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ERIK NOLMANS

DIE VIERZIG TAGE DER LAGUNE

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Impressum

© 2019 Münster Verlag GmbH, Basel

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung:

Wernie Baumeler, Art Director BILANZ

Umschlagsbild:

Alamy

Satz:

Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld

Druck und Einband:

CPI books GmbH, Ulm

Verwendete Schriften:

Adobe Garamond Pro, Copperplate

Papier:

Umschlag, 135g/m2, Bilderdruck glänzend, holzfrei; Inhalt, 90g/m2, Werkdruck bläulichweiss, 1,75-fach, holzfrei

ISBN 978-3-907146-50-7
eISBN 978-3-907146-84-2

www.muensterverlag.ch

«Denn er wusste, was dieser frohen Menge unbekannt war und was in den Büchern zu lesen steht: dass der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet (…) und dass vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und erneut aussenden wird, damit sie in einer glücklichen Stadt sterben.»

Albert Camus, Die Pest, 1947

Inhalt

Kapitel I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel II

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel III

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel IV

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Dank

Kapitel I.

I.

1.

Ich löse meine Hand vom Bootsrand und senke sie ins kalte Wasser der Lagune. Ich will mir den Schmutz von den Fingerkuppen waschen, immer wieder habe ich die Nägel ins aufgeweichte Holz meines Sitzes gekrallt, auf dem langen Weg durch die Untiefen der Palude di San Giacomo. Nun, in der breiten Fahrrinne, zieht das Wasser in Richtung Meer, unser Boot stemmt sich dagegen. Eine lange Reihe von Markierungspfosten, im Dunkel der Nacht verschwindend, weist uns den Weg. Faulendes Seegras klebt an den Pfählen, Plastikflaschen haben sich darin verfangen, braun vor Dreck. Der Gestank der modernden Pflanzen mischt sich mit den Ausdünstungen des verfallenden Körpers hier vor mir. Jedes Mal, wenn das Boot schwankt, entweicht der Leiche eine Wolke säuerlicher Luft und zieht zu mir herüber. Der Geruch hält Filiberto nicht davon ab, ununterbrochen das Gesicht seines toten Bruders zu küssen; er küsst ihn überall, auf die Stirn, die Wangen, ja sogar auf die verkrusteten Mundwinkel.

Mir ist speiübel, ich nehme die Hand wieder aus dem Wasser und halte sie vor Nase und Stirn. Gunther rudert wie verrückt, sein Oberkörper glänzt vor Schweiss. Er ist der Kräftigste von uns fünf; mit grimmiger Miene zieht er die Riemen, er pflügt das Wasser fachgerecht, wir kommen schnell voran.

Vitus hat sich im Bug platziert. Die Holzskulptur hält er seltsam verkrampft umklammert. Er drückt sich mit den Beinen steif gegen den Sitz, er kann sich nicht richtig festhalten, weil seine Hände nicht frei sind. Warum wirft er das Ding nicht einfach ins Wasser? Es ragt weit hinauf in den Nachthimmel, prahlerisch fast, ein unnötiges Risiko, man könnte uns entdecken, verdammt noch mal!

Die Schnallen seiner Samtschuhe kratzen an den Metallverstärkungen des Rumpfes. Er sieht lächerlich aus, mit seinem dreckverschmierten Umhang, seinem goldbestickten Gilet, seinen weissen Seidensocken. Die Ärmel seines Hemdes sind zerrissen und braun von der Rinde des Baumes, aus dem er die Skulptur letzte Nacht geschnitzt hat.

Filiberto wird immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt: «Maurizio, mio caro fratello», schluchzt er in einem fort. Wenn er doch nur das Gesicht des Toten endlich in Ruhe lassen könnte!

Einzig Luciano, der neben mir im Heck sitzt, ist völlig ruhig. Mit verkniffenem Mund blickt er geradeaus. In regelmässigen Abständen knirscht er mit den Zähnen – ich höre es deutlich, er muss seinen Zahnschmelz regelrecht zermalmen.

Das Schwierigste liegt noch vor uns. Wie wollen wir die Insel unerkannt erreichen? Und dann über die Mauer gelangen, mit dem toten Maurizio?

Wir müssten es einfach schaffen, hatte Filiberto gesagt, seit Generationen würden die Mitglieder seiner Familie am gleichen Ort begraben. Zuletzt hatten wir seinem Bitten nachgegeben, was hätten wir sonst tun sollen? Für mich hatte sein Vorhaben irgendwie etwas Erhabenes, was man von den meisten anderen Dingen in unserem von Krankheit und Tod beherrschten Palazzo nicht sagen kann. Doch jetzt, wo wir langsam auf die Friedhofsinsel San Michele zu rudern, packt mich die Angst.

Vor uns strahlt Murano in spöttisch hellem Licht, wir müssen einen weiten Bogen nach Süden machen, um im Schutze der Dunkelheit zu bleiben. Kurz nach dem Canale di Marani, dem breiten Fahrwasser, das bis ins Meer hinausführt, kommen wir wieder in untiefe Gewässer. Hier, östlich von San Michele, ist es dunkel und still.

Die Friedhofsinsel ist von einer hohen Mauer umgeben, von weitem sieht sie aus wie ein Kastell. Zierbögen schmücken die Mauern in gleichmässigen Abständen; zwei Türme ragen in den nächtlichen Himmel – sie gehören zum prunkvollen Haupteingang, der sich an der Venedig zugewandten, vorderen Seite befindet.

Wie wir unserem Ziel näherkommen, gewinnt auch Filiberto seine Fassung wieder. Er lässt von seinem Bruder ab und setzt sich auf, mit dem Handrücken wischt er sich die Tränen vom Gesicht. Er befiehlt Gunther, leicht nach rechts zu drehen, um auf der dunklen Ostseite an die Insel heranzufahren. Luciano setzt sich neben Gunther und hilft ihm beim Rudern. Die letzten Meter bis zum Ufer scheinen endlos.

Wir müssen vorsichtig navigieren, denn vor der Mauer liegen grosse, mit Algen bewachsene Steine, auf die wir sonst auflaufen würden. Nirgends gibt es eine Möglichkeit, mit dem Boot anzulegen, also beschliessen wir, es mit dem Anker zu befestigen. Gunther zurrt die Taue fest, wir steigen aus ins seichte Wasser.

Die Mauer ist höher als wir dachten. Sicher sechs Meter weit ragt sie hinauf. Es dürfte schwierig sein, an ihr hoch zu klettern – die fein gemauerte Backsteinwand bietet kaum eine Möglichkeit sich festzuhalten. Etwas ratlos stehen wir vor dem Hindernis. Natürlich haben wir ein Seil mitgenommen, welches wir wie ein Lasso werfen können, doch wo sollen wir es befestigen?

Filiberto macht im Wasser ein paar Schritte zurück und sucht mit zusammengekniffenen Augen die Mauer ab, als ob er nach etwas Ausschau halten würde. «Dort, seht doch, dort», sagt er auf einmal hastig und winkt mit dem Arm. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass ich jemals über den Anblick eines Kruzifixes erfreut sein würde, doch jetzt macht mein Herz einen Sprung: pechschwarz und mächtig ragt die Spitze eines Steinkreuzes über die Wand hinaus. Es muss wohl zu einem Grab dort irgendwo hinter der Mauer gehören.

In nur zwei Versuchen schaffen wir es, das Seil über das Kreuz zu werfen. Luciano steigt als erster auf die Mauer, Gunther ist der nächste; gemeinsam ziehen die Beiden dann Maurizio hinauf, den wir mit seinem Gürtel am Seil befestigt haben. Es folgen Filiberto, Vitus und ich.

Wie ich mich über den Rand der Mauer stemme, sehe ich, dass der Friedhof im Dunkeln liegt. Vor mir an den Wandgräbern brennen nur wenige, verlorene Kerzen und Grablichter. Zwischen den Gräbern verläuft ein Weg aus Kieselsteinen, auf beiden Seiten von Bäumen gesäumt.

Wir lassen uns langsam dem Seil entlang nach unten. Das Kreuz ist Teil eines Grabsteins, welcher in die Aussenwand eingelassen ist. Filiberto bedankt sich beim unbekannten Toten für den Hilfedienst, indem er mit dem Ärmel sorgfältig unsere Spuren vom Stein wischt.

Zu viert schultern wir Maurizio. Dann laufen wir los, hetzen durch die Gräberlandschaft, ohne uns noch einmal umzusehen, weiter und immer weiter. Ich höre über uns ein Geräusch und befürchte, es könnte ein Hubschrauber sein. Sucht man uns bereits? Doch es ist nur ein Linienflugzeug, das bei Mestre, auf der anderen Seite des Wassers, gestartet ist.

Ich schaue im Laufen einen Moment zu lange nach oben und stolpere über einen Mauervorsprung; es gelingt mir nicht, mich mit den Armen aufzufangen und ich knalle Brust voran auf den Boden. Die anderen traben unbeirrt weiter. Maurizios rechte Schulter, die ich zu stützen hätte, hängt schlapp nach unten, sein Arm streift fast den Boden.

Ich sehe sie rennen, Luciano, Gunther, Filiberto, in ihren Schnallenschuhen aus dem siebzehnten Jahrhundert, ihren Rüschenhemden, ihren Mänteln mit den bestickten Puffärmeln. Vitus hat sich sogar noch den dreieckigen Hut aufgesetzt, damit ihm sein langes, fettiges Haar nicht ins Gesicht fällt. Er läuft voran, die Holzfigur wie ein Totem vor sich hertragend, aus seinem Mund kommt dampfend der Atem, er sieht aus wie ein wahnsinniger Priester im Weihrauchnebel. Maurizios Kopf ist nach hinten geknickt, aus seinem Mund fällt im Takt der stampfenden Schritte der Träger Eiter auf die umliegenden Gräber.

Was mache ich hier eigentlich? Wie bin ich in Gottes Namen hier gelandet?

Ich drehe mich auf den Rücken und spreize die Arme. Der Boden ist kalt, Kieselsteine drücken schmerzhaft auf meine Kopfhaut. Über mir zieht Alitalia, Flug 1114, das Fahrwerk ein, die Flügel der Maschine bedecken für einen Moment den matt leuchtenden Mond.

2.

Alles begann mit Anna.

Jedenfalls für mich ist das so. Luciano glaubt, dass es einfach das Schicksal war, das uns übel mitspielen wollte.

Vielleicht ist ja auch der Kellner im Caffè Florian schuld, der ihr die Cioccolata calda in einer kaputten Tasse serviert hat. Am zersplitterten Rand hat sie sich den Mund verletzt, im Schmerz zieht sie die Lippen leicht nach oben, was ihr etwas Überhebliches, etwas Herausforderndes gibt. Dieser Mund war das Erste, was ich sah, als ich durch die Scheiben aus uraltem Murano-Glas äugte. Sie sass am Fenster, alleine auf dem antiken Sofa aus weinrotem Plüsch, völlig in sich versunken. Ist das wirklich erst vier Wochen her?

Es war der zweite Sonntag des Carnevale. In der Karnevalszeit ist der Genuss einer Tasse Cioccolata calda bei Florian ein Ritual. Nach sechzehn Uhr am Nachmittag sind die Räumlichkeiten den kostümierten Gestalten vorbehalten – hinein kommt nur, wer verkleidet ist, am bestem in traditionellem Gewande. Die Tagestouristen aus aller Herren Länder stehen sich vor dem Eingang des 300 Jahre alten Cafés dann jeweils erfolglos die Füsse platt.

Ich sehe den Moment noch genau vor mir: Sie sitzt da in Kleidern aus der Zeit der französischen Musketiere, weisses Hemd, braune Reiterhosen, hohe, bis weit über die Knie ragende Stiefel mit breiter Krempe. Auf dem Kopf trägt sie einen riesigen runden Hut, von fast einem Meter Durchmesser.

Am Tisch ihr gegenüber sitzt eine alte Dame in einem Rokoko-Kostüm, stilgerecht schwitzend unter einer bepuderten Perücke. Die Frau hat ihre Brüste mit einem Korsett zusammengeschnürt, der Ausschnitt ist tief, eine reichlich selbstbewusste Auslage für zwei so schrumpelige Äpfel. Neben der Alten sitzt eine junge Person in einem Ballkleid, ich weiss nicht, ist es ein Mann oder eine Frau, ihre Enkeltochter vielleicht oder ein Lustknabe. Die beiden füttern sich gegenseitig mit den Silberlöffelchen; einmal lecken sie gleichzeitig die Schokolade vom Stiel, ihre Zungen berühren sich.

Die Cioccolata calda im Florian hat einen legendären Ruf. Das Getränk kann, so erzählt man sich, Liebe und Leidenschaft erwecken. Ich glaube, der Gedanke daran hat mehr Wirkung als das Getränk selbst, aber das ist ja eigentlich egal. Die Schokolade schmeckt jedenfalls sehr gut, süss und kräftig. Die Magie des Getränks beruht vornehmlich auf dem hohen Gehalt an Theobromin im Kakao, man fühlt sich in der Tat aufgeweckt wie nach mehreren starken Espressi.

Mein Bruder und ich hatten geplant, in den Palazzo Correr zu gehen, wo eine Ausstellung über den spanischen Maler Goya lockt. Vitus zieht mich am Arm, er hasst den Markusplatz, die Leute, den Rummel. Wir seien doch erst letzten Sonntag hier gewesen, drängelt er.

Ich will wenigstens so lange vor dem Fenster stehen bleiben, bis sie mich ansieht, doch sie beugt sich nur noch tiefer über ihre Tasse, verschwindet unter ihrem Hut wie unter einem Sonnenschirm. Nur die Alte lächelt mir zu, mit Schokolade verschmierten Zähnen, ihr Pinocchio dreht sich ebenfalls um und schenkt mir einen Augenaufschlag. Ich lächle nett zurück und lasse mich dann von Vitus wegziehen.

Irgendwie hat mich eine seltsame Euphorie erfasst, doch sie währt nicht lange – Goya verdirbt mir die Stimmung gründlich. Seine Bilder sind ein einziger Schicksalsschrei der Kreatur Mensch: Geplagte Gestalten in einem Irrenhaus, Gefangene in dunklen Gewölben, Schiffbrüchige zwischen todbringenden Klippen.

Vitus kauft den Ausstellungskatalog, wie jedes Mal, wenn wir irgendwo ein Museum besuchen. Er schaut die Bücher danach nie mehr an. Er stapelt sie in einer Ecke seines Ateliers; nach und nach überziehen sie sich dann mit einer Schicht aus weissem Staub vom Kalkstein, den er haut.

Der Kauf der Bücher ist ein Luxus, den er sich als Bildhauer eigentlich gar nicht leisten kann. Seine Frauen- und Männertorsos, wild, roh und schön, verkauft er kaum. Sein Geld verdient er hauptsächlich damit, dass er für Luxushotels Schwäne aus Eis schnitzt. Vergängliche Schönheiten, die sich dafür zu schämen scheinen, nur als Zierde für opulente Buffets zu dienen und aus Protest besonders schnell schmelzen – Eistränen für gehobene Sommernachtsfeste.

Nach der Ausstellung schlendern wir zurück zur Wohnung. Lucianos Schwiegervater besitzt ein Appartement im Quartier Castello, nahe dem Arsenale. Er benutzt das Appartement selten und wenn, dann meist nur für wenige Tage – an Neujahr, um den Jahreswechsel auf dem Markusplatz zu feiern, im Sommer, um mit dem Boot aufs Meer hinauszufahren, im Herbst, um in den örtlichen Restaurants frische Trüffel zu speisen.

Die Wohnung hat er günstig erwerben können, weil die Stadtverwaltung am angrenzenden Platz eine Anlaufstelle für Drogensüchtige eröffnet hatte, wo diese sich saubere Spritzen holen konnten. Die Junkies lungerten im Quartier herum oder legten sich auf der Calle dei Furlani, der lang gezogenen Gasse, die vom Platz Richtung Zentrum führt, in den überall herumliegenden Hundekot zum Schlafen. Die Anwohner haben sich inzwischen erfolgreich gegen die Anlaufstelle gewehrt und den Fixerraum samt Junkies hinüber nach Mestre vertrieben – aus den Augen, aus dem Sinn.

Luciano ist eifrig in der Küche beschäftigt als wir eintreten. Auf den Fenstersims hat er einen Campinggrill gestellt, auf dem in Alufolie gehüllt drei Fische brutzeln. Wir fläzen uns in die Liegestühle auf der angrenzenden Terrasse und strecken die Beine von uns. Luciano ist besonders guter Stimmung und lässt es sich nicht nehmen, auch noch die Rolle des Kellners zu übernehmen: eine schöne Flasche Pinot Grigio bringt er uns, fachmännisch entkorkt und im Eiskübel serviert.

Das kalte Glas, das er mir in die Hand drückt, lässt mich frösteln. Noch schickt die Sonne zwar mutig ein paar letzte Strahlen, doch diese haben wenig Kraft – kein Wunder, es ist immer noch Februar. Ich stelle das halbvolle Glas auf den Boden und beschliesse, heiss duschen zu gehen, schliesslich haben wir vor, später noch auszugehen. Als ich zurückkomme haben Luciano und Vitus noch zwei weitere Flaschen geköpft und es darüber wohl etwas an Aufmerksamkeit für den Grill mangeln lassen. Zwei Fische sind verbrannt, sodass wir uns den Dritten teilen müssen. Der jedoch schmeckt hervorragend.

Nach dem Essen ziehen wir uns um. Der Besitzer des kleinen Hotels um die Ecke hat uns von einem Fest auf einem Schiff draussen in der Lagune erzählt, dem Carnevale degli Artisti, dort wollen wir hin.

Vitus hetzt uns voran durch die Gassen, er will nicht zu spät kommen. Er habe gehört, es werde jeweils proppenvoll auf dem Boot: «Die lassen dich die Beine in den Bauch stehen, eine Stunde in der Kälte, ihr werdet sehen», warnt er, doch Luciano dämpft seinen Eifer: «Man kann an einem Anlass nur einen Fehler machen, nämlich zu früh zu kommen.» Ich verlasse mich in solchen Situationen lieber auf den Freund als auf den Bruder, denn etwas muss man Luciano lassen: er hat ein Gefühl für Timing wie kein anderer. Nie riskiert man mit ihm die Peinlichkeit, zum ersten Dutzend verlorener Seelen zu gehören, die mühsam konversierend in zu grossen und zu leeren Zimmern herumstehen. Es sei wie bei einer chemischen Reaktion, meint Luciano, es brauche die genau richtige Dichte der Moleküle, damit der Prozess in Gang komme. Diesen Moment zu erwischen ist für ihn zu einer Manie geworden, doch ich verstehe ihn: Das Prickeln in der Luft, im Moment, wenn die Sache losgeht, ist fast physisch spürbar; wenn das Gemeinschaftswesen Mensch sich im Pfuhl seiner Artgenossen zu suhlen beginnt, sich öffnet mit allen Sinnesorganen. Das einzig wirkliche Abenteuer bleibt eben doch die Begegnung mit einem anderen Menschen, da kommen auch gewaltige Berggipfel und die schönsten Sonnenuntergänge nicht dagegen an. Wenn man Glück hat und die entscheidende Welle erwischt, kann man den ganzen Abend surfen auf dem Schwall von Geselligkeit, sein Brett immer wieder heraufziehen, den Blick Richtung Horizont und es einfach darauf ankommen lassen, wohin einen die Strömung trägt.

Als ich das Boot sehe, bin ich enttäuscht. Vor der Riva dei Sette Martiri, in der Nähe der Biennale, liegt ein langes flaches Schiff, wie es für Kreuzfahrten auf Flüssen verwendet wird. Mit solchen Booten tuckern sonst Rentner über den Rhein oder die Mosel. Wir schlurfen die Brücke hinauf. Oben steht ein in lächerliches Kapitänsweiss gekleideter Türsteher und streckt uns seine haarigen Hände entgegen, er sieht aus wie Spencer Tracy im Film «Arzt und Dämon».

Fünfzig Euro Eintritt will er, dafür seien aber auch die Getränke gratis.

Unseren Vorschlag, erst mal einen Blick hinein zu werfen, lehnt er ab. Luciano zahlt, Mister Hyde lässt uns durch, und wir stehen in einem Vorraum, in welchem dichtes Gedränge herrscht. Die Stimmung ist gut, die Leute sind aufgekratzt, meine Bedenken schwinden.

Links und rechts befinden sich mächtige Säle, aus denen Techno-Musik dröhnt. Wir entscheiden uns für den Raum zur Linken, dort finden die Aufführungen der Künstler statt. In der Mitte des Raumes stehen mehrere Leute vom Sicherheitsdienst; sie versuchen verzweifelt die Tanzfläche frei zu halten, indem sie die Leute an die Bar oder an die Tische an den Seiten dirigieren.

Zunächst wollen wir uns einen Drink ergattern, kein einfaches Unterfangen, denn am Tresen stehen die Gäste in mehreren Reihen. Luciano kämpft sich durch und bestellt zwei Flaschen Champagner und zehn Gläser. Ich denke, er hat sich etwas viel vorgenommen, aber ich täusche mich, denn eine Gruppe Engländerinnen, ermüdet vom Anstehen, ist dankbar für die Gläser. Als Gegenleistung lassen sie uns an ihrem Tisch sitzen. Eine gute Sache, denn von hier aus haben wir beste Sicht auf die Tanzfläche.

Manuel, der Hotelbesitzer, hat uns von den Auftritten auf diesem Boot erzählt – Laien aus allen möglichen Ländern haben einen Freipass, sich zu inszenieren, oft zu blamieren, manche Sachen seien toll, manche fürchterlich schlecht.

Eine Balletttänzerin aus Holland versucht ihr Glück. Das spindeldürre Wesen passt nicht so recht zur Opulenz von Richard Wagner, mit dessen Ouvertüren sie ihren Tanz unterlegt. Die Töne aus den Lautsprechern werden zudem sofort erschlagen von den Technobeats aus dem Saal gegenüber – ein musikalisches Kräftemessen, das nicht zugunsten des Klassikers ausgeht. Die Tänzerin leidet mit seltsamen Verrenkungen, Bewegungen wie von kranken Kühen, im Rhythmus des Rinderwahns, Bovine Spongiforme Enzephalopathie.

Mehr Stimmung kommt auf, als ein paar Drag Queens aus Milano die Tanzfläche betreten. Was heisst betreten, regelrecht hereingeweht kommen sie, begleitet von Gloria Gaynors Song «We will survive». Die Kerle sind alle mindestens zwei Meter gross, sie tanzen wild umher, das Publikum kommt in Stimmung, wir klatschen mit im Takt der Musik, die Jungs freut es und sie setzen noch einen drauf: Einen Cancan mit wehenden Röcken legen sie aufs Parkett, bei jedem Schwung ihre haarigen Beine zeigend.

Das Publikum tobt und ich nutze die Gelegenheit, um aufs Klo zu gehen. Die Toilette ist im Zwischenraum beim Eingang, der Türsteher hat inzwischen alle Hände voll zu tun, die Leute drängeln auf der Brücke. «Das Boot ist voll», schreit er in die Menge hinaus, «wenn ich mehr Leute hereinlasse, sinkt es.»

Das ist natürlich Unsinn, denn das Schiff liegt fest verankert am Ufer. Dennoch begrüsse ich seine strikte Haltung – die Luft wird jetzt schon knapp, gesättigt vom Schweiss der Tanzenden und vom Rauch unzähliger Zigaretten.

Ich beschliesse, etwas frische Luft zu schnappen und nehme die Treppe, die aufs Oberdeck führt. Ich staune, wie ruhig es hier oben ist, nur wenige Gäste haben sich hierhin verirrt, obwohl der Ausblick phantastisch ist. Vor mir liegt die Lagune, rechts im Hintergrund ragt stolz die Kirche San Giorgio Maggiore in den Himmel. Hinter mir liegt das Quartier Castello. Nicht prächtige Paläste wie am Canal Grande gibt es hier, sondern normale Wohnhäuser, wie man sie überall in Norditalien findet, mit gelber oder ockerfarbener Fassade und grünen Fensterläden.

Unzählige Fernsehantennen auf dem Dach wetteifern um die Signale der Fernsehstationen. Wer mag die Gunst der Bewohner wohl gerade gewinnen, Rai uno mit den Nachrichten, Rai due mit den Fussballpartien, oder, zu dieser späten Abendstunde, einer der Regionalsender mit den ewigen Telefonsex-Spots?

Vor den Häusern stehen Kinderfahrräder. Im Gegensatz zu den engen Gassen um den Markusplatz finden sich hier in der Nähe der Biennale breite Alleen und grosszügige Parkanlagen. Die Mütter gehen tagsüber gerne mit ihren Kindern zu den Spielplätzen hinter dem Viale Trieste um Klatsch auszutauschen oder eine Tasse Kaffee aus der Thermosflasche zu trinken, die Halbwüchsigen tauschen dort ihre Fussballbildchen.

Ich zünde mir eine Zigarette an, die erste heute. Ich rauche kaum noch, seit ich regelmässig laufe, meine fünf bis zehn Kilometer täglich, zuhause entlang dem See.

Die Riva dei Sette Martiri ist fast menschenleer. Nur vor der Brücke unseres Schiffes staut sich immer noch eine Traube Menschen. Richtung Biennale ist die Promenade ausgestorben. Auf der anderen Seite, vor dem Dogenpalast, schlendern ein paar Leute, ich sehe sie ganz klein. Einer hat den Regenschirm aufgespannt, obwohl der Himmel wolkenlos ist. Das Grüppchen kommt langsam näher.

Es ist kein Regenschirm.

Sie ist es.

Mit ihrem Hut.

Ich kneife die Augen zusammen. Ja, sie muss es sein, die Frau von heute im Florian. Sie schlendert mit einer Gruppe von Leuten zum Hotel Danieli.

Ich drücke die Zigarette aus und hetzte die Treppe hinunter. Auf der Landungsbrücke wird mein Elan gebremst, ich muss mich mühsam durch die anstehenden Partygäste zwängen. Endlich unten angekommen, realisiere ich, dass mein Mantel noch im Schiff ist. Es ist kalt nur in Hemd und Jackett. Doch ich will nicht wieder zurück, ich werde ja schnell laufen, meine Muskeln werden sicherlich etwas Wärme produzieren.

Während ich über das Pflaster eile, verliere ich sie aus dem Blick. Ich hoffe, oben auf der nächsten Brücke freiere Sicht zu haben und sie zu erspähen, und in der Tat, ich habe Glück, ich sehe sie in der Ferne beim Eingang des Hotels, sie nimmt soeben den Hut ab, offensichtlich kommt sie mit dem Ungetüm nicht durch die Drehtür.

Ich renne weiter über die Uferpromenade. Wenige Meter vor dem Hoteleingang bremse ich ab und stütze mich mit den Händen auf die Oberschenkel. Ich muss etwas verschnaufen, ich will keinen gehetzten Eindruck machen, sonst lassen mich die Hotelportiers möglicherweise nicht hinein. Nach einigen tiefen Atemzügen richte ich mich auf und gehe zur Tür. Am Eingang begrüssen mich zwei livrierte Hotelpagen mit dezentem Kopfnicken.

Aus der Bar am Ende des Eingangssaals tönt klassische Musik, ein paar Gäste stehen am Tresen, in den Lederfauteuils in der Lobby lümmeln sich mehrere Amerikaner, sie sprechen lautstark dem Whisky zu. Doch wo ist die Frau mit dem Hut? Ich steige die Treppe hinauf in das obere Stockwerk, wo das Hotel jeweils seine Bälle abhält, und blicke durch die offene Eingangstür in den Ballsaal – nur wenige Leute befinden sich darin, das Fest scheint bereits vorbei zu sein.

Ich setze mich im Vorraum auf eine lange Bank aus schwarzem Holz, sie steht an der Wand unter einem riesigen Gemälde, wie in einem Museum. Das Bild zeigt den Sieg der Venezianer gegen die Türken in der Schlacht von Lepanto im Jahre 1571, ein fürchterliches Gemetzel. Die Pause tut mir gut, ich atme tief durch. Doch mit einem Mal komme ich mir lächerlich vor, wie ich hier so sitze, allein unter den sterbenden Türken, erschöpft, weil ich einer wildfremden Frau nachgejagt bin. Sie ist wahrscheinlich längst in ihrem Zimmer in einem der Stockwerke über mir, macht sich zum Schlafen bereit, putzt sich die Zähne, schminkt sich ab.

Ich strecke die Beine von mir. Die Arme verschränke ich über der Brust, mir ist immer noch etwas kalt. Ich spüre wie ich müde werde und schliesse für einen Moment die Augen. Ich könnte jetzt einschlafen, der Alkohol fordert seinen Tribut, ich wehre mich jedoch dagegen. Ich setze mich etwas bequemer hin, ganz in die Ecke der Bank, klappe den Kragen meines Jacketts hoch und bette den Kopf auf die hohe Armlehne. Wieder schliesse ich kurz die Augen. Die Musik im Hintergrund scheint leiser zu werden.

Ich sinke langsam weg in den Schlaf. Ein paar Minuten will ich dösen, so viel gestehe ich mir zu, bevor ich mich auf den Rückweg mache, die Sache hier abbreche.

Doch dann wird mein Körper unruhig. Durch die Dunkelheit und die wattierte Stille meldet sich ein Sinnesorgan, das offensichtlich nicht schläft: meine Nase. Sie sendet hektische Signale an mein Gehirn, die zielgerichtet ihren Weg durch die Schichten meines Schlafes finden. Ich rieche einen unverkennbaren Duft – den Duft einer Frau. Ich öffne die Augen – niemand ist da. Ich blinzle, drehe den Kopf. Niemand da. Ich sacke wieder in mich zusammen, lasse das Kinn auf die Brust sinken, und da sehe ich es: neben mir auf der Bank liegt ihr Hut.

Ich bin schlagartig wach. Ich streiche mit den Fingern meine Strähnen aus dem Gesicht, reibe mit den Händen etwas Blut in meine dumpfen Wangen und setze mich aufrecht hin. Ich stehe auf und gehe zum Ballsaal, doch dort ist sie nicht. Ich eile mehrmals zwischen Saal und Bank hin und her, bleibe dann vor ihrem Hut stehen, nehme ihn in die Hand, halte ihn vor mein Gesicht und rieche daran.

Wie ich ihn senke, um ihn wieder hinzulegen, sehe ich, dass sie neben mir steht.

«Non rubarlo – nicht klauen», sagt sie lächelnd. Sie muss aus der Türe rechts hinten gekommen sein, ja natürlich, das Klo, sie hat den Hut nur schnell hingelegt, um auf die Toilette zu gehen.

«Nein, nein, keine Angst», sage ich.

«Nun, willst du mir meinen Hut nicht wiedergeben?», fragt sie etwas ungeduldig. Ich halte das Ding immer noch mit beiden Händen umklammert an die Brust gedrückt.

«Natürlich», sage ich. Sie greift meine Hand, zieht sie etwas zu sich und nimmt mit der anderen ihren Hut. Dann setzt sie ihn auf.

Er sitzt schief.

«Moment», sage ich und nehme ihn ihr nochmals vom Kopf, sie streicht sich das Haar nach hinten, lehnt den Kopf brav etwas zurück und ich setze ihr den Hut wieder auf.

«Danke», sagt sie, dreht sich um und gleitet davon in Richtung Ballsaal.

Ich lasse mich auf die Holzbank fallen, suche meine Zigaretten, zünde mir eine an. Die Musik im Saal scheint mir noch leiser als zuvor. Ich stehe auf und gehe zum Saal. Im Türrahmen bleibe ich stehen; ich sehe sie mit ihren Freunden vorne an einem Tisch, das Grüppchen scheint eben erst gekommen und willens, der Aufbruchsstimmung der Musiker und des Bedienungspersonals die Stirn zu bieten. Frisch geöffnete Champagnerflaschen stehen auf dem Tisch. Einer der Männer zeigt dem Kellner die leeren Austern auf dem von den Gästen schon längst verlassenen Tisch vor ihm, offensichtlich will er auch davon bestellen. Der Kellner verwirft die Hände, was den zweiten Mann in der Gruppe auf den Plan ruft, er sieht dem ersten ähnlich, ist aber deutlich älter. Ich schätze ihn auf etwa vierzig Jahre, er hat graumeliertes Haar, einen gepflegten Dreitagebart und schöne weisse Zähne. Ich höre nicht, was er sagt, aber sein Blick ist bestimmt, der Kellner sackt in sich zusammen, nickt ein paar Mal und trottet dann davon in Richtung Küche.

Sie schaut dem Mann abwesend nach, dreht sich dann gelangweilt um und sieht mich. Sie spricht kurz mit ihren Freuden und kommt dann langsam auf mich zu. Direkt vor mir bleibt sie stehen, lächelt mich an, nimmt dann meine linke Hand und legt sie sich auf die Hüfte, mit der anderen nimmt sie meine Rechte, ich verstehe, sie will tanzen. Sie zieht mich zu sich, beginnt leise zu singen: «Pom pom, pom pom», ich spüre ihren Atem an meinem linken Ohr, im Takt der Musik beginnen wir uns langsam zu drehen, wir machen ein paar Walzerschritte, sie erwartet, dass ich die Führung übernehme, aber mein müder Körper erfasst den Takt nicht recht, meine Beine verraten mich, ihr «Pom pom» hört auf, ich merke, dass sie enttäuscht ist, doch dann hält sie mich wieder fester, übernimmt das Kommando, sie führt, wir fassen wieder Tritt, irgendwie stimmt die Musik jetzt auch und das Tempo und ihr Geruch und ihre warme Haut und ihre verschwitzten Finger in meiner Hand und ihr Hut, der uns bedeckt wie ein Dach, es könnte jetzt in der Tat regnen und wir würden nicht nass, und wenn es so wäre, wäre mir das auch recht, ja ich wünschte mir sogar, es würde regnen, damit ihre Bluse nass würde und durchsichtig, wie sie es jetzt schon unter den Achseln und am Hals ist, ihre Haut ist feucht vor Schweiss, ihre Schlüsselbeine zeichnen sich unter dem Stoff deutlich ab. Die Musik hört auf, doch sie singt weiter: «Pom pom, pom pom», wir drehen unsere Runden langsam unter dem grossen Kronleuchter, unsere Schuhe gleiten über den Holzboden, wir spiegeln uns in den Fenstern, ich kann sie von hinten sehen, meine Hand wie ein Fremdkörper auf ihrem Po, verkrampft, als ob ich sie nie mehr loslassen wollte.

Die Jungs vom Personal wollen wohl endgültig Schluss machen, jedenfalls geht das Saallicht an, grell erwache ich aus meiner Trance, auch sie erschrickt und hört auf zu singen.

«Puh», sagt sie und lächelt.

«Verdammt hell», sage ich – nicht eben eine originelle Bemerkung, doch es scheint sie nicht zu stören.

«Komm, trink noch was mit uns», schlägt sie vor. Sie dreht sich um, ohne meine Antwort abzuwarten und läuft zu ihrem Tisch zurück. Ich laufe ihr hinterher, nicht zu schnell, versuche meine Schritte zu verlangsamen, will auf den fünf, sechs Metern meine Fassung wieder finden, die Schultern rauf, das Kinn etwas nach oben, mein Lächeln schön locker aus den Mundwinkeln ziehend.

Ich glaube, der kurze Weg hat nicht gereicht, eine respektvolle Statur aufzubauen, jedenfalls begrüssen mich ihre Bekannten nur mit einem nachlässigen Kopfnicken. «Das sind Laura und Charlotte», sagt sie und zeigt auf die beiden dunkelhaarigen Frauen, die mit dem Rücken zu mir sitzen. «Und unser neuer Freund hier ist …», beginnt sie und schaut mich fragend an. «Vincent», antworte ich. «Vincent», wiederholt sie. «Und das sind», sagt sie und zeigt auf die beiden mich schweigend musternden Männer, «das sind Filiberto und sein Bruder Maurizio.»

3.

Von weitem sieht es aus, als ob die Insel brennen würde. Wie wir näherkommen, sehe ich, woher die Flammen stammen: Filiberto hat an der Uferböschung eine Reihe von ausgehöhlten Baumstämmen platziert, die im Innern lodern. Die Stämme sind mannshoch und sicher einen halben Meter dick.

Sie beleuchten eine breite Treppe mit schmutzigweissen Marmorstufen, majestätisch zieht sie sich die Böschung hinauf, gegen oben schmaler werdend. Die Treppe führt auf einen gepflasterten Weg, der sich durch eine Wiese zieht. Der Palazzo im Hintergrund ist beleuchtet; aus den Fenstern dringt Musik und Lachen, das Haus prahlt in festlichem Stolz.

Ob Anna am Ufer auf mich wartet? Ich glaube nicht, obwohl ich denke, dass es sich für sie lohnen würde. Sie würde drei Gestalten langsam über das Wasser gleiten sehen, in einem Motorboot aus edlem Holz, vom flackernden Licht des Feuers beleuchtet, drei Männer in dunklen Hüten und schwarzen Umhängen, im Gesicht die «Bauta», die traditionelle Maske des Carnevale. Die Männer sind etwa gleich gross, sie unterscheiden sich von weitem nur durch die Farbe ihrer Larven, weiss diejenige des Mannes links, schwarz diejenige des Mannes in der Mitte, golden diejenige des Mannes rechts. Ich weiss nicht, vielleicht könnte sie auch die Erwartung sehen, die heiss von uns abstrahlt, es würde mich nicht wundern, wir würden unter unseren Umhängen glimmen wie glühende Holzkohle.

Anna hat mir Filibertos Adresse genau aufgeschrieben, ja sogar gezeichnet, wo sich die Insel in der Lagune befindet. Das wäre nicht nötig gewesen – dem Fahrer des Taxiboots genügte der Name. Der Weg vom Arsenale durch den Canale di Treporti, den Canale di Burano und dann an Torcello vorbei in die Palude della Centrega ist fast zwanzig Kilometer lang, und unser Schiffer hat den ganzen langen Weg geschwiegen, die Stirn in Falten gelegt, den Blick düster nach vorne gerichtet.

Er sucht eine Stelle an der Balustrade vor der Treppe, an der er uns aussteigen lassen kann. Wir bezahlen ihn, er steckt das Geld wortlos ein und dreht ab.

«Ich glaube, das wird ein guter Abend», sagt Luciano und beginnt die Stufen langsam hinauf zu stapfen. Vitus bückt sich und klopft mit den Knöcheln auf den Marmor, er kennt sich aus mit Steinen, staunend bleibt er einen Moment stehen, dann folgt er uns.

Die Wiese ist ungepflegt, das Gras steht hoch, grobe Äste liegen herum. Auf der linken Seite, nahe beim Ufer, umrandet eine zerfallene Steinmauer einen ehemaligen Gemüse- oder Kräutergarten. Schön sind die Bäume, riesig prangen sie in den Himmel mit ihren knorrigen Ästen, Reste eines alten Waldbestandes, der einst die ganze Insel bedeckte. Aus einem der Stämme würde Vitus in ein paar Wochen eine Grabfigur schnitzen, doch das wissen wir in diesem Moment noch nicht, wie vieles andere, das uns hier erwarten wird.

Das Seltsame an den Kostümen aus dem siebzehnten Jahrhundert ist, dass man darin automatisch langsamer zu gehen beginnt. Hetze passt nicht zum altertümlichen Stolz dieser Kleider und das ist gut so, denn es gibt uns die Gelegenheit, die Umgebung in uns aufzunehmen, oder besser noch, sie auf uns einwirken zu lassen. Sie gibt unserer Verkleidung den letzten Schliff, wie Chamäleons, die ihre Farben ändern, wechselt unser Gemüt die Flaggen. Es ist ein bisschen, als ob wir zu den Menschen werden, die einst vor dreihundert Jahren in diesen Kleidern steckten; es zwickt sogar in meinen Schultern, als ob sie in die Leerräume der etwas zu grossen Kostümjacke hineinwachsen wollten.

Wir schreiten festen Schrittes voran, den Rücken gerade, den Oberkörper leicht vorgebeugt. Die Schuhsohlen knirschen auf dem Weg, feine Steinchen bedecken den Pfad, eine dünne Schicht nur, sogar dieses Detail stimmt, wir riskieren nicht, unbeholfen seitlich weg zu knicken, wie auf den satt gefüllten Kieswegen der modernen Villen bei uns zuhause am See.

Die Flügel der Eingangstüre sind einladend aufgeklappt, in den Fenstern stehen Kandelaber mit brennenden Kerzen und locken uns, drei Motten auf dem Weg ins Licht. Der Palazzo ist gebaut im Stil der venezianischen Gotik – Schönheit als Selbstverständlichkeit – und so steht er auch da in seinem Kleid aus rostroten Backsteinen: ein alter Adliger, der weiss, dass sein Gewand ihm steht. Zentrale Fensterfront im ersten Stockwerk, acht verspielte Spitzbögen breit, mit marmornem Balkon. Links und rechts davon deuten ähnliche Fenster weitere Prunkräume an. Das Haus ist drei Stockwerke hoch. Im Gegensatz zu den Palazzi in Venedig kann man hier auch die unterste Etage benützen, denn das Haus steht auf festem Boden.

Es scheint sogar unterkellert zu sein: um einzutreten muss man drei breite Treppenstufen nehmen. Auf der untersten Stufe sitzt ein Mann, die langen grauen Haare hat er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, sein Hut liegt vor ihm am Boden, er hat eine Zigarre in der einen, einen Notizblock in der anderen Hand. Schräg hinter ihm stehen zwei Frauen in bauschigen Kostümen und versperren den Eingang. Sie reden mit einer halbnackten Schönheit, welche das Gesicht, den Oberkörper, die Arme und Beine mit grüner Körperfarbe bemalt hat, ansonsten aber nur einen grünen Rock und um den Hals eine Kette aus Muscheln trägt. Sie tippelt mit ihren nackten Füssen auf dem kalten Stein der Treppe, es zieht sie herein in die Wärme aber die Rokokodamen plaudern unbeirrt weiter auf sie ein. Neben ihr steht ein ebenfalls grün bemalter Hüne, auch er nackt bis auf eine kurze bauschige Hose, er hält einen Dreispitz in der Hand, eine eindrucksvolle Vertretung für den Meeresgott Neptun. Völlig ruhig steht er da, stolz blickt er uns ins Gesicht, ich sehe ihn durch die Löcher in meiner Pappmachémaske wie durch ein Fernrohr.