E. T. A. Hoffmann

  

Der goldne Topf

 












E. T. A. Hoffmann



Ernst Theodor Amadeus Hoffmann wurde am 24. Januar 1776 in Königsberg/Ostpreußen als Sohn des Hofgerichtsadvokaten Christoph Ludwig Hoffmann und dessen Cousine Luise Albertine Doerffer geboren. 1792 nahm Hoffmann an der Albertus-Universität Königsberg das Studium der Rechtswissenschaften auf. Neben seinem Studium begann er schon früh zu schreiben, zu musizieren und zu zeichnen. Zudem gab er Musikunterricht.

 

Ab 1800 war Hoffmann als Jurist tätig, versuchte aber gleichzeitig immer wieder vergeblich, als Musiker Fuß zu fassen. Aus Bewunderung für den Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart änderte er seinen dritten Vornamen 1805 von Wilhelm in Amadeus. Im Jahr 1814 nahm Hoffmann schließlich eine Stellung am Kammergericht in Berlin an. Nachdem ab 1814 die „Fantasiestücke in Callot´s Manier“ herauskamen, wurde Hoffmann allmählich als Schriftsteller bekannt. Es folgten „Die Elixiere des Teufels“ und die „Nachtstücke“, mit denen er an seinen Anfangserfolg allerdings nicht anknöpfen konnte. Dies gelang erst mit „Die Serapionsbrüder“, „Lebensansichten des Katers Murr“ und „Klein Zaches, genannt Zinnober“, erschienen in den Jahren 1819 bis 1822.

 

Die Meinungen seiner Zeitgenossen zu Hoffmann waren recht unterschiedlich, erst nach dem Tod des Schriftstellers wurde seinem Werk breitere Anerkennung zuteil. Aufgrund des beachtlichen Erfolgs seiner Werke in Frankreich machten ihn die Autoren Michel Carré und Jules Paul Barbier zum Protagonisten des 1851 uraufgeführten Schauspiels „Les Contes d’Hoffmann“, das die Basis für Jacques Offenbachs Oper „Hoffmans Erzählungen“ bildete, die heute längst zum Standardrepertoire der Opernhäuser auf der ganzen Welt gehört.

 

Neben einem umfangreichen literarischen Werk hinterließ E. T. A. Hoffmann auch Lieder, Bühnenwerke und Instrumentalmusikstücke, außerdem wurden zahlreiche Erzählungen von ihm selbst illustriert. In seinen späten Jahren litt Hoffmann zunehmend an den Folgen einer Syphiliserkrankung, der er am 25. Juni 1822 in Berlin erlag.






  

Versuche es, geneigter Leser, in dem feenhaften Reiche …


Versuche es, geneigter Leser, in dem feenhaften Reiche voll herrlicher Wunder, die die höchste Wonne sowie das tiefste Entsetzen in gewaltigen Schlägen hervorrufen, ja, wo die ernste Göttin ihren Schleier lüftet, dass wir ihr Antlitz zu schauen wähnen (...)  ja, in diesem Reiche, das uns der Geist so oft, wenigstens im Traume aufschließt, versuche es, geneigter Leser, die bekannten Gestalten, wie sie täglich, wie man zu sagen pflegt, im gemeinen Leben, um Dich herwandeln, wiederzuerkennen. Du wirst dann glauben, dass Dir jenes herrliche Reich viel näher liege, als Du sonst wohl meintest, welches ich nun eben recht herzlich wünsche, und Dir in der seltsamen Geschichte des Studenten Anselmus anzudeuten strebe.









Was Sie über dieses Buch wissen sollten


„Der goldne Topf“, die 1814 erstmals publizierte Geschichte über die wundersame Liebe des Dresdner Studenten Anselmus, ist der Klassiker der deutschen Romantik schlechthin. Beeinflusst durch den Erfolg der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm enthält diese Erzählung bereits alle Ingredienzien, die die Werke dieser literarischen Epoche ausmachen. Dieses Kunstmärchen thematisiert die Bedeutung des Gefühls, der Individualität und des seelischen Erlebens. Es kann als Gegenreaktion auf die Philosophie der Aufklärung, die die „kalte“ Rationalität zur Vorherrschaft gebracht hat, und auf den Klassizismus etwa eines Goethe verstanden werden, der das Menschsein an strengen antiken Idealen orientiert. Stattdessen setzt Hoffmann auf die Kraft der Empfindungen und der Poesie, die als Weg zum menschlichen Glück quasi religiöse Dimensionen erhält.

 

Konsequenterweise ist diese Geschichte von Hoffmann nicht in Kapitel, sondern in „Vigilien“, also die Nachtwachen mit den Stundengebeten des Gläubigen, eingeteilt. Einerseits verweist dies auf die Entstehung dieses Werkes, das Hoffmann vor allem in den Nächten zwischen seinem täglichen Broterwerb als Jurist in Angriff nahm. Andererseits bezeichnet dieser zeitliche Bezugspunkt einen Zustand der zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Bewusstsein und religiöser Hinwendung an das Absolute verweist – eine Zeit, die durch eine besondere Empfindsamkeit fürs Seelische geprägt ist.

 

Bereits am Beginn der Geschichte bricht diese Welt des Traumhaften durch ein Missgeschick in die Alltagsrealität des Protagonisten Anselmus ein, als dieser am Himmelfahrtstag (!) den Korb einer alten Apfelverkäuferin umstößt. Schon bald wird klar, dass Anselmus mit der finanziellen Begleichung des Schadens die Ordnung seiner gewohnten Welt nicht einfach wiederherstellen kann. Die Flüche der Alten („Ja, renne – renne nur zu, Satanskind – ins Kristall bald Dein Fall – ins Kristall!“) beginnen ihn in eine phantastische Welt der Bedrohung hineinzuziehen, der er nicht mit den Hoffnungen auf eine erfolgreiche Karriere als Beamter, sondern nur mit den magischen Kräften seiner Liebe widerstehen kann.

 

Tatsächlich landet Anselmus im Laufe der Geschichte in diesem kristallenen Gefängnis, das seine Mitgefangenen übrigens gar nicht als solches empfinden. Naheliegend ist es, dieses Eingeschlossensein als die bürgerliche Welt im europäischen Monarchismus zu interpretieren, die Ruhe, Sicherheit und Ordnung bietet, aber eben auch politische Unfreiheit bedeutet. Desillusioniert durch die Gewalttaten der Französischen Revolution und des französischen Kaiserreichs unter Napoleon findet der Bürger bei Hoffmann seine Freiheit nun nicht in der politischen Emanzipation, sondern in sich selbst und der poetischen Kraft seiner Seele. Statt die Welt zu verändern, schafft er sich eine Parallelwelt, in die er flüchten kann. Dieser „romantische“ Eskapismus ist übrigens durchaus aktuell, wenn man sich die Zunahme des Medienkonsums, von Videospielen oder Glück versprechenden Drogen und Ideologien anschaut. Wobei es bekanntlich dann gefährlich wird, wenn diese Gegenwelten zum Maßstab für die Umgestaltung der erfahrbaren Wirklichkeit gemacht werden.

 

Die Lektüre von Hoffmanns „Der goldne Topf“ verspricht deshalb weit mehr als nur kurzweiliges Lesevergnügen und einen Einblick in die Entstehung einer literarischen Epoche. Sie lässt zudem erahnen, wie kurz der Schritt vom Romantiker zum Ideologen ist.

 

Wie bei allen Werken der ofd edition wurde die ursprüngliche Textfassung nicht automatisiert kopiert, sondern sorgfältig neu editiert und der aktuellen Rechtschreibung angepasst – die bessere Lesbarkeit und Gestaltung verhelfen so zu einem ungetrübten Lesegenuss.




 

Der goldne Topf




Erste Vigilie


Die Unglücksfälle des Studenten Anselmus. Des Konrektors Paulmann Sanitätsknaster und die goldgrünen Schlangen.

 

Am Himmelfahrtstag, nachmittags um drei Uhr, rannte ein junger Mensch in Dresden durchs schwarze Tor und geradezu in einen Korb mit Äpfeln und Kuchen hinein, die ein altes hässliches Weib feilbot, so dass alles, was der Quetschung glücklich entgangen, hinausgeschleudert wurde, und die Straßenjungen sich lustig in die Beute teilten, die ihnen der hastige Herr zugeworfen. Auf das Zetergeschrei, das die Alte erhob, verließen die Gevatterinnen ihre Kuchen- und Branntweintische, umringten den jungen Menschen und schimpften mit pöbelhaftem Ungestüm auf ihn ein, so dass er, vor Ärger und Scham verstummend, nur seinen kleinen, nicht eben besonders gefüllten Geldbeutel hinhielt, den die Alte begierig ergriff und schnell einsteckte. Nun öffnete sich der festgeschlossene Kreis, aber indem der junge Mensch hinausschoss, rief ihm die Alte nach: „Ja, renne – renne nur zu, Satanskind – ins Kristall bald Dein Fall – ins Kristall!“

 

Die gellende, krächzende Stimme des Weibes hatte etwas Entsetzliches, so dass die Spaziergänger verwundert stillstanden, und das Lachen, das sich erst verbreitet, mit einem Mal verstummte. – Der Student Anselmus (niemand anders war der junge Mensch) fühlte sich, unerachtet er des Weibes sonderbare Worte durchaus nicht verstand, von einem unwillkürlichen Grausen ergriffen, und er beflügelte noch mehr seine Schritte, um sich den auf ihn gerichteten Blicken der neugierigen Menge zu entziehen. Wie er sich nun durch das Gewühl geputzter Menschen durcharbeitete, hörte er überall murmeln: „Der arme junge Mann – ei! Über das verdammte Weib!“

 

Auf ganz sonderbare Weise hatten die geheimnisvollen Worte der Alten dem lächerlichen Abenteuer eine gewisse tragische Wendung gegeben, so dass man dem vorhin ganz Unbemerkten jetzt teilnehmend nachsah. Die Frauenzimmer verziehen dem wohlgebildeten Gesichte, dessen Ausdruck die Glut des inneren Grimms noch erhöhte, so wie dem kräftigen Wuchs des Jünglings alles Ungeschick, so wie den ganz außer dem Gebiet aller Mode liegenden Anzug. Sein hechtgrauer Frack war nämlich so zugeschnitten, als habe der Schneider, der ihn gearbeitet, die moderne Form nur vom Hörensagen gekannt, und das schwarzatlasne wohlgeschonte Unterkleid gab dem Ganzen einen gewissen magistermäßigen Stil, dem sich nun wieder Gang und Stellung durchaus nicht fügen wollte.

 

Als der Student schon beinahe das Ende der Allee erreicht hatte, die nach dem Linkschen Bade führt, wollte ihm beinahe der Atem ausgehen. Er war genötigt, langsamer zu wandeln; aber kaum wagte er den Blick in die Höhe zu richten, denn noch immer sah er die Äpfel und Kuchen um sich tanzen, und jeder freundliche Blick dieses oder jenes Mädchens war ihm nur der Reflex des schadenfrohen Gelächters am schwarzen Tor. So war er bis an den Eingang des Linkschen Bades gekommen; eine Reihe festlich gekleideter Menschen nach der anderen zog herein. Musik von Blasinstrumenten ertönte von innen, und immer lauter und lauter wurde das Gewühl der lustigen Gäste. Die Tränen wären dem armen Studenten Anselmus beinahe in die Augen getreten; denn auch er hatte, da der Himmelfahrtstag immer ein besonderes Familienfest für ihn gewesen war, an der Glückseligkeit des Linkschen Paradieses teilnehmen, ja er hatte es bis zu einer halben Portion Kaffee mit Rum und einer Bouteille Doppelbier treiben wollen, und um so recht schlampampen zu können, mehr Geld eingesteckt, als eigentlich erlaubt und tunlich war. Und nun hatte ihn der fatale Tritt in den Apfelkorb um alles gebracht, was er bei sich getragen hatte. An Kaffee, an Doppelbier, an Musik, an den Anblick der geputzten Mädchen – kurz – an alle geträumten Genüsse war nicht zu denken; er schlich langsam vorbei und schlug endlich den Weg an der Elbe ein, der gerade ganz einsam war.

 

Unter einem Holunderbaum, der aus der Mauer hervorgesprossen, fand er ein freundliches Rasenplätzchen; da setzte er sich hin und stopfte eine Pfeife von dem Sanitätsknaster, den ihm sein Freund, der Konrektor Paulmann, geschenkt hatte. – Dicht vor ihm plätscherten und rauschten die goldgelben Wellen des schönen Elbstroms; hinter demselben streckte das herrliche Dresden kühn und stolz seine lichten Türme empor in den duftigen Himmelsgrund, der sich hinabsenkte auf die blumigen Wiesen und frisch grünenden Wälder, und aus tiefer Dämmerung gaben die gezackten Gebirge Kunde vom fernen Böhmerland. Aber finster vor sich hinblickend blies der Student Anselmus die Dampfwolken in die Luft, und sein Unmut wurde endlich laut, indem er sprach: „Wahr ist es doch, ich bin zu allem möglichen Kreuz und Elend geboren! – Dass ich niemals Bohnenkönig geworden, dass ich im Paar oder Unpaar immer falsch geraten bin, dass mein Butterbrot immer auf die fette Seite gefallen ist, von allem diesen Jammer will ich gar nicht reden: aber ist es nicht ein schreckliches Verhängnis, dass ich, als ich denn doch nun dem Satan zum Trotz Student geworden war, ein Kümmeltürke sein und bleiben musste?

 

Ziehe ich wohl je einen neuen Rock an, ohne gleich das erste Mal einen Talgfleck hineinzubringen, oder mir an einem übeleingeschlagenen Nagel ein verwünschtes Loch hineinzureißen? Grüße ich wohl je einen Herrn Hofrat oder eine Dame, ohne den Hut weit von mir zu schleudern, oder gar auf dem glatten Boden auszugleiten und schändlich umzustülpen? Hatte ich nicht schon in Halle jeden Markttag eine bestimmte Ausgabe von drei bis vier Groschen für zertretene Töpfe, weil mir der Teufel in den Kopf setzt, meinen Gang geradeaus zu nehmen, wie die Lemminge? Bin ich denn ein einziges Mal ins Kollegium, oder wo man mich sonst hinbeschieden, zu rechter Zeit gekommen? Was half es, dass ich eine halbe Stunde vorher ausging und mich vor die Tür hinstellte, den Drücker in der Hand? Denn so wie ich mit dem Glockenschlage aufdrücken wollte, goss mir der Satan ein Waschbecken über den Kopf, oder ließ mich mit einem Heraustretenden zusammenrennen, dass ich in tausend Händel verwickelt wurde und darüber alles versäumte. – Ach! Ach! Wo seid Ihr hin, Ihr seligen Träume künftigen Glücks, wie ich stolz wähnte, ich könne es wohl hier noch bis zum geheimen Sekretär bringen! Aber hat mir mein Unstern nicht die besten Gönner verfeindet? – Ich weiß, dass der geheime Rat, an den ich empfohlen bin, verschnittenes Haar nicht leiden mag; mit Mühe befestigt der Friseur einen kleinen Zopf an meinem Hinterhaupt, aber bei der ersten Verbeugung springt die unglückselige Schnur, und ein munterer Mops, der mich umschnüffelt, apportiert im Jubel das Zöpfchen dem geheimen Rate. Ich springe erschrocken nach und stürze über den Tisch, an dem er frühstückend gearbeitet hat, so dass Tassen, Teller, Tintenfass, Sandbüchse klirrend herabstürzen, und der Strom von Schokolade und Tinte sich über die eben geschriebene Relation ergießt. ‚Herr, sind Sie des Teufels?‘, brüllt der erzürnte geheime Rat und schiebt mich zur Tür hinaus. – Was hilft es, dass mir der Konrektor Paulmann Hoffnung zu einem Schreiberdienste gemacht hat? Wird es denn mein Unstern zulassen, der mich überall verfolgt? – Nur noch heute! – Ich wollte den lieben Himmelfahrtstag recht in der Gemütlichkeit feiern, ich wollte ordentlich was daraufgehen lassen. Ich hätte ebenso gut wie jeder andere Gast in Linkes Bade stolz rufen können: Marqueur – eine Flasche Doppelbier – aber vom besten bitte ich! – Ich hätte bis spät abends sitzen können, und noch dazu ganz nahe bei dieser oder jener Gesellschaft herrlich geputzter schöner Mädchen. Ich weiß es schon, der Mut wäre mir gekommen, ich wäre ein ganz anderer Mensch geworden; ja, ich hätte es so weit gebracht, dass wenn diese oder jene gefragt: wie spät mag es wohl jetzt sein? Oder: was ist denn das, was sie spielen? Da wäre ich mit leichtem Anstand aufgesprungen, ohne mein Glas umzuwerfen oder über die Bank zu stolpern; mich in gebeugter Stellung anderthalb Schritte vorwärts bewegend, hätte ich gesagt: Erlauben Sie, Mademoiselle, Ihnen zu dienen, es ist die Ouvertüre aus dem Donauweibchen, oder: es wird gleich sechs Uhr schlagen. – Hätte mir das ein Mensch in der Welt übel deuten können? – Nein! sage ich, die Mädchen hätten sich so schalkhaft lächelnd angesehen, wie es wohl zu geschehen pflegt, wenn ich mich ermutige zu zeigen, dass ich mich auch wohl auf den leichten Weltton verstehe und mit Damen umzugehen weiß. Aber da führt mich der Satan in den verwünschten Apfelkorb, und nun muss ich in der Einsamkeit meinen Sanitätsknaster …“ Hier wurde der Student Anselmus in seinem Selbstgespräch durch ein sonderbares Rieseln und Rascheln unterbrochen, das sich dicht neben ihm im Grase erhob, bald aber in die Zweige und Blätter des Holunderbaumes hinaufglitt, der sich über seinem Haupt wölbte. Bald war es, als schüttle der Abendwind die Blätter, bald als kosten Vöglein in den Zweigen, die kleinen Fittiche im mutwilligen Hin- und Herflattern rührend. Da fing es an zu flüstern und zu lispeln, und es war, als ertönten die Blüten wie aufgehängte Kristallglöckchen. Anselmus horchte und horchte. Da wurde, er wusste selbst nicht wie, das Gelispel und Geflüster und Geklingel zu leisen halbverwehten Worten:

 

„Zwischen durch – zwischen ein – zwischen Zweigen, zwischen schwellenden Blüten, schwingen, schlängeln, schlingen wir uns – Schwesterlein – Schwesterlein, schwinge Dich im Schimmer – schnell, schnell herauf – herab – Abendsonne schießt Strahlen, zischelt der Abendwind – raschelt der Abendwind – raschelt der Tau – Blüten singen – rühren wie Zünglein, singen wir mit Blüten und Zweigen – Sterne bald glänzen – müssen herab – zwischen durch, zwischen ein schlängeln, schlingen, schwingen wir uns Schwesterlein.“

 

So ging es fort im Sinne verwirrender Rede. Der Student Anselmus dachte: das ist denn doch nur der Abendwind, der heute mit ordentlich verständlichen Worten flüstert. – Aber in dem Augenblick ertönte es über seinem Haupt wie ein Dreiklang heller Kristallglocken; er schaute hinauf und erblickte drei in grünem Gold erglänzende Schlänglein, die sich um die Zweige gewickelt hatten und die Köpfchen der Abendsonne entgegenstreckten. Da flüsterte und lispelte es von Neuem in jenen Worten, und die Schlänglein schlüpften und kosten auf und nieder durch die Blätter und Zweige; und wie sie sich so schnell rührten, da war es, als streue der Holunderbusch tausend funkelnde Smaragde durch seine dunklen Blätter. Das ist die Abendsonne, die so in dem Holunderbusch spielt, dachte der Student Anselmus: Aber da ertönten die Glocken wieder und Anselmus sah, wie eine Schlange ihr Köpfchen nach ihm herabstreckte. Durch alle Glieder fuhr es ihm wie ein elektrischer Schlag, er erbebte im Innersten – er starrte hinauf, und ein Paar herrliche dunkelblaue Augen blickten ihn an mit unaussprechlicher Sehnsucht, so dass ein nie gekanntes Gefühl der höchsten Seligkeit und des tiefsten Schmerzes seine Brust zersprengen wollte. Und wie er voll heißen Verlangens immer in die holdseligen Augen schaute, da ertönten stärker in lieblichen Akkorden die Kristallglocken, und die funkelnden Smaragde fielen auf ihn herab und umspannen ihn, in tausend Flämmchen um ihn her flackernd und spielend mit schimmernden Goldfaden.

 

Der Holunderbusch rührte sich und sprach: „Du lagst in meinem Schatten, mein Duft umfloss Dich, aber Du verstandest mich nicht: Der Duft ist meine Sprache, wenn ihn die Liebe entzündet.“ Der Abendwind strich vorüber und sprach: „Ich umspielte Deine Schläfe, aber Du verstandest mich nicht: der Hauch ist meine Sprache, wenn ihn die Liebe entzündet.“ Die Sonnenstrahlen brachen durch das Gewölk und der Schein brannte wie in Worten: „Ich umgoss Dich mit glühendem Gold, aber Du verstandest mich nicht: Glut ist meine Sprache, wenn sie die Liebe entzündet.“

 

Und immer inniger und inniger versunken in den Blick des herrlichen Augenpaars, wurde heißer die Sehnsucht, glühender das Verlangen. Da regte und bewegte sich alles, wie zum frohen Leben erwacht. Blumen und Blüten dufteten um ihn her, und ihr Duft war wie herrlicher Gesang von tausend Flötenstimmen; und was sie gesungen, trugen im Widerhall die goldenen vorüberfliehenden Abendwolken in ferne Lande. Aber als der letzte Strahl der Sonne schnell hinter den Bergen verschwand und nun die Dämmerung ihren Flor über die Gegend warf, da rief, wie aus weiter Ferne, eine raue tiefe Stimme:

 

„Hei, hei! Was ist das für ein Gemunkel und Geflüster da drüben? – Hei, hei! Wer sucht mir doch den Strahl hinter den Bergen! Genug gesonnt, genug gesungen. – Hei, hei! Durch Busch und Gras – durch Gras und Strom! – Hei, – hei – Her u – u – u nter – Her u – u – u nter!“

 

So verschwand die Stimme wie im Murmeln eines fernen Donners, aber die Kristallglocken zerbrachen im schneidenden Misston. Alles war verstummt, und Anselmus sah, wie die drei Schlangen schimmernd und blinkend durch das Gras nach dem Strome schlüpften; rischelnd und raschelnd stürzten sie sich in die Elbe, und über den Wogen, wo sie verschwunden, knisterte ein grünes Feuer empor, das in schiefer Richtung nach der Stadt zu leuchtend verdampfte.

 


Zweite Vigilie


Wie der Student Anselmus für betrunken und wahnwitzig gehalten wurde. – Die Fahrt über die Elbe. – Die Bravourarie des Kapellmeisters Graun. Conradis Magen-Likör und das bronzierte Apfelweib.