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Annemarie Bauer und Wolfgang Schmidbauer
unter Mitarbeit von Marlies W. Fröse

Im Bauch des Wals

Über das Innenleben von Organisationen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Concadora Verlag GmbH Stuttgart

Print:ISBN 978-3-940112-78-1

ePub:ISBN 978-3-940112-86-6

3. überarbeitete und erweiterte Auflage 2019

© 2019 Concadora Verlag GmbH Stuttgart

Lektorat: Silwen Randebrock, www.textum.biz

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: Sedat Sener, www.sedatsener.de

www.concadoraverlag.de

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere die der Vervielfältigung, des auszugsweisen Nachdrucks, der Übersetzung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, vorbehalten.

Autor und Autorinnen

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Prof. Dr. phil. Annemarie Bauer, Gruppenanalytikerin (D3G) und Supervisorin (DGSv). Schwerpunkte: Psychoanalyse und Organisation / Organisationsprozesse / Auswirkungen der Organisationen auf Teams und Personen / Psychoanalyse und Soziale Arbeit / Erzählungen in der Supervision und Organisationsberatung / Beratungsprozesse / kritische Betrachtung der Beratungsszene. Sie arbeitet in eigener Praxis.

Kontakt: www.conseil-de.com

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Prof. Dr. phil. habil. Marlies W. Fröse, Rektorin und Professorin für Organisations- und Personalentwicklung an der Evangelischen Hochschule Dresden, Privatdozentin für Sozialpädagogik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Supervisorin (DGSv).

Kontakt: marlies.froese@ehs-dresden.de

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Dr. phil. Dipl. Psych. Wolfgang Schmidbauer, Psychoanalytiker (DGPT, MAP), Supervisor (DGSv). Mitgründer der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und darin einer neu konzipierten Therapieausbildung mit starker Akzentuierung von gruppen- und familientherapeutischen Elementen. Seit 1980 Lehranalytiker. 1986 Gastprofessor für Psychoanalyse an der Gesamthochschule Kassel. Neben etwa 40 Sachbüchern, von denen einige Bestseller (Die hilflosen Helfer, 1977; Die Angst vor Nähe, 1985) wurden, hat Schmidbauer auch eine Reihe von Erzählungen, Romanen und Berichten über Kindheits- und Jugenderlebnisse geschrieben. Er ist Kolumnist des ZEIT-Magazins und regelmäßiger Mitarbeiter von Fachzeitschriften und Tageszeitungen.

Kontakt: info@wolfgang-schmidbauer.de

Inhalt

Vorwort zur dritten Auflage

Einleitung

Teil I: Biologische und psychologische Grundlagen

Zwischen Selbstbestimmung und Abhängigkeit

Weder Nesthocker noch Nestflüchter

Das „ältere Menschtum“ in der Hysterie

Entwicklungsrisiken

Autismus

Einsamkeit und Teilnahme

Schnelle Entwertung und langsame Besinnung

Vom Paar zur Gruppe

Das Dreieck

Die Zweierbeziehung als Brückenschlag

Triebkontrolle zu zweit

Der Naturmensch als Konzept einer fortgeschrittenen Kultur

Die ältesten Institutionen

Altsteinzeitliche Kulturen

Die Geburt der Hierarchie

Psychologische Aspekte der Hierarchie

Die übersprungene Stufe

Vorteile und Schattenseiten der Hierarchie

Autoritäre Strukturen veralten

Ehrgeiz und Machtfantasie

Grandiosität

Von der Industrie- zur Konsumgesellschaft

Die Spaltungsprobleme der Konsumgesellschaft

Erzwungene oder gewählte Ziele

Unregierbar

Bewegung und Beharrung in Institutionen

Die erste Begegnung mit einer Institution

Das Spiegelphänomen

Initialszene und Initiation

Teil II: Über phallische und genitale Kommunikation

Waren als phallische Kommunikation

Die Spannung zwischen Fortschritt und Regression

Primitiver und reifer Narzissmus

Es gibt kein Rezept gegen den schlechten Gebrauch guter Lehren

Rache

Enge

Zeigen, befehlen, erzählen?

Selbstfürsorge und Gegenübertragung

Teil III: Institutionen und Organisationen: zweckrationale Konstruktionen

Institution – Organisation

Organisationsstrukturen

Subsysteme von Organisationen nach Friedrich Glasl (1992)

Typologien von Organisationen

Metaphern von Organisationen: Gareth Morgan und H. E. Richter

Macht

Soziologische Theorien von Macht: Elias, Foucault, Bourdieu

Macht und Angst in Organisationen

Rollen und Rollenübernahme

Geschlossene Gesellschaften – totale Institutionen

Sind Altenheime und Psychiatrien totale Institutionen?

Soziale Organisationen im gesellschaftlichen Wandel

Teil IV: Institutionen und Organisationen: verborgene Konstruktionen

Wege zum Unbewussten in Organisationen

Abwehrvorgänge in Organisationen

Angstbindung und Angstproduktion in Organisationen

Angstbindung durch Sozialisationsprozesse durch Organisationen

Die Rückseite der Angstbindung: Produktion von Angst in Organisationen

Vertrauen in Organisationen

Psychotische Organisation

Loyalität in Organisationen

Retter der Organisation

Symbole und Rituale in Organisationen

Organisation als Besitz

Organisation zwischen Gesetz und Selbstverständnis

Donum Vitae

Geheimnisse, Tabus und Verstrickungen

Der fehlende Heiligenschein

Kriminell aber gedeckt, offen aber diskriminiert

Organisation und Gewalt

Sexueller Missbrauch als Thema in Beratungseinrichtungen

Ambivalenzen und Turbulenzen in Organisationen

Teil V: Ergänzungen zur dritten Auflage 2019

Die Organisation als Bühne – Goffmans interpretative Theorie des sozialen Lebens in Organisationen

Organisationskultur

Organisationen und die Kulturen der Übertreibung und Überbietung

Wissenschaftsorganisationen zwischen Ideal und unternehmerischer Kultur

Das ist das Modell – wie aber sieht die Realität aus?

Feld und Habitus: Bourdieus Konzept zu Organisationen

Bourdieus Habituskonzept und seine Kapitalien

Das Zusammenspiel

Der Habitus einer Organisation

Erfolg und Stolz als Habitus von Organisationen

Zweifel in und an der Organisation

Die Übertragung auf eine Organisation

Hochqualifizierte Frauen in Organisationen

Frauen in Führung – die endlose Debatte am Beispiel der ZEIT vom 1.3.2013

Führungsfrauen: die Konstruktion des Geschlechts

Hüter der gläsernen Decke

Was kann das Habitus-Konzept für die Beratung von hochqualifizierten Frauen ermöglichen?

Habitusorientierte Beratung – am Beispiel von hochqualifizierten Frauen in Organisationen

Das Aufdecken von Widersprüchen

Die Gefahr der totalen Anpassung oder gar Dissoziation

Wissen um die institutionelle Abwehr

Wie kann man einen eigenen Habitus entwickeln?

Sichtbarmachung der eigenen Bildungsbiografie

Literatur

Vorwort zur dritten Auflage

Dieses Buch ist aus einer langen Zusammenarbeit zwischen einer sozialwissenschaftlich und pädagogisch ausgebildeten Hochschullehrerin mit intensivem Interesse an Psychoanalyse und einem Psychoanalytiker mit intensivem Interesse an Organisationen und Institutionen entstanden. Unsere erste Absicht war, gegen das Desinteresse anzukämpfen, das sozial engagierte Helfer nicht selten überfällt, wenn sie sich mit den Strukturen beschäftigen sollen, in denen sie arbeiten. Der Titel spiegelt die damit verbundenen Ohnmachtsgefühle.

Seither hat sich der Umfang fast verdoppelt; 2019 sind noch einmal Aufsätze über spezielle Fragen, neue Konzepte sowie eine neue Autorin hinzugekommen. Ein Teil der neuen Konzepte wurde in dem Masterstudiengang Supervision und Beratung der Universität Bielefeld erprobt und entwickelt.

München, im Januar 2019

Wolfgang Schmidbauer

Einleitung

Wie werden aus den vielen, hoch motivierten und gut ausgebildeten Anfängerinnen und Anfängern in der Praxis der sozialen Berufe so schnell resignierte, freizeitorientierte, von Erschöpfung gezeichnete Arbeitskräfte?

Wer als Organisationsberater und Supervisor Gelegenheit hat, sich mit solchen Motivationsverlusten im Praxisschock auseinander zu setzen, begegnet immer wieder einer umfassenden Ahnungslosigkeit und einem tiefen Desinteresse für die Strukturen, in denen Sozialberufler tätig sind. Sie haben gewissermaßen einen Beruf erlernt, ohne zu wissen, was ein Beruf ist. Sie sind in soziale Einrichtungen eingetreten, werden von diesen bezahlt, können sich in ihnen entwickeln oder an ihnen scheitern. Aber sie wissen nicht und es scheint sie zunächst auch nicht zu interessieren, was eine Hierarchie ist, warum es Machtunterschiede gibt und wie es möglich wird, mit ihnen konstruktiv umzugehen.

Unersetzliche Anregungen hat uns allen die langjährige, zum Teil gemeinsame Arbeit in Balintgruppen für Supervisoren gegeben. Wir haben immer wieder mit einer interessierten und vielseitig gebildeten Gruppe von Beratern die Hintergründe aufzeigen können, warum eine Einrichtung so ist, wie sie ist. Wir haben uns damit beschäftigt, ob das jähe Ansteigen der Ausreißerquote in einem Kinderheim mit dem „geheimen“ sexuellen Verhältnis zwischen dem Chef und der Hauswirtschaftsleiterin zusammenhängt. Wir haben uns gefragt, ob es eine billige Metapher oder ein Spiegelphänomen ist, wenn es in Kindergärten so kindisch zugeht oder eine Stationsleiterin nicht weiß, ob sie die alkoholkranke Mitarbeiterin pflegen oder führen soll. Wir haben über die Rolle der Laientheologen in der katholischen und über die der Diakone in der evangelischen Kirche nachgedacht und herauszufinden versucht, welches Gesicht das Peters-Prinzip1 in sozialen Einrichtungen hat.

Mit dem vorliegenden Text wollen wir vor allem jene Menschen, die keine Gelegenheit für ein Soziologiestudium oder eine Supervisionsausbildung haben, dafür gewinnen, sich für Institutionen zu interessieren. Es ist jammerschade, wenn kluge und neugierige Erzieherinnen, Krankenschwestern oder Sozialpädagoginnen die Lust an der Arbeit verlieren, weil sie das Sozio-Chinesisch, mit dem ihnen während ihrer Ausbildung die sozialen Strukturen deutlich gemacht wurden, ebenso schnell vergessen wie sie es widerwillig erlernt haben,. Wir alle leben in diesen Strukturen wie der Schiffbrüchige im Bauch des Wals. Wir können ihnen nicht entkommen, aber wir können uns in ihnen orientieren, und auf diese Weise viele schmerzhafte Zusammenstöße und vergebliche Bemühungen vermeiden. Damit trägt dieses Wissen zum Ideal professioneller Arbeit bei: mit möglichst wenig Aufwand möglich viel zu erreichen.

Wer sich dafür entscheiden kann, eine entmutigende, nach seinem ersten Gefühl unerträgliche Arbeitssituation zu erforschen, hat eine Chance für seine Entwicklung gewonnen. Anstöße für eine solche Forschung bietet immer die Geschichte der Widerstände und Unzuträglichkeiten, denen wir in Institutionen begegnen, mit denen wir zu tun haben.

Wer sich beispielsweise klargemacht hat, dass die medizinische Ausbildung an der Leiche beginnt und die Kontrolle über „weiche“ Gefühle und Spontaneität traumatisch erzwungen wird, kann anders mit Ärzten umgehen. Wer sich mit der Geschichte einer Bruderschaft, eines Ordens beschäftigt und sich nicht scheut, im Lexikon oder im Internet über die Namen und Gedanken charismatischer Gründer nachzuforschen, wird erheblich besser verstehen, warum sich seine Vorgesetzten (und deren Senioren, Oberinnen, Äbte oder Generale) so verhalten, wie sie es tun. Kenne ich die Legende des Heiligen, nach dem unser Krankenhaus benannt ist? Weiß ich, wie unsere Beratungsstelle finanziert wird? Entscheiden wir in unserem Team demokratisch, oder schieben wir alle Probleme über die wir uns nicht einigen können auf die lange Bank, weil es doch besser ist, alle zu frustrieren als eine auszugrenzen? Dürfen wir nicht über ein Problem reden, weil nicht alle Beteiligten anwesend sind, oder ist das ein Ausweichmanöver, das in einer professionellen Arbeit nichts zu suchen hat? Sind Erzieherinnen dazu da, Kinder glücklich und zufrieden zu machen, und Psychologen, Antworten zu finden? Warum gelingt das manchmal nicht und was muss dann getan werden? Ist die betagte Frau, die nachts nicht schlafen kann, ein pflegerisches Problem? Oder ein medizinisches, das der Neurologe mit einem Medikament löst?

1Nach diesem Prinzip wird jeder Mitarbeiter in einer Hierarchie so lange befördert, bis er die Stelle seiner maximalen Inkompetenz erreicht hat; dann steigt er nicht weiter auf.

Teil I

Biologische und psychologische Grundlagen

Wolfgang Schmidbauer

Zwischen Selbstbestimmung und Abhängigkeit

Zu den Widersprüchen des menschlichen Erlebens gehört, dass wir uns zwar als Einzelne erleben, aber gleichzeitig ohne ein Gegenüber nicht lebensfähig sind. Wie radikal das gilt, zeigt das grausame Experiment des Staufer-Kaisers Friedrich II, der herausfinden wollte, ob die menschliche „Ursprache“ die Sprache der Bibel, die der Römer, die der Araber oder aber eine ganz unbekannt Sprache sei. Aus diesem Grund ließ er Waisenkinder von Ammen aufziehen, denen strikt verboten wurde, die kleinen Wesen anzusprechen, sich mit ihnen durch irgendein Wort, ja selbst eine Geste zu verständigen. Der Chronist berichtet, dass die Ursprache niemals entdeckt wurden, weil alle diese Säuglinge starben.

In unseren „modernen“ wissenschaftlichen Formulierungen würden wir das so ausdrücken: Das menschliche Gehirn benötigt zu seiner Entwicklung spezifische Außenreize, wie sie von Artgenossen erzeugt werden können. Nur wenn das wachsende Gehirn ausreichend mit solchen Reizen versorgt wird, kann es sich gesund entwickeln.

Wer kleine Kinder beobachtet, erkennt deutlich, wie sehr sie die periodische Annäherung an einen einfühlenden, auf sie bezogenen Erwachsenen (das „Objekt“) benötigen. Das kindliche System entwickelt sich optimal, wenn es sich in Krisensituationen an ein erwachsenes System annähern und mit ihm kommunizieren kann. Unter diesen Bedingungen werden die inneren Reize in dem kindlichen System nicht so bedrohlich, dass sozusagen Notmechanismen entwickelt werden müssen, um sie unter Kontrolle zu bringen.

Weder Nesthocker noch Nestflüchter

Biologisch ist der Mensch weder Nesthocker noch Nestflüchter, sondern ein Kontaktwesen; die Fähigkeit zur Kontaktaufnahme ist beim Säugling am weitesten entwickelt, und sein Angewiesensein auf Versorgung parallel zur relativ hohen Ausreifung des kindlichen Organismus (wenn wir ihn mit typischen „Nesthockern“ vergleichen) scheint das eindrucksvollste Merkmal der Primaten.

Für den kindlichen Organismus geht es anfänglich sehr schnell um Leben oder Tod. Das Ich ist noch wenig entwickelt; es kann sehr viele Reize nicht einordnen. Der herzzerreißenden Not, die wir aus dem Schreien des Säuglings herauszuhören meinen, entspricht mit hoher Wahrscheinlichkeit eine entsprechende innere Bedrohung. Das kleine Kind kann die eigenen Affekte, die eigenen Reaktionen von Wut, Angst, Trauer, Schmerz nicht einordnen und nicht bewältigen, wenn es nicht von jemandem begleitet und getröstet wird.

Vielleicht haben die Menschen unter weniger differenzierten gesellschaftlichen Umständen die Verinnerlichung eines solchen Systems nicht so sehr gebraucht. Wer als Jäger und Sammlerin in der Steppe lebt und jeden Tag nach Essen, Wasser und Schutz vor Raubtieren suchen muss, ist längst nicht so darauf angewiesen, emotionale Reize zu verarbeiten und zwischen unterschiedlichen Erlebnis- und Reaktionsformen zu wählen. Er muss und darf immer sofort mit einer körperlichen Aktion reagieren, durch die seine affektiven Spannungen abgebaut werden. Wo es auch im Alltag schnell um Leben oder Tod geht, ist nicht mehr psychisch auffällig, wer einen Streit mit dem Ehepartner, eine Kränkung beim Warten in einer Schlange oder einen abweisenden Gesichtsausdruck der Kollegin als eine Frage um Leben oder Tod auffasst und inszeniert.

Das „ältere Menschtum“ in der Hysterie

Freud sagte über die Hysterie, dass sich hier „älteres Menschtum“ darstelle. Ergänzend lässt sich über Menschen mit narzisstischen Störungen sagen, dass sie in ihrem Leben sehr oft daran scheitern, dass ihre psychische Organisation einer modernen Gesellschaft mit ihren Brechungen des unmittelbaren emotionalen Auslebens durch Vernunft, Disziplin, Höflichkeit, Ironie und Humor nicht standhalten kann. Manchmal helfen ihnen Drogen zu einer funktionierenden Fassade. Doch ist dieser Gewinn an Stabilität teuer erkauft.

Normalerweise schreitet das seelische System von einfacheren zu komplexeren Formen fort. Wenn die komplexeren Formen nicht zustandekommen, kann die Psyche ihre Tätigkeit nicht einfach einstellen. In diesem Fall würden Betroffene in ein Koma fallen und sterben. Eine Lösung des Problems unserer hohen seelischen Organisationsmöglichkeiten und entsprechend zahlreichen Störungsrisiken ist die Regression. Das seelische System funktioniert wieder primitiver, als es seinem Alter angemessen ist. Der Betroffene regrediert ganz oder teilweise, d. h. es gibt sein optimales Funktionieren auf, weil die damit verbundenen gesteigerten Anforderungen an die Reizverarbeitung nicht geleistet werden können.

Eine Form der Regression ist z. B. die Klage über schlechte Versorgung durch Vorgesetzte, Ehepartner oder Freunde. Das seelische System stellt seine Tätigkeit partiell ein, versinkt in einem komatösen Zustand und bejammert die damit verknüpften Ausfälle an Entwicklung und Befriedigung. „Immer muss ich meine Freunde anrufen, meine eigene Frau redet ja nicht mit mir!“ „Wenn mich mein Mann lieben würde, hätte er doch nicht verlangt, dass ich meinen Beruf aufgebe.“

Die seelische Stabilität des Erwachsenen hängt damit zusammen, dass er seine Antriebe, die Umwelt neugierig zu erforschen und sie seinen Bedürfnissen entsprechend zu verändern, dank eines ausreichenden Reizschutzes durch ein hinreichend einfühlendes Objekt entwickeln konnte. Sie erfordert aber weiterhin, dass er eine Fantasie von Austausch verinnerlicht hat, durch den der Reizschutz eine stabile soziale Qualität gewinnt: Der Erwachsene ist von einem Netz von Freunden, Bekannten, Kollegen umgeben, die es ihm ermöglichen, in Krisen seines Selbstgefühls Hilfe zu finden, indem er anderen in deren Krisen Hilfe gibt.

Die Lösung der als Ödipuskomplex beschriebenen Situation findet nicht durch Identifizierung mit einem Elternteil statt, sondern durch Verinnerlichung einer Situation in einer Gruppe aus mindestens zwei Personen (den Eltern der Kleinfamilie), die sich konstruktiv austauschen. In der gelingenden Entwicklung fördert der Reizschutz durch den Austausch die Produktion von Triebwünschen und Neugieraktivität; diese wiederum fördern den Austausch mit anderen. Wer schon viele Freunde und ein gutes Beziehungsnetz hat, erwirbt leichter weitere Freunde als der Einsame, der beim ersten Kontakt seine gesamten Bedürfnisse auf ein dann entsprechend überschätztes Objekt richtet und im Zusammenbruch seiner Erwartungen in eine Krise gerät, die seine Rückzugsneigungen und regressiven Wünsche verstärkt.

Entwicklungsrisiken

Wenn Eltern keine stabile Beziehung haben, wenn die Mutter, die ein Kind versorgen soll, nicht ausreichend gut von ihrer Umwelt gestützt wird und mit ihr in stabilem Austausch steht, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie bereits zu Beginn der Entwicklung dem Kind keinen ausreichenden Reizschutz bieten kann. Die typischen, statistisch nachgewiesenen Risikofaktoren wie z. B. Sucht eines Elternteils oder Geschwistergeburt in einem Abstand von weniger als einem Jahr belegen diesen Einfluss ebenso wie die seit langem bekannte Verknüpfung zwischen Zufriedenheit der Eltern und seelischer Anfälligkeit der Kinder. „Zufriedenheit“ ist eine seelische Folge angemessener Austauschsituationen. So bieten „zufriedene Hauseltern“ die günstigsten Möglichkeiten für die Entwicklung psychisch stabiler Kinder; „zufriedene berufstätige Eltern“ die zweitbeste, „unzufriedene berufstätige Eltern“ die drittbeste und „unzufriedene Hauseltern“ die schlechteste.

Autismus

Das Versagen des frühen Reizschutzes führt in seinen extremen Formen zu autistischen Störungen. Bei den schwersten Fällen des kindlichen Autismus scheint eine organische Disposition vorzuliegen, welche es dem Kind erschwert, andere Menschen in ihren Potenzialen als Spender von Reizschutz zu nutzen. Die betreffenden Kinder nehmen keinen Kontakt auf und geraten sehr leicht in Panik, wenn z. B. eine ihrer stereotypen Handlungen unterbrochen wird oder die Ordnung in ihrem Spielzimmer ein wenig verändert ist. Während solche extremen Fälle sehr selten sind, lassen sich mildere Formen dieser Verwendung der Ordnung bei den meisten Menschen beobachten.

Wenn sich in der Umwelt nichts ändert, wenn wir nach einer Trennung alles so wiederfinden, wie wir es verlassen haben, beruhigt und entlastet uns das. Wie sehr, das erkennen wir oft erst, wenn während unserer Abwesenheit ein Einbrecher unsere Wohnung durchwühlt oder ein Hagelsturm unseren Garten demoliert. Verletzungen der körperlichen Ordnung durch Krankheiten, Operationen sind noch belastender. Die Belastung steigt, je ausgeprägter das Trauma Grundbedürfnisse verletzt, je mehr Grundbedürfnisse verletzt werden und je nachlässiger sich die Umwelt nach dem Trauma um Wiedergutmachung bemüht.

So wird der Einbruch belastender, wenn die Versicherung nicht zahlt und die Polizei dem Beraubten vermittelt, er sei durch eigene Nachlässigkeit an dem Geschehen beteiligt. Wenn eine Vergewaltigung ein extrem traumatisierendes Ereignis sein kann, liegt das auch daran, dass eine Frau von einem Mann, den sie sich als Beschützer wünschte, missbraucht worden ist und anschließend häufig aus ihrer Umwelt absurde Vorwürfe einer Mitverantwortung kommen.

Die so geschaffene Kluft zwischen dem Trauma und der ohnedies unserem Erleben eigenen Tendenz, Traumen vorauszusehen und zu vermeiden, verstärkt traumatische Erfahrungen massiv. Hier wurzelt ein sozialer Mechanismus, der für die Traumatisierten höchst verhängnisvoll sein kann: Um sich zu entlasten und eigene Fantasien, Wiedergutmachung leisten zu müssen, abzuwehren, werden Traumatisierte durch Schuldzuweisungen erneut verletzt.

Um sich diesem Prozess zu entziehen, setzen nicht wenige Traumatisierte ihre seelischen Verletzungen, an denen sie sich schuldig fühlen, in körperliche um. Wenn die Spannung durch innere, unsichtbare Unordnung unerträglich wird und seelisches Leid mit Erfahrungen der Abwertung und Schuldzuschreibung verknüpft wird, beruhigt eine sichtbare Wunde. Daher die Neigung vieler in dieser Weise belasteter Menschen, sich selbst Verletzungen zuzufügen, sich mit scharfen Klingen zu schneiden, sich Haare auszureißen oder Nägel zu kauen.

Die Regression auf archaische Ordnungsbedürfnisse bestimmt auch viele Symptome der Zwangskranken. Diese werden süchtig nach Handlungen, die geeignet scheinen, auf einfache Weise einen unordentlichen Zustand (schmutzige Hände) in einen ordentlichen (saubere Hände) zu verwandeln. Die Sucht auf die Entlastung von der Angstspannung drückt sich dann in der Wiederholung der entspannenden Aktion aus.

Einsamkeit und Teilnahme

Der Zwangskranke versucht sich in einer Pseudo-Selbstbestimmung völlig allein mithilfe seiner Rituale zu stabilisieren. Er meidet einen Dialog mit anderen, in dem er sich mit seinen Gefühlen anvertrauen und die einsame Kontrolle über seine Innenwelt durch die Kontrolle im Gespräch, im Austausch mit anderen ergänzen müsste.

Der Mensch verfügt über die Fähigkeit, Fantasiewelten aufzubauen, Erinnerungen zu betrachten (sie „widerzuspiegeln“, zu reflektieren) und mit der Hilfe solcher Entwürfe sowohl sich selbst wie auch die Wirklichkeit zu verändern. Das bedeutet unter anderem auch, dass er sich selbst traumatisieren kann, indem er sich von der seelisch notwendigen, aber körperlich entbehrlichen Funktion des Austauschs mit anderen abschneidet. Was einem nicht zur Reflexion begabten Organismus nur ausnahmsweise gelingt, wird für den Menschen zu einem schwerwiegenden Problem. Je mehr Bildung, Information, mediale Durchdringung der Umwelt, desto größer auch das Risiko der Selbsttraumatisierung.

Das Individuum braucht den Spiegel des anderen, um die für den Einzelnen kaum lösbare Aufgabe zu bewältigen, eine in der Fantasie entworfene Wertwelt mit der Realität in Übereinstimmung zu bringen.

Nehmen wir das Abendgespräch eines Paares: Der Mann erzählt von seiner Arbeit, von dem Kollegen, der sich als tückischer Konkurrent entpuppt, die Frau erzählt von ihrer Arbeit, von ihrer Kollegin, bei der ein Brustkrebs diagnostiziert worden ist; beide versuchen, indem sie einander zuhören, die Betroffenheit des anderen zu teilen, ohne doch selbst direkt betroffen zu sein. Ziel des Gesprächs ist, die Störung in die Normalität zu integrieren, die Last, dass es im Leben niemals glatt geht und wir jeden Tag mit Botschaften konfrontiert sind, die uns auf der Fantasieebene oder aber auch bereits in der Realität bedrohen, gemeinsam zu tragen.

Die entlastende Funktion solcher Gespräche beruht darauf, dass die Ebenen der Realität und der Fantasie getrennt bleiben. Dadurch lässt sich eine Gefahr eingrenzen. Die Frau lässt sich von ihrem Partner überzeugen, dass dank ihres glücklichen Sexuallebens oder weil sie ihre Kinder – anders als die Freundin – gestillt hat, keine Krebsgefahr besteht. Der Mann glaubt ihr, dass sein bösartiger Rivale keine Chance hat, die Hochschätzung zu gefährden, die ihm vonseiten des Chefs gehört. Beide Ergebnisse können illusionär sein; menschliche Zuversicht ist häufig wenig mehr als das, was Ibsen „Lebenslüge“ nannte.

Schnelle Entwertung und langsame Besinnung

Die narzisstische Krise, die sich im explosiven Narzissmus zu ihrem Extrem steigert, wird von der Schnelligkeit geprägt, mit der das Individuum auf Kränkungen antworten zu müssen glaubt. Der jähe Wutausbruch, die wütende, entwertende Beschimpfung werden im Alltag meist mit Phrasen gerechtfertigt, die sie sozusagen als allgemeinmenschliche Reaktion ausgeben, die in diesem Fall leider nur zu rasch erfolgt sei. Dem prügelnden Ehemann ist „die Hand ausgerutscht“, dem entwertenden Chef „der Gaul durchgegangen“, die tellerwerfende Ehefrau ist „temperamentvoll“.

Als universelle Gegenmittel werden von den Weisheitslehrern seit der griechischen Antike Besonnenheit, Mäßigung und Gleichmut gepredigt; in der jüdisch-christlichen Tradition auch noch Nächstenliebe. Der biblische Satz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ enthält auch einen Kern zum Verständnis des menschlichen Narzissmus: Es ist weder möglich, Nächstenliebe durch Strafe, Kritik oder Anleitung zum Selbsthass zu fördern (wie es nicht selten in der „schwarzen Pädagogik“ der Frommen geschieht), noch kann Nächstenliebe gelingen, wenn die narzisstische Kränkung das eigene Selbst zum Gegenstand eines wütenden Hasses macht, der dann so schnell wie möglich nach außen abgeführt werden muss.

Frau A. kommt abends erschöpft von einem langen Arbeitstag nach Hause. Ihre erwachsene Tochter B. hat vor einigen Wochen das Abitur bestanden und geht jetzt die Zeit bis zum Beginn des Studiums fast jede Nacht tanzen. Sie schläft dann lange, steht irgendwann auf, kocht sich eine kleine Mahlzeit und ist schon wieder mit ihren Freundinnen unterwegs, sobald die Mutter nach Hause kommt. Der Vater ist vor fünf Jahren ausgezogen und inzwischen mit einer jüngeren Frau verheiratet.

An diesem Tag spürt die Mutter, wie angesichts des abgegessenen Tellers und des mit Speiseresten verklebten Topfes in der unaufgeräumten Küche die Wut in ihr hochsteigt. Sie arbeitet den ganzen Tag, um für die Familie Geld heranzuschaffen; die Tochter tut keinen Strich und verlangt von der Mutter auch noch, ihren Dreck wegzuräumen. Das soll der Dank sein? Das soll gerecht sein?

Die Mutter hat die Fantasie, den ganzen Dreck zu nehmen, und ihn der Tochter aufs Bett zu schmeißen: dann muss diese, wenn sie nach Hause kommt, auch einen Saustall aufräumen, das ist nur gerecht. Oder soll sie die Tür abschließen, damit das Schwein nicht hereinkommt und wieder die Wohnung verdreckt? Dann wird die Tochter klingeln, es wird eine Szene geben, die Nachbarn … Soll sie versuchen, die Tochter über das Handy zu erreichen und sie zur Rede zu stellen?

Frau A. ist eine durchschnittlich gute Mutter; seit ihrer Scheidung leidet sie manchmal an Depressionen und bricht Männerbeziehungen ab, sobald sie den Verdacht schöpft, wieder an jemanden geraten zu sein, der sie ausnützt. Sie war ein sehr braves Kind, das den durch ein Flüchtlingsschicksal belasteten Eltern keine Probleme machte und es daher oft ungerecht findet, manchmal aber auch stolz darauf ist, dass ihre Tochter ganz anders ist – anspruchsvoller, erfolgreicher bei Männern.

In der beschriebenen Situation wird der Wutanfall dadurch ausgelöst, dass die Mutter aufhört, auf die Tochter stolz zu sein. Der Stolz auf etwas ist ein Ausdruck davon, dass ich eine Fantasie zur Stützung meiner Grandiosität verwerten kann – ich bin stolz, ein Deutscher, ein Mann, ein guter Vater, ein erfolgreicher Kaufmann zu sein, ich bin stolz auf wohlgeratene Kinder.

Je schneller die Kränkungswut abgeführt werden muss, desto größer ist auch die Gefahr einer kannibalischen Entwicklung. In dieser führt die narzisstische Krise zu Folgen, die ihre Auslöser vermehren. Die Wut über das Versagen der Zufuhr vermindert die Zufuhr. Wenn die Mutter sofort ihre Tochter entwertet, sei es durch eine kränkende Aktion, sei es durch eine Kontaktaufnahme im Zustand der ungebremsten Wut, wächst die Gefahr, dass auch die Tochter zurückschlägt.

Ebenso problematisch ist es, gar nicht zu reagieren, das Geschirr zu spülen und die Wut unbewusst zu machen. So entstehen schwere, aus ihren Auslösern nicht mehr verstehbare Depressionen. Der überlastete Organismus kann die Störung der Kränkungsverarbeitung irgendwann nicht mehr kompensieren, die Produktion von körpereigenen Botenstoffen wird beeinträchtigt, die Schädigung greift in das Übergangsfeld von Psyche und Soma hinein.

Da Frau A. eine durchschnittlich gute Kränkungsverarbeitung hat und nicht an einem Borderline-Syndrom leidet, tut sie nichts von dem, was ihr die erste Wut eingegeben hat. Ihr fällt ein, dass B. durchaus abspült, wenn man es mit ihr vereinbart. Der Stolz auf ihre Tochter kehrt zurück, es ist doch ein gutes Kind, von dem sie es vernünftigerweise nicht erwarten kann, sich in den Stress und die Ordnungsbedürfnisse der Mutter einzufühlen.

B., überlegt die Mutter nun, sollte es doch auch schön haben als Kind, schöner als sie mit ihren Eltern, die sich ständig irgendwelche Sorgen machten. Jetzt ist B. eine Person geworden, die unbekümmert das tut, worauf sie Lust hat. Aber es ist auch wahr, dass sie keineswegs die Mutter dadurch kränken will. Sie ist nur anders geworden, als es A. ist. „Ich werde mit ihr eine Diskussion führen, einen Vertrag machen über die Küchenordnung in Ferienzeiten, so wie schon einer über das Ausgehen während der Schultage und am Wochenende an die Innenseite der Küchenschranktür geklebt ist.“

Vom Paar zur Gruppe

Die primäre soziale Verbindung bei Primaten ist das Paar – ursprünglich das Paar Mutter-Kind. Durch die lange, verletzliche Kindheit gibt es eine von starken Gefühlen getragene Beziehung zwischen dem kindlichen Organismus und einem vertrauten Erwachsenen, in der Regel der biologischen Mutter. Dieses Beziehungsmodell bleibt auch im Erwachsenen erhalten: Wie die oben beschriebene Szene zeigt, reagiert die Mutter mit durchaus kindlichen Gefühlen der Zurückweisung, der Kränkung, des Unverstandenseins. Indem sich die Mutter an ihre eigene kindliche Abhängigkeit und Angst erinnert, kann sie das Kind trösten und ihm über seine Krisen hinweghelfen. Auf diesem Weg wird das Selbstgefühl gesunder Menschen gefestigt: Sie fühlen sich in andere ein und bestätigen sie. Dadurch werden sie sicherer, dass ihnen Gleiches mit Gleichem vergolten wird.

Eine weitere Qualität der Paarbeziehung ist die Spiegelung. Eine Paarbindung ist die symmetrischste Form des Kontaktes, die es gibt, und von allen symmetrischen Beziehungen ist die zum eigenen Spiegelbild am symmetrischsten. Das ist vor allem deshalb bedeutungsvoll, weil alles Fremde von uns mit primär gemischten Gefühlen betrachtet wird: Es weckt Neugier und Angst zugleich. Dabei ist die Neugier umso stärker, je vertrauter uns der Rest der Umgebung, und die Angst umso ausgeprägter, je weniger wir mit dem Rest der Umgebung vertraut sind; dann überfordern uns neue Reize sehr schnell. Wenn ein neues Spielzeug im vertrauten Kinderzimmer steht, weckt es Neugier; wenn wir im nächtlichen Wald ein merkwürdiges Geräusch hören, wollen wir es nicht erforschen, sondern fürchten uns.

Die Beziehung zum eigenen Spiegelbild schafft Vertrauen in die Kontinuität des eigenen Ichs. Ähnlich beschaffen sind Beziehungen, die uns „spiegeln“, die wir zu Menschen aufbauen, von denen wir glauben, dass sie ganz genau so sind, wie wir sie uns wünschen, und sich so wenig verändern wie unser eigenes Spiegelbild. Vor allem für traumatisierte Menschen, die wenig Neugier entwickeln können und darauf angewiesen sind, dass sie ihre Umwelt kontrollieren, sind solche Selbst-Objekte sehr wichtig. Entsprechend groß ist ihre seelische Not, wenn sie feststellen müssen, dass sich eine solche Beziehung verändert.

So wundern sich viele Frauen darüber, dass ihr Partner sie kaum zu registrieren scheint, wenn sie den Abend mit ihm zusammen verbringen. Er sieht fern, liest Zeitung, sagt kein Wort. Sobald sie aber Anstalten macht, die Wohnung zu verlassen, um eine gesprächigere Freundin zu besuchen oder ins Kino zu gehen, reagiert der Partner unerwartet heftig und fordert den gemütlichen Abend zu zweit ein. Hier wird der Selbstobjekt- und Spiegelcharakter einer Beziehung deutlich: Wichtig ist nicht die Interaktion – die ist schließlich mit unserem Spiegelbild ebenfalls nicht möglich – sondern die Präsenz.

Diese Qualität des Spiegelbildes ist übrigens in der Volkssage fassbar. Demnach erkennt man menschenähnliche Unholde wie z. B. Vampire daran, dass sie in einem Spiegel kein Bild erzeugen. Vampire haben kein Spiegelbild und können daher auch nicht „spiegeln“, d. h. bestätigen, anerkennen.

Das Dreieck

Die Paarbeziehung ist im guten Fall die harmonischste, gleichgewichtigste, überschaubarste Beziehung. In ihr kann sich eine verletzte Psyche erholen, in ihr werden Möglichkeiten des Erlebens – auch der Erotik – freigesetzt, die sich in keiner anderen Konstellation derart entfalten. Sowohl aus der Einsamkeit heraus wie auch aus der Gruppe – etwa einer Schulklasse – heraus sehnen sich Menschen nach einem besten Freund, einem Seelenzwilling, einem Menschen, mit dem sie Erlebnisse teilen können. Nur eine so besetzte Beziehung bewahrt uns vor einem Gefühl der Einsamkeit, das nicht nur den Einzelgänger, sondern auch den Menschen in einer Clique oder in einem Betrieb befallen kann.

Seelische Reife entsteht nicht dadurch, dass Menschen ihre früheren – etwa kindlichen – Merkmale völlig ablegen, sondern durch Umformungen, in denen die Psyche ähnlich ökonomisch vorgeht wie der ganze Organismus. Es ist in der Entwicklung der menschlichen Bewegungsfähigkeit ja auch nicht so, dass wir nicht mehr auf allen Vieren krabbeln können, wenn wir gehen gelernt haben. Die Ökonomie organischer Entwicklung sieht immer so aus, wie es der Denkmalspfleger gegen den Architekten durchzusetzen sucht: Es wird möglichst viel des bereits Vorhandenen erhalten; nur ganz selten wird ein System zerstört und aufgelöst, um ein anderes an seine Stelle zu setzen, viel öfter wird das vorhandene System erweitert, ergänzt, durch neue Funktionen bereichert, in welche die bisherigen harmonisch integriert werden.

So sind in Familien und Gruppen in der Regel Zweier- und Dreierbeziehungen parallel möglich. Vater und Mutter haben ihre Ehe; das Kind hat eine Vaterbeziehung und eine Mutterbeziehung. Oft gibt es regelrechte Arbeitsteilungen – der Vater ist die Autorität in Schulfragen, die Mutter ist zuständig, wenn es Probleme mit den Freundinnen oder Freunden gibt.

Alle Dreiecksbeziehungen sind gefährdet, sich in rivalisierende Zweierbeziehungen auflösen. So soll während Scheidungsauseinandersetzungen das Kind plötzlich entscheiden, ob ihm die Mutterbeziehung „wichtiger“ ist als die Vaterbeziehung.

Das Hinzukommen eines Dritten in eine Zweierbeziehung ist so etwas wie eine Reifeprüfung. Das gilt vor allem für die Geburt eines Kindes, die gerade die modernen, hoch individualisierten Paare auf eine harte Probe stellt.

Sie belastet fast immer die Fähigkeiten eines Paares, den gewohnten Austausch an Zärtlichkeit, Lust und Bestätigung aufrechtzuerhalten. Das Kind schreit Bedürfnisse unabweisbar hinaus, auf deren Befriedigung ein Erwachsener stumm zu warten pflegt und die er nicht einmal sich selbst eingesteht. Es liegt wie ein Magnet im Zimmer, der an sich reißt, was bisher zwischen den Erwachsenen hin und her floss.

In jeder Liebesbeziehung begegnet der Mensch paradoxen Situationen, die der Mathematik des Rechts spotten. Die eigene Eifersucht ist quälend und schreit nach Rücksicht; die Eifersucht des anderen ist lästig und sollte verschwinden. Ich will gerne meinen Partner immer haben, wenn ich ihn brauche – aber weshalb belästigt er mich schon wieder mit seinen Ansprüchen? Ich bin schüchtern und ängstlich, ich würde so gerne erobert und verführt werden – wieso kapiert meine Partnerin nicht, was sie da tun müsste, andere Frauen erraten doch auch die Wünsche der Männer! Ich hätte gern einen Mann, der weiß was er will, und nicht einen Flunsch zieht, wenn ich nicht wieder die Initiative ergreife …

Die Ursachen solcher Widersprüche liegen in dem instabilen Gemisch, aus dem die Liebe der Erwachsenen gemacht ist. Ihre Elemente sind unter anderem die Bindung des Kindes an die Eltern, die Lustquellen der Erotik und eine soziale Norm, die versucht, eine Kultur funktionsfähig zu erhalten und widersprüchliche Interessen auszugleichen. Aus diesen Elementen schafft die Liebe eine Synthese, wie ein Maler aus Pigmenten, Öl und Leinwand ein Bild, ein Kunstwerk eigener, unwiederholbarer Art erschafft.

Die kindlichen Ansprüche an den idealisierten, den absolut vertrauenswürdigen Partner, der es verdient, dass zu ihm aufgeschaut wird (der Mann, derʼs wert ist, die Frau mit Klasse …) sind dabei viel schwerer zu erkennen und zu berücksichtigen als die sexuellen Wünsche. Sie haben auch eine schlechtere Presse, sie werden nicht als das gehandelt, was sie sind – Emotionen, Affekte, Leidenschaften, Irrationales, sondern als Normen, als Verhalten, das sich entweder gehört oder ungehörig ist. Aber die winzigen Kleinigkeiten, aus denen wütende Beziehungskämpfe erwachsen, verraten die hochgespannte Idealisierung einer Beziehung, die wie ein Luftballon bereits durch den winzigsten Defekt ihre Form verlieren kann.

Ein hilfreicher Begriff ist hier die „Grundstörung“, ein von Michael Balint geprägter Ausdruck. Wenn Menschen während ihrer eigenen, frühen Kindheit nicht ausreichend „gespiegelt“, d. h. einfühlend wahrgenommen wurden, bleiben sie in einer für ihre Umwelt rätselhaften Weise unberechenbar. Sie können „normal“ wirken, solange sie in einer Beziehung leben, die ihr brüchiges Selbstgefühl festigt. Diese Stabilität ist aber sehr brüchig, sie kann nicht aufrechterhalten werden, wenn sich das stabilisierende Selbstobjekt verändert oder ein Dritter – unter Umständen sogar das bewusst ersehnte eigene Kind – die Bühne betritt.

Die Zweierbeziehung als Brückenschlag

Noch in einem anderen Punkt unterscheidet sich die Zweierbeziehung von allen anderen: Sie ist die wichtigste Brücke zwischen Kulturen. Die Mutter nährt das Kind nicht nur mit Milch, sondern mit ebenso lebenswichtigen kulturellen Symbolen: sie vermittelt ihm die „richtigen“ Gesten, Worte, Redeformen, Haltungen zumindest so weit, dass sich das Kind notdürftig orientieren und sich weitere kulturelle Formen aneignen kann.

Diese Brückenfunktion erbt die sexuelle Beziehung: Wenn Texte wie Die weiße Massai zu Bestsellern werden, zeigt das die ungebrochene Faszination der Vertiefung in das Fremde, der Aneignung des Fremden, die nur in einer Zweierbeziehung möglich ist. Die Zweierbeziehung vermischt zwei Personen; daher auch das Misstrauen aller Kolonisatoren und Missionare gegen das going native, gegen die sexuellen Kontakte zwischen verschiedenen Kulturen, Religionen, Schichten, in denen sich die klaren Orientierungen beider auflösen.

Die Mischung wird im Faschismus und Nationalsozialismus dämonisiert. Wider alles genetische Wissen heißt es, dass sich im „Halbblut“ die schlechten Eigenschaften beider Rassen zusammentun, obwohl ganze Kontinente vorwiegend von solchen Mischungen besiedelt sind und die Dynamik der modernen Gesellschaft von einer ebenso von Intoleranz wie vom Ringen um Toleranz geprägten Mischkultur – jener der USA – vorangetrieben wird.

Es ist gut möglich, dass diese Bedeutung der Zweierbeziehung eine neurologische Entsprechung hat. Das menschliche Gehirn funktioniert durch das Zusammenspiel zweier Hirnhälften, die unterschiedliche Aufgaben haben: In der einen werden schnell und vorläufig Bilder erzeugt und ganzheitliche Handlungsmöglichkeiten entworfen; in der anderen werden dann diese Entwürfe kritisch geprüft und mit analytischen Wahrnehmungen verknüpft. Ähnlich kommt es in Zweierbeziehungen zu Entwicklungen, in denen eine Seite die andere prägt, verändert und sich zu ihr in eine dialektische Spannung setzt. Heinrich von Kleist hat beschrieben, wie er durch seine eigene Verschwendung und Gleichgültigkeit gegenüber Geld die eigene Schwester, eine an sich großzügige Frau, durch einige Monate gemeinsamen Wirtschaftens in einen Geizhals verwandelte.

Das Sozialverhalten der urtümlichsten Kulturen gleicht dem der gruppenlebenden Primaten in vielen Einzelheiten – kleine Gruppen mit intensivem sozialen Austausch. Es unterscheidet sich von den Menschenaffen in drei Details: Werkzeugherstellung, Sprache und die Paarbindung.

Das Sexualleben der Menschenaffen ist vorwiegend promiskuös; bei Gorillas und Schimpansen paaren sich die Weibchen im Östrus mit allen ranghohen und mit einigen rangniedrigen Männchen. Bindungen von vergleichbarer Intensität sind bei den Primaten nur die zwischen der Mutter und ihren Kindern. Es gibt keine Väter in unserem Sinn; die dominanten Männer spielen diese Rolle für alle weiblichen Tiere und alle Kinder. Man könnte nun annehmen, dass die Ehe entstanden ist, als der Mensch Viehhaltung und Ackerbau entdeckte und es daher notwendig wurde, rechtmäßige Erben für diese Besitztümer zu finden. Aber diese Hypothese ist falsch; es gibt auch in den Jäger- und Sammlerkulturen die Institution der Zweierbeziehung, des festen Partners einer Frau und der Elternschaft von Mann und Frau.

Im Anschluss an Vernon Reynolds vermute ich, dass die Paarbindung bereits in der frühen Altsteinzeit entstand, als Protohominiden die offene Savanne besiedelten und unsere Vorfahren von Pflanzenessern zu Jägern wurden. Die Jagd wurde eine Tätigkeit der Männer, während die Frauen mit den Kindern an einem Lagerplatz blieben, in dessen Umgebung sie Pflanzen suchten. Diese verglichen mit den Primatengruppen sehr viel höhere Mobilität hätte die Gefahr mit sich gebracht, dass die Männer überhaupt nicht mehr zurückgekehrt wären. Solange die sexuelle Erregung ausschließlich über den Geruch gesteuert wurde, galt „aus der Nase, aus dem Sinn!“ Die gesteigerte, nicht an den Östrus gebundene, sondern in erster Linie durch optische Reize („Liebe auf den ersten Blick“) ausgelöste sexuelle Aktivität des Menschen wurde ein verlässliches Band, um die Männer zu bewegen, von ihren Jagdzügen zu den Frauen heimzukehren und mit ihnen die Beute zu teilen.

So entstanden auch die Mächte der Erinnerung, die so eng mit Poesie und bildender Kunst verwandt sind: als das Verlangen der Männer, von ihren Streifzügen zurückzukehren, weil sie sich ihrer Frauen erinnerten.1

In den kleinen Gruppen der Primaten des Tier-Mensch-Übergangsfeldes herrschte eine intensive genetische Auslese, die mit der Entwicklung der Sprache und damit der kulturellen Tradition durch eine Auslese symbolischer Strukturen ergänzt und überformt wurde: Die menschliche Paarbindung ist nicht genetisch bedingt und nicht erworben, sondern beides.

Zu den zentralen Qualitäten des kindlichen Befindens gehört die Überzeugung, alleine nicht überleben zu können. Sie ist die Quelle der tiefen, irrationalen Abhängigkeit im menschlichen Leben. Wenn ein Kind auf der Straße nach seiner verlorenen Mutter schreit, beruhigt es sich sofort, wenn diese zurückkommt. Die Mutter mag eine Sadistin sein, die das Kind prügelt, sobald sie es sieht, aber dennoch zieht das Kind sie der freundlichen Passantin vor, die es gerne mit nach Hause nehmen und päppeln würde. Diese Qualität wird in unseren sexuellen Beziehungen geweckt, wenn wir ihnen den Charakter der Dauerhaftigkeit zuschreiben. Solange sie diese nicht haben, ist der Liebeskummer meist oberflächlich und wird schnell vergessen. Aber die drohende Auflösung einer Ehe weckt Ängste, kindliches Klammern oder Reaktionsbildungen (wie wütende Distanzierung, Zerstörung des Liebespartners).

Triebkontrolle zu zweit