende Rede als uneigentliche Rede. Im uneigentlichen Sprechen weisen wir auf etwas anderes hin als das, was mit dem Begriff eigentlich gemeint ist. Es gibt kulturell bedingte Traditionen, Sitten, Tabus oder moralische Regeln, welche die uneigentliche Rede nahelegen, so etwa, wenn man eine Vorgesetzte freundlich begrüßt, obwohl man sie zum Teufel wünscht, oder man eine abwertende Einstellung gegenüber einer Gruppe von Menschen nicht ausdrückt, weil es nicht der political correctness entspricht.

Als indirektes Zeigen können wir auch Handlungen bezeichnen, bei denen zwar etwas gezeigt wird, aber ohne dass Zeigegesten benutzt werden oder sprachlich direkt auf etwas hingewiesen wird. So beschreibt etwa Veblen (2000), wie die vornehme Klasse Englands in der Jagd, in zahlreichen komplizierten Höflichkeitsformen, in der Organisation von karitativen Einrichtungen oder im Verbrauch von Luxusgütern ihr Prestige demonstrativ ausdrückt. Indirekt ist auch die Beratung, wenn die beratende Person auf Ratschläge verzichtet und durch Nachfragen und Rückmeldungen der ratsuchenden Person hilft zu erkennen, was sie selbst will. Ähnliches gilt für die Moderation einer Arbeitsgruppe, wenn die Moderatorin oder der Moderator keine inhaltlichen Inputs zum Thema der Arbeitsgruppe gibt, sondern sich darauf beschränkt, den Arbeitsprozess zu moderieren und anzuleiten.

Zusammenfassend können wir festhalten: Das gestische Zeigen nutzt Hilfsmittel, um die Aufmerksamkeit des Adressaten bzw. der Adressatin auf einen Gegenstand zu lenken. Mit einer Zeigegeste wird auf das zu Zeigende direkt hingewiesen. Anders als das gestische Zeigen zeigt das repräsentative Zeigen vermittelt über Sprache, Bilder oder Symbole. Die Verbindung zum Gezeigten ist entweder direkt oder indirekt.

Nach dieser ersten einleitenden Differenzierung des Zeigens in unterschiedliche Varianten wird nachfolgend nun ein Blick in die disziplinären Kontexte geworfen, in denen Zeigen als wichtiges Konzept aufgegriffen wird. Dabei werden nicht nur einige Zeigetheorien dargestellt, sondern auch ausgewählte empirische Studien dazu.

 

 

 

2

Interdisziplinäre Perspektiven auf das Zeigen

 

 

Nach dem Philosophen und Phänomenologen Lambert Wiesing (2013) lassen sich zwei große Strömungen in der Zeigeforschung unterscheiden: eine evolutionspsychologisch-sozialanthropologische und eine phänomenologische. Andere Ansätze beziehen sich auf die Philosophie des Pragmatismus und auf soziologische Theorien oder sie untersuchen die Rolle des Zeigens in der kindlichen Entwicklung. In diesem Abschnitt stellen wir diese disziplinären Ansätze vor. Zeigen wird – meist auf der Grundlage empirischer Studien – als zentrale Grundlage menschlicher Kommunikation und Bedingung für die Sprachentwicklung ausgewiesen. Es wird als kontextgebunden und als eine bestimmte Geste neben anderen in menschlicher Kommunikation aufgefasst.

2.1       Phänomenologie: Zeigen als »Sich-Zeigen«

Nach der Unterscheidung von Wiesing (2013) ist eine zentrale Strömung der Zeige-Forschung durch phänomenologische Beschreibungen des Zeigens geprägt. Diese sind als ergänzend zu den evolutionspsychologisch informierten Ansätzen zum Zeigen (image Kap. 2.3) zu verstehen, denn sie verfolgen das Ziel, Zeigen als ein dem Sprechen gleichwertiges Phänomen darzustellen. Zeigen ist mehr als ein Element des Sagens, mehr als ein »Vorläuferphänomen« von Kommunikation, wie es die Evolutionspsychologie zu sehen neigt; es ist eine eigenständige menschliche Tätigkeit, »Teil einer Dimension des Menschseins« (Gumbrecht 2010, S. 201). Zeigen ist dann eine von der Sprache unabhängige Dimension menschlichen Tuns, die weder Wegbereiter noch mögliches Ingrediens des Sagens (Boehm 2010) ist. Ein solches Verständnis von Zeigen liegt beispielsweise einigen Ansätzen zugrunde, die Zeigen in phänomenologischer Perspektive aufgreifen (Gumbrecht 2010; Landweer 2010; Mersch 2010; Wiesing 2013). Sie tun dies nicht selten unter Bezugnahme auf Martin Heideggers Abhandlung über die Phänomene (Heidegger 1979). Die Praxis des Zeigens bedarf verschiedener Mittel und Werkzeuge und es handelt sich dabei um »einen kulturellen Umgang mit Dingen, der dazu führt, dass diese Dinge andere Menschen etwas sehen lassen« (Wiesing 2013, S. 14, Hervorhebung im Original). Um die Prinzipien zu erkennen, die »für das Funktionieren dieser Praxis notwendig sind« (Wiesing 2013, S. 14), untersucht Wiesing nun im Rahmen einer Phänomenologie des Zeigens Techniken und Praktiken des Sehen-lassens – vornehmlich mit Bildern.

Nach Wiesing ist das Zeigen eine »instrumentelle Praktik« (Wiesing 2013, S. 14); sie hat zum Ziel, dass eine andere Person etwas Bestimmtes sieht. Um zu verstehen, wie das Zeigen als ein »Sehen-lassen« phänomenologisch zu fassen ist, muss zunächst Wiesings Auslegung von Martin Heideggers Begriffen des Phänomens, des Scheinens und der Erscheinung sowie ihr Verhältnis zueinander geklärt werden.

Der Philosoph Heidegger fragt nach der Art und Weise, wie Phänomene sich uns zeigen und wie der Phänomenologe sie dann sehen lassen kann, in gewissem Sinne also zeigen kann. Eine Erscheinung ist nach Heidegger (1979, S. 29) etwas, das auf etwas anderes verweist, so wie in einer medizinischen Perspektive der Husten auf die Erkältung oder in einer theologischen die Schöpfung auf einen Schöpfer hinweist. Wäre es aber nicht möglich, so fragt Heidegger, die Welt nicht nur »als Erscheinung von etwas Hintergründigem zu verstehen« (Wiesing 2013, S. 37), als Symbol, Symptom, Darstellung, Ausdruck oder Indikation von etwas, sondern sie wahrzunehmen und zu beschreiben, wie sie ist, als »Phänomen«? Ein Phänomen ist dann etwas, was nicht auf anderes verweist – auf das Eigentliche, Wesentliche, Dahinter-Stehende, das Wirkliche, im Wandel Bleibende, das sich hinter der Vielfalt Verbergende –, sondern das für sich selbst steht. Es zeigt nicht auf etwas anderes, sondern es zeigt sich selbst (Heidegger 1979, S. 7) auf. Heidegger bestimmt das »Phänomen« anthropomorph, wie Wiesing anführt, also als etwas, das »sich wie ein Subjekt selbst zeigt« (Wiesing 2013, S. 1). So aber sollte das nicht verstanden werden, diese Wortwahl Heideggers hält Wiesing für unglücklich. Denn die Phänomene zeigen sich gerade nicht selbst und sie liegen auch nicht offensichtlich vor, sondern können verdeckt oder verstellt sein. Es ist möglich, dass das Seiende gerade das zeigt, »was es an ihm selbst nicht ist« (Heidegger 1979, S. 28, Hervorhebung im Original). Dann handelt es sich um ein Scheinen