Katrin McClean

AUS DEM TAKT

EIN OST-WEST-ROMAN

Katrin McClean wurde 1963 als Katrin Dorn in Thüringen geboren, studierte in Leipzig Psychologie und lebt seit 2001 als freie Autorin in Hamburg. Sie veröffentlichte Romane, Erzählungen und Krimis bei diversen Verlagen (u.a. Aufbau Berlin und dtv München) und schreibt Drehbücher für die Kinderhörspielserie „Fünf Freunde“.

Mehr Informationen unter:

www.katrinmcclean.de

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Seit Tagen höre ich nichts als das Rauschen der Ostsee. Und das Schweigen von Melanie. Wenn ein zehnjähriges Mädchen über Tage hinweg nicht ein Wort sagt, ist das wie ein Lärm, den man nicht eine Stunde länger aushalten möchte. Nur das Geräusch der Wellen, die in ihrer ruhigen Regelmäßigkeit über den Strand rollen, macht Melanies Schweigen erträglich. Und noch immer habe ich die Hoffnung, dass sich ihre Sprachlosigkeit in diesem großen Rauschen allmählich auflöst, bis sich das erste Wort wieder Bahn bricht. Dass Melanie sprechen kann, weiß ich.

In den ersten Tagen hier auf der Insel habe ich es noch mit Worten versucht, habe mich bemüht, mit ihr zu reden. Aber inzwischen glaube ich, dass sich in jedem meiner Worte wieder nur Ungeduld ausgedrückt hat, wieder nur dieses lösungsorientierte, versessene Streben nach Erfolg, dieses sinnlose Gebaren, vor dem ich sie eigentlich schützen wollte. Inzwischen schweigen wir gemeinsam. Gerade haben wir Kartoffeln geschält und dem Schaben unserer Messer auf der rohen gelben Kartoffel gelauscht, und dem Ein- und Ausatmen der Ostsee, in das sich unser eigenes Atmen mischte.

Doch nun hat jemand diese unvermeidlichen Geräusche der Zeit durchbrochen. Ein kleiner roter PKW ist auf den Parkplatz unter den Kiefern gerollt. Und Gabi ist ausgestiegen und mit zielsicheren Schritten durch das verlassene Hüttendorf auf unseren Bungalow zugegangen. Schon von weitem habe ich sie an ihrem krausen blonden Kurzhaar erkannt und an ihrer athletischen Figur.

„Dachte ich es mir doch“, sagt sie, jetzt, wo sie vor uns steht.

Ich stehe auf. „Was machst du hier?“

Mit ihr habe ich überhaupt nicht gerechnet. Höchstens mit der Polizei. Aber vor allem habe ich gehofft, dass gar niemand auf die Idee kommt, dass wir uns hier versteckt haben.

„Wieso entführst du ein Kind?“, fragt sie mich zurück, und ich frage: „Wieso weißt du davon?“

Sie zerrt eine Zeitung aus ihrer Jackentasche. Ich erkenne gleich das Layout des Boulevardblattes. Gabi tippt auf eine Schlagzeile. „Ganz Hamburg weiß davon.“

Ich packe sie am Arm und schiebe sie fort. Melanie schabt weiter langsam an einer Kartoffel. Ich glaube, dass ihr Schweigen das Gegenteil dessen ist, was sich in ihrem Kopf abspielt. Dort scheint so viel los zu sein, dass sie ihre Umwelt kaum wahrnimmt. Wir gehen so weit weg, dass ich sie gerade noch im Auge habe. Dann lese ich es nochmal: „Felicitas G. stöhnte für SexHotline! Was hat sie mit dem Kind vor?“

Mir ist schon klar, wer das geschrieben hat. Hat er also doch seine Schlagzeile bekommen.

„Hast du wirklich auf der Reeperbahn als …“

„Blödsinn“, unterbreche ich Gabi, „aber für eine Schlagzeile schreiben die doch alles.“

„Aber das Kind hast du entführt.“

„Ich hab sie nicht entführt. Ich hab sie in Sicherheit gebracht. Sie braucht eine Pause.“

„Eine Pause wovon?“

„Von dieser Welt!“

„Geht es genauer?“

Ich zögere, merke dass mir die richtigen Worte fehlen. „Du musst doch wissen, was ich meine“, sage ich.

Sie mustert mich. „Nein, weiß ich nicht.“

Jetzt bin ich es, die nichts mehr sagen kann. Weil ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.

„Ich glaube, Du brauchst mal Zeit zum Nachdenken“, sagt Gabi in einem Ton, der die ehemalige Lehrerin verrät. Sie lässt mich stehen, geht zu Melanie und beugt sich zu ihr.

„Komm mal mit. Wir gehen an den Strand. Den kenne ich sehr gut. Ich kann dir ein paar schöne Ecken zeigen.“

Melanie legt Kartoffel und Messer weg und steht auf. Ich sehe ihnen nach. Die sportliche hagere Frau in der Lederjacke und das Mädchen im lila-rosa Anorak entfernen sich zwischen hohen Kieferstämmen und scheinen im milden Oktoberlicht zu verschwinden.

„Endstation“, denke ich. Von hier kann es nicht mehr weitergehen. Dass ich hier auf dem letzten Zipfel von Rügen gelandet bin, mit einem gestohlenen Auto und einem kleinen Mädchen, das ich kaum kenne, erscheint mir jetzt wie die letzte Station eines langen Irrweges. Und der hat schon vor vielen Monaten begonnen, lange bevor ich Melanie zum ersten Mal traf, schon zu Beginn dieses Jahres. Anfang Januar bin ich nach Hamburg gezogen. Eine Stadt, in der ich vorher noch nie gewesen bin, und wo ich niemanden kannte.

In Berlin bin ich nicht mehr weitergekommen. Die Hauptstadt ist voll von Sozialpädagogen, die einen Job suchen. Und es werden immer mehr Stellen gestrichen. Ich würde wohl noch immer als Aushilfskraft in einer Eisdiele arbeiten, hätte nicht zufällig meine Freundin Nicole jemanden in Hamburg gekannt, der einen Nachmieter für seine billige Single-Wohnung suchte. Nicole meinte, das wäre meine Chance. Die Nachricht kam am Silvestertag 2001, also einen Tag vor der Einführung des Euro in diesem Jahr – 2002.

„Neues Geld, neue Stadt! Wenn das kein Signal vom Universum ist, Felicitas!“

„Es ist einfach Monatswechsel, da werden immer Wohnungen frei“, räumte ich ein.

Aber Nicole kann nicht nur esoterisch. „In Hamburg ist die Arbeitslosenquote um sechs Prozent niedriger als in Berlin“, teilte sie mir mit.

„Nicole, ich kenne dort niemanden!“

„Es gibt Telefone, Felicitas. Und wir sind doch sowieso immer verbunden!“

„Du meinst durch das Universum“, vermutete ich.

„Natürlich! Für unsere Verbindung ist die Entfernung zwischen Berlin und Hamburg ein Katzensprung“, erklärte sie. „Du würdest meine Freundschaft sogar noch am Nordpol spüren.“ Daran hatte ich nicht einmal Zweifel.

Nicole und ich kennen uns seit der ersten Klasse. Wir wuchsen beide in Leipzig auf und teilten gemeinsame Erlebnisse wie den Empfang des ersten Pionierhalstuches oder der Jugendweihe. Wir waren zusammen im Ferienlager und schwänzten die Unterrichtsstunden zur „Einführung in die sozialistische Produktion“. Wir trampten zusammen nach Dresden, wo Nicole in einem Antiquariat ein Buch über Buddhismus kaufte. Als sie es gelesen hatte, erklärte sie mir, dass unsere Freundschaft die ideale Verbindung von Yin und Yang wäre. Da hatte sie wohl Recht.

Ich war diejenige, die ihr zuhörte, wenn sie über die Vor- und Nachteile der Jungs philosophierte, die alle in sie verliebt waren. Und wenn sich einer dieser Jungs nach einer Phase erfolgloser Verliebtheit in Nicole schließlich mir zuwandte, war sie diejenige, die mir gut zuriet, meine Chance zu nutzen.

Gemeinsam machten wir unser Abitur. Gemeinsam begannen wir ein Lehrerstudium in Leipzig. Aber dann kam die Wende und wir konnten unseren Wohnort und unser Studienfach plötzlich frei wählen. Ohne Nicole wäre ich nicht nach Berlin gezogen, wo wir beide etwas Neues studierten, ich Sozialpädagogik und sie Philosophie. Wir lebten in derselben Straße und sahen uns fast jeden Tag. Kaum hatte sie ihren Abschluss gemacht, gründete sie ein „Institut für spirituelle Selbstbefreiung“ in ihrem Wohnzimmer, wo sie eine Mischung aus Entspannungstechniken und traditionellen Weisheiten aus aller Welt anbot. Mit Erfolg. Immer mehr Kunden wurden regelrecht abhängig davon, in Nicoles Wohnzimmer herumzuliegen, eine Stunde lang nichts zu tun und sich Nicoles unerschütterlichem Optimismus hinzugeben.

Mit ihren Weisheiten hielt sie auch mich über Wasser. Während ich mich nach dem Studium durch mies bezahlte Jobs und unbezahlte Praktika kämpfte und in Momenten größter Verzweiflung heimlich daran dachte, dass mir ein Studium in der DDR einen Arbeitsplatz garantiert hätte, munterte sie mich mit ihren Sprüchen auf. Wer die freie Wahl hat, der muss halt länger suchen – zum Beispiel.

Und jetzt ermunterte sie mich dazu, sie zu verlassen und wollte unsere Verbindung dem Universum übergeben. Und wie immer schaffte sie es, mich zu überzeugen. Neues Geld, neue Stadt, das klang irgendwie nach Erfolg.

Und dann auch noch Hamburg! Auch wenn die Wende nun schon 12 Jahre her war, war Hamburg für mich ein Mythos. Das Tor zur Welt, das sich Hunderte von Kilometern hinter jener Grenze befand, an dem die Welt achtzehn Jahre lang für mich zu Ende war! Das war etwas so Mystisches wie die Unendlichkeit des Unerreichbaren.

Doch nach dem Umzug stellte ich fest, dass sich mein neuer Wohnort gar nicht so sehr von meiner Heimatstadt unterschied. Meine Hamburger Wohnung zum Beispiel sieht aus wie die Leipziger Wohnung, die ich jahrelang mit meiner Mutter bewohnt habe. Der Unterschied ist nur, dass meine Mutter für unsere schlecht sanierte Altbauwohnung gerade mal dreißig Ostmark Miete gezahlt hat, während meine Hamburger Bruchbude dreihundert Euro kostet. Dabei sieht die Fertigdusche in der Küche genauso aus wie unsere Nasszelle von damals. Und wenn es kalt ist, heize ich genauso wie meine Mutter früher mit einem Kohleofen. Allerdings ist das wohl einer der letzten Kohleöfen von Hamburg, und der einzige Luxus besteht darin, dass der Kohlenhändler direkt unter mir wohnt. „Kohlen-Hornig seit hundert Jahren“, steht auf dem Schild im Schaufenster.

Und meine Wohnung hat einen Telefonanschluss, den gab es in unserem DDR-Altbau nicht.

Vor meinem Wohnzimmerfenster fährt alle zehn Minuten eine S-Bahn vorüber. Die Bahnschienen sind die Grenze zum nächsten Stadtteil. Mein Haus ist das letzte, das noch zu Hamburg Ottensen gehört.

Auf der anderen Seite von Ottensen fließt die Elbe. Dort soll es sogar einen richtigen Sandstrand geben. Doch auf meinen Erkundungsgängen kam ich dort nie an, immer blieb ich in den Straßen, als würden mich die Häuserzeilen rechts und links vor irgendetwas schützen.

Nicole hatte mir geraten, in Cafés zu gehen und Leute anzusprechen. Gleich am ersten Tag war ich in das erstbeste Café gegangen und hatte zwei Frauen in meinem Alter entdeckt, die an einem Tisch saßen und jede für sich Zeitung lasen. Ich dachte, da kann ich gut mithalten und fragte sie, ob ich mich zu ihnen setzen könne. Die eine sah mich mit hochgezogenen Brauen an, und die andere sagte mit einem Lächeln: „Du kannst dich natürlich hier hinsetzen, wenn du möchtest, aber das Café ist noch voller freier Tische, falls du das noch nicht bemerkt hast.“

Ich verstand nicht, warum sie lächelte, ich verstand nicht, warum sie das sagte, und ich war noch nie so unsicher gewesen wie in diesem Moment. Ich ging wieder nach Hause und rief Nicole an.

„Wenn man an einem Ort ankommen will, muss man ansehen, was schon dort ist“, erklärte sie mir.

„Das ist unlogisch“, erwiderte ich. „Wenn man noch nicht da ist, kann man noch gar nichts sehen.“

„Herrje, sieh dich einfach ein bisschen um, da wird sich schon ein Anknüpfungspunkt eröffnen.“

Ich fühlte mich zu unsicher, um mich schon für Jobs zu bewerben. Und ein kleines finanzielles Polster hatte ich noch. Um in Ottensen anzukommen, ging ich jeden Tag in diesem Stadtteil spazieren. Ich entdeckte noch einige Dinge, die mir ziemlich vertraut vorkamen. Überall in Ottensen erinnern Gedenktafeln an die historischen Anfänge des Hamburger Proletariats. In gläsernen Schaukästen hängen Fotos, die auch aus meinen Schulbüchern für Staatsbürgerkunde in der DDR stammen könnten. Sie dokumentieren das Leben der Arbeiterklasse zu den Zeiten von Karl Marx oder August Bebel. Während in Leipzig oder Berlin die Karl-Marx-Straßen und August-Bebel-Plätze schon vor vielen Jahren verschämt umbenannt wurden, erinnert man sich in Hamburg Ottensen noch immer voller Stolz an die sozialdemokratischen Traditionen.

Ich bestaunte die ehemaligen Industrieanlagen, die im vorletzten Jahrhundert hier erbaut worden waren. Von einer Fabrik für Schiffspropeller lief früher eine Schiene bis hinunter zur Elbe, über deren Reste man noch heute stolpern kann. Einige der ehemaligen Fabriken sind von Kino- und Konzertveranstaltern besetzt, ansonsten residieren in den einstigen Maschinenhallen und Werkstätten Büros von Werbeagenturen, Architekten, IT-Spezialisten und alle möglichen Institute für irgendwas. Und wo vor hundert Jahren Milchläden und Schuster waren, warten jetzt Boutiquen auf zahlungskräftige Kundinnen und stehen Haus an Haus miteinander im Wettbewerb.

Nur Kohlen-Hornig hat sich gehalten. Aber ich sah ihn fast nie Kohlen verkaufen. Ich glaube, ich war seine letzte Kundin. Ich habe ihn nie sprechen hören. Jedes Mal, wenn ich bei ihm war, überreichte mir der kleine alte Mann wortlos den Zwölferpack Brikettkohle, den ich verlangt hatte. Wochenlang war er mein einziger sozialer Kontakt, während ich sämtliche Gedenktafeln von Ottensen studierte.

Meine historische Lieblingsfigur wurde Alma Wartenberg, nach der ein zentraler Platz benannt ist. Alma Wartenberg war Mutter von vier Kindern und hat um 1910 ihre Schicksalsgenossinnen zum „Gebärstreik“ aufgerufen. Eine weibliche Seite der Revolution, die uns der DDR-Staatsbürgerkundeunterricht verschwiegen hat. Dabei war Alma sehr erfolgreich. In Ottensen jedenfalls ging die Geburtenrate rasant zurück, und damit auch die Kindersterblichkeit. Inzwischen bekommt wohl nur noch jede zweite Ottensenerin im gebärfähigen Alter ein Kind, und bei dem einen bleibt es oft auch. Ausgerechnet an Almas Platz befindet sich der beliebteste Single-Treffpunkt von Ottensen und nennt sich ironischerweise „Familien-Eck“. Und im Frühjahr, wenn es warm wird, versammeln sich vor Almas Gedenktafel die Hamburger Punks, um ihren täglichen Sitzstreik gegen die bürgerliche Gesellschaft abzuhalten. Ist das wirklich in Almas Sinne? Ich frage mich, ob sie prinzipiell was gegen Familien hatte, und ob sie einen Mann, der überhaupt keine Kinder will, besser gefunden hätte. Davon gibt es hier in Ottensen einige, wie ich inzwischen weiß. Entweder wollen sie keine Kinder, weil sie vor lauter Karriere keine Zeit dafür haben, oder sie wollen keine, weil sie der „scheißkapitalistischen“ Gesellschaft nicht noch einen Arbeitssklaven schenken wollen. Vielleicht wäre Alma heute erschrocken über die weitreichenden Folgen ihres Gebärstreiks. Was soll aus einer Gesellschaft ohne Kinder werden, würde sie sich vielleicht besorgt fragen. Vielleicht würde sie heute sogar für ein Gesetz zur Begattungspflicht eintreten. In solche Gedanken versunken kehrte ich zurück und verzog mich jeden Abend in meine Wohnung über „Kohlen-Hornig seit hundert Jahren“.

Die Abende vertrieb ich mir damit, Casting-Shows zu gucken. Mit Spannung verfolgte ich das Weiterkommen und Ausscheiden der Kandidaten im Fernsehen, und versuchte dabei zu ergründen, wann wohl der beste Zeitpunkt sein würde, um meine ersten Bewerbungen für Arbeitsstellen in Hamburg zu schreiben.

Bis ich eines Morgens schon um vier Uhr erwachte. Es war längst Frühling und die Vögel lärmten in den Sträuchern am Bahndamm. Im Moment des Erwachens sah ich meinen Dispokredit vor Augen, der in dieser frühen Stunde aussah wie eine tiefe Schlucht, in der ich mich bald zu Tode stürzen würde. Plötzlich lag die Sache klar auf der Hand, ich hätte mich schon vor Wochen bewerben müssen. Aber meine Angst, wieder nur Absagen zu bekommen, war groß. In Berlin hatte ich Hunderte von Bewerbungen abgeschickt, und wenn überhaupt Antworten, dann nur Angebote für Praktika zurückbekommen. Als ich daran dachte, hörte ich einen dieser Casting-Juroren sagen: „Dein Auftritt überzeugt mich nicht.“ Und ich sah einen deprimierten Kandidaten zum Ausgang schleichen, verfolgt von einer gnadenlosen Kamera, die einem Millionenpublikum den gebeugten Rücken des Ausgeschiedenen zeigte. Vielleicht, so dachte ich, musste ich ja auch etwas an meinem Auftritt ändern, also genauer gesagt, an meiner Bewerbung. Seit Jahren verwendete ich dasselbe Begleitschreiben, das vermutlich klang, wie das von Tausend anderen meiner Studienkollegen. Es gab nichts Außergewöhnliches, nichts, was einem Personalchef für immer in Erinnerung bleiben würde.

„Du musst mutiger werden“, sagten die Juroren der Castingshows manchmal. „Wir wollen dich sehen und nicht den Versuch einer Kopie.“

Vielleicht sollte ich mir das zu Herzen nehmen. Ich nahm mir vor, alle Vorsicht abzulegen und den Personalchefs zu schreiben, was ich ihnen wirklich zu sagen hatte.

Noch immer unter der Decke vergraben, dachte ich mir Formulierungen aus, verbesserte, feilte, verwarf und merkte nicht mehr, wie die Zeit verging. Als ich aufstand, war es fast Mittag. Ich duschte, frühstückte kurz und setzte mich mit einem dampfenden Milchkaffee vor meinen Laptop. Das Licht des Frühlings erhellte mein Zimmer und Buchstabe um Buchstabe entfaltete sich mein neuer Bewerbungstext auf dem Bildschirm.

„Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin 30 Jahre alt, ledig und kinderlos und bis auf hundert Euro Begrüßungsgeld den Sozialämtern noch nie zur Last gefallen. Durch meine Kindheit und Jugend in der DDR sind mir soziale Ideale in Fleisch und Blut übergegangen. Sozialpädagogik zu studieren, war nur eine logische Folge. Ich bin vielseitig einsetzbar und gedenke nicht, meine wertvollen Potentiale in nächster Zukunft durch eine Familiengründung einzuschränken. Meine berufliche Einsatzfähigkeit wird derzeit in keinerlei Beziehung eingegrenzt. Ich wäre also Ihre ideale Bewerberin. Sollten Sie mich dennoch ablehnen, kann ich für nichts garantieren, schlimmstenfalls würde unsere Gesellschaft für immer eine überaus fähige Arbeitskraft verlieren.“

Das saß. Fand ich. Doch ich blieb stecken. Ich starrte mindestens eine Stunde auf den Bildschirm, dann löschte ich den Satz „Ich wäre also Ihre ideale Bewerberin“. Aber ich war mir nicht sicher, ob der Anschluss dann noch stimmte. Das Klingeln meines Telefons erlöste mich aus dem Gedankenkrampf. Es war Nicole.

„Du bist bestimmt die erste Bewerberin, die sich ihre Ablehnungsgrube gleich selber gräbt“, sagte sie, kaum dass ich meinen neuen Text vorgelesen hatte.

Ich war froh sie zu hören, ihre verdrehten Redewendungen sind Heimatklang in meinen Ohren.

„Ich wollte sie auf die Tragweite ihrer Entscheidung aufmerksam machen“, verteidigte ich mich.

„Du drohst ihnen mit Selbstmord!“

„Na gut, ich ändere das. Was hältst du von: Wenn Sie mich ablehnen, riskieren Sie meine erste Burn-out-Erkrankung.“

„Das ist Quatsch.“

„Ich dachte, das wäre witzig.“

„Witzig? Du winkst mit dem Zaunpfahl, dass du nicht alle Latten an der Seele hast.“

„Okay, du hast Recht. Es ist nicht witzig. Manchmal denke ich aber trotzdem, dass es richtig harte Arbeit ist, jeden Tag zu verkraften, dass man keinen anständigen Job hat.“

„Ist es ja auch! Aber was soll es für einen Sinn haben, fremden Personalchefs deine ganzen Probleme auf die Nase zu schnüren?“

„Wieso welche denn noch?“

„Dass du jeden Job nimmst, den du kriegen kannst, das geht doch niemand was an. Du weißt schon, der Satz mit vielseitig einsatzklar. Den musst du streichen.“

„Die sollen aber wissen, dass ich mir für nichts zu schade bin.“

„Das wird vorausgesetzt. Aber die wollen das Gefühl haben, dass ihnen der Kaffee von der Taube vom Dach gekocht wird, und nicht vom Spatz aus der Gosse.“

„Ach so.“

„Herrje. Das kann doch kein Neuland für dich sein. Und was hast du dir eigentlich dabei gedacht, deine Privatsituation so auszubreiten.“

„Ähm, ich dachte, das wirkt irgendwie beruhigend.“

„Beruhigend? Du unterstellst einem Personalchef, dass er von dir verlangt, dass du als kinderlose alte Jungfer vertrocknest.“

Schuldbewusst schwieg ich und Nicole sagte ungeduldig. „Jetzt schweig nicht schon wieder so depressiv. Weißt du, wo der Haken hängt? Die Absagen, die du bekommst, sind sich selbst erfüllende Vorhersagen. Du musst viel positiver an die Sache rangehen. Schreib von den Praktika, die du bisher gemacht hast, und zwar so, als hätte es seit deinem Studienabschluss nichts anderes gegeben. Den Rest lässt du in sich beruhen.“

„Danke für den Tipp. Was glaubst du, was ich bisher immer geschrieben habe?“

„Dir fehlt einfach der Glaube, dass das Glück auch bei dir mal zulangen wird.“

Sie hatte recht und das wusste sie und deshalb ließ sie ein feierliches Schweigen entstehen. Die Stille sollte mir helfen, die Wahrheit zu verkraften. In solchen Momenten hasste ich Nicole, aber selbst das wusste sie und deshalb überlegte sie sich immer noch etwas Konstruktives, um mich wiederaufzubauen.

„Buddhisten meditieren ihre Wünsche“, erklärte sie mir. „Je mehr du dich auf einen Wunsch konzentrierst, umso einfacher kannst du ihn danach loslassen. Nur losgelöste Wünsche kann das Universum in Realität verwandeln.“

„Und woher weiß das Universum dann noch, dass es MEIN Wunsch war?“, fragte ich sie. „Vielleicht haben schon eine Menge Leute eine Stelle als Sozialpädagoge gekriegt, weil sie den losgelösten Wunsch von jemand anderem abbekommen haben.“

„Das ist so typisch für dich“, regte Nicole sich auf. „Jeden Vorschlag zum positiven Denken drehst du ins Schlechte. Du hast Angst, dass du von anderen abgelehnt wirst. Aber selbst bist du die Ablehnung in Person. Manchmal denke ich ernsthaft darüber nach, den Kontakt zu dir aufzulösen.“

„Oh Gott, es tut mir so leid“, flüsterte ich.

„Dann sei bitte so nett und fühle dich für deine positive Energie selbst verantwortlich.“

Ich nickte und versprach ihr, noch am selben Tag ein paar Bewerbungen im alten Stil fertig zu machen, aber mit neuem Glauben.

„Und wie viele sollen es werden?“, fragte sie.

„Na so drei oder vier“, versprach ich übermütig.

„Viel zu wenig.“

„Wieso, an was dachtest du denn?“

„Elf“, antwortete sie.

„Elf?“, wiederholte ich ungläubig. „Wieso denn so viele?“

„Die Elf ist unteilbar und symmetrisch. Ihre Quersumme ergibt die schönste aller Ziffern: Die Zwei. Die Zwei wiederum ist der mathematische Ausdruck der Vollkommenheit. Sie ist der Inbegriff von männlich und weiblich, yin und yang, oben und unten, reich und kalt oder arm und warm. Sie sagt, dass alles Gute noch eine andere Medaillenseite hat, aber alles Schlechte auch.“

„Wäre es dann nicht besser, nur zwei Bewerbungen abzuschicken?“, fragte ich.

„Nein!“, schrie Nicole auf. Und ich hörte an ihrem Schweigen, wie sie sich in Sekundenschnelle wieder auf die Stille des Universums herunter meditierte. „Die Elf“, fuhr sie fort. „Die Elf trägt zwar die Harmonie des Universums in sich, aber ihr fehlt die Abgeschlossenheit, als hochwertige unteilbare Primzahl besitzt sie eine viel größere Sprengkraft als die Zwei. In ihrer Energiehaltigkeit wird sie nur noch von der 101 übertroffen. Wenn du willst, kannst du also auch hundertundeine Bewerbung schreiben. Das wäre vielleicht sogar noch besser…“

„Okay“, unterbrach ich sie. „Ich nehme die elf.“

„Und vergiss nicht das Wünschen“, rief Nicole noch in den Hörer, bevor ich vollkommen energetisiert auflegte und zum nächsten Kiosk ging.

Unter den bleischweren Blicken der KioskStammgäste, die hier schon am Morgen ihr Bier tranken, zog ich alle Tageszeitungen mit Stellenmarkt aus dem Regal.

Zuhause breitete ich die Seiten auf meinem Küchentisch aus und studierte die Annoncen. Das Ergebnis war mager. In vier verschiedenen großformatigen schwarz-weißen Bleiwüsten fand ich gerade mal vier Anzeigen, die sich an jobsuchende Sozialpädagogen richteten. Blieben noch sieben Arbeitgeber, die ich finden musste, wenn ich es mir beim Universum nicht verscherzen wollte. Ich entdeckte vier Zeitarbeitsfirmen mit dem Zusatz „Vermittlung auch in sozialen Berufen“. Ganz klar mein Fall.

Blieben noch drei herrenlose Bewerbungen. Ich suchte ziemlich lange, bis ich auf die Anzeige stieß: Studenten und Absolventen jeder Fachrichtung willkommen. Einzige Voraussetzungen: Teamgeist und Spaß am Kommunizieren. Es handelte sich um ein Marktforschungsinstitut. Gleich darunter standen noch zwei ähnliche Anzeigen.

Das hörte sich zumindest nach einer passablen Zwischenlösung an.

Ich nahm mein altes Bewerbungsschreiben und ging zum nächsten Copy-Shop.

Am späten Nachmittag hatte ich alle Kopien zusammen, sie in elf Mappen geheftet und in adressierte und frankierte Umschläge geschoben. Die vier Bewerbungen an die sozialen Einrichtungen nahm ich mir noch mal extra vor. Ich sammelte meine positiven Energien in meinen Händen, so wie Nicole es mir einmal gezeigt hatte. Als meine Fingerspitzen schon kribbelten vor lauter autosuggestiver Wärme, streichelte ich die Umschläge mit der ganzen geistigen Zuwendung, zu der ich fähig war.

Mit dem Stapel auf den Armen machte ich mich auf den Weg zum Briefkasten. Der nächste hing direkt neben der indischen Imbiss-Station Shikara. Ein gutes Omen, fand ich. Während ich dorthin pilgerte, sandte ich meine Wunschmantren in den Himmel.

Und dann, nachdem ich die gelbe Klappe des Briefkastens wieder geschlossen hatte, versuchte ich so geistesabwesend wie ein Laternenpfahl zu sein. Schließlich ging ich nach Hause, um vorm Fernseher die letzte Erinnerung an meine Wünsche zu vergessen.