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Für Markus

Alle Charaktere, Schauplätze und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind unbeabsichtigt.

© Querverlag GmbH, Berlin 2020

Erste Auflage März 2020

Lektorat: Dennis Lorenz

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie von mauritius images/Louis Louro/Alamy.

ISBN 978-3-89656-666-9

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Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de

Prolog

Ich sah rote und blaue Lichter im Seitenspiegel flackern und, als ich mich umdrehte und einen Blick aus dem Heckfenster warf, einen breiten SUV des örtlichen Sheriffbüros, der dicht hinter uns fuhr und uns zum Halten aufforderte. Wir waren auf einer zweispurigen Landstraße in Florida unterwegs, die sich schnurgerade bis zum Horizont erstreckte. Links und rechts von uns befanden sich dichtbelaubte Wälder, zwei massive grüne Wände, die immer näher zu rücken schienen. Mein Herz raste. Ich kam mir vor wie in einem schlechten Hollywoodfilm.

„Du bist zu schnell gefahren“, sagte ich, und Panik schwang in meiner Stimme mit.

„Kann sein“, meinte Robert gelassen und kramte im Handschuhfach nach den Papieren unseres Autovermieters. „Auf dieser Straße verlierst du schnell jedes Gefühl für Geschwindigkeit.“

Er war inzwischen rechts rangefahren, und auch der Streifenwagen hatte hinter uns gestoppt. Bei einem weiteren Blick über die Schulter stellte ich fest, dass der Polizist in sein Funkgerät sprach. Wahrscheinlich überprüfte er nur unser Kennzeichen. Oder er rief Verstärkung.

„Oh, mein Gott, wir landen alle im Knast und werden von einem Dutzend tätowierter Kerle vergewaltigt“, prophezeite Nils, der direkt hinter mir saß. Obwohl er nervös klang, hatte ich das ungute Gefühl, dass dieses Szenario eine seiner Pornofantasien war.

„Wir sind vier Touristen, die einen Ausflug nach Disney World gemacht haben“, sagte Robert genervt. „Vier weiße Touristen. Warum sollte man uns verhaften?“

In meinem Kopf spulte sich ein Dutzend verschiedene Szenarien ab. Was wäre, wenn Nils irgendwas Dummes oder Beleidigendes sagen würde? Oder wenn ich vor lauter Nervosität wie der Hauptverdächtige in einem Mordfall wirkte und deshalb die Aufmerksamkeit des Polizisten erregte? Meine Hände wurden schweißnass. Ich war auch in Deutschland schon in Polizeikontrollen geraten, einmal mitten in der Nacht, ohne Brieftasche und in einem geliehenen Wagen. Der Beamte hatte sich meine Geschichte angehört und dann nur müde gesagt, ich solle einfach weiterfahren. Aber wir waren in Amerika, und ich hatte genügend Videos auf Facebook gesehen, in denen Autofahrer aus dem Wagen gezerrt und erschossen worden waren.

Mein Mund fühlte sich unglaublich trocken an. Ich schaute zu meinem Cousin Walter, den alle nur Wally nennen, weil er als Kleinkind seinen Namen nicht richtig aussprechen konnte und immer nur „Wall-Wall“ sagte, woraus irgendwann Wally wurde. Er sank tiefer in die Rückbank und war kreidebleich im Gesicht. Mein Atem ging schneller, und dann fiel mir etwas ein.

„Ich hab noch den Zauberstab in der Jacke. Was, wenn er den für eine Waffe hält?“

Robert schaute mich mitleidig an: „Andy, Harry Potter ist nicht real …“

Als ich wieder nach hinten blickte, sah ich, wie der Polizist ausstieg und, die Hand auf dem Holster, langsam näherkam. Allerdings ging er nicht auf die Fahrer-, sondern auf die Beifahrerseite zu, wo er sich in etwa anderthalb Metern Entfernung aufbaute. Robert ließ die Fensterscheibe herunter und grüßte den Beamten freundlich, was aber nicht erwidert wurde. Der Polizist – ein Weißer mittleren Alters – musterte uns der Reihe nach und meinte dann, wir seien zu schnell gefahren; seine Augen blieben hinter einer verspiegelten Sonnenbrille verborgen.

Ich war viel zu aufgeregt, um alles zu verstehen, was er sagte, aber Robert blieb cool und entschuldigte sich in seinem etwas holperigen Englisch mit deutschem Akzent. Der Beamte forderte ihn auf, ihm zu seinem Wagen zu folgen, und Robert warf mir einen kurzen, beruhigenden Blick zu, bevor er ausstieg.

„Was dauert denn da so lange?“, fragte ich nach einigen endlosen Minuten, in denen wir drei durch das Rückfenster Robert und den Polizisten beobachtet hatten, die neben dem Streifenwagen standen und sich unterhielten.

„Ich glaub, mir wird schlecht“, flüsterte Wally.

„Reiß dich bloß zusammen“, ermahnte ich ihn. Wenn einer von uns jetzt ausstieg, könnte der Polizist sich womöglich provoziert fühlen.

Endlich kehrte Robert zurück und stieg ein. Auch er wirkte erleichtert und grinste mich an.

„Noch mal Glück gehabt“, sagte er. „Ich hab ihm gesagt, dass ich selber mal Polizist war, und da hat er es bei einer Ermahnung belassen.“

Hinter uns hörten wir, wie der Motor des Streifenwagens gestartet wurde, und ein paar Sekunden später fuhr er an uns vorbei.

„Und das war’s?“, fragte Nils; er klang etwas enttäuscht.

„Ich muss an die Luft“, murmelte Wally und fummelte hektisch am Verschluss des Sicherheitsgurts. Er stieß die Tür auf und sprang aus dem Wagen. Eine Weile stand er vorgebeugt auf der Straße und atmete tief ein und aus. Ich stieg ebenfalls aus und ging zu ihm. Die Luft war feucht und schwül und vermutlich voller Moskitos. Es war Ende September, fühlte sich aber an wie im Hochsommer.

„Alles in Ordnung?“, fragte ich und legte mitfühlend eine Hand auf seinen Rücken. Sein Hemd war schweißnass. „Bist du krank oder so?“

Plötzlich hörten wir es. Ein dumpfes, aber wiederkehrendes Klopfen. Ich sah fragend zu Robert, der jedoch nur ratlos mit den Schultern zuckte. Er verließ den Wagen.

„Fahren wir endlich weiter oder wollt ihr hier übernachten?“, nörgelte Nils.

„Hörst du das nicht?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf und gesellte sich zu uns.

Das Klopfen kam aus dem Kofferraum. Wir standen davor und wussten nicht so recht, was wir tun sollten. War da ein Tier eingesperrt? Aber wie war es hineingekommen? Wir hatten erst vor anderthalb Stunden unser Hotel in Orlando verlassen, und als wir vor dem Frühstück unser Gepäck eingeladen hatten, war der Kofferraum leer gewesen.

Auf Wallys Stirn standen dicke Schweißtropfen, und er zitterte, als hätte er Fieber.

Robert tastete nach dem Knopf, der den Deckel aufspringen ließ, und unwillkürlich traten wir einen Schritt zurück. Unser Gepäck war verschwunden, stattdessen lag dort ein Mann Mitte zwanzig mit dem dunklen Teint eines Arabers und starrte uns wütend aus weit aufgerissenen Augen an. Er war lediglich mit einem Slip bekleidet und an Händen und Füßen mit einem zerrissenen Bettlaken gefesselt; ein Stück Stoff steckte in seinem Mund, und jemand hatte fürsorglich ein Kissen unter seinen Kopf gestopft. Sein sehniger, aber muskulöser Körper war schweißbedeckt, und dem Geruch nach zu schließen, hatte er sich irgendwann in die Hose gemacht.

Ich sah zu Wally, als mir klar wurde, welche Konsequenzen diese Tat haben könnte und wie groß das Ausmaß des Schlamassels war, in dem wir steckten. Ganz zu schweigen davon, was passiert wäre, wenn der Polizist einen entführten Araber in unserem Kofferraum entdeckt hätte. Eine mögliche Gruppenvergewaltigung im Gefängnis wäre dann vermutlich unsere geringste Sorge gewesen.

„Bist du irre?“, fragte ich meinen dusseligen Cousin. „Wolltest du ihn nur kidnappen oder später noch umbringen?“

Wally schüttelte den Kopf; in seinen Augen standen Tränen. Er drehte sich um und lief davon. Im Weglaufen war er schon immer großartig gewesen. Robert rannte ihm sofort nach, und Nils warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, als wäre das alles meine Schuld. Plötzlich wurden seine Augen riesengroß.

„Was?“ Ich war jetzt wirklich sauer.

Nils wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus, sondern wich nur Schritt für Schritt vor mir zurück. Sein Benehmen war merkwürdig, andererseits sprechen wir hier über Nils, an dem so gut wie alles merkwürdig ist.

Vielleicht war es das Rascheln, das mich aufhorchen ließ, oder etwas, das ich aus dem Augenwinkel wahrnahm. Unser Gehirn arbeitet bekanntlich immer noch nach denselben Prinzipien wie vor Jahrtausenden: Willkürliche visuelle oder akustische Impulse fügt es blitzschnell zu Mustern zusammen und lässt uns in einem Stock auf dem Boden eine Schlange sehen oder in einem Rascheln im Gebüsch einen Tiger hören. Die körperliche Reaktion besteht in einem starken Adrenalinausstoß sowie in der Aktivierung des Kampf- oder Fluchtmodus, meistens gefolgt von einem erleichterten Lachen, weil wir uns völlig unnötig erschreckt haben. Diesmal jedoch hatte mein Steinzeitgehirn recht: Als ich mich umdrehte, sah ich einen vier Meter langen Alligator langsam auf mich zuwatscheln.

Man hatte uns vor diesen Reptilien gewarnt, die praktisch überall in Florida zu Hause waren und vereinzelt sogar Menschen angriffen. Selbst in Disney World hatte es schon solche Attacken gegeben: Vor ein paar Jahren war ein Kind angefallen worden, was einem nun wirklich den Aufenthalt dort vermiesen konnte. Theoretisch wusste ich, dass ich ihm auf die Nase schlagen musste, weil dies sein empfindlichstes Körperteil war, und dass ich im Zickzack weglaufen sollte, weil es nicht so schnell auf Richtungsänderungen reagieren konnte. Praktisch war ich jedoch vor Angst wie gelähmt. So viel also zu meinem Kampf- oder Fluchtmodus. Die Steinzeit war eben doch zu lange her.

„Nils?“ Meine Stimme klang flehend.

Seine Antwort bestand darin, ins Auto zu springen und die Tür zuzuknallen. Dann hockte er auf der Rückbank und richtete sein Handy auf mich, um den denkwürdigen Augenblick, in dem ich verspeist werden würde, für seine Instagram-Follower festzuhalten.

Ich stand nur da und sah, wie mein Leben an mir vorbeizog. Nun, vielleicht nicht mein ganzes Leben, aber doch ein Gutteil davon. Der Gedanke, dass ich bereits eine Geiselnahme, einen Terroranschlag, die bulgarische Mafia und Siggis Backkünste überlebt hatte, nur um jetzt durch den Angriff eines dämlichen Alligators zu sterben, entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Das Universum hatte eben eine ganz besondere Art von Humor, und ich allein war schuld an dem Ganzen. Man musste eben vorsichtig sein mit dem, was man sich wünschte, und wenn auch nur beim Auspusten der Kerzen auf der Geburtstagstorte.

Schwanz-Karma

„Weißt du, was mir fehlt?“, fragte ich Nils, als ich versuchte, den Kartoffelsalat in den Kühlschrank zu stellen, der bereits hoffnungslos überfüllt war. Ich machte mühsam etwas Platz, quetschte die Schüssel in die entstandene Lücke und knallte die Tür zu, bevor etwas herausfallen konnte.

„Sex?“ Nils grinste und stellte den Karton meiner Lieblingskonditorei auf dem Küchentresen ab. „Nein, sag nichts: eine wirksame Diät.“

Ich seufzte und zog unwillkürlich den Bauch ein. Mutter Natur konnte so unfair sein. Nils war immer noch rank und schlank, während ich täglich fetter wurde. Allein der Gedanke an all die Leckereien, die ich für meine Geburtstagsfeier heute Nachmittag vorbereitet hatte, ließ mich ein Kilo zunehmen. Neugierig hob ich den Deckel des Kuchenkartons an. Prompt schlug mir Nils auf die Finger.

„Mit meinem Sexleben ist alles in bester Ordnung, danke der Nachfrage“, sagte ich etwas säuerlich und begann, die Arbeitsfläche aufzuräumen. Hatte ich wirklich ein großes Glas Mayonnaise in den Salat gegeben? Und eine ganze Fleischwurst?

„Ach, mach mir doch nichts vor, nach neun Jahren ist bei jedem Paar die Luft raus. Wie oft macht ihr’s noch – einmal im Monat?“

„Kein Kommentar.“

„Noch seltener? Sag nicht, ihr gehört zu den traurigen Paaren, die es nur noch einmal im Jahr treiben.“

„Nils, ich rede mit dir nicht über mein Sexleben.“

„Warum nicht? Wir reden doch auch über meins.“

„Ja, weil du mir ständig ungefragt davon erzählst.“ Ich zog die Schublade mit dem Mülleimer auf und warf die Kartoffelschalen hinein. „Du verhältst dich wie ein frisch gevögelter Teenager.“

„Apropos frisch gevögelt.“ Nils versuchte, seiner Stimme einen verruchten Unterton zu geben. „Ich hatte gestern ein Sexdate mit einem hässlichen Mann.“

Hörte er mir eigentlich nie zu? Warum musste er unentwegt mit seinen Grindr-Eroberungen angeben? Schon seit unseren frühen Zwanzigern, als wir uns einige Zeit lang eine Wohnung geteilt hatten, erzählte er mir in mitunter verstörenden Details von seinen Eskapaden. Damals hatte ich ihn um seine sexuelle Freiheit beneidet, Nils war mutiger und experimentierfreudiger als ich, er vögelte bereits mit fremden Männern in Schwulensaunen und öffentlichen Toiletten, als ich mich noch kaum traute, einen Gay-Club zu betreten. Es waren die Neunziger, und das Internet mit seinen Möglichkeiten steckte noch in den Kinderschuhen. Ich wagte mir nicht vorzustellen, was gewesen wäre, hätte Nils damals schon einen Grindr-Account besessen. Seit er wieder Single war, schien er eine Menge nachholen zu wollen, und wenn ich ehrlich war, ein Teil von mir genoss seine Geschichten sogar. Der voyeuristische Teil ganz offensichtlich.

„Okay, warum hattest du Sex mit einem hässlichen Mann?“, fragte ich ihn.

„Auf seinen Fotos sah er noch ganz gut aus, aber die waren mindestens zehn Jahre alt. Als er dann vor meiner Wohnung stand, mit seinen Tränensäcken und der kahlen Stelle am Hinterkopf, und ich dachte: ‚Scheiße, hoffentlich zahlt mir jemand die kosmetischen Operationen, wenn ich in seinem Alter bin‘ und schon die Tür zuknallen wollte, hielt mich etwas zurück.“

„Was denn – Mitleid?“

„Neugier.“ Nils grinste wieder anzüglich. „Er hatte mir ein paar Schwanzbilder geschickt, und ich wollte wissen, ob er wenigstens in dieser Hinsicht ehrlich war. Also musste er als Erstes die Hose runterlassen.“

Schwule konnten so grausam und oberflächlich sein. Wahrscheinlich hatte Nils ihn nicht einmal hereingebeten, der arme Kerl stand in der Wohnungstür, hielt mit einer Hand seine rutschende Hose fest und präsentierte mit der anderen seine Männlichkeit. Je älter ich wurde, desto mehr wusste ich die Vorteile einer festen Beziehung zu schätzen. Der Sex war vielleicht nicht mehr so aufregend und leidenschaftlich wie früher, aber dafür blieb einem eine Menge Demütigungen erspart.

„Ich hoffe, das Resultat war befriedigend.“

„Na ja, es waren vielleicht nicht die dreiundzwanzig Zentimeter, mit denen er geprahlt hatte, aber ich bin ja keine Size-Queen. Die eigentliche Herausforderung war jedoch, sich nur auf den Schwanz zu konzentrieren und den hässlichen Rest auszublenden.“ Sein Grinsen wurde noch breiter. „Was soll ich sagen? Am Ende war’s der Ritt meines Lebens – nachdem ich das Licht ausgemacht hatte.“

„Da schlug wohl deine katholische Erziehung durch“, spottete ich.

„Im Dunkeln sind doch alle Katzen gleich, oder wie heißt das noch mal?“

Mein bester Freund war ein hoffnungsloser Fall. „Nils, das ist auf so viele Arten verwerflich, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.“

„Was denn? Ein Schwanz ist ein Schwanz ist ein Schwanz.“

Das hätte Gertrude Stein sicherlich nicht unterschrieben. „Willst du dich denn nicht mal wieder verlieben und eine Beziehung eingehen? Dieses ewige Rumvögeln ist ja ganz okay, solange du jung bist, aber du wirst nächstes Jahr vierzig.“

„Fake News!“, krähte Nils sofort.

„Dein jugendliches Aussehen in allen Ehren, aber auch du wirst älter.“

Nils funkelte mich wütend an, dabei konnte er das Offensichtliche nicht ignorieren. Oder sah mein bester Freund nie in den Spiegel? Mochte er noch so schlank sein wie mit Anfang zwanzig, zeigten sich doch erste Fältchen um die Augen, seine Gesichtszüge wurden markanter, und ich erinnerte mich noch gut an den Tag, an dem er das erste graue Haar entdeckt hatte. Und ich meine damit nicht auf dem Kopf, sondern im Schambereich, was ihn weit mehr zu verstören schien. Seither färbte er sein Haupthaar und rasierte seinen Körper. Er hatte sich sogar von seinem modischen Vollbart getrennt, nachdem ich gesagt hatte, dass er damit erwachsen und distinguiert aussehe. Er sprach nie darüber, aber ich war mir sicher, dass er ebenfalls die Altersdiskriminierung in der Szene zu spüren bekam. Doch Grindr sei Dank ergaben sich immer noch genügend Gelegenheiten für einen One-Night-Stand, und zu seinem Glück hatte er schon immer ein Faible für ältere Männer gehabt.

„Mein Alter bemisst sich nach meinen Gefühlen“, erwiderte Nils. „An manchen Tagen bin ich fünfunddreißig, an anderen erst neunundzwanzig.“

Hatte Trump nicht genau dasselbe über sein Vermögen gesagt?

„Vor ein paar Jahren warst du noch ganz versessen darauf zu heiraten“, sagte ich. „Und wenn du erst dem Richtigen begegnest …“

„Werde ich bestimmt nicht so blöd sein, ihn zu heiraten“, fiel er mir ins Wort. „Früher oder später gehen doch alle Beziehungen in die Brüche.“

Nils war ein gebranntes Kind. Nahezu seine gesamten Zwanziger hindurch war er in einer monogamen On-Off-Beziehung mit einem fünfundzwanzig Jahre älteren Mann gewesen, der einer der bekanntesten Friseure Deutschlands war. Kennengelernt hatten sie sich in dem Tempel der Schönheit, den der Maestro auf der Münchner Maximilianstraße betrieb und in dem Nils nach seiner Ausbildung angefangen hatte. Der Maestro mochte vielleicht der klassische Sugardaddy sein, der seinen Lover mit teuren Geschenken überschüttete, aber Nils liebte ihn aufrichtig. Nach acht Jahren ging der Maestro jedoch spektakulär fremd und ließ sich auf der Geburtstagsfeier von Uschi Glas von einem Kellner einen blasen. Die Boulevardzeitungen spielten verrückt, Nils auch. Auf eine tränenreiche Versöhnung folgten Monate des Streits und Misstrauens und sogar ein unerwarteter Heiratsantrag des Maestros, bis Nils am Ende die Notbremse zog und Schluss machte.

Mit dieser Entscheidung verlor er nicht nur seinen Job, sondern auch sein Zuhause und seine Privilegien. Dass er nicht mehr zu Filmpremieren und Galas eingeladen wurde und mit den Stars und Sternchen der Republik auf Tuchfühlung gehen konnte, schmerzte ihn, glaube ich, am meisten. Nils musste sich auch von seinem luxuriösen Lebensstil verabschieden, denn die Designerkleidung und Kurztrips in die Karibik konnte er sich mit seinem Gehalt als Friseur natürlich nicht mehr leisten. Eine Weile arbeitete er in einem Salon in Schwabing, nur ein paar Straßen von meiner Wohnung entfernt, in dem er auch heute noch von Zeit zu Zeit aushilft. Vor sechs Jahren machte er dann eine Fortbildung zum Maskenbildner und verdient sein Geld seither mit Film- und Serienproduktionen. Da er viele bekannte Schauspieler persönlich kennt, öffnete ihm das einige Türen, und auch wenn er selbst nicht mehr Teil der Münchener Schickeria ist, kann er doch wenigstens als Zaungast an ihrem Treiben teilhaben.

„Ich habe meine besten Jahre an einen treulosen Kerl verschwendet und werde jetzt garantiert nicht auf all die geilen Typen verzichten, die ich noch vögeln kann, nur um mir wieder das Herz brechen zu lassen. So bescheuert bin ich nun auch wieder nicht.“

Im Grunde seines Herzens war Nils ein unverbesserlicher Romantiker. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er sich nach einer festen Beziehung sehnte, auch wenn er das vehement verneinte. Ich nahm ihn in den Arm.

„Wirst du auf deine alten Tage jetzt sentimental, Andy?“, fragte er, allerdings ohne die Umarmung zu lösen. „Mit geht’s gut. Ehrlich.“

Ich ließ ihn los. Um seine Verlegenheit zu überspielen, zupfte Nils einen imaginären Fussel von seinem taubenblauen Jackett, das nun von H&M und nicht mehr von Hugo Boss stammte. „Außerdem habe ich gerade richtig gutes Schwanz-Karma.“

Auf meinen fragenden Blick fügte er hinzu: „Je besser du als Liebhaber bist, desto größere Schwänze erhältst du als Belohnung.“ Die Offenbarung nach Nils.

„Ja“, erwiderte ich trocken, „vor allem, wenn du dir vorher Bilder von ihnen schicken lässt.“

Nils verabschiedete sich. In der Tür hielt er kurz inne und fragte: „Was fehlt dir denn? Abgesehen von deiner Jugend und einem größeren Schwanz.“

„Eine Idee“, antwortete ich. „Ich würde gerne ein neues Buch schreiben, aber mir fällt einfach nichts ein.“

„Mach’s doch wie die letzten beiden Male und schreib über das, was dir so passiert ist.“

„Es passiert doch nichts. Oder nicht viel jedenfalls.“ Ich seufzte ein wenig theatralisch. „Mein Leben ist todlangweilig.“

Nachdem Nils verschwunden war, räumte ich die Küche auf und bereitete alles für die Party vor. Als ich mit allem fertig war, ging ich ins Schlafzimmer und zog mich aus, um zu duschen. Auf dem Nachttisch stand ein gerahmtes Foto von Robert und mir, ein Selfie, das wir vor drei Jahren vor dem Trevi-Brunnen in Rom aufgenommen hatten.

Wir waren jetzt seit fast neun Jahren zusammen (je nachdem, wie man rechnete), und unser Leben war tatsächlich langweilig. Wie jedes Paar hatten wir unsere Höhen und Tiefen, wir stritten uns gelegentlich, meistens über belanglose Dinge, darüber, wer den Müll runterbringen oder das Bad putzen sollte, aber ansonsten kamen wir gut miteinander aus. Wir waren beide emotional ausgeglichen (Robert mehr als ich), wir hatten die gleichen Ansichten über das Leben, einen ähnlichen Musik- und Filmgeschmack und harmonierten in einer Weise miteinander, die mir manchmal schon unheimlich war und die ich noch in keiner anderen Beziehung erlebt hatte. Robert war der Mann meines Lebens, ich liebte ihn und fühlte mich von ihm geliebt. Wenn das langweilig war, fand ich es großartig.

Unser Sexleben war vielleicht nicht mehr so stürmisch wie zu Beginn. Der Liebesmarathon, der früher die halbe Nacht gedauert hatte, verwandelte sich zuerst in einen Halbmarathon, dann in einen Achthundert-Meter-Lauf, und inzwischen war es manchmal auch nur ein Sprint. Wenn wir miteinander schliefen, was meistens noch ein- oder zweimal die Woche vorkam, war es nicht so aufregend oder leidenschaftlich wie mit einem Fremden, dafür gab es auch keine unliebsamen Überraschungen.

Vorgestern, an meinem Geburtstag, war ich aufgewacht, weil sich jemand an meiner Pyjamahose zu schaffen machte. Schlaftrunken lüpfte ich die Decke, und Robert grinste mich an.

„Happy Birthday!“, sagte er, rutschte ein Stück nach oben und küsste mich. „Du hast acht Minuten, bevor der Wecker klingelt.“ Und damit verschwand er wieder.

Ich verdrängte die Erinnerung daran und marschierte ins Bad, wo ich die Dusche anstellte und überlegte, ob ich mich noch rasieren sollte, bevor meine Gäste kamen. Der Mann, der mich aus dem Spiegel anschaute, sah nicht aus wie vierzig. Es war immer noch mein vertrautes Gesicht, vielleicht nicht mehr so jugendlich wie zuvor, das Haar wurde dünner und grauer, die Haut unter den Augen schlaffer, aber ansonsten hatte ich mich kaum verändert. Oder bildete ich mir das nur ein?

Als ich fünf Minuten später aus der Dusche kam, betrat Robert das Bad. Er trug eine Trainingshose und ein T-Shirt, das schweißnass an seinem Körper klebte. Der Mann ist ein Sportfanatiker, für den ein Tag ohne Training undenkbar ist. Das ist tatsächlich etwas, in dem wir uns fundamental unterscheiden, denn ich bin von Natur aus eine faule Socke.

„Hier bist du“, sagte er und zog sich das Shirt über den Kopf. „Ich hab beim Bäcker das Brot abgeholt. Liegt in der Küche.“

Robert hatte schon immer athletisch ausgesehen, aber inzwischen ging er dreimal die Woche zum Fitnesstraining und war ein Hunk, wie er im Buche stand. Für meinen Geschmack war er tatsächlich schon zu muskulös, und nur die Tatsache, dass auch er inzwischen in der Taille etwas Fett ansetzte und sein Sixpack nicht mehr so ausgeprägt war wie früher, ließ mich beim Anblick meines eigenen Körpers nicht völlig verzweifeln. Die tiefen Lachfalten in seinen Augenwinkeln verrieten, dass er schon Mitte vierzig war und über eine gewisse Lebenserfahrung verfügte. Falls sein blondes Haar inzwischen grau war, konnte man es nicht feststellen, weil er es immer superkurz trug. Dafür hatte er vor einigen Jahren aufgehört, seinen Körper zu rasieren, was ihn männlicher wirken ließ. Er war geradezu unverschämt sexy.

Robert beugte sich vor, um mich zu küssen, während seine rechte Hand über meinen Bauch streichelte. „Das bringt Glück“, murmelte er manchmal, als wäre ich ein fetter Buddha, der in seinem Tempel hockte, und er ein Pilgermönch auf der Suche nach Erleuchtung.

Je älter ich wurde, desto weniger Freunde hatte ich, aber die meisten davon waren wirklich enge Vertraute. Die anderen gingen unterwegs verloren wie ein Regenschirm oder Schal; in einem Moment waren sie noch da, und wenn man sie brauchte, blieben sie unauffindbar. Nils ist mein bester Freund. Wir haben zusammen Krisen durchgestanden und Beziehungen überlebt, und auch wenn er mir oft auf die Nerven geht, liebe ich ihn wie einen Bruder.

Meine beste Freundin ist Siggi, die früher einmal in meinem Buchladen gearbeitet hatte und für eine Weile heftig in mich verknallt gewesen war. Natürlich hatte sie gewusst, dass ich schwul bin, was sie aber nicht davon abgehalten hatte, sich Hoffnungen zu machen. Ich hatte ihr wohl das Herz gebrochen, aber unsere Freundschaft hatte auch das überlebt. Inzwischen wohnt sie in Unterschleißheim, hat geheiratet und ist vor knapp anderthalb Jahren Mutter einer Tochter geworden. Zusammen mit ihrem Mann Marvin betreibt sie ein veganes Café, das vermutlich nur deshalb noch nicht pleite ist, weil Marvin ihr verboten hat, sich um das Essen zu kümmern. Außerdem hat sie sich zur Heilpraktikerin und Reiki-Meisterin ausbilden lassen und praktiziert in einem Zimmer des Hauses, das sie zusammen mit Marvin bewohnt. Der Gedanke, dass sie tatsächlich Patienten behandelt, ist mir, offen gestanden, ein wenig unheimlich.

Obwohl der Aufwand, mit einem Kleinkind unterwegs zu sein, beträchtlich war und es immer so aussah, als würden sie bei mir einziehen, kamen die drei als Erste an. Seit ich Aurora das letzte Mal gesehen hatte, war sie nicht nur wieder gewachsen, sondern hatte auch selbstständig Laufen gelernt. Sie rannte auf mich zu, noch ein wenig wackelig auf ihren pummeligen Beinchen, aber zielstrebig, und grinste mich dabei an. Ich bin ihr Patenonkel, eingeschworen in einer obskuren Zeremonie, zu der ein schamanisches Trommelritual, das Verbrennen von Weihrauch und Salbei sowie das Vergraben des Mutterkuchens gehört hatten. Zumindest hatte Siggi behauptet, dass es der Mutterkuchen war; ich hatte nicht so genau wissen wollen, was sich in der Pappschachtel mit den gelben Sternen befand.

Spirituell war Siggi noch immer eine Suchende, die an Engel und die Macht von Kristallen glaubte, sich neuerdings für eine Hexe oder Wicce hielt und jedem die Karten legte, der auch nur einen Hauch von Interesse zeigte. Sie hob Aurora hoch, setzte sie auf ihre enorm breiten Hüften, die sie früher als Bürde betrachtet hatte und die für sie nun ein Symbol ihrer Weiblichkeit und Fruchtbarkeit waren, und gab mir einen Kuss auf die Wange.

„Wir haben veganen Bienenstich mitgebracht“, sagte sie, nachdem sie mich begrüßt hatte, „und glutenfreies Brot und selbstgemachte Limonade.“

Es stellte sich heraus, dass sie sogar ihr eigenes Wasser mitgebracht hatten, das vermutlich bei Vollmond einer Quelle im Wald entnommen worden war. Auf dem Grund der Karaffe lagen einige Kristalle zur „Energetisierung“.

„Was stimmt nicht mit dem Münchener Leitungswasser?“, fragte ich und erntete einen strengen Blick von Marvin.

„Hallo, schon mal was von den Hormonen gehört, die sie nicht rausfiltern können, oder den Medikamentenrückständen und dem ganzen Mikroplastik?“ Er war knapp einen Meter neunzig, dürr wie eine Bohnenstange und trug zu jeder Jahreszeit einen wollenen Poncho, den Siggi für ihn gemacht hatte. Sein Gesicht war so hager wie das des gekreuzigten Jesus. „Unsere Lebensweise bringt uns noch alle um, aber vorher machen wir unserer Umwelt den Garaus.“

Marvin war ein Fanatiker, der keine Gelegenheit ausließ, mit missionarischem Eifer über die Vorteile einer veganen Ernährung oder die Verbrechen der Nahrungsmittelindustrie zu dozieren, was ihn zu einem ungeheuer beliebten Partygast machte. Auf meiner letzten Geburtstagsfeier hatten wir uns heimlich ins Klo schleichen müssen, um unsere Würstchen zu essen.

„Seit ich Veganer bin, habe ich ein anderes Verhältnis zu Lebensmitteln“, fing Marvin an, und ich wusste, dass nun ein weiterer Vortrag über seine Lebensweise folgen würde. Er zog eine Salatgurke aus dem Korb in seiner Hand. „Sie sprechen zu mir, verstehst du? Sie erzählen mir etwas über die Welt, die ein einziger, gewaltiger Organismus ist, in dem alles miteinander verbunden ist. Ich bin eins mit den Pflanzen und Tieren, die für unsere degenerierte Gesellschaft hingeschlachtet werden. Ich bin transformiert worden. Unser Planet leidet, sagen sie, er leidet unter den Menschen und will sie in eine andere Richtung drängen. Wir müssen nur zuhören.“

Er hielt mir die Gurke unter die Nase, und eine befremdliche Sekunde lang befürchtete ich, er würde ihr mit einem Bauchrednertrick eine Stimme verleihen. Nichts gegen den Veganismus an sich, aber warum mussten manche Leute immer so übertreiben?

„Jesus wäre Veganer“, sagte Marvin bedeutungsvoll.

„Ja? Hat er die Fünftausend nicht mit Brot und Fisch gespeist?“ Ich grinste. „Was wäre es heute – Tofu und glutenfreies Schawarma?“

Marvin ignorierte mich. „Die Pflanzen streben eine Ökodiktatur durch Mutter Erde an, um uns vor uns selbst zu retten. Der Kapitalismus muss beseitigt werden! Wir müssen ihnen zuhören!“

Gurken mit einer Agenda. Wer hätte das gedacht? Zum Glück klingelte es in diesem Moment an der Tür, und Roberts Geschwister und ihre Familien fielen ein wie die Vandalen ins antike Rom. Zusammen hatten sein Bruder und seine Schwester, die beide etwas älter waren, sechs Kinder zwischen acht und neunzehn Jahren. Für mich als Einzelkind war es immer faszinierend zu beobachten, wie eine große, laute Familie funktionierte. Meine eigene Kindheit war von einer ängstlichen Stille erfüllt gewesen, vom leisen Siechtum meines Vaters, der starb, als ich zehn war, und den gemurmelten Gebeten meiner Mutter, die unerhört blieben. Wenn Robert dagegen von seinem Zuhause erzählte, ging es dabei immer um Raufereien, handfeste Streiche und lautstarke Familienfeste. Sowohl seine Eltern als auch seine Geschwister hatten mich problemlos akzeptiert und mit den Jahren ins Herz geschlossen. Im Grunde waren sie sogar mehr Familie für mich als meine eigene.

„Was hat dir deine Mutter diesmal zum Geburtstag geschenkt?“, fragte Siggi, die wohl meine Gedanken lesen konnte. „Einen Schal und die Schriften des Heiligen Augustinus?“

„Socken und die DVD von Den Himmel gibt’s echt. Sogar sie geht mit der Zeit und weiß, dass ich nicht mehr so viel lese wie früher.“

Ich versuchte mich an einem Lächeln, aber der Gedanke an meine Mutter machte mich immer ein wenig traurig. Dass ich schwul war, war für sie ein direkter Angriff auf ihre Mutterrolle, der gelebte Affront, dass sie mit ihrer Erziehung versagt hatte, eine bewusst gewählte Provokation, um ihr das Leben schwerzumachen. Als ich mich mit siebzehn geoutet hatte, musste ich ihr versprechen, niemandem von meinen Neigungen zu erzählen, die sie ohnehin für einen Irrtum meinerseits hielt. Unser Verhältnis, das nie besonders eng gewesen war, verschlechterte sich danach dramatisch, so dass ich mir mit achtzehn eine neue Bleibe in einer WG suchte. Wenige Monate später trat sie die Stelle der Haushälterin eines jungen Pfarrers an, den sie aus unserer Gemeinde kannte und der für sie schnell zu einer Art Ersatzsohn wurde. Ich besuchte sie pflichtbewusst ein- oder zweimal im Jahr im Allgäu, wo sie seither lebte, und bewahrte das Geheimnis des Pfarrers, der ebenfalls schwul ist, was man nur als Ironie des Schicksals bezeichnen konnte. Von Robert wusste sie, hatte mich aber nie gebeten, ihn einmal mitzubringen, und erkundigte sich auch nie nach ihm.

Nach und nach trudelten die restlichen Gäste ein, und die Wohnung füllte sich mit ihren Stimmen und ihrem fröhlichen Gelächter. Mein Nachbar Momo kam zusammen mit meinem Cousin Wally. Unser verwandtschaftliches Verhältnis war ein klein wenig kompliziert, aber da wir beide Probleme mit unserer Familie hatten, waren wir froh, dass wir uns gefunden hatten. Ich hatte die beiden miteinander verkuppelt, was wegen Momos Herkunft aus einem streng muslimischen Land eine heikle Angelegenheit war. Die beiden waren Mitte zwanzig und saßen die meiste Zeit knutschend auf dem Sofa. In der Nacht hörten wir gelegentlich, wie sie es miteinander trieben, auf eine laute und animalische Weise, die uns schmerzhaft daran erinnerte, dass wir die Unbekümmertheit der Jugend abgelegt hatten wie Kleidung, die uns nicht mehr passte.

Ich hatte auch unsere Mitarbeiter mit ihren Partnern eingeladen, darunter Uli, die wegen ihrer geringen Größe nur Floh genannt wurde, aber vermutlich gefährlicher war als alle anderen zusammengenommen. Sie beherrschte Kampftechniken, von denen ich noch nie gehört hatte, und strahlte eine nervöse Energie aus, die sie ruhelos wirken ließ. Ihre Lebensgefährtin Saskia war das genaue Gegenteil, eine hochgewachsene, ätherische Elfe, die der leiseste Luftzug davontragen konnte. Da waren Mammut, der eigentlich Manfred hieß, und Omar, denen man auf den ersten Blick ihren Beruf als Personenschützer ansah, breite, bullige Kerle mit kleinen Schädeln und einem zahnlückigen Grinsen. Und natürlich der unvermeidliche Philip, Roberts bester Freund und ein Grund leiser Beunruhigung für mich.

Die Nacht senkte sich über München, und Robert entzündete den Feuerkorb auf der Dachterrasse, obwohl es Ende Mai bereits so heiß war wie sonst im August. Philip und er standen mit einer Flasche Bier in der Hand daneben und unterhielten sich so angeregt, als hätten sie sich monatelang nicht gesehen und würden nicht jeden Tag miteinander arbeiten. Als spürte er meinen Blick, schaute Robert auf und nickte mir zu.

Im Wohnzimmer tigerte Marvin von einer Gruppe zur nächsten, und es dauerte jeweils nur wenige Augenblicke, dann hatte er das Gespräch an sich gerissen und begann, einen nach dem anderen zu vergraulen. Der Mann war zwar eine furchtbare Nervensäge, aber sein Bienenstich war unglaublich lecker.

Ich suchte Siggi und fand sie in unserem Schlafzimmer, wo sie gerade Auroras Windel wechselte. Der Geruch war überwältigend, und die Farbe ihrer breiigen Hinterlassenschaften hatte einen schillernden Grünton.

„Mein Gott, womit füttert ihr die Kleine?“, fragte ich entsetzt.

„Wir experimentieren gerade mit einigen veganen Gemüsebreien nach Rezepten aus einem speziellen Ernährungsberater.“ Siggis Stimme klang nasal und angestrengt. Immerhin hatte Marvin ihr erlaubt, Einwegwindeln zu verwenden – nachdem sie ihm gedroht hatte, ihm sonst die gesamte Wäsche zu überlassen.

Ich öffnete ein Fenster und wedelte mit der Hand, um den Gestank zu vertreiben.

„Sie sieht müde aus“, sagte ich und strich über Auroras Kopf. Sie schaute mich durchdringend an und nuckelte an ihrem Schnuller aus Naturkautschuk. „Du übrigens auch.“

„Ich glaube, ich hab seit zwei Jahren nicht mehr geschlafen“, erwiderte Siggi lächelnd. Sie sah glücklich aus, und das freute mich für sie. „Wir hauen bald ab – dann kannst du endlich die Schnitzel rausholen.“

„Das Spanferkel. Oder was glaubst du, wofür Robert das Feuer auf der Terrasse gemacht hat?“

Als ich das Schlafzimmer verließ, stürzte sich Nils auf mich und rief: „Es wird höchste Zeit für den Stripper!“

Es war ein Running Gag zwischen uns, denn Nils hatte mir zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag den Auftritt eines Strippers geschenkt, der als Feuerwehrmann verkleidet war und dann, um für einen möglichst dramatischen Auftritt zu sorgen, beinahe meine Wohnung abgefackelt hatte. Nils’ Augen hatten den feuchten Glanz des Betrunkenen, und feine Speicheltröpfchen trafen meine Wange, als er für den nächsten Morgen eine Überraschung ankündigte.

„Dein Geburtstagsgeschenk. Der Hammer, sag ich dir, das beste Geschenk aller Zeiten!“

Das konnte definitiv nichts Gutes bedeuten.

Es war ein jährliches Ritual: Nils trieb alle Gäste ins Wohnzimmer, löschte das Licht und stürzte dann in die Küche, um den Geburtstagskuchen zu holen, ein Sahneungetüm mit einer unübersehbaren Vierzig aus kirschrotem Fondant in der Mitte. Der deutliche Hinweis auf mein Alter gab mir einen kleinen Stich, aber es war immer noch besser als der Kuchen mit dem Fotomotiv, den Nils vor zwei Jahren besorgt hatte. Das Bild stammte aus einem unserer gemeinsamen Mallorca-Urlaube, als wir beide noch Single gewesen waren, und zeigte mich, wie ich betrunken und mit einer viel zu knappen Badehose bekleidet vor einem riesigen Eimer mit Sangria saß und auf eine Art, die ich für lasziv hielt, an einem Strohhalm nuckelte.

Während Nils vorsichtig die Torte hereintrug, sangen alle Happy Birthday, was mir immer peinlich war. Ich schaute in die Gesichter meiner Freunde und Familie und dachte daran, wie normal und unaufgeregt mein Leben war und wie sehr ich mir wünschte, dass etwas Aufregendes und Unvorhersehbares passieren würde. Von den Kerzen stieg eine unheimliche Hitze aus, als ich mich vorbeugte, um sie auszupusten. Ich bin sicher, es waren vierzig Stück, aber mir kam es vor, als wären es Hunderte, und beinahe wäre mir der Atem weggeblieben. Als ich fertig war, richtete ich mich schnaufend auf, und Robert legte einen Arm um meine Schultern.

„Was hast du dir gewünscht?“, fragte er und küsste mich.

„Wenn ich dir das verrate, geht es nicht in Erfüllung.“

Ach, ich hatte ja keine Ahnung.