Aus dem Amerikanischen von Marc Tannous

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Ballistic

erschien 2011 im Verlag Berkley Books.

Copyright © 2011 by Mark Strode Greaney

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig

Lektorat: Alexander Rösch

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-822-3

www.Festa-Verlag.de

www.Festa-Action.de

Für die Männer und Frauen auf beiden Seiten der Grenze, die jeden Tag daran arbeiten, den Wahnsinn zu beenden.

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.

– Friedrich Wilhelm Nietzsche

Wenn du in Mexiko ein Problem hast und dich damit an die Polizei wendest, dann hast du zwei Probleme.

– Lorenzo Meyer, mexikanischer Historiker

PROLOG

Der Menschenjäger kniete an der vorderen Seite des Kanus und sondierte das gegenüberliegende Ufer, während es hinter der Flussbiegung zum Vorschein kam. Dichter grüner Regenwald ging langsam in ein urwüchsiges braunes Dorf über. Eine Siedlung aus festgetretener Erde, Holz und rostigem Wellblech, am Ufer erbaut.

»Ist sie das?«, rief er dem Indianer zu, der am Außenbordmotor saß und steuerte. Sein Portugiesisch hatte sich in den letzten Monaten aus reiner Notwendigkeit verbessert.

»Sim, senhor. Das ist sie.«

Der Menschenjäger nickte und griff nach dem Funkgerät, das zwischen seinen Knien klemmte.

Aber er blieb ruhig. Erst musste er sicher sein.

Sieben Monate. Sieben Monate, seit ihn in Amsterdam der Anruf erreicht hatte. Eine hektische Abstimmung mit seinem Arbeitgeber, ein Flug über den Atlantik nach Caracas, eine wilde Fahrt nach Lima und dann weiter nach Süden.

Immer nach Süden. Bis er und seine Beute das Ende der Welt erreichten, und dann ging die Jagd zurück nach Norden.

Immer nach Norden.

Die ganze Zeit über blieb er der Zielperson mehr oder weniger auf den Fersen. Die längste Jagd seiner geschichtsträchtigen Karriere. Und hier würde sie enden. Auf die eine oder andere Weise endete die Jagd nach Courtland Gentry an genau diesem Ort.

1

Außerhalb von Quito war der Menschenjäger dicht dran gewesen. Er hatte bereits einen Killertrupp angefordert, aber der verlangte nach konkreten Angaben zum Aufenthaltsort der Zielperson. Dumm von ihm – ein solcher Fehlstart konnte ihre Entschlossenheit beim nächsten Anlauf trüben. Er nahm sich vor, keinen falschen Alarm mehr zu schlagen. Im Norden Chiles hatte er die Fährte der Zielperson wieder aufgenommen und weiter unten an der Pazifikküste einen Hinweis auf sie entdeckt, aber in Punta Arenas verlor sich dann die Spur.

Bis zu einem Glücksfall in Rio. Ein dänischer Jiu-Jitsu-Schüler hatte ein Fahndungsplakat von Interpol gesehen, während er in seiner Botschaft den Verlust seines Passes meldete. In einem Dojo in den Favelas war er einem anderen weißen Schüler begegnet. Nicht ungewöhnlich, aber der Däne kannte sich in seiner Kampfkunst aus, und im Kampfstil des Weißen blitzten Einflüsse anderer Disziplinen durch: harte, brutale, kriegerische Einflüsse, die er vor seinem Umfeld zu verbergen versuchte. Der Däne erinnerte sich an das Fahndungsplakat. Die Ähnlichkeit fiel nicht frappierend aus, dennoch fühlte er sich gezwungen, die Behörden zu kontaktieren. Etwas an dem Mann im Dojo hatte ihn beunruhigt. Ein Blick, sein Verhalten, der Hauch eines Misstrauens seitens des weißen Schülers, als wüsste er, dass der Däne ihn aus irgendeinem Grund abklopfte.

Der Menschenjäger erfuhr von der Sichtung und reiste nur wenige Stunden später im Privatjet an. Der Verdächtige war an diesem Tag nicht zum Kurs erschienen, und auch nicht am nächsten.

Für die Laufarbeit besorgte sich der Menschenjäger vor Ort Verstärkung. Dutzende Männer durchkämmten die Favelas mit Fotos und Bargeld. Viele aus der Truppe wurden auf den brutalen Straßen der gesetzlosen Slums verprügelt oder bedroht, ein Mann sogar um seine Brieftasche erleichtert und mit einem Messer in den Arm gestochen. Aber der Aufwand zahlte sich aus: Jemand redete. Jemand lieferte einen Hinweis. Jemand nannte flüsternd eine Adresse.

Der Menschenjäger ging, um nachzusehen. Er selbst war kein Schütze und hatte seit seiner Zeit in der königlich-niederländischen Armee in den 70ern, im Kampf gegen die Angolaner, keine Waffe mehr abgefeuert. Aber weil er seine in Lauerstellung wartenden Schützen nicht in einer weiteren ergebnislosen Jagd aufreiben wollte, ließ er acht bewaffnete Männer zurück und setzte mit nur zwei von ihnen die Suche fort. Ein fürchterliches, heruntergekommenes Viertel, ein verdrecktes Gebäude, ein nach Pisse stinkender Gang im ersten Stock mit einer finsteren Tür am Ende. Die Hände des Menschenjägers zitterten, während er mit dem Schlüssel eines anderen Bewohners aufschloss und, dicht gefolgt von seinen bewaffneten Begleitern, hineinschlich.

Eine menschliche Gestalt hangelte sich blitzschnell von einem oberen Etagenbett herunter. Das Leben des Menschenjägers raste an seinen Augen vorbei. Dann hievte sich der Unbekannte einen Rucksack auf die Schultern und verschwand durch ein Fenster zwei Etagen in die Tiefe. Der Menschenjäger eilte hinterher. Die bewaffneten Männer feuerten und zielten auf das Bett, die Wand und den Fensterrahmen hinter dem blitzschnellen Fleck. Sie luden nach, während der Menschenjäger das Fenster erreichte, beobachtete, wie die Zielperson landete, auf ein anderes Dach schnellte, wie ein fliegendes Eichhörnchen über eine Gasse zu einem weiteren Gebäude flog, dann erneut sprang und hinunter ins Erdgeschoss wirbelte, während ihn die Explosionen kleinkalibriger Kugeln die Straße entlang verfolgten, als die beiden Bewaffneten sich mit Verspätung wieder am Kampf beteiligten.

Die Zielperson blieb verschwunden. Im Bett, das sie hinterließ, fanden sich abgesehen von Wärme auf der zerfetzten Decke keinerlei Spuren.

Das war vor zehn Wochen gewesen.

Am vergangenen Sonntag traf ein Anruf aus dem Hunderte Kilometer nördlich am Amazonas gelegenen Fonte Boa ein.

Der Menschenjäger hatte Listen möglicher Berufe erstellt, in denen die Zielperson Arbeit finden könnte. Es waren Hunderte, vom Blechschlosser bis zum Legionär. Aufgrund der Taucherfahrung und der Beherztheit tauchte auch das Stichwort Meeresbergungen auf. Eine kleine Firma an einem abgelegenen Nebenfluss des Amazonas hatte einen dahergelaufenen weißen Ausländer eingestellt – eher ungewöhnlich im brasilianischen Dschungel. So war der Menschenjäger nach Fonte Boa geflogen und hatte dem Bootsführer, der Kurzwaren flussaufwärts zu den Siedlungen transportierte, ein Foto gezeigt.

Und jetzt war der Menschenjäger hier.

Er fummelte am Funkgerät zwischen den Knien herum. Ein Kommando von ihm, und zwei Hubschrauber voll bewaffneter Männer hoben ab und sondierten das Terrain. Geplant hatten sie ihren Angriff mithilfe von Satellitenfotos und einer Kreidetafel im Hotelzimmer des Beobachters in Fonte Boa. Ein Kommando, und der unberührte Dschungel ging in Flammen auf und setzte dem Leben der Zielperson, die der holländische Menschenjäger sieben lange Monate verfolgt hatte, ein Ende.

Aber zunächst musste er sicher sein.

Ein Brüllaffe sprang platschend von einem Baum ins Wasser, huschte ans Ufer zurück und verschwand im Dickicht. Sekunden später verlangsamte das Motorboot und prallte gegen Gummireifen, die am Kai angebracht waren. Der Besitzer des Kanus schaltete den Außenbordmotor ab.

»Nein«, mischte sich der Menschenjäger ein. »Lassen Sie ihn laufen. Das geht schnell.«

»Vergeudet Benzin, Sir«, meinte der Einheimische. Irgendein indianischer Wilder. »Ich brauche fünf Sekunden, um ihn neu zu starten.«

»Laufen lassen, hab ich gesagt.«

Der Weiße kletterte an Land und eilte den schmutzigen Hügel hinauf zu einem Mann, der vor einer Hütte auf dünnen Stelzen herumlungerte. Der Niederländer wollte sich auf irgendeine Weise versichern, dass dies der richtige Ort war, und den Rückzug antreten, bevor das Feuerwerk losging. In einem Schulterholster trug er einen antiken Webley-Top-Break-Revolver, aber hier draußen unter den Wilden des Dschungels diente er eigentlich nur zur Show. Töten war nicht sein Job. Er würde sein Funkgerät benutzen, und die Arbeit wäre erledigt. Dann fuhr er wieder flussaufwärts nach Fonte Boa, um im Hotel auf eine Vollzugsmeldung zu warten.

Mauro saß im Schatten und wartete, dass sein Vater mit dem morgendlichen Fang zurückkehrte. Mit seinen zehn Jahren fuhr Mauro normalerweise mit ihm hinaus, um die Netze zu leeren, doch heute war er zurückgeblieben, um seinem Onkel bei einigen Arbeiten im Haus zu helfen. Er hatte gerade erst den Steg erreicht, da tauchte das Kanu mit dem Weißen auf. Er beobachtete, wie der alte Mann den Hügel hinaufging, vor dem Trunkenbold stehen blieb und ihn in ein Gespräch verwickelte. Der Weiße zog ein Blatt Papier aus der Brusttasche und zeigte es dem Betrunkenen, dann gab er ihm etwas Geld.

Mauro stand langsam auf. Zögerte.

Der Weiße nickte, schlenderte zurück zum Kanu und hielt das Sprechteil eines Funkgeräts vor den Mund.

Der junge Mauro trat auf einen schmalen Pfad zu, der von der Anlegestelle und seinem Dorf wegführte. Kaum befand er sich im finsteren Schutz des Blätterdachs, begann er so schnell zu rennen, wie seine schwieligen blanken Füße ihn trugen.

2

Court Gentry zog am Versorgungsschlauch, um den Spielraum zu erweitern, dann wandte er sich erneut dem Wrack zu, das vor ihm lag. Er streckte die Finger aus, die in einem Handschuh steckten, und tastete sich zum massigen eisernen Steuerhaus des versunkenen Dampfschiffs vor. Um diese Uhrzeit am späten Vormittag betrug die Sichtweite im trüben Fluss neun Meter unter der ockerfarbenen Oberfläche des warmen Wassers kaum mehr als 30 Zentimeter. Er fand die richtige Position, justierte den Winkel der Taschenlampe am Helm, griff zum Schweißbrenner und ließ die Flamme so schmal werden, dass sie einem winzigen glühenden Stachel glich. Danach führte er das weißglühende Feuer langsam an das Eisen heran, um zu einem neuen Schnitt anzusetzen.

Dreimal starkes Rucken an der Schnur brachte ihn aus dem Konzept.

»Verdammt!«, fluchte er laut, sodass seine Stimme im Messinghelm widerhallte. Das Funkgerät des Tauchhelms funktionierte nicht, sodass das Team über Ziehen am Seil kommunizierte. Die kurzen, heftigen Impulse bedeuteten ›sofort auftauchen‹, was hieß, dass er mindestens zehn Minuten brauchen würde, um durch die Algen und den öligen Film nach hier unten zurückzukehren und seine Position wiederzufinden.

Dennoch zögerte er keine Sekunde. ›Sofort auftauchen‹ war keine Nachricht, die man ignorieren sollte. Vielleicht falscher Alarm, doch es konnte auch bedeuten, dass es ein Problem mit der Ausrüstung gab, was unter Umständen schnell gefährlich wurde. Es konnte auch bedeuten, dass Schlangen, Krokodile oder ein Piranhaschwarm in der Nähe des Tauchplatzes gesichtet worden waren, was ein tödliches Ende geradezu vorwegnahm.

Vier Minuten später durchbrach er die Oberfläche. Ausrüstung und Eigengewicht machten es unmöglich, Wasser zu treten, deshalb hangelte er sich an der Schnur entlang Richtung Ufer. Als das Wasser ihm noch bis zur Hüfte reichte, wischte er grünen Glibber von der Acryl-Frontplatte des Helms. Erst nachdem er den Verschluss gelöst und die schwere Kopfbedeckung abgenommen hatte, erkannte er den Pfad durch das dicke Schilf und die hohen Gräser am Flussufer.

Vor ihm tauchten seine zwei Mitarbeiter auf, Thiago und Davi. Beide Männer waren erfahrene Bergungstaucher, aber keiner von ihnen war dafür ausgerüstet, heute in die Tiefe zu gehen. Nur ein Kompressor war einsatzfähig, deshalb wechselten sie sich bei den Einsätzen ab. Ein Mann auf dem Grund und zwei auf Krokodil-/Anakonda-/Piranha-Beobachtungsposten.

»Was ist los?«, rief Court ihnen zu. Sein Portugiesisch war nicht halb so gut wie sein Spanisch, erfüllte aber seinen Zweck. Einer zeigte mit dem Daumen auf die andere Seite einer winzigen Lagune, die sich wie ein Tumor aus dem Fluss hervorwölbte. Dort sah Court den jungen Mauro auf dem Weg zum Dock stehen. Der Junge trug ein rot-schwarzes Barcelona-Fußballtrikot mit dem Namen eines bulgarischen Spielers, der seit Mitte der 90er nicht mehr für diesen Club auf dem Platz gestanden hatte, und er war barfuß. Court hatte den dunkelhäutigen Jungen noch nie in Schuhen gesehen.

Gentry war überrascht, dass er an die Oberfläche geholt worden war, um mit dem Jungen zu sprechen – noch immer winkte und lächelte er. Aber das Lächeln wich schlagartig aus seinem Gesicht. Die Augen des Jungen standen weit offen und der Körper wirkte angespannt.

Etwas stimmte nicht.

Court schleppte sich am sumpfigen Ufer entlang, das die Lagune umgab. Die Füße wurden vom Schlamm nach unten gezogen. Er stieg zum jungen Brasilianer hinauf und ging mit ihm ein paar Meter den Pfad entlang, bevor er fragte: »Was ist los?«

»Du hast mir gesagt, ich soll kommen, wenn ich jemals einen Weißen sehe.«

»Ja, das habe ich.« Courts eigener Körper verspannte sich.

»Ein alter Mann. Allein. Am Steg.«

»Hat er mit jemandem gesprochen?«

»Ja, er hat Amado etwas gefragt. Ihm ein Blatt Papier gezeigt und etwas Geld gegeben. Dann hat der Weiße in sein Funkgerät gesprochen.«

»Sein Funkgerät?« Gentrys Blick war jetzt nicht mehr auf den Jungen gerichtet, sondern auf den Weg zurück zum Dock, das in einem Kilometer Entfernung hinter dichtem Regenwald lag. Seine Hände hatten bereits angefangen, den alten, verschlissenen Neoprenanzug vom Körper zu schälen. Er stand nur noch in Unterwäsche da.

Thiagos Stimme erklang in ihrem Rücken – wahrscheinlich, um Gentry mitzuteilen, dass noch nicht Mittagszeit sei. Er ignorierte ihn.

»Wo ist er jetzt?«

»Er ist gegangen. Wieder in ein Motorboot gestiegen und flussaufwärts gefahren.«

Court nickte. Er sprach mit sich selbst auf Englisch. »Der Menschenjäger.«

»Quê?« Was?

»Gut. Das hast du wirklich gut gemacht, Mauro. Danke.«

»Klar doch, Jim.«

Sekunden später kniete Court auf der gegenüberliegenden Seite der Lagune neben seiner Ausrüstung. Der Junge war ihm zum Ufer gefolgt, stand über ihn gebeugt und beobachtete, wie er die geräumige Tasche öffnete. Er holte eine schwarze, abgesägte Flinte mit hölzernem Pistolengriff heraus. Kaliber zwölf. Ein gezielter Griff zum Geldbeutel, der prall mit brasilianischen Reals gefüllt war. Er hielt ihn dem Jungen hin. »Das ist für dich. Nimm dir etwas davon und gib den Rest deiner Mutter.«

Mauro nahm das Geschenk entgegen, die Augen vor Überraschung und Verwirrung geweitet. »Du gehst weg?«

»Ja, Kumpel. Für mich wird es Zeit, hier zu verschwinden.« Mit raschen Handbewegungen streifte Gentry sich eine schmutzige braune Hose und ein schmuddeliges cremefarbenes Hemd mit langen Ärmeln über.

»Was ist mit deinem Hund?«

»Er war nicht mein Hund. Er hat sich nur bei mir im Lager rumgetrieben. Er ist ein guter Junge. Kümmer dich um ihn und er kümmert sich um dich, okay?«

Court machte sich daran, alte Tennisschuhe an den nassen Füßen zuzubinden.

Mauro nickte, aber in Wahrheit verstand er überhaupt nichts.

Er hatte in seinem Leben noch nie jemanden getroffen, der so kurz entschlossen handelte. Die Leute in seinem Dorf gingen nicht weg und trafen keine weitreichenden Entscheidungen innerhalb von Sekunden. Sie drückten Kindern nicht ihre Brieftaschen in die Hand. Und sie änderten nicht ihr Leben, weil irgendein dummer alter Mann in einem Kanu auftauchte.

Sein Onkel hatte recht. Gringos waren verrückt.

»Wohin gehst du?«, fragte er den seltsamen Amerikaner.

»Keine Ahnung. Ich denk mir etwas …«

Court verstummte mitten im Satz. Er neigte den Kopf, während er einen kleinen, voll bepackten Rucksack aus dem Seesack zog und ihn sich auf den Rücken schnallte.

Mauro hörte es auch. »Ein Hubschrauber.«

Court schüttelte den Kopf, nahm die Flinte mit dem Pistolengriff und stand auf, klettete sie an die rechte Seite seines Rucksacks, in Griffweite. Links war bereits eine Machete auf gleiche Weise befestigt. »Nein, zwei Hubschrauber. Renn nach Hause, Kumpel. Geh mit deinen Geschwistern ins Haus und bleibt dort. Hier draußen wird es gleich ordentlich laut.«

Und dann überraschte der Gringo den jungen Mauro ein letztes Mal. Er lächelte. Er lächelte breit und wuschelte ihm durch die buschigen schwarzen Haare. Er winkte seinen beiden Kollegen wortlos zu, dann rannte er in Richtung Dschungel.

Zwei Hubschrauber kamen tief aus der Sonne über die Baumkronen geschossen. Der Abwind ihrer tuckernden Rotoren peitschte das Pflanzenreich unter ihnen auf, während sie in Formation über das Gelände rasten. Es handelte sich um Maschinen vom Typ Bell 212, eine zivile Version der Twin Huey, des altehrwürdigen, aber leistungsfähigen Luftfahrzeugs, das unter amerikanischen Streitkräften im Vietnamkrieg weitverbreitet gewesen war.

In der Geschichte des bemannten Fluges gab es keine Maschine, die mehr in ihrem Element war, wenn sie über das Blätterdach eines Dschungels fegte. Die Hubschrauber befanden sich im Besitz der kolumbianischen Polizei, waren aber samt ihren Besatzungen an die Autodefensas Unidas de Colombia verliehen worden – eine halb rechtsgerichtete, halb aufgelöste Verteidigungstruppe, die von Zeit zu Zeit gegen die Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, kurz FARC, und Kolumbiens linksorientierte Rebellengruppe, das ELN – Ejército de Liberación Nacional – kämpfte. Die kolumbianische Polizei vermutete, es ginge bei der Leihgabe darum, das 20-köpfige Team in eine Bergregion zu entsenden, um dort die FARC zu bekämpfen, aber in Wahrheit verdingten sich die AUC im Amazonas-Dschungel jenseits der Grenze als Söldner.

Die Piloten hüteten sich, diese Zweckentfremdung von Ressourcen zu melden. Sie wurden gut bezahlt.

Jeder in der Einheit trug eine grüne Dschungeluniform und einen Tropenhelm.

Jeder schwenkte ein massives HK-G3-Kampfgewehr und war ausgerüstet mit Ersatzmagazinen für die Gewehre, Granaten, einem Funkgerät und einer Machete, an Brust und Taille befestigt.

Der Kommandant der Einheit saß im Leithubschrauber und schrie über den Pratt-and-Whitney-Turbowellenmotor hinweg zu den neun Soldaten: »Eine Minute! Wenn ihr ihn seht, schießt auf ihn! Wenn ihr auf ihn schießt, tötet ihn! Die brauchen ihn nicht lebendig!« Dann korrigierte er sich: »Die wollen ihn nicht lebendig!«

Ein mehrstimmiges »Sí, comandante!« röhrte lauter als der Motor. Denselben Auftrag gab er über sein Funkgerät an die Männer im zweiten Hubschrauber weiter.

Einen Moment später trennten sich die Helis. Das Schiff des Kommandanten schwenkte deutlich nach links und tauchte zu einem kleinen, gewundenen Fluss ab, der sich gen Süden schlängelte.

Court schoss durch das fleckige Morgenlicht, das über ihm durch das Blätterdach flimmerte, und bewegte sich entschlossen voran. Er blieb auf dem Dschungelpfad, die Ohren auf das Rotorengeräusch in seinem Rücken fixiert.

Schon bald splittete sich der gleichförmige Takt der Hubschrauber auf. Sie trennten sie voneinander. Einer setzte hinter ihm auf, wahrscheinlich auf der sumpfigen Lichtung, 100 Meter vom Tauchplatz entfernt. Gentry wusste, dass die Männer knietief im Schlamm versanken, was ihm etwas Zeit verschaffte, um zu entkommen. Der andere Drehflügler schoss unterhalb der Baumkronen links an ihm vorbei. Bestimmt überflog er den Fluss. Unterwegs dürfte er im Rahmen eines Blockiermanövers Abwürfe durchführen.

So viel zum Thema Zeitgewinn.

Court rannte noch schneller. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden, doch der 37-jährige Amerikaner fühlte sich selbstbewusst und stark, während seine Beine und Arme ihn vorantrieben. Adrenalin, ein alter Freund, dem er schon eine Weile nicht mehr begegnet war, strömte durch den Körper und versorgte Muskeln und Verstand mit Energie.

Neun Wochen hatte er hier verbracht. Neun gute Wochen. Nur selten war er als Erwachsener so lange an einem Ort geblieben. Wie er dem Dorfjungen gesagt hatte, es war Zeit aufzubrechen.

Das Team des Kommandanten seilte sich rasch am Flussufer ab. Die ersten vier sanken im Matsch auf die Ellbogen und richteten ihre HKs in den Wald, um den anderen vier Deckung zu geben, während diese nach unten glitten. Das zweite Quartett eilte den unbefestigten Weg hinauf, warf sich auf den Boden und sicherte in beide Richtungen ab. Der Kommandant und seine Nummer zwei erreichten den Boden als Letzte, liefen den Trampelpfad entlang und setzten sich an den Kopf der Kolonne. Der Kommandant bekam die Meldung, dass die Männer des anderen Choppers durch ein Sumpfgebiet platschten. Er fluchte laut auf Spanisch und herrschte seine Männer an, das Tempo zu erhöhen.

Gentry spurtete durch sein winziges Lager. Er brauchte nicht lange. Es bestand nur aus einem Zelt mit Pritsche, einer mit Steinen umgrenzten Feuerstelle, einem abgenutzten Weg zu einer von Hand ausgehobenen Latrine, einer von Moskitonetzen umhüllten Hängematte und einigen Habseligkeiten in einem Netz, aufgehängt am Ast eines Baums. Kein Hund, stellte er erfreut fest. Die Mittagspause war nah genug, also dürfte der kleine vierbeinige Überlebenskünstler runter ins einzige, mit Stroh überdachte Restaurant der Stadt gestürmt sein, um auf die Reste zu lauern, ehe er sich auf den Weg zu den schattigen Palmen in der Nähe machte, unweit der Stelle, an der die Fischer mit ihrem täglichen Fang festmachten. Dort konnte er sich eine Weile ausruhen, bevor er sich mit den anderen Hunden des Dorfes um eventuell übrig gebliebene Fischköder balgte, die von den Booten geworfen wurden.

Court stellte fest, dass der Tagesablauf des Hundes besser organisiert war als sein eigener.

In einem verschlossenen Koffer im Zelt bewahrte er eine Browning-Pistole auf, nahm sich aber nicht die Zeit, sie zu holen. Stattdessen hangelte er hinter der Stofftür seines Zwei-Mann-Zeltes nach einem Feuerzeug sowie einer kleinen Dose Spiritus, die danebenlag. In Sekundenschnelle hatte er das Öl über das Zelt, seine Sachen im Baum und sogar über die Hängematte gegossen. Ohne einen Moment des Zögerns und ohne einen Hauch von Bedauern zündete er seine Behausung an, warf das Feuerzeug auf den Boden und setzte sich zu dem schmalen, 15 Meter entfernten Bach in Bewegung.

Links von Gentry schrie ein Mann auf. Der hohe, frohlockende Klang der Stimme verriet, dass man ihn entdeckt hatte.

Sie waren ganz nah.

Gentry sprang in den knöcheltiefen Bach und stürzte nach Süden. Seine Schritte pflügten durch das fließende Wasser.

Der Kommandant glitt auf dem Rücken das Ufer hinab in den kalten Strom. Im Wasser fand er das Gleichgewicht wieder und hob die Waffe; gerade als sich die Zielperson nach links aus seinem Visier und dem Blickfeld hinausbewegte. Die Männer hasteten an ihrem Vorgesetzten vorbei, alle von der Verfolgung aufgeputscht, begeistert von der Aussicht auf einen Fang.

Er senkte das G3 und lief neben ihnen her. Er wusste, dass vor ihnen eine Straße lag, die zum Fluss führte, er wusste aber auch, dass sich dieser Bach nicht direkt bis zur Straße schlängelte. Er nahm an, es gab einen kleinen Pfad, den die Zielperson ansteuerte. Einen Pfad, der zu schmal war, um ihn auf den Satellitenbildern durch das dreilagige Blätterdach des Dschungels hindurch zu erkennen. Der Befehlshaber und seine Männer mussten nur dicht genug an die Zielperson herangelangen, um mitzubekommen, wo sie das Bachbett verließ und zurück in den Dschungel huschte. Danach war es nur eine Frage der Zeit, sie auf diesem Pfad abzufangen. Der Dschungel bot keine beherrschbare Deckung, der Feldweg verlief zu gerade, als dass ein Flüchtiger den Kugeln aus den schweren 7,62-mm-Sturmgewehren, die er und seine Männer trugen, hätte ausweichen können.

Der Kommandant nahm mit seinen Männern die Biegung. Die zehn in der Gruppe rennenden Soldaten ließen die Gischt bis auf Brusthöhe spritzen. Vor sich sah er den dunkelhäutigen Mann mit den langen Haaren und dem Rucksack. Er hielt nichts in der Hand. Einer seiner Leute an der Spitze des Pulks feuerte einen Schuss ab und erwischte ein paar Lianen, die weit über dem Kopf der Zielperson pendelten. Genau in diesem Moment huschte die Zielperson nach links, lief aus dem Wasser den Steilhang hinauf und schlich durch eine Lücke auf einen schmalen Fußweg. Ein weiterer Gewehrschuss seiner Männer trieb sie tiefer in den Dschungel hinein.

»Da rennt er!«, rief der Kolumbianer. »Das Ufer hinauf!«

3

Ein Gewehrschuss zerfetzte Zweige und Buschwerk über Gentrys Kopf, während er einen flachen Hügel hinunterhastete. Die Mörder waren ihm dicht auf den Fersen. Er erhöhte sein Tempo noch. Die Oberschenkel brannten, als Milchsäure aus dem Blutkreislauf in die Muskelfasern spritzte.

Er hatte diese Flucht choreografiert, mehrere Trockenübungen gemacht, diese Route gewählt, um die Auswirkungen der natürlichen Gefahren des Dschungels zu maximieren. Natürliche Gefahren, die er durch den Einsatz gewisser Hilfsmittel noch verschärft hatte.

Mit der Linken langte er nach hinten und bekam den Griff der Machete zu fassen, die an der Seite des Rucksacks befestigt war. Er zog sie aus der Klettfixierung und trieb sie mit einem beherzten Schwinger in einen Busch zu seiner Rechten. Dahinter stieß er auf einen schmaleren Pfad, der unter dem Blätterdach noch düsterer wirkte und mit Wurzeln und Ranken überwuchert war. Um zu verhindern, dass er mit den Füßen an Hindernissen auf dem Weg hängen blieb, lief Court auf Zehenspitzen und zog die Knie an. Seine Verfolger hatten beobachtet, wie er den Hauptweg verließ. Daran gab es keinen Zweifel. In Sekundenschnelle würden sie ihm erneut auf der Spur sein. Im Rennen ließ er die Machete zur Seite pendeln. Er liebte die Klinge und brauchte sie wahrscheinlich bald wieder, doch zunächst musste er sich ganz auf eine schnelle Beinarbeit konzentrieren und auf das Muskelgedächtnis der oberen Extremitäten verlassen, um das Gewehr an der rechten Seite des Rucksacks zu lösen. Er zog am Pistolengriff und schwang die Waffe nach vorn, richtete sie im Sprint mit beiden Händen senkrecht nach oben, den Lauf dicht vor dem Gesicht.

Der Pfad führte einen weiteren Hügel hinab, mit großen, dickstämmigen Bäumen auf allen Seiten. Er riss die Augen weit auf, um jedes Quäntchen Helligkeit aufzunehmen, das ihm die Natur anbot. Für einen Moment löste er den Blick vom Weg, forschte nach einem geeigneten Baum, einem geeigneten Ast – dann hatte er ihn gefunden.

Hinter ihm löste sich ein weiterer Schuss. Er hörte den überschallschnellen Knall, der an seinem linken Ohr vorbeipfiff. Die Jäger waren keine 30 Meter mehr entfernt. Sieben oder acht Sekunden, dann erreichten sie die Stelle, an der er sich gerade befand.

Perfekt.

Gentry lief weiter, unter dem Baum hindurch, unter dem Ast, den er im schwachen Licht gesucht hatte, und zielte mit dem Gewehr vor dem Gesicht senkrecht nach oben. Er lud nach und feuerte erneut. Der Rückstoß der Waffe ruckte hart gegen die Schultergelenke.

15 Meter über ihm wurde ein zwei mal einen Meter großer afrikanischer Killerbienenstock von beiden Schrotschüssen direkt an der Unterkante erwischt. Der Einschlag zerfetzte die Unterseite der Struktur und schlug sie komplett vom Zweig. Wie ein Klavier, das von einem Baum fiel, krachte sie auf den Pfad und durchschlug bei ihrer harten Landung die Äste.

Court erreichte den Rand eines niedrigen Hügels und sprang über eine gefällte Zypresse, während der Bienenstock 18 Meter hinter ihm aufschlug.

Der comandante war ein durchtrainierter Mann Mitte 30, dennoch konnte er mit den meisten jüngeren Mitgliedern seiner Truppe nicht Schritt halten. Er gehörte zu den Letzten auf dem Pfad, während sie einen Hügel hinunterfegten. In der finsteren Ferne erspähte er das Mündungsfeuer eines Gewehrs. Der Widerhall der Waffe wurde von der feuchten Luft des grünen Urwalds gedämpft. Obwohl er von der Jagd fast so aufgepeitscht war wie seine Männer, ging der Kommandant geistesgegenwärtig in Deckung, als er den zweiten Schuss hörte, was ihn auf dem schmalen Pfad ans Ende des Rudels beförderte. Er hatte sich gerade wieder auf die Beine gekämpft, da sah er das riesige Objekt, das vor ihm durch die vereinzelten schwachen Lichtstrahlen schoss, die sich durch das Blätterdach schoben.

Er wusste nicht, was es war, und hätte es in einer Million Jahren nicht erraten. Erst als der große, fette Klumpen zu Boden stürzte und die ersten beiden Männer in der Kolonne in eine dunkle Wolke hüllte, rief er seinem Team eine konfuse, unspezifische Warnung zu.

Erst nach den ersten Schreien, einem heftigen Brennen am Unterarm direkt oberhalb der Stelle, an der sein Handschuh endete und die freiliegende Haut begann, erst nachdem der explodierende, ausschwärmende, verdunkelnde Nebel die Männer vor ihm einhüllte – erst dann wusste er Bescheid.

Bienen. Tausende, nein, Zehntausende wütender Bienen hüllten die schreienden, sich windenden, panischen Soldaten ein. Innerhalb von Sekunden wurde in einem erbärmlichen und sinnlosen Akt der Verzweiflung wild in den Himmel geschossen. Gut ausgebildete Kämpfer stürmten zappelnd in den dichten Wald jenseits des Wegrands, fielen und traten und schlugen um sich wie Wahnsinnige.

Dem comandante wurde ins Gesicht gestochen, in den Hals, dann in den Arm. Schließlich stolperte er, machte kehrt, wollte den Pfad über den Hügel hinauflaufen, hinaus aus dem wahnsinnigen Schwarm wütender, leuchtender Punkte, die von allen Seiten nach ihm stachen, den stetigen Spritzern ätzender Säure, der zähflüssigen Wolke winziger Feuerkugeln aus geschmolzener Lava.

Er schrie, betätigte den Knopf des Walkie-Talkies und schrie noch mehr. Dann schlug er hin und die Stiche gruben sich tiefer in die Haut. Fast wäre er wieder auf die Beine gekommen, doch seine fliehenden Männer – die allesamt gegen die Panik, die Schmerzen und die kaum vorhandene Sicht aufgrund der umherwirbelnden, schwärmenden Insekten ankämpften – nieteten ihn um, sodass er prompt auf die Brust fiel, während sie sich in Richtung Bach zurückzogen.

Der Befehlshaber brachte ein Knie unter den Oberkörper, um sich hochzudrücken, doch die dunkle Wolke hüllte ihn erbarmungslos ein. Alle Nervenenden seines Körpers schienen in Flammen zu stehen. Er griff nach der Pistole, um Zehntausende Angreifer abzuwehren.

Court lief weiter, weg von den Schreien und den unregelmäßig aufbrandenden Schüssen im Dschungel. Er kalkulierte mit einem Dutzend Gegner, doch das war reine Vermutung. Er hatte sich kein einziges Mal nach ihnen umgeschaut. Seine Prognose basierte auf dem unverwechselbaren Klang der Hubschraubertriebwerke. Es handelte sich zweifellos um Hueys. Und in Court Gentrys Welt wusste jeder, dass ein Huey 14 voll ausgerüstete Schützen befördern konnte.

Die Schmerzensschreie bestätigten seine Einschätzung. Die menschlichen Laute klangen, als stammten sie von etwa einem Dutzend Männern. Was bedeutete, dass der andere Chopper wahrscheinlich dieselbe Zahl von Kämpfern transportierte. Warum sollte die Größe ihrer Schützenteams variieren?

Die beiden Fluggeräte kreisten hoch am Himmel. Sie hatten ihre Männer abgesetzt und warteten auf den Befehl, sie abzuholen.

Gentry gelangte aus dem dichten Dschungel auf die Hauptstraße, wandte sich nach Süden und joggte jetzt, statt zu rennen. Er hatte keine Ahnung, wo sich das andere Team gerade aufhielt. Falls sie sich aus dem Sumpf herausgekämpft hatten, könnten sie auf ebendieser Straße sein, lagen dann aber mindestens einen Kilometer zurück.

Während des Joggens gönnte er sich einen kurzen Moment der Entspannung. Dieser endete abrupt, als er einen Lastwagen in seinem Rücken hörte. Im Dorf gab es nur einen Lkw. Es handelte sich um einen alten Pritschenwagen, der einem seiner Mitarbeiter gehörte und allein dem Zweck diente, das von der Wrackstelle geborgene Eisen für den Rücktransport nach Fonte Boa über diese Straße zum Dock zu befördern.

Court wurde langsamer, drehte sich um und erwartete, Davi hinter dem Steuer zu sehen. Aber nein, 100 Meter hinter sich sah er zwar Davis Truck, aber der war voller bewaffneter Männer mit Tropenhelmen. Gentry wirbelte herum und wollte um sein Leben rennen, da vernahm er erste Gewehrschüsse.

»Fuck!«, fluchte Gentry, als er von der Straße zurück in den dichten Dschungel stürmte, sich durch Ranken, Busch- und Palmwedel so groß wie Truck-Reifen grub und verzweifelt versuchte, die richtige Kombination aus wenig Angriffsfläche und schneller Fortbewegung auszutarieren.

Während er sich den Weg durch das Dickicht bahnte, schmiedete er einen neuen Plan. Sein alter Plan war simpel gewesen: In nur 150 Metern Entfernung hatte er unter der schmalen Brücke ein Kanu versteckt. Er hatte vorgehabt, die Straße langzulaufen, die Böschung hinunterzurutschen und mit dem kleinen Boot zu entkommen. Dabei wollte er den Hubschraubern ausweichen, indem er gezielt unter den Baumkronen blieb, die über das Flussufer hingen.

Doch jetzt musste er sich der Brücke von oben nähern, was ihn mit einem enormen Handicap konfrontierte. Vielleicht auch einem Dutzend oder noch mehr Handicaps, je nachdem, wie man es betrachtete.

An beiden Seiten des Flussufers nördlich der Brücke wimmelte es nur so von Krokodilen.

Riesigen, beschissenen Krokodilen.

Während Court durch das schier undurchdringliche Dickicht stürmte, entschied er sich für eine veränderte Strategie. Eine Strategie, die eine Geschicklichkeit einforderte, von der er nicht sicher war, sie zu besitzen, und eine Ausführung, von der er nicht sicher war, ob er sie beherrschte. Außerdem Glück, auf das er sich nicht verlassen konnte.

Dennoch hielt er es allemal für besser, als die Straße entlangzutänzeln, während er Kugeln aus einem Truck voller bewaffneter Schützen auswich.

Er hörte, wie die Männer hinter ihm in die Vegetation preschten. Ein paar von ihnen schossen in die Bäume und Sträucher. Court wusste, dass sich sein Pfad hinter ihm schloss. Wegen der Männer machte er sich keine Sorgen mehr. Mit bloßen Augen konnten sie ihn nicht erfassen und mit den Waffen nicht erreichen.

Sorgen machte er sich dennoch. Er sorgte sich wegen der verdammten Krokodile vor ihm.

Die Gewehrsalven setzten erneut ein. Es war, als versuchten die Männer, sich mit Blei eine Schneise durch den Dschungel zu fetzen. Das funktionierte nicht. Jedenfalls nicht, bevor Court längst das Weite gesucht hatte. Trotzdem konnte im ungünstigen Fall ein Glückstreffer durchbrechen und sich in seinen Hinterkopf bohren.

Court duckte sich tiefer, schob sich auf Händen und Knien voran und zog sich dabei mehrere Schürfwunden zu. Er riss Spinnweben, groß wie Fischernetze, herunter und stieß mit dem Gewehrlauf eine Boa constrictor von einem tief hängenden Ast, damit er weiterkriechen konnte, ohne befürchten zu müssen, dass sich die wütende Schlange ihm um den Hals wickelte.

Schon bald brach er aus dem Dschungel heraus und erreichte einen Hügel oberhalb des Flussufers. 40 Meter zu seiner Linken glänzte die Holzbrücke einladend in der Sonne. Das versteckte Boot schaukelte im Schatten unter ihr. Zum Schutz war eine Segeltuchplane fest wie eine Trommel darüber gespannt. Auf mindestens 25 der 40 Meter entlang des Ufers sonnte sich ein Dutzend anderthalb bis fünf Meter lange Krokodile in den Strahlen der Morgensonne.

Gentry fand eine dicke Ranke, die zu seiner Linken diagonal aus dem Fluss ragte, sich über das Ufer erstreckte und mit dem höchsten, am weitesten ausgestreckten Ast eines 60 Meter großen Kapokbaums verbunden war, der wie ein großer Arm über dem Fluss hing.

Vielleicht brachte sie ihn nicht ganz bis zur Brücke, aber ganz sicher zum direkt daneben befindlichen Uferabschnitt. Weit genug von den Krokos entfernt, das genügte.

Die Machete hatte er vor zehn Minuten weggeworfen, deshalb richtete er den breiten Lauf des Gewehrs genau über die Stelle, an der die Ranke in den harten Erdboden eindrang.

Und dann zögerte er. Keuchend vor Anstrengung, mit stechenden Schürfwunden an Händen und Knien und den Kratzern und Insektenstichen, die er unterwegs eingesammelt hatte, stand er einfach nur da, das Gewehr schussbereit. An vielen Abenden hatte er mit den Jungen im Dorf an den Lianen geschwungen. Er vertraute ihrer Stärke und der Fähigkeit, ihn von A nach B zu befördern. Vor seinem geistigen Auge sah er seinen Plan jedoch krachend scheitern. Tatsächlich gelang es ihm nicht einmal, sich ein Szenario auszumalen, in dem in den nächsten 15 Sekunden alles reibungslos verlief.

Eine lange, heftige Schnellfeuergewehrsalve, die 30 Meter hinter ihm aus dem Dschungel drang, half ihm dabei, sich auf die vor ihm liegende Aufgabe zu fokussieren. Er feuerte mit dem Gewehr auf die Ranke. Sie wurde zerteilt und franste perfekt aus. Bevor sie wegschwingen konnte, erwischte er sie mit der freien Hand. Hastig befestigte er das Gewehr mit einer Hand wieder am Rucksack und sprang in die Höhe, um die Ranke so weit oben wie möglich zu erwischen. Seine wund gescheuerten Hände packten fest zu, die Beine wickelten sich fest darum, und er schwang vom Hügel über die gewaltigen Reptilien hinweg.

Die Ranke raste mit ihm zum nahen Ufer. Er flog über verschlafene Krokodile hinweg, die sich dort aufwärmten. Viele der Reptilien hatten die zahngespickten Mäuler weit geöffnet, kühlten ihre Körper durch Lufteinlass ab und boten auf diese Weise ein besonders bedrohliches Bild.

Er hatte einen stabilen Halt. Aufgrund der Anstrengung verzog er zwar das Gesicht, hielt sich aber fest, während die Schwerkraft ihn über das Wasser beförderte. Die Beine ausgestreckt, die Knie eng um die Ranke geschlungen, die Augen konzentriert auf seinen Landebereich neben der Brücke gerichtet.

Die Ranke war geschmeidig, grün und gesund. Er konnte sich darauf verlassen, dass sie ihn ans Ziel trug.

Anders als der große Ast, an dem sie hing. An der Krümmung, an der er sich von einem größeren Ast abspaltete, nisteten Termiten und schwächten das Bindeglied. Ohne Gentrys akrobatische Einlage hätte der Ast noch ein weiteres Jahr gehalten, bis die Regenzeit Winde über den Kontinent blies und das spröde Holz im Sturm brach.

Doch diesem Ast blieb kein weiteres Jahr mehr vergönnt. Er würde jetzt nachgeben.

Gentrys Worst-Case-Szenario lief in zwei Phasen ab.

In der ersten geriet die Ranke am Ast ins Rutschen. Es gab einen Ruck und sie wurde abgefangen. Court befand sich weit weg vom Land, gut drei Meter über dem Wasser, und war zügig unterwegs. Er hielt sich weiter fest, riss den Blick jedoch vom Zielpunkt los und richtete ihn hinauf zum fragilen Bindeglied zwischen Rettungsleine und Baum.

Er schaffte es gerade noch, seine weit aufgerissenen Augen auf den entfernten Punkt zu richten, als der Ast knackte und brach.

Durch Gentrys Schwung und die ausgestreckten Beine wurde sein Körper in einer vollen Umdrehung sechs Meter rückwärts in die Luft geschleudert. Er hing mit dem Gesicht nach unten, als die Schwerkraft die Kontrolle übernahm und er, einen urzeitlichen Entsetzensschrei ausstoßend, aufs Wasser zustürzte.

4

Gentry ließ die Liane los; sie war jetzt nur noch im Weg.

Mit einem Bauchklatscher durchbrach er die schwarze Wasseroberfläche und nahm dabei sehr wohl wahr, dass die Krokodile auf beiden Uferseiten hellwach, aufmerksam und angepisst sein würden.

Während er in der Schwärze versank und ihm der Atem aus der Lunge gepresst wurde, brauchte er länger, den Rucksack abzunehmen, als ihm lieb war. Zusammen mit dem Gepäckstück versank er in der Brühe. Der Fluss war an dieser Stelle nur zwei bis zweieinhalb Meter tief. Nachdem er den Rucksack abgenommen hatte, zog er das Gewehr heraus. Mit einer Kaliber-12-Schrotflinte zu schwimmen wäre lächerlich, aber sie hier unten im Schlamm zurückzulassen, während Reptilien von der Größe eines Vier-Mann-Kanus über ihm schwammen, wäre blanker Wahnsinn.

Nachdem er die Waffe gepackt hatte, stieß Gentry sich vom Grund ab, um an die Oberfläche zu schießen, und verlor dabei einen seiner Schuhe. Sein Kopf tauchte aus dem Wasser auf und er streifte auch noch den anderen ab. Er schüttelte sich die langen, nassen Haare aus den Augen und orientierte sich zum nächstgelegenen Stück Festland in 25 Metern Entfernung.

Zwei große Krokodile glitten vor seinen Augen ins Wasser und kamen auf ihn zu. Er bemerkte, dass neben der Stelle, von der sie kamen, das Ufer leer war. Dabei bildete er sich ein, nur wenige Sekunden zuvor an ebenjener Stelle über ein besonders monströses Fünf-Meter-Exemplar hinweggeschwungen zu sein.

Court legte sich auf den Rücken und machte hektische Beinbewegungen, während sein Kopf über Wasser blieb und seine Waffe an Land gerichtet war. Ein unkoordiniertes Pseudorückenschwimmen, bei dem Geschwindigkeit nicht auf Technik beruhte, sondern allein auf Intensität.

Krokodile fressen ihre Mahlzeiten normalerweise nicht lebend. Stattdessen töten sie ihre Beute, indem sie mit ihren klammerartigen Kiefern zubeißen und ihr Opfer im Wasser drehen, um es zu ertränken.

Court wusste, dass ihm als schwachem Menschen ein anderes Schicksal drohte. Der Biss würde ihn nicht sofort töten, aber das Drehen und Schlagen und der peitschende Schwanz würden ihm den Hals zerschmettern, sämtliche Knochen brechen und ihn in eine leblose Stoffpuppe verwandeln, noch bevor sich seine Lungenflügel mit aufgeheiztem, sumpfigem Flusswasser füllten.

Bis zu seinem Boot musste er noch gut 20 Meter zurücklegen. Da sich Krokodile an Land noch schneller fortbewegten als im Wasser, nahm er sich vor, direkt zu dem schaukelnden Kanu zu schwimmen und sich vom Ufer fürs Erste fernzuhalten. Panik drohte ihn zu überwältigen. Ihm war klar, dass er noch nicht einmal zur anderen Seite des Flusses geblickt hatte, um zu erkunden, wie viele der hungrigen Wichser da drüben zu einem schnellen, einfachen, aus 80 Kilogramm Frischfleisch bestehenden Mahl aufbrachen.

Stattdessen konzentrierte er sich auf die Gischt, die seine hämmernden, nackten Füße aufwirbelten.

Da war es auch schon. Das erste große Tier kam auf ihn zu. Durch den Schaum hindurch wirkte es wie ein fetter grauer Baumstamm, ehe sich, nur Zentimeter von Gentrys Zehenspitzen entfernt, sein großes Maul öffnete. Mit einem Schrei des Entsetzens spreizte Court die Beine, hob das Gewehr und zielte in das gewaltige Maul der Kreatur.

Klick.

Nachdem er das Gewehr benutzt hatte, um die Liane zu durchtrennen, hatte er keine weitere Patrone in die Kammer geladen.

Sofort ging das Reptil auf ihn los.

Er stach den Lauf der Waffe ins Innere des Mauls. In den zwei Sekunden, in denen er zu paddeln aufhörte, war er ein Stück tiefer gesunken. Er spürte die Vorderkrallen des Tieres am Bein. Durch den Schlag ins Maul ruderte das Krokodil für einen kostbaren Moment zurück. Gentry nutzte ihn, um eine neue Patrone in die Gewehrkammer zu laden, während er mit dem Gesicht nach oben weiter an Höhe einbüßte.

Nun tauchte er vollständig unter, drückte seine Waffe nach oben, bis er den Hals des Reptils über sich spürte, und zog einhändig den Abzug.

Wumm!

Der Rückstoß drückte ihn tiefer. Tief genug, um dem riesigen Schwanz des kreiselnden Tiers auszuweichen, der nahe der Oberfläche um sich schlug. Court entfernte sich zügig in Richtung Grund und glitt parallel zum Flussbett davon. Kurz vor dem Kanu verharrte er einen Moment lang auf dem Grund, dann stieß er sich mit den Beinen ab und schob eine frische Patrone in die Kammer. Gleichzeitig drehte er sich um und sah, wie sich ein weiteres Krokodil näherte. Gerade öffnete es das Maul, um ihn in die tödliche Zange zu nehmen. Es war höchstens drei Meter lang, was es jedoch nicht minder tödlich machte. Gentry schoss dem grauen Monster zwischen die Augen.

Die Schrotmunition besaß in etwa die Durchschlagskraft von zehn gleichzeitig abgegebenen Schüssen einer Pistole mit Kaliber 32. Aus nächster Nähe in das Gesicht abgefeuert erzeugte sie mit ziemlicher Sicherheit eine tödliche Wunde, selbst bei einem so gewaltigen Reptil. Der Todeskampf einer so kräftigen Kreatur war jedoch genauso gefährlich wie ihr Angriff. Court musste erneut Wasser treten, sich dabei drehen und um sich schlagen, um zu entkommen.

Er wusste auch, dass das frische Blut im Wasser in Sekundenschnelle Hunderte von Piranhas anzog. Er musste sofort hier weg, und zwar aus viel zu vielen Gründen, um sie aufzuzählen. Er warf die leere Patrone aus, lud eine neue in die Kammer und paddelte hektisch zum Kanu.

Als seine Hände unter der Brücke nach dem kleinen Boot tasteten, hörte er die ersten Schüsse, ignorierte sie aber vorerst. Mit der freien Hand löste er die Seile aus zwei der Klampen, an denen die Plane befestigt war. Er schleuderte die Schrotflinte auf die Plane, dann hievte er sich hinein. Das gewaltige aufgerissene Maul eines dreieinhalb Meter langen Reptils schob sich hinter ihm aus dem Wasser, folgte dem Weg seiner Beine nach oben und über den Rand des Kanus, doch die Kiefer schnappten zu, ohne ihn zu erwischen. Mit dem Vorderbein hatte es das Tier jedoch bereits hineingeschafft, und die Wucht, mit der es um sich schlug, drohte das winzige Gefährt samt Insassen umzukippen. Gentry griff nach der Waffe und feuerte dem Reptil mit einer Hand in den Hals, sodass es vom Boot zurückgeschleudert wurde.

Er versuchte neu durchzuladen, aber die Waffe war leer. Der Rest der Munition befand sich im Rucksack auf dem Grund des Flusses, deshalb warf er das Gewehr weg, während er die verbliebene Segeltuchplane wegzog und ins Wasser platschen ließ. Eine weitere ausgedehnte Gewehrsalve peitschte Schaumkronen ins Boot, doch das Magazin des in einiger Entfernung postierten Gegners war leer, bevor dieser das Kanu oder den Amerikaner treffen konnte.

Court legte sich flach auf den Boden des drei Meter langen Kanus, kippte die Propeller des Außenborders ins Wasser, schaltete ihn ein und zog an der Schnur.

Die Maschine erwachte lautstark zum Leben. Gentry vergeudete keine weitere Zeit und wendete flussaufwärts, weg von den Gewehren, den Krokodilen und den Piranhas.

Eine Minute östlich der Brücke keuchte er noch immer und hustete Flusswasser aus. Er blickte nach unten und stellte fest, dass seine nasse Hose am linken Oberschenkel aufgerissen war. An der Stelle, an der ihn das erste Krokodil mit den Krallen erwischt hatte, klaffte eine lange, blutende Wunde. Eine relativ schwerwiegende Verletzung, die an der tiefsten Stelle genäht werden musste. Immerhin ein glimpflicherer Ausgang, als er ihn eigentlich verdient hätte. Schaudernd dachte er an das prähistorische Monster, das im Wasser über ihm gethront hatte.

Und dann stieß er einen langen Seufzer aus und musterte nachdenklich den Inhalt des Kanus – das, was nun seinen gesamten weltlichen Besitz darstellte.

Eine alte Plastiktaschenlampe, eine Literflasche Kraftstoff für den Außenbordmotor und eine rostige Harpune.

Mehr nicht.

Court wischte sich die langen Haare aus den Augen, hievte die Harpune mit der freien Hand in die Höhe, drehte den Gashebel am Motor auf und steuerte das Boot Richtung Fonte Boa.