Barbara

Barbara

Gloria Kaiser

Seifert Verlag

Inhalt

Prolog

1. Vater unser – Dein Reich komme

2. Vater unser – Dein Wille geschehe

3. Vater unser – vergib – wie auch wir vergeben

4. Vater unser – und erlöse uns

Epilog

Prolog

Und plötzlich war der Tropfen gefallen, der eine, der die Schale zum Überlaufen brachte, und die Brühe ergoss sich und lief in alle Richtungen. Die Zeit der Beschönigungen und Vertröstungen war vorbei. Wie viele Seiten unseres Lebensbuches haben wir einfach überschlagen; wir würden alles erledigen, selbstverständlich, doch später, nicht sofort, sonst müssten wir Schmerzen zufügen, vor allem müssten wir selbst leiden, und es hatte doch alles Zeit, es würde sich ergeben, irgendwann.

Manchmal spürten wir deutlich, dass die Schale schon randvoll war, dass nur eine einzige falsche Bewegung gereicht hätte, um die Schale zum Überlaufen zu bringen; doch wir hatten darin Routine, unseren Kelch aus Gut und Böse, aus Gut und Schlecht in der Balance zu halten.

Wenn wir kraftlos waren, liefen wir dem Meer entlang, wir schrien uns die Seele aus dem Leibe; an jener Stelle, wo die Wellen so gischten, dass sie jeden Schrei ersticken, dorthin haben wir unsere Erschöpfung in die Fluten geworfen.

Wir ließen uns vom salzigen Wasser umspülen, suchten im Tropenhimmel unseren Stern und wankten dann zurück in unsere Spur; unsere Schale mit dem Tränenwasser hatten wir gut verborgen, es war wieder alles in Ordnung, es lief wieder alles den ewig gleichen Trott.

Jedes Jahr, zu Sommerbeginn, am 4. Dezember, formieren wir uns zur Prozession. Wir feiern Yansã; sie ist die Göttin, die aus dem Volk kommt; sie hat die Fähigkeit, Grenzen zu überschreiten, sie befreit die Menschen von Schuld, sie verwandelt; vor ihr müssen wir uns nicht verstellen; wir singen und tanzen für sie, denn sie ist jene, die alles zum Guten wendet.

Wir bleiben stehen, um uns zu laben, Wasser und Früchte, süße und bittere, und während unsere Hände die Köstlichkeiten in den Mund schieben, tanzen unsere Füße, und unsere Körper unterbrechen nicht für einen Moment das Wiegen im Rhythmus der Lieder, der Musik.

So war es, jahrzehntelang, es war noch im letzten Jahr so, doch jetzt, nachdem die Schale übergelaufen ist, hat sich die Prozession zu einer Herde formiert. Wir tasten einer nach dem anderen; jetzt nur nicht allein sein, denn seit der eine Tropfen gefallen ist, fühlt sich jeder von uns als ein Sterbender. Wir müssen abgeben, loslassen, sterben lassen, Wünsche, Vorhaben, Ideen. Es ist der eine Tropfen gefallen, und damit hat sich alles geändert.

Die Blumen, die wir in Händen halten, leuchten in Orange und Weiß, sie duften nach Süßem; wir sehen sie aber schon welken; stehen wir in der Wüste, im Sertão? »Wo beginnt die Wüste, wo beginnt der Sertão«, haben wir früher oft gefragt und waren sicher, dass die Entfernung von uns zu den aufgebrochenen Erdkrusten, zu den ausgemergelten Rindern, zu den mannshohen Kakteen, die sich Skulpturen gleich der Sonne entgegenrecken, dass die Distanz von uns zur Dürre sehr weit ist. Und nun, eingehüllt in den Jasminduft, antworten unsere Blicke auf die Frage »Wo beginnt die Wüste?« mit: »Hier; nicht neben mir, nicht vor mir; der Sertão ist in mir.«

Irgendwann haben sich Steine, Dornen und Gift in uns niedergelassen, und wir haben das gar nicht wahrgenommen, denn unsere Tage waren so gut eingerichtet, als die Schale noch randvoll war, und wir waren damit beschäftigt, sie randvoll zu halten.

Schließen wir einen Pakt mit dem Guten, am Ende noch einen Pakt mit einem Heiligen? Nein, wir waren nicht an Heiligen interessiert, sondern an Helden. Wir schlossen einen Pakt mit dem Anderen, einen Pakt mit dem Teufel, der uns alle Macht in die Hand gegeben hatte, vor allem die Macht über die Fülle in unserer Schale, das glaubten wir.

Wie Damokles wollten wir mehr und mehr, wir wollten den Platz des Tyrannen einnehmen und endlich selbst befehlen, und wir versuchten das mit Intrige und mit Schmeichelei; wir wollten Gnaden erteilen und unsere Machtbereiche ausmessen bis zum Quälen, und dabei haben wir übersehen, dass das Schwert über uns beim leisesten Lufthauch gefährlich baumelt. Es hängt am Faden eines Rosshaares; eine falsche Bewegung, zu kräftig geatmet, zu laut gesprochen, zu tief in Befriedigung geseufzt – und es saust auf uns herab und spaltet uns den Schädel.

Plötzlich war der eine Tropfen gefallen, und die Schale war übergelaufen, und alles, was sicher war, was planbar war und vorhersehbar, rann von uns weg; wir konnten es weder durch Schreien noch durch Haschen erreichen. Das hätte nicht passieren dürfen, denn jetzt ging alles in eine andere Richtung. Eine Zeitlang versuchten wir noch einen Handel; wenn wir mit diesem oder jenem aufhören, wenn wir das gegenseitige Betrügen und Belügen beenden, wenn wir versuchen, die Wahrheit zu leben – welche Wahrheit, jene für die, die uns beobachten, oder jene Wahrheit, die wir in den eigenen vier Wänden leben.

Doch in unserer Wüste, in unserem Sertão erreichten wir keinen mit Schreien; es blieb heiß, kalt, trocken, steinig, und wir begannen beizugeben. Es war also kein Handel möglich, keine Erleichterung; es würde uns nichts erspart bleiben; wir müssen Illusionen und Träume aufgeben und sterben lassen; wir müssen uns neu besinnen.

Wir lassen uns in die Lieder, in die Gesänge fallen; sie haben immer gewirkt, gestärkt, uns in Euphorie und Ekstase geholfen; doch jetzt, in dieser Stunde, da der eine Tropfen gefallen ist, peitschen die Gesänge uns nieder, kaum können wir uns noch aufrecht halten.

Wenn es also sein muss, wenn es wirklich sein muss, den Weg zu gehen, wenn uns nichts davor bewahrt loszulassen, dann wollen wir rasch ordnen. Wir sind auf falsche Versprechungen hereingefallen; wir haben falsche Versprechungen gegeben; wir suchen nach Worten für unsere Taten, die begangenen und die unterlassenen, und Grauen steigt in uns hoch, es lässt sich so vieles nicht mehr richtig stellen.

Wer könnte helfen?

Da war einer, er war auf den Berg gegangen, um ihn und in ihm war kein Sertão. Er schritt an Feldern und Wäldern vorbei, querte Gerinne, und oben auf dem Berg ließ er sich nieder, um zu reden. Er suchte nicht nach Worten, sie flossen ihm ganz leicht aus dem Mund, und er sprach ohne Drohung, ohne gebieterische Attitüde. Er sprach nicht vom Schöpfer, nicht vom Herrgott, nicht vom Allmächtigen, obwohl wir jetzt eines solchen bedürften. Er sprach vom Vater, und in aller Vertrautheit empfahl er die Leidenden und Hoffenden diesem Vater.

Lange haben wir diese Worte nicht verwendet, aber wir erinnern uns, diese Worte sind genau die richtigen für uns, denn in diesen Bitten an den Vater wird kein Elender zurückgewiesen, kein Verirrter wird ausgeschlossen; in diesen Bitten an den Vater ist kein Dogma enthalten, sondern nur von Menschsein die Rede.

Und plötzlich war der eine Tropfen gefallen, die Schale ist übergelaufen; wir sind ratlos und verzweifelt; wir spüren, es arbeitet alles gegen uns, weil wir nicht ablassen, ins Seichte zu greifen. Doch, so schnell geben wir nicht auf, es muss noch eine Ausflucht geben, es hat uns nur eine kurze Mattheit überfallen. Wozu haben wir um Lebensjahre und gegen Krankheiten gekämpft, wenn wir uns jetzt der Verzweiflung hingeben. Es muss gehandelt werden, unsere Scheinwelten, unsere Luftschlösser lösen sich auf, und dahinter geht unser Blick ins Leere. Darüber geraten wir in Panik; denn nichts lastet so schwer wie die Leere, wie das Nichts. Wohin könnten wir uns wenden, wen könnten wir beschuldigen, anflehen. Jetzt sind wir sogar bereit, an Wunder zu glauben, »aus lauter Angst erfinden sie sich die Heiligen«. Wo könnten wir das Wesen finden, von wo herbeirufen, das für uns als Vermittler zu diesem Vater auftritt, das Wesen, das uns in die Worte jenes Mannes hilft, der damals am Berg redete, predigte. Er hatte um sich Sünder geschart und nicht Helden und nicht Heilige.

Es gibt eine, die bekannt dafür ist, dass sie verwandelt, dass sie richtig stellt. Wie war das mit der Verleumdung der ehrbaren Frau; das ganze Stadtviertel hat schon zu den Steinen gegriffen, und als sie die Türe aufrissen, lag im Bett die schwerkranke Nachbarin, der sie Suppe einflößte. Und wie war das mit dem Zollbeamten, der am Hafen, angeblich, die Hälfte der Ware beiseite legte und auf eigene Rechnung verkaufte; als die Polizei die Container öffnete, fand sie darin nur Verpackungsmaterial, wertlos. Und wie war das, als der Bankräuber seine Wut, seine Rache über seinen entgangenen Anteil abreagieren wollte und die Pistole bereits gegen seinen Komplizen richtete; die Waffe blockierte, und er wurde nicht zum Mörder.

Solche Wunder brauchen wir jetzt, jeder von uns, damit wir leichter jenen Teil von uns abgeben können, der sich als wilder Trieb, als Wildling in uns eingenistet und so lange Kraft genommen hat, bis wir es übersehen haben, dass der letzte Tropfen demnächst fallen würde.

Sie ist blond, manche sehen sie auch als dunkelhaarige Schönheit; in ihren Augen leuchten alle Blau- und Grüntöne der beiden Kontinente – Yansã, Barbara. Sie steht neben den Verzweifelten, den Ringenden, sie windet Falsches, Schlechtes, Böses aus den Händen und legt es weg; es ist nicht mehr Teil von uns, es ist abgelebt und abgelegt, und es kann neu begonnen werden. Sie hat sich mitten unter uns Verzagten niedergelassen; es kommen noch viele und drängen in unsere Herde; sie wollen ablenken, Aufmerksamkeit erregen – es ist ein Volksfest, und sie wollen etwas verkaufen; doch bald sind sie gefangen von den Liedern, den Worten, und hören zu.

Hören wir nun die Geschichte dieser Frau, die Gewitter abwendet und das Feuer bewacht, das im Guten glimmt, dass es nie erlischt. Hören wir die Geschichte dieser Frau, die den Sterbenden die Stirne kühlt und den Verzweifelten die Hände hält und mit sicherem Schritt in ein neues Land, in eine neue Lebensphase begleitet. Hören wir die Geschichte dieser Frau, wie sie zu jenem fand, den wir vergessen haben, der uns gestört hat, vor dem wir unser Treiben verbergen wollten; was hatte er schon zu tun mit unseren Seilschaften, Scheinwelten, Luftschlössern, Intrigen und Machenschaften; warum hat er uns davor nicht bewahrt. Wir wollen seinen Worten folgen und wagen kaum einen Blick zum Nächststehenden, es soll niemand sehen, wie wir mehr und mehr das Gesicht, unser Ansehen verlieren. Wir fühlten es schon lange, es war alles Asche und Schlacke geworden, wir hätten uns einen Ruck geben müssen. Hätten!

Jetzt sind wir auch bereit, einer Geschichte, einer Predigt, einem Gebet zu folgen. Ihm war der Wind in sein Haar gefahren, und dieser Wind hat seine Worte in den letzten Winkel getragen, auch zu uns.

Vater unser – vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben – Dein Wille geschehe –

Wenn wir die Geschichte hören, wollen wir nicht kleinlich sein, nicht in Jahreszahlen und nicht in geographischen Punkten denken; ein Leben wird vor uns ausgebreitet, und dieses Leben wird erzählt und nicht erklärt. Es werden Stimmen gleichzeitig ertönen, es wird sich manche Begebenheit vordrängen und manch andere sich verbergen wollen, wie in jedem Leben der Mantel der Scham manchmal nicht reicht, um all unsere Verfehlungen zu bedecken.

Wie oft haben wir nach neuen Freunden, nach neuen Wegbegleitern gerufen, denen unsere dunklen Seiten unbekannt waren. Wir beginnen neu, mit anderen! Jetzt endlich begreifen wir, dass wir es sind, die einer Reinigung, einer Klärung, einer Erneuerung, bedürfen.

Yansã, Barbara – hat sich in unserer Gemeinschaft niedergelassen, und sie hat sich einen Erzähler, einen Prediger ausbedungen, auf dessen Wahrhaftigkeit wir uns verlassen können, und er hat als Fundament, als Leitgedanken für seine Rede, für diese Erzählung, die Worte jenes Mannes gewählt, der am Berg sprach und predigte.