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Erich Wimmer

Die Eimannfrau

Eine Schweiz-Odyssee

Roman

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Gefördert durch das Land Oberösterreich

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Gefördert von der Stadt Langenthal

Impressum

© 2020 Münster Verlag GmbH, Basel

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.

Umschlag und Satz:

Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld

Umschlagsbild:

Collage «Sonnenuntergang» von Josef Wimmer

Foto hintere Klappe:

Judith Wimmer

Lektorat:

Manu Gehriger und Judith Wimmer

Druck und Einband:

CPI books GmbH, Ulm

Verwendete Schriften:

Adobe Garamond Pro, Artegra Sans

Papier:

Umschlag, 135g/m2, Bilderdruck glänzend, holzfrei; Inhalt, 90g/m2, Werkdruck bläulichweiss, 1,75-fach, holzfrei

ISBN 978-3-907146-74-3
eISBN 978-3-907146-83-5

Printed in Germany

www.muensterverlag.ch

Für Christiane, Elisabeth, Toni und Wolfgang

Nicht nur erschaffen die Wörter die Dinge. Vielheiten von Wörtern und die entsprechenden Vielheiten von Dingen bilden Welten, die außerhalb von uns und so, wie wir sie uns vorstellen, zu existieren scheinen.

Jean Francois Billeter

Inhalt

PROLOG

Gefühlte Paprika

Schatztaucher

OKTOBER

Die süße Maus

Schau Tal

Die Fänger im Gebüsch

NOVEMBER

Der mit dem Floh tanzt

Die Dumky-Falle

Letzte Lücken

Die Höhle des Löwenzahns

Stell dir diese Stelle vor

DEZEMBER

Cäsars Brief

Erhoffte Sünden

Wiegenetz

Mutter minus Vater

Wie der KGB das Bewusstsein verlor

Von Enten und Elchen

Sehr böse Fische

JÄNNER

Das Rattern der Rollen

Kodex Hager

Die Lackrocknymphe

Gegenwartsgunst

FEBRUAR

Gesang für einen fröhlichen Weltuntergang

Lob des Lobs

Die Nichtbesteigung der Eiger-Südwand

Jesus von Obwalden

MÄRZ

Was tun Sie

Ganz oder Max

Der Wetterchor

PROLOG

Gefühlte Paprika

«Grüezi», sage ich zu dem Taxifahrer, der seinen semmelgelben Mercedes am Straßenrand vor dem Langenthaler Bahnhof geparkt hat. Er lugt durch das halbgeöffnete Fenster und sieht mich skeptisch an. Wie die meisten seiner Berufskollegen ist auch er ein erfahrener Psychologe und wittert, dass er mit mir kein Geschäft machen wird. Ich fühle mich wie ein Aktienkurs im freien Fall.

«Können Sie mir bitte sagen», frage ich ihn durch den Fensterspalt, «wohin ich gehen muss, um zur Villa von Frau Lydia Eymann zu kommen?»

Statt zu antworten nimmt er mich verschärft ins Visier. Mir imponiert das. Es gibt nicht mehr viele Menschen im gehetzten Mitteleuropa, die sich wortlose Nachdenkpausen gönnen. Ein berühmter Anthropologe hat sogar die Besonderheit unserer Spezies damit begründet, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier fähig ist, zwischen Reiz und Reaktion innezuhalten. Er nannte diesen Moment Hiatus. Mit seinem Hiatus erinnert mich der Taxifahrer daran, zu welcher tollen Gattung von Lebewesen wir beide gehören.

«Nein», sagt er plötzlich.

«Was? Wieso können Sie mir das nicht sagen?»

«Weil ich es nicht weiß.»

«Aha.»

Die Worte der Stiftungs-Sekretärin kommen mir in den Sinn: Fragen Sie einen Taxifahrer. Der wird Ihnen sagen, wo Sie hinmüssen.

«Aarwangenstraße 55», versuche ich es mit der Adresse. «Dort steht die besagte Villa. Können Sie damit etwas anfangen?»

Der Fahrer sieht mich leidgeprüft an und holt so vorwurfsvoll Luft, als hätte er heute gar nicht mehr vorgehabt zu atmen.

«Stadtauswärts», ringt er sich zu einer geographischen Einschätzung durch, die er sogar mit einer kleinen Geste unterstützt: Mit seinem linken Daumen zeigt er über seine linke Schulter. Würde man der von ihm angedeuteten Geraden mit einer Trägerrakete folgen, flöge man bald durch die Umlaufbahn der Venus.

«Also diese Richtung», fasse ich seine Äußerungen zusammen und deute ebenfalls ins erweiterte Universum.

«Ja», bestätigt er, «einfach die nächste große Straße links und dann immer geradeaus, Richtung Aarwangen.»

«Ich bedanke mich», sage ich und mache eine kleine Verbeugung. Je ausgeprägter der fremde Unmut, desto größer meine Demut. Eine der Formeln, die mein Leben bestimmen, seit es vor knapp fünfzig Jahren begonnen hat.

«Neun Uhr und dreizehn Minuten», lese ich leise auf der Bahnhofsuhr. Seit ich in der Schweiz bin, hat sich die Frequenz meiner Selbstgespräche deutlich erhöht. Mein Vorsprech-Termin in der Villa beginnt um Punkt elf. Genug Zeit, um vorher noch das Bahnhofsrestaurant zu besuchen.

«Toast Hawaii … 18 Franken», buchstabiere ich. Beim Eingang hat jemand die Speisen mit weißer Kreide auf eine schwarze Tafel geschrieben. Das sind über zweihundert alte österreichische Schillinge für zwei dünn gefüllte Toastscheiben und einen matschigen Ananaskringel.

Der Reserveschamane in mir beschwört gerne verloren gegangene Referenzrahmen. In meinem fernen Heimatland zaubert der Klang des Wortes Schilling gleichaltrigen oder älteren Menschen ein mitfühlendes Lächeln ins Gesicht. Jüngere dagegen erschrecken oft und fragen sich zumeist vergeblich, in welchem Abschnitt der Steinzeit sie diesen Begriff verorten sollen.

«Gefüllte Paprika», lese ich in der zweiten Zeile unter dem Toast. Als ich mir sicher bin, dass mich niemand beobachtet, auch nicht die umtriebige Kellnerin, fahre ich meine Fingerspitze aus, tippe auf den Kreidestaub und mache aus dem ersten der beiden l ein h. Hoffentlich wird das einer der nächsten Gäste wahrnehmen und die Kellnerin danach fragen, wie man sich das vorstellen soll, Gefühlte Paprika.

«Uf Wiedrluegä», sage ich halblaut zu niemand Bestimmtem. Uf Wiedrluegä und Grüezi auszusprechen, fühlt sich einfach authentisch an. Essen werde ich doch nichts. Ich bin viel zu nervös. Vor lauter Zittern würden mir neun von zehn Reiskörnern von der Gabel fallen. Mein Hinterkopf denkt ununterbrochen an die Bedeutung der bevorstehenden Befragung.

«Dann such die Villa», sage ich mir, «statt hier weiter herumzustehen und Taxifahrern und Kellnerinnen auf die Nerven zu gehen.»

Am Ende des Bahnsteigs führt eine steile Betontreppe durch einen schmalen Schacht in eine Unterführung. Schon bevor ich den tiefsten Punkt erreiche, beunruhigt mich das Aufheulen der Autos. Vorsicht, sage ich mir, als ich auf den Fußgängerstreifen hinaustrete, der erstaunlich schmal ist. Würde man die Hand ausstrecken, könnte man die vorbeirauschenden Fahrzeuge tätscheln, vorausgesetzt, man hätte ihnen vorher zugewunken und sie dazu bewogen, ihre Geschwindigkeit zu drosseln. Manchmal tätschle ich parkende Autos, die mit laufendem Motor herumstehen, um sie zu beruhigen. Dabei stehe ich vor dem Dilemma, dass sich die als Besänftigung gemeinte Geste dem Fahrzeugbetreiber nicht immer als solche mitteilt.

Die Steinwände der Unterführung sind nackt. Was mich wundert. In Österreich stünde ich garantiert vor einem fünf Meter großen, berühmten Skifahrer, der grausam grinsen und versuchen würde, mich mit einem schrill verpackten Müsliriegel zu füttern. Wäre ich von der Lautstärke der Fahrzeuge nicht so irritiert, könnte ich hier sogar die Poesie der Leere genießen, auf die mich vor Jahren eine Wiener Verlegerin bei einer Buchmesse hingewiesen hat. Zuvor hatte ich sie gefragt, warum in ihren Gedichtbänden nur ein oder zwei Sätze pro Seite stünden und sonst nichts.

«Haben Sie noch nie etwas von der Poesie der Leere gehört?», fragte sie zurück.

«Ja», sagte ich, «aber die kann sich doch nur entfalten, wenn sie nichts kostet. Wer Leere verkauft, macht sie zur Ware. Und Ware hat eher eine Funktion als einen Zauber. Bezahlte Liebe ist ja auch kein poetisches Großereignis.»

Die traurig schönen Steinwände haben dieses Fragment meiner Vergangenheit wahrscheinlich nicht umsonst an die Oberfläche meiner Wahrnehmung gespült. Womöglich möchte mir mein Unterbewusstsein vor Augen führen, welche Gesprächsfiguren ich beim bevorstehenden Auswahlverfahren eher vermeiden sollte.

Von der Talsohle der Unterführung führt der schräg ansteigende Fußgängerstreifen zu einem Kreisverkehr, an dessen Rand ich stehen bleibe und versuche, die gröbsten Eindrücke zu sortieren.

«Ein Backenzahn in Menschengröße», beschreibe ich mir die Skulptur, die auf der schräg gegenüberliegenden Seite des Betonrings aus einem schmalen Grünstreifen ragt. Der Zahn ist aus Plastik, weiß und grün bemalt und gibt mir zu verstehen, womit die Menschen beschäftigt sind, die in dem modernen, länglichen Gebäude dahinter arbeiten.

Direkt gegenüber befindet sich ein umzäunter Garten und darin ein großes, altes Haus. Nachdem ich die Straße überquert habe, bleibe ich vor dem Eingangsbereich stehen und suche vergeblich nach einer Hausnummer.

«Macht nichts», murmle ich. Dieses Haus, denke ich weiter, kann nicht die Villa von Frau Eymann sein. Sein Aussehen steht in einem krassen Widerspruch zu meiner Vorstellung von seinem Aussehen. Nach einem letzten Blick über den Gartenzaun sage ich mir noch: Das Haus, das du suchst, hat kein Dach das so tief in seine Fassade hängt wie eine Winterhaube bei minus zwanzig Grad. Wo sollen hier ein Kindergarten, eine Stipendiatenwohnung, eine legendäre Bibliothek und ein ganzes Geschoß für eine vierköpfige Haushälterfamilie Platz haben?

Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass Kindergärten in der Schweiz einen familiären Charakter haben, oft in Privathäusern untergebracht sind und selten von mehr als zehn bis fünfzehn Kindern besucht werden. Außerdem bin ich jetzt noch nervöser geworden und wie immer in solchen Momenten Opfer meines Selbstwertmangels, der einen seiner ganz großen Auftritte hat und mich gnadenlos weiterscheucht zu einem imaginären anderen Haus, das auf jeden Fall heller, leuchtender, einladender und vor allem moderner sein muss.

Nach einer kleinen Wanderung entlang der Hauptstraße erreiche ich einen Coiffeur-Salon. Der einzige im Moment aktive Coiffeur, ein junger, schwarzhaariger Bursche, hört sofort auf sich um seinen Kunden zu kümmern und starrt mich durch das Schaufenster an. Das Wort Coiffeur, besonders wenn es in leuchtenden Großbuchstaben über einem Geschäftseingang prangt, erinnert mich immer an Worte, die mit Koi- anfangen. Koi-Karpfen zum Beispiel, oder Koinzidenz. Der Coiffeur, sein Kunde und ein paar andere junge Männer, die alle noch auf ihre frisürliche Behandlung warten, fixieren mich durch das Glasquadrat des Studios, als hätten mich soeben ein paar Klingonen mit ihrem Ufo direkt vor ihren Augen abgesetzt. Notgedrungen starre ich zurück. Dabei fällt mir auf, dass alle mit der gleichen Frisur gesegnet sind. Kleinfingerlange, steil in den Himmel ragende Haare, grauschwarzglänzend wie verkohlte Fichtenstämme nach einem Waldbrand, dessen Einzugsgebiet teilweise von kahlen Schneisen durchzogen ist. In einer Vision sehe ich auf diesen Schneisen Lastautos fahren, die das gefällte Holz der Haarwaldbesitzer ebenso abtransportierten wie die verschmorten Bruchstücke ihrer bereits geschleuderten Gedankenblitze.

«Grüezi!», rufe ich auch hier frisch und zuversichtlich direkt in die durch die Glasspiegelungen etwas verschleierten Gesichter und versuche, die wechselseitige Schrecksekunde mit einem netten Zunicken zu entschärfen. Auf ihre Weise sind das bestimmt freundliche Burschen. Aber meine Erscheinung im Allgemeinen und meine Haare im Besonderen bringen sie bis ganz an den Rand ihres Fassungsvermögens. Deshalb trete ich von meinem Plan zurück, auch sie nach der Villa zu fragen. Das stumme Entsetzen der Männer hat mein volles Verständnis. Im krassen Gegensatz zu ihren Haaren sehen meine aus wie zwei flachsbraune Gästepantoffeln, von denen der kleine, verkümmerte seitlich und der größere zentral auf meinem Kopf kleben, als hätte man sie dort mit besonders zäher Lamaspucke fixiert. So ein Anblick will erst einmal verarbeitet sein. Außerdem offenbart mein Seitenscheitel wortlos die Wertigkeit, die Haarmode für mich hat und die ungefähr auf einer Ebene mit einer Darmspiegelung angesiedelt ist. Die Idee, Haare als fulminanten Auftakt zu einer persönlichen Symphonie zu inszenieren, ist aus meinen beiden Bälgen mit einer Intensität verschwunden, welche die Jungs mit einer bis auf die Straße heraus spürbaren Beklemmung erfüllt.

Der nächste Mensch, dem ich ein paar dutzend Meter weiter begegne, ist eine Frau, die in einem Wohnwagen lebt, an dessen Dachvorsprung sie altes Papier zum Trocknen aufgehängt hat. Jedenfalls kommt es mir aus der Entfernung so vor. Erst als ich näher herantrete, erkenne ich, dass es sich bei dem Papier um Zeitungen handelt, die gar nicht alt sind und auch nicht getrocknet, sondern gekauft werden können. Vor mir befindet sich ein fahrbarer Zeitungs- und Tabakkiosk. Laut grüßend wende ich mich an die kraterartige Verkaufsnische, in der die Händlerin verschwunden ist wie eine Robbe in einem Eisloch beim Auftauchen eines Eisbären.

«Entschuldigung. Könnten Sie mir bitte sagen, wo sich die Villa von Frau Lydia Eymann befindet? Laut meinem Plan müsste sie hier irgendwo in der Gegend sein.»

Zuerst passiert gar nichts. Dann erhebt sich eine Stimme aus dem diffusen Halbdunkel zwischen den Zeitschriften und Zigarettenpackungen.

«Da sind Sie schon vorbeigegangen. Sie müssen wieder zurückgehen. Das Haus, das Sie suchen, liegt direkt am Kreisverkehr.»

«Meinen Sie etwa das alte Haus mit dem himmelhohen Dach?»

«Ja, genau, das ist es.»

«Sind Sie sicher?»

Das Gesicht der Frau taucht zum ersten Mal so aus der Nische, dass ich es erkennen kann. Sie lächelt buddhamild wie der blinde Meister Po, wenn seinem Schüler Kwai Chang Caine, den er nicht umsonst Grünschnabel nennt, eine besonders infantile Frage gelungen war.

«Ich bin absolut sicher. Schließlich bin ich hier aufgewachsen und kenne meine Nachbarschaft.»

«Das bezweifle ich nicht», sage ich, «aber wissen Sie, ich habe mir das Haus total anders vorgestellt.»

«Was wollen Sie denn dort?»

Ja, das frage ich mich auch. Mittlerweile bin ich so gesättigt mit Hoffnungslosigkeit, dass ich den Sinn meiner Bemühungen nicht mehr erkennen kann.

«Ich habe einen Vorsprechtermin», weihe ich die Kiosk-Frau in die näheren Umstände meiner Nahzukunft ein.

«Ah, ich verstehe. Dann sind Sie also einer von den Kandidaten.»

«Genau.»

«Da wünsch ich Ihnen aber viel Glück.»

«Herzlichen Dank. Das kann ich brauchen.»

Schatztaucher

«Mich besitzt noch kein Handy», verkünde ich vor dem Gremium und bereue es sofort. Um den Preis einer halblustigen Bemerkung habe ich sieben ehrwürdigen Schweizern indirekt erklärt, dass sie im Gegensatz zu mir alle am Gängelband ihrer Mobiltelefone hängen.

«Wäre das ein Problem?», füge ich verlegen an.

Niemand antwortet. Alle blicken hinüber zum Präsidenten der Stiftung. Er sitzt am Ende des langen Tisches, rückt seinen Oberkörper zurecht und atmet tief ein. Warum hört er gar nicht mehr auf, Luft zu holen? War meine Frage wirklich so betrüblich, dass er jetzt besonders viel Sauerstoff braucht? Oder ist er in seiner Freizeit Apnoe-Taucher, der hier für einen Abstieg in den Zürcher See trainiert, um sagenhafte Schätze zu bergen?

«Nicht unbedingt», versichert er uns.

Immerhin schmunzeln zwei der vier anwesenden Frauen über meinen Handyspruch. Besonders die Sekretärin scheint ehrlich amüsiert. Ihre Lächler perlen wie Sektbläschen durch die angespannte Sphäre des Hearings. Vor zwei Wochen hat sie mich in Österreich angerufen und über den Ablauf des Auswahlverfahrens informiert. Und heute, gleich nach meiner Ankunft in der Villa, überreichte sie mir wortlos den Fahrtkostenzuschuss. Das neutrale Kuvert steckt jetzt in der Innentasche meines Sakkos und fühlt sich an wie ein Trostpflaster für diejenigen Kandidaten, die sich mit ihrem vorlauten Mundwerk um die Chance ihres Lebens reden.

«Kehren wir doch die Befragung einmal um», schlägt der Kassier vor. Um Punkt Elf, zu Beginn der Sitzung vor etwa einer halben Stunde, wurden mir alle Stiftungsräte vorgestellt. Ihre Namen konnte ich mir nicht merken. Nur ihre Funktionen habe ich halbwegs im Gedächtnis behalten. Es gibt einen Präsidenten, eine Sekretärin, einen Kassier und die einfachen Mitglieder des Rates: die Direktorin eines Gymnasiums, einen vergleichsweise jungen Stiftungsrat, eine ernste ältere Dame sowie eine sehr ernste ältere Dame. Ihr Blick ist gerade noch nicht grimmig, aber auf eine unheimliche Weise objektiv. Wenn sie mich ansieht, wird mir sofort klar: Hier und jetzt zählt Leistung – mit einer spontanen Gegenübertragung brauche ich nicht zu rechnen.

Der Kassier verschränkt seine Finger und schiebt sie wie einen kleinen Pflug Richtung Tischmitte. Das edle Holz fungiert als geheime Energieladestation. Durch die Reibung strömt den Reibern neue Kraft in die Venen. Auch die anderen Ratsmitglieder berühren die fein geschliffene Platte mit ihren Fingern und Unterarmen. Nur ich hocke im Respektabstand neben der Kante und starre auf die Mahagonihochebene wie eine Möwe, die übers offene Meer fliegt und überlegt, was mit ihr passiert, sollte sie vorübergehend auf dem großen Frachtschiff landen.

«Was würden Sie gerne von uns wissen? Haben Sie Fragen zur Wohnung? Oder zum Umfeld der Lydia-Eymann-Stiftung?»

Vor lauter Ehrfurcht vertrocknet mir der Gaumenzapfen. Ich bin schon froh, dass ich es überhaupt bis hierher geschafft habe. Aber die Aussicht eines der am höchsten dotierten Literatur-Stipendien im deutschen Sprachraum tatsächlich zu bekommen, übersteigt den Horizont meiner Hoffnung.

Außerdem bin ich immer befangen, wenn ein Bär theoretisch zerlegt wird. Natürlich kann ich ihn praktisch schon riechen. Aber das können die anderen Jäger auch. Ich bin nur einer von vier Schreiberlingen, die man persönlich in die Schweiz eingeladen hat. Zuvor haben die Stiftungsräte jeweils zwanzig bis dreißig Textseiten von ungefähr fünfzig Bewerbern gelesen. Aber nur einer von uns wird hier einziehen. Dass ich dieser Auserwählte sein könnte, erscheint mir aussichtslos.

«Darf der Stipendiat», frage ich, «ab und zu Freunde in die Wohnung einladen?»

«Wie viele Freunde?», fragt die Direktorin.

«Sieben», höre ich mich sagen.

Der Kassier stutzt.

«Wieso wissen Sie das so genau?»

Ja, das frage ich mich auch. Wie komme ich auf diese Zahl? Sieben ist eine archaische, eine magische Zahl, hoch aufgeladen mit Todsünden, glorreichen Helden und unbedingt zu begehenden Brücken. Sieben ist aber auch ein panischer Reflex der Hirnregionen, der, wie so vieles an mir, entwicklungspsychologisch noch im Pleistozän hängt. Vermutlich hätte ich gerne eine verlässliche Horde aus sieben Freunden. Manchmal trenne ich in Gedanken die Spreu vom Weizen, also die Bekannten von den Freunden, und komme dann auf Zahlen, die schwanken, je nach den Kriterien, die ich anlege, die aber immer von meiner Stimmung abhängen. In gütigen Momenten nehme ich auch die neuen Lebensgefährten meiner Freunde als Freunde dazu. Aber wenn ich mir ganz ehrlich bin, und diese Momente gibt es, je älter ich werde, umso öfter, dann bleibt nicht viel übrig. Die Menschen, die mir wirklich nahe sind, bringen immer wieder einmal Menschen in meinen Lebenskreis, die mir wenig bis gar nicht nahe sind. Das zu erkennen, dauert nicht lange. Um es mir einzugestehen, brauche ich länger. Bis ich es endlich ausspreche, vergehen mitunter viele, zermürbende Jahre.

«Haben Ihre sieben Freunde auch keine Handys?», durchbricht der jüngste Stiftungsrat mein hilfloses Schweigen. Betonungsmäßig hat er sich auf das Wörtchen sieben geworfen wie ein Rockstar in die ausgestreckten Arme eines frenetischen Publikums.

«Nein», gestehe ich, «sie haben alle Smartphones. Und spätestens wenn die letzte österreichische Telefonzelle eingestampft sein wird, werde ich mir ein Smartphone kaufen müssen. Es ist leider nur eine Frage der Zeit, bis auch ich dem größten Gott huldigen werde, den diese Menschheit je angebetet hat. Aber ich fürchte diesen Moment. Ich fürchte mich davor, keine Wahl mehr zu haben und hineingestoßen zu werden in die gnadenlose Dichte seines allumfassenden ‹Liebesnetzes›.»

Niemand reagiert, aber alle scheinen zu überlegen, was die Anführungszeichen bedeuten, die ich mit meinen Zeige- und Mittelfingern rund um das Wort «Liebesnetz» in die Luft gezeichnet habe. Genau vor solchen Momenten wollte mich mein Unterbewusstsein schon in der Unterführung warnen. Auf Menschen, die mich nicht kennen, können meine bombastischen Metaphern zweifellos zynisch wirken. Dabei ist mein Zynismus nur eine Patina auf einer Verzweiflung, die sich meiner Hilflosigkeit gegenüber den großen Umwälzungen verdankt, die unser Leben täglich schwieriger machen, obwohl sie genau das Gegenteil behaupten und vorgeben uns zu dienen.

Die Juroren bemühen sich, mich nicht ständig anzusehen. Andererseits müssen sie mich ansehen. Sie brauchen ein Bild von mir. Sie müssen mich mit den anderen Kandidaten vergleichen.

«In der Wohnung», nimmt der Präsident das Wort wieder an sich, «gibt es ein altes Festnetztelefon und einen Internetanschluss.»

«Festnetztelefone finde ich wunderbar», lobe ich die alten Bakelitklumpen. In Wahrheit gilt das Lob dem Präsidenten. Indem er die Atmosphäre versachlicht, hilft er mir, die Wogen meiner immer wiederkehrenden Nervosität zu glätten. Hinter mir liegen acht Stunden Zugsfahrt, während der ich mich auf diese Gesprächsrunde vorbereitet habe. Ich las Biographien berühmter Schweizer Schriftsteller und weiß jetzt, dass Friedrich Dürrenmatt gerne Würste gegessen hat. Außerdem hätte er seine großartigen Krimis niemals freiwillig geschrieben. Ihre Entstehung verdankt sich dem nachdrücklichen Befehl seiner Frau. Setz dich hin und schreib endlich einmal etwas, das Geld bringt!

Bis jetzt konnte ich dieses Spezialwissen nur teilweise verwerten. Mit ihren würdevoll hochgezogenen Schultern erinnern mich die Stiftungsräte an lebensgroße Pokerkarten. Schweizer Asse und Könige, die geduldig auf den besten Zeitpunkt warten, um sich auszuspielen. Sie tragen überwiegend dunkle, unaufdringliche, aber elegant und teuer wirkende Kleidungsstücke. Hier kostet eine einzelne Socke mehr als mein gesamtes Outfit. Der jüngste Stiftungsrat dürfte um die Vierzig sein. Die sechs anderen befinden sich altersmäßig schon in der der zweiten Halbzeit.

«Warum finden Sie Festnetztelefone wunderbar?», bohrt die strenge Rätin nach.

«Weil Festnetztelefone ihre Benützer nicht ständig verfolgen.»

«Und Sie meinen», bleibt sie am Ball, «wenn ich Sie richtig verstehe, dass Handys die Menschen verfolgen?»

«Ja.»

«Aber bei einem Verkehrsunfall rettet der schnelle Handy-Anruf mitunter Menschenleben», erklärt der jüngste Stiftungsrat.

«Das ist zweifellos ein immenser Vorteil», gestehe ich. «Das Mobiltelefon kann äußerst hilfreich sein. Andererseits beunruhigt mich das Ausmaß der Entzauberung, die von ihm ausgeht. Rilke sagt: ‹Ich will immer warnen und wehren, bleibt fern, die Dinge singen hör ich so gern.› In meiner Wahrnehmung zerstört das Handy genau diese befreiende Distanz zu den Dingen. Es verflechtet seine Benutzer mit einer flirrenden Oberfläche, in der die unterschiedlichsten Bedeutungen gleichgeschaltet werden und die Achtsamkeit für das Besondere verloren geht. Ich aber brauche nichts so dringend wie meine Achtsamkeit. Sie ist mein Seismograph, mit dem ich Freunde und besondere Momente erkennen kann. Außerdem hilft sie mir Fettnäpfe zu entdecken, sodass ich wenigstens nur in jeden zweiten steige.»

«Warum steigen Sie überhaupt hinein, wenn Sie den Fettnapf doch schon entdeckt haben?», will die sehr strenge Rätin wissen.

«Weil ich ein typischer Nachkriegs-Österreicher bin. Und dieser Typus kauft Abfangjäger, von denen er intuitiv weiß, dass sie schrottreif sind. Das ist aber nur der erste Teil des Selbstbetrugs. Der typische Österreicher meiner Generation spürt nämlich auch, dass die großartigen Gegengeschäfte, die man ihm vor dem Kauf verspricht, sich nach dem Kauf als Luftschlösser entpuppen werden. Dennoch kauft er. Er würde sogar dann noch kaufen, wenn er sich die Teile selbst zusammenbauen müsste, obwohl er keine Ahnung hat vom Flugzeugbau.»

«Warum tut er das?», erweitert die sehr strenge Rätin ihre Frage.

«Weil ihm erfolgreich suggeriert wurde und wird, dass er die Kriegsschuld seiner Mütter und Väter noch immer zu tilgen hat. Dafür muss er bis in eine unabsehbare Zukunft hinein bezahlen. Mit schlechtem Gewissen, Demut, Duckmäuserei und viel, viel Geld. Auch und gerade dann, wenn er ganz offensichtlich übervorteilt wird.»

«Wer suggeriert den Österreichern ihre Schuld?», kreist die Sekretärin weiter um dieses Thema.

«Der Zeitgeist», antworte ich.

«Und dieser Zeitgeist», nimmt die Direktorin das Hegelwort auf, «hat auch Ihnen persönlich suggeriert, dass Sie in jeden zweiten Fettnapf zu steigen haben?»

«Ja», gebe ich zu, «für einen Österreicher ist das gar keine schlechte Quote. Dass ich überhaupt schreibe ist ja schon der Inbegriff von Feigheit. Eigentlich wollte ich Maler werden. Aber mein Vater, der ein Kriegs-Österreicher war und selbst gemalt hat, hat mich aus diesem Terrain verdrängt. Und gehorsam wie ich war, habe ich mich auch verdrängen lassen.»

«Wie hat er Sie denn verdrängt?», fordert der Kassier eine Präzisierung.

«Er hat mir alle Bilder und Zeichnungen weggenommen, die ich als Jugendlicher gemalt habe», entberge ich dieses private Geheimnis. «Er hat sie alle konfisziert und so versteckt, dass ich sie nicht mehr finden konnte.»

«Warum?», fragt er weiter.

«Das habe ich meine Mutter auch gefragt», antworte ich. «Sie hat mir seine Übergriffe damit erklärt, dass es in ihm arbeitet. Mit dieser Formulierung konnte ich lange Zeit nichts anfangen. Also habe ich immer wieder nachgefragt, was das ist, das in meinem Vater arbeitet. Irgendwann hat meine Mutter endlich Farbe bekannt und gesagt, der Krieg. Hitler hat meinen Vater noch als Siebzehnjährigen an die Front nach Afrika geschickt. Dort hat er als einziger seines Bataillons überlebt. Nach seiner Rückkehr war er nur noch äußerlich ein Mensch. In seinem Inneren ist er lebenslang ein Soldat geblieben und hat weiter gekämpft.»

«Wogegen genau?», wirft die strenge Rätin konzentriert ein.

«Gegen die Idee», antworte ich, «dass das Leben auch schön sein kann. Mein Vater hat nichts so sehr bekämpft wie die Lebensfreude in all ihren Erscheinungsformen.»

«Warum?»

«Weil Lebensfreude in seiner Erfahrung die größtmögliche Lüge war. Wo immer sich Anzeichen dieser Lüge gezeigt haben, ist der Krieger in ihm erwacht. Und dieser Krieger war unerbittlich. Besonders gegenüber seiner Frau und seinem Sohn. Er hat mir das Malen ausgetrieben. Im Geheimen habe ich dann angefangen zu schreiben. Das war leichter vor ihm zu verbergen.»

«Also ist Schreiben nur eine Notlösung für Sie?», fragt die Direktorin.

«Am Anfang war es das bestimmt», gebe ich zu. «Als junger Mensch bin ich stundenlang vor den Prachtbildbänden in unserer Bibliothek gesessen … Picasso, Beckmann, Ensor, Matisse und Wölfli … Ich habe mich auf ihre Bilder gestürzt wie auf Rettungsinseln. Ihre Werke waren meine Verstecke und gleichzeitig eine Verheißung.»

«Verstecken Sie sich noch immer vor Ihrem Vater?», fragt der Präsident.

«Ja und nein», antworte ich, «er ist vor zwei Jahren gestorben.»

Der Präsident hebt seinen Kopf noch eine Spur höher, dann fährt er fort.

«Haben Sie nach seinem Tod nicht erwogen Maler zu werden?»

«Erwogen schon. Aber so viel neue Freiheit auf einmal hat mich völlig überfordert. Statt endlich zu malen, habe ich mir andere Überväter gesucht, denen gegenüber ich meine alten Verhaltensmuster beibehalten kann. Leider.»

«Und Ihre Mutter», fragt die besonders strenge Rätin zum ersten Mal nicht fordernd, sondern mit einem spürbar neuen, milderen Ton, «hilft Sie Ihnen nicht bei diesem Erneuerungsprozess?»

Ich schüttle den Kopf.

«Nein. Sie kann sich nicht einmal selber helfen. Ich liebe meine Mutter. Aber ich hasse ihre Unterwürfigkeit, ihren vorauseilenden Gehorsam, den sie durch ihre sklavische Existenz so abgrundtief in mir verankert hat. Mein Vater hat meiner Mutter und mir immer die Welt erklärt und uns ganz genau gesagt, was richtig und was falsch ist. Und jetzt, wo er nicht mehr da ist, suche ich mir sofort andere Diktatoren, die mich anleiten und mir sagen, wo es langgeht und was richtig ist.»

«Wen zum Beispiel?», fragt der jüngste Rat.

«Das Smartphone ist so ein Kandidat», antworte ich. «Würde ich es in meine Nähe lassen, dann würde es mir, so wie mein verstorbener Vater, permanent diktieren, wie ich die Dinge zu sehen habe. Nämlich nach Maßgabe seiner Bilder, der Bilder, die auf seinem Display erscheinen. Aber ich habe es so unendlich satt, fremdbestimmt zu werden, dass ich es, um frei zu sein, sogar in Kauf nehme, bei einem Unfall kein Handy dabei zu haben. Ich träume von einer Freiheit, die mir gegenüber dem System die Wahl lässt, nicht innerhalb seiner Normen. Ich will auch nicht alles, was ich esse, im Supermarkt oder im Restaurant kaufen müssen. Deshalb fische ich, seit ich alleine in Gummistiefeln stehen kann. Zwischen mir und dem selbstgefangenen Fisch gibt es keinen Importeur, keinen Händler, keinen LKW, keinen Tiefkühlregaleinräumer und keine Kassiermaschine. Zwischen mir und der Bachforelle gibt es keine Vorschriften, Regeln und Befehle, nur den Rausch der unmittelbaren Begegnung.»

«Würden Sie hier in der Schweiz von dieser Freiheit gegenüber dem System schreiben?», fragt die Direktorin.

«Auf jeden Fall», antworte ich, «das versuche ich immer. Aber oft, wenn ich die Worte dann unten am Papier sehe, bekomme ich Angst und lösche sie wieder.»

«Angst wovor?», möchte der Präsident wissen.

«Vor dem Zerbrechen meiner Freundschaften», antworte ich. «Ich schreibe verhältnismäßig oft über meine Freunde, weil ich sie am besten kenne und an ihnen von außen sehen kann, was ich an mir selbst nicht oder weniger gut bemerke. Dabei gerate ich in ein furchtbares Dilemma. Wenn ich sie idealisiere, dann ist der Text uninteressant, reines Geplänkel. Meine Freunde sind nur auf bestimmten, mehr oder weniger großen Terrains meine Freunde. Es gibt genug Bereiche, wo ich keine Schnittmengen mit ihnen finde und eine schauerliche Fremdheit zwischen uns spürbar wird. Indem ich darüber schreibe, sehe ich plötzlich, wo wir uns tatsächlich berühren, verstehen und wertschätzen können und wo die Grenzen sind, an denen wir einander fremd werden und das Verständnis füreinander anfängt zu bröckeln.»

«Haben Sie aufgrund eines Textes schon einmal einen Freund verloren?», fragt mich die Sekretärin.

«Ja, eine Freundin», gebe ich zu. «In meinem zweiten Roman Grün wie Schnee habe ich über sie und Ihren Vater geschrieben. Natürlich in verklausulierter Form, ohne Klarnamen. Aber meine Freundin war entsetzt. Sie hat mir vorgeworfen sie und ihre Familie öffentlich an den Pranger zu stellen. Sie aber liebe ihren Vater und mich nicht mehr. Obwohl sich von dem Buch wie von allen meinen Büchern nur ein paar Exemplare verkauft haben, unterstellte sie mir, ich hätte mit meinem Text die gesamte Weltöffentlichkeit über ihre Familie informiert. Das hat sie dann dazu veranlasst, mit mir zu brechen. Seit dieser Zeit habe ich oft darüber nachgedacht, ob meine Wahrhaftigkeit diesen Preis wert war.»

«Und», ergänzt die besonders strenge Dame beinahe zärtlich, «war es das?»

«Ich weiß es nicht», räume ich ein, «ich weiß es wirklich nicht und werde es wahrscheinlich nie wissen. Darin besteht ja das Dilemma, das mich immer wieder umtreibt, besonders aber beim Schreiben.»

«Und an welchen Texten würden Sie hier konkret arbeiten?», möchte die etwas weniger strenge Dame noch wissen. Auch ihre Stimme kommt mir spürbar aufgetauter vor.

«An meinem zweiten Krimi», antworte ich, «und einem Schweizer Tagebuch. Ich kenne dieses Land nur aus zwei Quellen. Aus den üblichen Klischees und aus dem Comic Asterix in der Schweiz. Sollte ich hier arbeiten dürfen, würde ich versuchen, mein eigenes Schweizbild zu entwerfen.»

Der Präsident nickt mir gemessen zu, lässt seinen Blick in die Runde schweifen und gibt sich schließlich einen Ruck. «Hat noch jemand eine Frage an den Kandidaten?»

Niemand äußerst sich mehr. Ein paar Stiftungsräte beenden sogar den Kontakt mit dem Tisch, indem sie zurück auf ihre Stühle sinken.

«Dann», wendet er sich wieder an mich, «danken wir Ihnen für die Geduld und die Ausführlichkeit, mit der Sie unsere Fragen beantwortet haben, und wünschen Ihnen noch eine angenehme Heimreise nach Österreich.»

«Ich danke Ihnen auch für die Fragen und die Lebenszeit, die Sie mir gewidmet haben», sage ich und erhebe mich aus dem Sessel. Die Sekretärin steht ebenfalls auf und begleitet mich nach draußen.

«Sobald eine Entscheidung gefallen ist», erklärt sie mir im Vorraum, «werde ich mich bei Ihnen melden.»

Sie drückt meine Hand, aber, kommt mir dabei vor, nicht mehr ganz so zuversichtlich wie bei meiner Ankunft. Dann huscht sie zurück in das Sitzungszimmer.

Die folgende Woche fühlt sich an wie ein Schiffbruch. Ohne Ruder und Kompass treibe ich auf einer glitschigen Planke über das tückische Meer der Ungewissheit. Leise, hoffnungsvolle Strömungen im steten Wechsel mit den gefährlichen Abwärtsspiralen laut gurgelnder Selbstzweifel. Am achten Tag meiner Odyssee ruft die Sekretärin tatsächlich an. Das diesjährige Stipendium, erklärt sie mir, wird erstmals geteilt. Zwischen einer Zürcher Autorin und mir. Jeder von uns bekommt ein halbes Jahr.

OKTOBER

Die süße Maus

«Philippa», sagt Frau Krczal-Gozani mit massiver Betonung der Vokale. Gleichzeitig schwingt ihre rechte Hand auf mich zu. Wahrscheinlich verbirgt sich darin ein Brandeisen, wie es Cowboys benutzen, um Kuhschenkel zu markieren. Mir wird sie jetzt ein großes E in die Haut brennen, um klarzustellen, dass ich ab heute zum Inventar der Eymann-Villa gehöre.

Wir stehen im Eingangsbereich, direkt am breiten Fuß der steilen Eichenholztreppe. Frau Krczal-Gozani ist soeben aus dem Keller aufgetaucht. Sie ist hier die burschikose Haushälterin und hält tatsächlich einen Teil des Hauses, nämlich den Wäschekorb. Beiläufig stemmt sie ihn an ihre mächtige Hüfte und schenkt mir den streng vorwurfsvollen Blick eines Piraten, der hier seinen Schatz verstecken möchte und dabei von einem Unbekannten gestört wird. Bis jetzt bin ich ihr noch nicht persönlich begegnet, weiß aber von der Stiftungssekretärin, dass Frau Krczal-Gozani die Dinge nicht nur im Griff hat, sondern manchmal auch im Schwitzkasten. Sowohl im Haus, als auch ums Haus herum und überhaupt.

«Bei uns ist das alles eher unkompliziert», fährt Frau Krczal-Gozani fort, mit einer Lautstärke, die prophylaktisch darauf Rücksicht nimmt, dass ich in meinem Alter schon mein Hörrohr vergessen habe könnte. «Verstehen Sie den Schweizer Dialekt oder soll ich Hochdeutsch mit Ihnen reden?»

«Hochdeutsch, bitte», ersuche ich, «vom Schweizer Deutsch hab ich bis jetzt nur verstanden, dass etwas kleiner wird, wenn man ein -li anhängt … und wenn das für Sie nicht zu aufdringlich wirkt, dann können wir auch gerne Du zueinander sagen. Wir werden hier ja immerhin ein halbes Jahr gemeinsam leben. Ich heiße Erich.»

«Philippa», wiederholt Frau Krczal-Gozani so laut, als solle eine weitere Philippa von der Straße hereingerufen werden. «Und mein Mann heißt Pavel, mein Sohn Reto und meine Tochter, die süße Maus, Sarah.»

Als sie von ihrer Tochter spricht, ändert sich der Klang von Frau Krczal-Gozanis Stimme. Ein plötzliches Leuchten überzieht die harten Ecken der Konsonanten mit dem weichen Schutzfilm einer unbedingten Liebe. Die Strahlen dieser Sonne perforieren meine Smalltalkschicht. Dort, wo sich meine unverlierbaren Erinnerungen sammeln, bekommt Sarah schon einen Platz, obwohl ich sie noch gar nicht gesehen habe. Ich werde sie auch später nicht oft sehen, weil sich der Kontakt zwischen dem Stipendiaten und der Haushälterfamilie in einer freundlich-unverbindlichen Distanz einpendeln wird. Aber jedes Mal, wenn ich Sarah zufällig treffen werde, wird sie mir mitteilen, dass sie jetzt zum Kunstturnen fährt oder vom Kunstturnen kommt. Sie wird das große Wort mindestens zwei Mal verwenden und sich damit zum ersten Mal etwas geben, das mir immer mehr abhandenkommt: Identität.

Philippa packt die Gelegenheit am Schopf und erklärt mir den Hausbrauch. Dass man in der Schweiz gelbe Streifen auf die vollen Müllsäcke klebt, ist mir neu. Aber es leuchtet mir ein. Durch den kostenpflichtigen Klebestreifen entsteht so etwas wie eine persönliche Beziehung zwischen dem Sack und seinem Befüller. Ich beschließe, meinen ersten Müllsack Horst zu nennen. Horst tritt aus seiner Anonymität, während ich mir als Befüller genauer überlege, was ich wegwerfe und wie ich das Weggeworfene besser falte oder dichter presse, um Platz zu gewinnen, Geld zu sparen und nebenbei die Umwelt zu schonen.

Nach dem richtigen Umgang mit dem Müll nimmt sich Philippa die Waschmaschine im Keller vor (alt und gut), das Postfach (flach aber tief, immer ganz nach hinten schauen), die Küche (alles da bis auf einen großen Spaghettitopf, da gab’s einen mittelschweren Anbrennunfall mit Reis, aber der neue Topf ist schon im Anmarsch), und schließlich das Rad (immer absperren), das den Stipendiaten zur Verfügung steht. Ein altes, neu bereiftes, mattweißes, da und dort rostiges, einfach sympathisches Damenfahrrad, auf das mich auch die Sekretärin schon hingewiesen hat. Es steht neben dem Hauseingang im Eck zwischen Gartenzaun und Stiege und wird meinen Erlebnisradius deutlich erweitern. In der Schweiz heißen Räder Velos. Soviel habe ich schon mitbekommen. Außerdem sagt Philippa nicht Müll, sondern Kehricht. In diesem Wort steckt Erich, mein Name. Das gibt mir zu denken. Womöglich ist Erich eine Kurzform von Kehricht. Bring den Erich raus und wasch dir die Hände, wir essen gleich. Wahrscheinlich bin ich näher mit dem Müllsack Horst verwandt, als mir lieb ist. Alles, was die Welt nicht mehr braucht, fällt in uns beiden zusammen. Und wir sortieren und entsorgen es dann. Horst, indem er sich später einmal über die Müllhalde ergießt, ich, indem ich aus meiner Wirklichkeit Essenzen sammle, sie in virtuellen Räumen zwischenlagere, von wo aus sie, gebunden als Bücher, wieder eintreten in den kleinen Kreislauf aus Gelesen-und-vergessen-Werden.

Bis jetzt habe ich sieben Bücher veröffentlicht. Bei sogenannten Kleinverlagen, die ihre Bezeichnung dem Umstand verdanken, dass alle ihre Autoren literarisch betrachtet Zwerge sind. Nicht einmal mit einer hohen Zipfelmütze würde einer von uns so weit in die literarische Landschaft hinaufragen, dass uns ein maßgeblicher Kritiker wahrnähme. Gelesen werden meine Werke, wenn überhaupt, nur von ganz wenigen, zumeist etwas schrulligen Menschen. Mindestens einer dieser Menschen ist eine alleinstehende, altersmäßig indifferente Bibliothekarin. Sie trägt dicke Brillen und hat einen bandoneonartigen Hund, der es lieber gemütlich angeht, weshalb sein Frauchen nicht so oft Gassi gehen muss und deshalb genug Zeit findet, sogar derart unbekannte Schreiberlinge wie mich zu lesen.

Vom Schreiben könnte ich fünf Stunden lang leben. Von nach dem Frühstück bis vor dem Mittagessen. Das ist die Zeit, in der ich kein Geld ausgebe und nichts esse, sondern nur schreibe und atme. Nahrung, Gewand und ab und zu ein paar Blumen für meine Frau Rita kann ich mir nur deshalb kaufen, weil ich einen Knäckebrotberuf habe. Ich bin Geigenlehrer. Das würde Herr Liebisch, einer meiner geistigen Mentoren, nicht so flapsig formulieren. In seiner Stilschicht bin ich ein Violinpädagoge. Zum Ausgleich nennt mich Margarita, meine Nürnberger Freundin, Wimmerholzquetscher. Sie findet das deshalb besonders lustig, weil das wimmernde Holz so schön mit meinem Nachnamen korrespondiert. Ihren Humor hat sie direkt aus der Hölle, wo sie nach eigenen Angaben auch zur Welt gekommen ist. Bei ihrer nächsten Wiedergeburt möchte sie einfach in einer emotional funktionalen Familie aufwachsen. Zum ersten Mal sind wir uns in der Drehbuchwerkstatt München begegnet. Dort ist das passiert, was Wilhelm Busch in eine wunderbare Kurzformel gefasst hat: Freunde erwirbt man nicht, Freunde erkennt man.

Momentan quetsche ich keine Töne aus meiner Geige. Dafür, dass ich im Verlauf von fünf Unterrichtsjahren auf ein Jahresgehalt verzichte, habe ich das letzte dieser fünf Jahre frei bekommen. Ein sogenanntes Sabbatical. Zwei Junglehrer vertreten mich und können erste Unterrichtserfahrung sammeln. Derweil sammle ich schon einen Vorgeschmack auf das nachberufliche Nirwana, das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden und von ehemaligen, noch im Beruf stehenden Kollegen bei zufälligen Begegnungen milde Lächler geschenkt zu bekommen.

«Hast du ein Auto?», fragt Philippa in einem Ton, als wäre das Auto eine ansteckende Hautkrankheit, was es terrestrisch betrachtet ja auch ist. Insgeheim danke ich Philippa für diese Assoziation, frage mich aber sofort, worauf ihre Sorge abzielt.

«Zuhause», transferiere ich den Gegenstand unserer gemeinsamen Betrachtung in eine ferne Zone.

«Dann ist es gut», atmet Philippa sichtlich auf, «weil hier beim Haus ist kein Platz für noch ein Auto. Wenn du eines hättest, müsstest du hinter der Kirche parkieren. Da hats noch freie Plätze.»

Vor mir, denke ich, liegen sechs freie Monate Stipendium. Genug Zeit, um die Schweiz und mein Ich einander auch ohne Auto näher zu bringen.

Als Bauwerk betrachtet wäre mein Ich ein kleiner Leuchtturm, der den Ort markiert, von dem aus Schächte, Spalten und Klüfte in eine ebenso unerschöpfliche wie geheimnisvolle Höhlenwelt führen. Dort unten lebt und gräbt die Kehrseite meines Ichs, mein Schreiberling. Diesen Schreiberling muss man sich wie einen pensionierten rumänischen Bergarbeiter vorstellen, der seine kärgliche Pension dadurch aufbessert, dass er unter Lebensgefahr die letzten Reste Kohle aus einem aufgelassenen Bergwerk kratzt. Der Schreiberling weiß auch nicht, was er im Lauf des Tages findet und ob er überhaupt zurückkehrt und ihm nicht die Decke auf den Schädel fällt. Gewiss ist nur, dass er viel gräbt und dabei alles Mögliche entdeckt. Schreiberling, Engerling, Schmetterling. Die unheilige Dreifaltigkeit meiner mysteriösen Identität.

Andererseits verstehe ich auch, dass große Dichter, echte Worttitanen wie Thomas Bernhard das Wort Schreiberling am liebsten kastriert hätten. Wahre schreiberische Größe ist nicht vereinbar mit einer Verkleinerungsformel. Als ihm anlässlich einer Preisverleihung die damalige Wissenschaftsministerin ein «Ja, wo ist denn der Schreiberling?» vor den Latz knallte, entging sie ihrer Skalpierung nur deshalb, weil Thomas Bernhard kein Rasiermesser bei sich hatte. Dass er diesen Wutausbruch schlucken musste, hat sein Leben um mindestens eine Woche verkürzt und sein Publikum um ganze Absätze gebracht, die er sonst noch hätte schreiben können.

«Eins sag ich dir gleich», merkt Philippa noch an, «mit dem Lesen haben wir es nicht so. Aber seit wir zwangsläufig Kontakt zu den Autoren hier haben, es kommt ja jedes Jahr ein neuer, also seither ist da was ins Rollen gekommen. Irgendwas ist bestimmt dran, an dem, was ihr da macht.»

«Ja, das hoffe ich auch irgendwie», danke ich Philippa für so viel spontanen Zuspruch. Dass jemand literarisch ins Rollen kommt, der sonst nichts mit Büchern am Hut hat, ist motivierend. Immerhin bauen der Autor und sein Leser zusammen ein fragiles und einzigartiges Kunstwerk, das gelesene Buch. Es unterscheidet sich vom geschriebenen Buch dadurch, dass es unsichtbar ist und nur in einer doppelt magischen Erinnerung existiert. An diesem Ort treffen sich der Geist des Autors und der Geist des Lesers und tun das, was Geister am besten können: Sie durchdringen einander. Sie bilden bei jeder Begegnung eine neue Lesart, die so noch nie in der Welt war. Manchmal glaube ich sogar, dass Bücher während des Lesens zu Inseln werden, wo zwei Menschen einander auf eine geheimnisvoll-intime Weise begegnen und sich dabei über einen längeren Zeitraum in emotionalen Tiefenschichten berühren, in Schichten, die noch unter der Sphäre der Angst liegen und etwas zu tun haben mit Schönheit und Zärtlichkeit und dem Gefühl anzukommen in einem Paradies, das vielleicht gar nicht jenseits der Sterne liegt.

«Das ist der rote Stromschieber», meißeln mir Philippas Worterzeugungsorgane ins Bewusstsein. Mittlerweile stehen wir vor dem Zählerkasten im Keller, wohin ich ihr gefolgt bin, «den darfst du nicht mit dem schwarzen verwechseln. Deshalb haben sie auch verschiedene Farben.»

Philippa zeigt mir wie ich den roten gegen den schwarzen austausche, falls ich einmal Wäsche waschen möchte. Dann erklärt sie mir, dass die Wohnung ihrer Familie über der meinen liegt. Daran knüpft sie noch eine Erklärung für den Lärm, den ihre Kinder in diesem Alter wohl unweigerlich machen werden. Die süße Maus hüpft gern polternd durch die Wohnung und der zehnjährige Reto hat gerade angefangen Posaune zu spielen.