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Jürg Brändli

Der Sklave

Roman

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Impressum

© 2019 Münster Verlag GmbH, Basel

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.

Umschlag und Satz:

Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld

Porträtbild Autor:

René Widmer, Wald

Umschlagsbild:

anyka/123rf.com

Lektorat:

Manu Gehriger

Druck und Einband:

CPI books GmbH, Ulm

Verwendete Schriften:

Adobe Garamond Pro, Artegra Sans

Papier:

Umschlag, 135g/m2, Bilderdruck glänzend, holzfrei; Inhalt, 90g/m2, Werkdruck bläulichweiss, 1,75-fach, holzfrei

ISBN 978-3-907146-51-4
eISBN 978-3-907146-89-7

Printed in Germany

www.muensterverlag.ch

«Strike, dear mistress,
and cure his heart.»

«Venus in furs»,
Velvet Underground

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Danksagung

Prolog

Zürich, im Jahr 2010

Wie jedes Mal hatte er eine rote Rose mit breiten Stacheln gekauft. In der feuchten Kühle eines Blumengeschäfts an der Bahnhofstrasse hatte er sich ein langes Exemplar in durchsichtigen Plastik einwickeln lassen, dessen duftende Blüte noch wenig geöffnet gewesen war. Es war etwas, worauf er wert legte, wenn er sich eine Blume etwas kosten liess. Jetzt sass er im hinteren Teil eines voll besetzten Busses und fuhr stadtauswärts in westlicher Richtung.

Selbstverständlich hätte er sich ein Taxi leisten können. Aber es hätte mit sich gebracht, dem Chauffeur zu erklären, wohin die Reise ging, und das wäre ihm unangenehm gewesen, auch heute noch, nach mehr als einem halben Jahr.

Soweit war er nämlich noch nicht.

Sein Name war Christian Hebeisen.

Er war Mitte zwanzig, und seine ganze Erscheinung richtete sich nach der Mode: Er trug Lederturnschuhe, ein silbernes Hemd, das er sich nicht in die Hosen steckte, sowie einen dicken kurzen Mantel aus hellem Stoff mit Pelzkragen. Die 2347-Brille von Yves Saint Laurent verschattete seine dunklen Augen nach oben hin. Hebeisen trug einen Kurzhaarschnitt. Seine faltenlose, unreife Stirn lief seitlich in ein teuflisches Paar Geheimratsecken aus. Er war von schlankem Körperbau und hatte einen runden Kopf.

Es waren seine Manieren, die ihn unauffällig machten.

In der Strassenbahn bot er älteren Menschen seinen Platz an. Die Touristen fragten ihn nach dem Weg. Bettlern gab er Geld. Es handelte sich beim Schweizer um einen gemütlichen, sympathischen und modernen jungen Mann. Was einen stören konnte, war nur sein Eitles.

Während vor den Scheiben die Kulissen einer Agglommerationsgemeinde vorbeizogen, spielte Hebeisens i-Pod einen Track von Garbage.

I think I’m paranoid and complicated. I think I’m paranoid, manipulated.

Er befand sich auf dem Weg zu einer Frau.

Dabei kannte er noch nicht einmal ihren richtigen Namen. Zuweilen entfiel ihm sogar ihr Gesicht, obwohl sie sich inzwischen alle zwei Wochen sahen und obwohl er wusste, dass sie ihm etwas bedeutete. Er dachte nämlich ständig an sie.

Die Fahrt endete nach zwanzig Minuten an der Haltestelle in einem grossen Industriequartier, wo Hebeisen das öffentliche Verkehrsmittel verliess. Es war bereits am Eindunkeln, und vor den Ampeln einer Kreuzung staute sich der Abendverkehr.

Durch einen diskreten Hintereingang betrat Hebeisen das Treppenhaus eines grossen weissen Gebäudes mit gestalteter Fassade. Im Parterre betrieb ein Tierpräparator sein Handwerk, der lange im Gefängnis gewesen war, weil er seine Frau umgebracht hatte. Hebeisen gehörte nicht zu den Menschen, die so etwas schrecken konnte. Noch kein einziges Mal hatte ihm die Tatsache die Vorfreude genommen, seit sie ihm zu Ohren gekommen war und seit er im Hause Gast war.

Er betrat den Lift und wählte das Stockwerk, auf dem sich der Salon 77 befand. Auf den obersten zwei Etagen, hinter geschlossenen Läden und dichten bunten Vorhängen, wurde hier nämlich ein modernes Bordell betrieben. Es gab einen Empfangsraum mit Erotikmagazinen, diverse Liebeszimmer und eine Folterkammer.

Amanda wartete auf ihn.

Sie trug Stöckelschuhe, einen schwarzen Lederminirock, der attraktiv über ihre Oberschenkel spannte, und einen kurzen grauen Pullover, der eine braune Schulter freiliess sowie den Blick auf einen weissen Träger.

Amanda hatte ein zierliches, herausforderndes Gesicht, und Hebeisen mochte ihr dichtes schulterlanges Haar, das ihn immer irgendwie an sommerliche Baumrinde erinnerte.

Sie war der Mensch, der es geschafft hatte, Hebeisen ein aufrichtiges Band um sein kühles Herz zu legen.

Obwohl es ihm gefiel, nahm Hebeisen dieser Tage in der Stadt viel Festgefahrenes um sich herum wahr. Viele bürgerliche Frauen kleideten sich nach einem Kodex, der sich an der Wahl des Stiefels festmachte und der dann auch ihr restliches Leben definierte. Weibliche Mode hatte seines Erachtens mehr mit gesellschaftlicher Uniform zu tun denn je. Der letzte Schrei, nämlich italienische Reitstiefel mit Schnallen, konnten ihn richtiggehend erschrecken, wenn sie der dominanten Frau standen, von denen sie getragen wurden.

Auch rote Fingernägel, hatte Hebeisen bemerkt, konnten einer solchen Konvention entsprechen.

Von alledem war Amanda frei.

Im Salon bot sie diverse Spielereien an. Für den Herrn kleidete sie sich gerne romantisch, für den Sklaven schlüpfte sie in schwarzes Leder, hie und da spielte sie sogar die Rolle der aufreizenden Krankenschwester. Ihr weibliches Wesen hatte viele Dimensionen, und dadurch empfahl sie sich auch privat für verschiedenste Anlässe und Gelegenheiten. Darin mochte etwas Altmodisches liegen, für Hebeisen machte es Amanda zur begehrenswerten Frau.

Hebeisen wusste, dass in der Art und Weise, wie er Amanda sah, etwas zutiefst Materialistisches lag. Aber beruhte es nicht auf Gegenseitigkeit? Das Vergnügen, das sie beide aus der Beziehung bezogen, gründete ja gerade im Umstand, dass sie keine erwachsene war.

Trotzdem hatte sich Hebeisen in Amanda verliebt.

Lange Zeit war er sich beim Gefühl albern vorgekommen: bei der Angst, auf eine Prostituierte hereingefallen zu sein, wie man so schön sagte. Aber das war es nicht, dessen war er sich inzwischen sicher.

Als er zum ersten Mal hergekommen war und sie sich ihm zusammen mit anderen Frauen zur Auswahl präsentiert hatte, da war sie noch ein Kind gewesen. Danach hatte er sich jeweils direkt mit ihr verabredet, und sie beide, Amanda und Hebeisen, sollten bei ihren Begegnungen an einer Erfahrung wachsen, die über das dunkle Spiel hinausging, das sie dabei trieben. Es hatte damit zu tun, dass sie beide im gleichen Alter waren und dass sie insgeheim darin übereinstimmten, den Anforderungen jener Welt, wie sie sich vor den geschlossenen Läden der Folterkammer abspielte, nicht gewachsen zu sein.

Hebeisen liebte es nicht nur, wenn Amanda ihn fesselte, um am Rand der Unschuld mit ihm zu experimentieren. Er genoss auch die Gespräche, die sich ihren bizarren Stunden anschlossen und bei denen er ständig über Dinge sprach, die er sonst mit niemandem teilen konnte. In diesen Momenten fühlte er sich jeweils vollkommen frei.

Obwohl sie noch nie miteinander geschlafen hatten, waren sie in der kurzen Zeit aneinander erwachsen geworden. Nicht ohne Eifersucht musste Hebeisen neuerdings erkennen, dass Amanda vollkommen war: attraktive Kindfrau, romantische Gespielin und versierte Domina, Werktätige, Hausfrau und Mutter.

Sie hatte ihn überholt, und er hatte es zugelassen.

In primitiven Beziehungen war es der Moment, der zum Bruch oder zur häuslichen Gewalt führen konnte. Hebeisen stellte zur eigenen Überraschung aber fest, dass er den Schmerz genoss, der die heimliche Gewichtsverschiebung mit sich brachte. Er wurde sich bewusst, dass er nie im Stande sein würde, je eine Frau zu schlagen. Eher hätte er sich einen Finger abgehackt.

Es war die Lektion, die ihm Amanda erteilte, und so wie sie ihn kastrierte, machte ihn die Tatsache gleichzeitig zu jenem Mann, der er wirklich war.

Es vertiefte nur seine Lust.

Auch heute unterzog ihn Amanda gegen Bezahlung einer Unterwerfung, die ihn tief befriedigte und erschöpfte.

Danach erzählte sie ihm, dass sie sich mit dem Gedanken trug, aus dem Geschäft mit der Erotik auszusteigen. Ausgerechnet jetzt, da sie ihm an Reife überlegen war, überraschte sie ihn mit einem Moment der tiefen Demut. Sie habe in ihrem Leben viele Fehler gemacht, gestand sie ihm, während sie seinem Blick auswich, und sie habe sich vorgenommen, sich zum Besseren zu ändern.

Hebeisen spürte, wie ihn das Bekenntnis zutiefst rührte. Obwohl er über einen protestantischen Hintergrund verfügte, empfand er im Augenblick so etwas wie Beichtgefühle für Amanda.

Sie verabschiedeten sich in der Kammer, bloss um in der Türe zum Treppenhaus, Zeichen der gegenseitigen Sympathie, nochmals ein neues Gespräch zu beginnen.

Erst spätabends, als er im Bett lag und nicht einschlafen konnte, spürte Hebeisen den Stich, der ihm von Amanda versetzt worden war. Ihre Ankündigung, mit der Tätigkeit im Salon 77 Schluss zu machen, hatte ihn unter Druck gesetzt. Dass es mit der Verfügbarkeit ihrer Person bald einmal ein Ende haben könnte, verursachte ihm einen bisher ungekannten Schmerz.

In den nächsten Tagen wurde ihm klar, dass er handeln musste. Nicht nur, weil er Amanda nicht verlieren wollte. Wenn ihre Gefühle tatsächlich auf Gegenseitigkeit beruhten, wovon Hebeisen im Moment ausging, dann würde er zu den Menschen gehören, die Amanda ans Bordell banden, solange er nichts dagegen unternahm.

Zum ersten Mal empfand er im Zusammenhang eine Schuld, und es führte dazu, dass er eine neue Sicht gewann auf die Art und Weise, wie er sein Liebesleben bisher organisiert hatte. Wenn er Amanda eine Liebeserklärung machte und sie darauf einging, barg es dann nicht auch für ihn die Möglichkeit, sich vom Milieu zu lösen?

Als Hebeisen vierzehn Tage später wieder im Bus sass und stadtauswärts fuhr, da klopfte ihm sein Herz. Sein i-Pod spielte den Soundtrack zum Film «The Million Dollar Hotel», und die Stimme von Bono Vox machte ihm Mut.

And for the first time I feel love.

Am Ende der Stunde fragte er Amanda, ob sie Lust habe, in den nächsten Tagen einmal mit ihm auszugehen.

Das sei völlig ausgeschlossen, kam es von der Letzteren wie aus der Kanone geschossen.

Hebeisen verliess enttäuscht den Salon 77.

Es fiel ihm schwer, die Absage zu akzeptieren.

Natürlich war es auch sein Fehler, denn er hatte sich Amandas Nein zu wenig ausführlich begründen lassen, so dass ihm jetzt das nötige Verständnis fehlte, um wirklich loslassen zu können nach allem, was zwischen ihnen gewesen war.

Vielleicht war es den Damen untersagt, sich mit ihren Kunden ausserhalb zu treffen, und Amanda war abhängig genug, um sich an ein solches Verbot zu halten. Oder sie fürchtete sich vor der Unfreiheit, welche die Beziehung zu einem ehemaligen Freier mit sich gebracht hätte, weil darin ein Ungleichgewicht an Verletzlichkeit drohte, das Amanda gegenüber Hebeisen in einen sozialen Nachteil versetzt hätte. So hätte sie bei Problemen im Alltag und im Falle einer unschönen Trennung viel grösseres Vertrauen in ihn setzen müssen als umgekehrt. Denkbar war aber auch ganz etwas anderes, nämlich dass Amanda in der Zwischenzeit zum Schluss gekommen war, dass es sich beim Ausflug ins Rotlicht um einen Fehler handelte, an den sie sich beim Sex nicht ein Leben lang erinnern lassen wollte.

Das viele Nachdenken führte dazu, dass sich Hebeisen an einem der nächsten Tage nochmals auf den Weg in den Salon 77 machte, weil er fand, dass er es verdient hatte, einen zweiten Versuch zu unternehmen. Mehr noch: Er war es sich und Amanda ganz einfach schuldig.

Als er sie antraf, war sie gerade erst angekommen. Sie trug enge Blue Jeans und einen karierten Hut und sah fantastisch aus. Dass er sie in derselben privaten Angelegenheit nochmals zu sprechen wünschte und bloss deswegen hergekommen war, irritierte sie. Es war der Moment, in dem Hebeisen klar wurde, dass Amanda zu den Menschen gehörte, die sich nicht allzu viel aus sich selbst machten. Er wiederholte sein Angebot, fügte diesmal aber an, dass Amanda selbstverständlich auf Diskretion bestehen könne. Wenn sie ihm ihren richtigen Namen oder ihre persönliche Telefonnummer erst verraten wolle, wenn sie miteinander einen Abend verbracht hätten, der zu ihrer Befriedigung ausgefallen sei, dann habe er dafür vollstes Verständnis. Er versicherte sie nochmals der Aufrichtigkeit seiner Gefühle. Indem er darauf hinwies, dass es in seinem Leben an anderen Angeboten nicht mangelte, machte er zudem klar, dass sein Interesse an einer Professionellen nicht irgendeiner Not entsprang. Es klang etwas ungeschickt. Ob es etwas gebe, fragte Hebeisen, das sie über ihn wissen wolle und das sie ihn bislang nicht zu fragen gewagt habe. Aber Amanda schüttelte den Kopf. Also habe er bei ihr tatsächlich keine Chance, stellte Hebeisen fest, wobei er einen geraden Mund machte. Daraufhin musste Amanda seufzen. Hebeisen ging ihr plötzlich nahe, und sie änderte ihre Meinung. Wenn ihm wirklich soviel daran liege, meinte sie, dann werde sie sich gerne von ihm einladen lassen. Sie verabredeten sich für einen der nächsten Abende zum Aperitif in der Stadt. Hebeisen, der erreicht hatte, was er wollte, verliess den Salon 77 voll Stolz und männlicher Freude

Die beiden hatten ausgemacht, sich im «Boulevard» an der Talstrasse zu treffen, um erst dann zu entscheiden, wonach ihnen der kulinarische Sinn stand. Als Hebeisen dort eintraf, feierabendlich und frisch an der Bar einen Vodka Martini bestellte, sollte Amanda nicht erscheinen. Nicht nach zehn Minuten, nicht nach zwanzig, nicht nach einer halben Stunde. Er hatte ihre Telefonnummer nicht. Er kannte nicht ihren Namen.

Enttäuscht und verletzt legte er sich selbenabends ins Bett.

Er wollte kein schlechter Verlierer sein. Trotzdem entschloss er sich, Amanda am kommenden Wochenende zur Rede zu stellen.

Als er nochmals ins Bordell ging, arbeitete sie bereits nicht mehr dort, und sie hatte die Anweisung gegeben, niemandem ihre Adresse mitzuteilen. Hebeisen wurde gefragt, ob er stattdessen mit einer anderen Dame aufs Zimmer gehen wolle, aber er lehnte ab und verliess stumm das Haus.

Im Freien, wo es regnete, verpasste er den Bus. Daraufhin entschloss er sich zum einsamen Abendessen in einem chinesischen Restaurant, das er in der Nachbarschaft entdeckte. Dazu trank er mehr Bier als sonst.

Er sass bereits wieder an der Kälte und wartete auf den Bus, als es ihn schliesslich überkam.

Hebeisen musste weinen wie ein erwachsener Mann.

1

Ungerechtigkeit war etwas, das ihn immer beschäftigt hatte, schon als kleines Kind. Wahrscheinlich bestand sogar eine seiner ersten Lebenserfahrungen im Empfinden von Ungerechtigkeit, diesem lähmenden brennenden Schmerz, der sich früh mit seiner Sexualität verband und ihn fürs Leben prägen sollte. Er hatte eine Schwäche für die Schwachen. Er mochte es nicht, wenn Tiere gequält wurden. Er empfand eine Faszination für das unerträgliche Schicksal von Jesus, dem Gottessohn, der für den Rest der Menschheit am Kreuz gestorben war. Früh hatte es seine Beziehung zu Gott gestört, an den er deswegen irgendwann zu glauben aufgehört hatte. Er hatte Tom Sawyer bewundert, weil der in Mark Twains Erzählungen viel Schmerz in Kauf nahm, um die Mädchen vor den strafenden Lehrern zu beschützen, und geachtet hatte er immer auch dessen Kollegen Huckleberry Finn, weil der einen Schwarzen vor der Sklaverei bewahrte, indem er mit ihm auf dem Floss den Mississippi hinuntertrieb. «Der längste Tag» war ein Film, der ihn in der Seele demütigte. Er mochte es unerklärlicherweise, wenn in Römer- und Piratengeschichten Menschen ausgepeitscht wurden, aber er war nicht schwul. In der Bibelstunde, wohin ihn seine Eltern konsequent schickten, fand er Gefallen an der Geschichte mit Samson, dem sein Haar gestohlen wurde, und an der grausamen Salome, die den Kopf von Johannes, dem Täufer, forderte. Mückenstiche, die im Sommer seine Unterarme übermaserten, wurde er im Heimlichen nicht aufzureissen müde, bis sie im Herbst kleine dunkle Male bildeten. Wenn ihn die Mädchen an der Schule erniedrigten, zumal jene, die ihm gefielen, dann fühlte er sich jeweils ausser Stande sich zu wehren, was stets seine Unschuld erschütterte und ihn stark erregte. Die anderen Knaben misstrauten ihm, weil er schwächer war als sie und sich, um zu überleben, unmännlicher Spiesse bediente. Er glaubte an die weibliche Macht, und im Zweifelsfall war er mit seiner Mutter. Er wuchs auf im Schatten eines persönlichen Unheils, im Wissen um eine tödliche Achillesverse, von der die erwachsene Welt eine grössere Ahnung hatte als er selbst, weshalb Uneingeweihtsein seine Kinderseele marterte. Es trieb ihn in die Abhängigkeit von Älteren, die er hasste. Er litt unter Todessehnsucht. Es quälten ihn schwarze Gedanken. Christian Hebeisen war nie wirklich froh darüber gewesen, zur Welt gekommen zu sein.

2

Aufgewachsen war er in Rüti, in einer Industriegemeinde im Zürcher Oberland, wo die Familie Hebeisen im Haltbergquartier hinter dem Bahnhof ein grosses weisses Jugendstilhaus bewohnte, mit sandiger Zufahrt und beschattet von einem hohen dunkelgrünen Hain. Im Quartier gab es Fabrikantenvillen, Gewerkschaftsbüros, protestantische Freikirchen und ein paar provinzielle Night-Clubs. Am westlichen Ende genoss man die Aussicht auf die eindrückliche Bucht des Sulzer-Areals.

Dort, im zehnstöckigen blauen Verwaltungshochhaus hinter der steilen Bogenrampe mit Zahnradgleis, belegte der gelernte Ingenieur Heinz Hebeisen ein Büro. Als leitender Angestellter bezog er einen guten Zahltag. Beim Vater von Christian handelte es sich um einen klassischen Vertreter seiner Generation. Er verfügte über ein verzweigtes privates Beziehungsnetz und pflegte viele Freundschaften, auch solche aus dem Militärdienst. Zeit seines Lebens fuhr er viel Eisenbahn. Jedes Jahr leistete er sich ein Generalabonnement für die erste Klasse. Er hatte kurzes, schneeweisses Haar und trug stets gestreifte Hemden. Er war sportlich gealtert.

Heinz Hebeisen war verschlossen und zwanghaft. Jeden Morgen las er zu Hause den «Zürcher Oberländer» und in der Firma den «Blick». Er sprach mit einem eingetrockneten Weinen in der Stimme. Es handelte sich bei ihm um den steifen, unflexiblen Diskretionstyp, um den in Kindheit und Jugend brutalisierten Sensiblen letztlich, nämlich um den sogenannten Fascho, und damit ums typische Schweizerische Nachkriegsmodell. Über seinem Arbeitsplatz hing ein grosses Poster mit dem Matterhorn, Monika Kälin war eine Künstlerin, die er rundum bewunderte, und er war ein alter Fan des Fussballclubs Zürich. Seine Unterarme waren trocken und behaart, und er trug ein dünnes feminines Modell von Omega. Am Sonntag trank er seinen Milchkaffee aus einer grösseren Tasse als die restlichen Familienmitglieder, und in seinem Nachttisch, das erzählte er jedem, der es wissen wollte, lagerten seine Ordonanzpistole und zehn zugehörige Patronen. Heinz Hebeisen meinte, seine Familie damit vor gewalttätigen Einbrechern zu schützen. In Wahrheit verlieh es ihm die nötige Autorität nach innen.

Christian Hebeisen hasste seinen Vater.

Seit jeher schlug er eher nach der Mutter, nach Esther Hebeisen, wenn überhaupt, denn eigentlich glaubte bei Sohn Christian alle Welt an ein Kuckuckskind, so sehr tanzte er mit seinem introvertierten Wesen aus der Reihe.

Esther Hebeisen war gelernte Detailhändlerin. Sie hatte kurzes, kupferrotes Haar und trug eine unauffällige Brille mit Goldrand. Sie gefiel sich in jugendlichen Miniröcken, aber nach der Mode, und ihre laute Stimme war von einer Gepresstheit, die stets viel Frustration verriet. Sie war Gelegenheitsraucherin, aber nur auf der Arbeit und mit Kollegen, nämlich im quartiereigenen Usego-Laden.

Bis heute schätzte Christian Hebeisen an seiner Mutter ihr robustes Wesen und eine gewisse intellektuelle Aufgeschlossenheit, beispielsweise gegenüber den Lehren Rudolf Steiners. Menschen, die Esther Hebeisen nicht mochten, nannten sie deswegen ein Reibeisen oder eine Progressive im abschätzigen Sinne. «Extremeties» mit Farrah Fawcett-Majors in der Hauptrolle war ein Kinofilm, den sie liebte und den sie auf Video besass. Unter Feminismus verstand sie spätpubertäre weibliche Eitelkeit. Sie neigte zu Egoismus und zu Gefühlskälte, und in der Beziehung zu ihren Kindern machte sich eine grundsätzliche Ignoranz bemerkbar. Das schizophrene Verhalten gründete in der Verdrängung jenes Schmerzes, der ihr der Verzicht auf Identität verursachte. Dass es sich bei Esther Hebeisen in Wahrheit um eine Lesbe handelte, sollte in der herrschenden Provinzialität nämlich nie zu einem Thema werden. Aber sicher war es mit ein Grund, weshalb das Ehepaar mehrere Phasen der vorübergehenden Trennung durchlebte, in denen sich die Mutter selbst zu verwirklichen versuchte, unter anderem als Gründungsmitglied der kantonalzürcherischen POCH.

Christian Hebeisen hatte zwei ältere Geschwister: Susi und Dieter. Die Schwester sollte später Handarbeitslehrerin werden und im Ort unterrichten, der Bruder arbeitete heute als Lüftungszeichner bei Belimo.

Die Familie verreiste in Ferien ans holländische Meer, verbrachte ganze Sonntagnachmittage am Egelsee oder auf dem Hasenstrick, wo die Sportflugzeuge starteten und landeten. Im Spätsommer besuchte man jeweils den grossen Jahrmarkt mit seinen Karussells in Wetzikon. Es gab ein jährliches Quartierfest mit Bankett auf der gesperrten Strasse. Lampions am ersten August. Feuerwerk zu Sylvester. Mehr als einmal kam die Tour de Suisse und brachte Gratismützen und Flaggen aus Plastik.

3

Kaum waren die Hebeisens an die Haltbergstrasse gezogen, waren sie in eine Freikirche eingetreten. Mit den Gemeindemitgliedern pflegten sie auch privaten Umgang. Im Ort gab es eine Chrischona- und eine Pfingstgemeinde sowie methodistische und neuapostolische Kappellen. Christian Hebeisen mochte weder die Art von Kirche noch die zugehörigen Menschen. Früh war ihm sein Milieu zu eng, zu kleinkariert und zu bigott gewesen. Schon als Kind geriert er deswegen in den Ruf des Asozialen.

In der Volksschule, die er auf dem Schlossberg besuchte, zog er sich während der Pausen jeweils alleine auf die Bank am Aussichtspunkt zurück und genoss, derweil er schweigend sein Pausenbrot verzehrte, den Blick auf den Mürtschenstock, den Glärnisch, auf das Wäggital und den Etzel.

Irgendwann entdeckte er in der Freizeit das ausrangierte Stück Gleis zwischen Bubikon und Wolfhausen, das einmal Teil jener Dampfbahn gewesen war, welche die Seegemeinde Uerikon mit Bauma verbunden hatte, das nördlich davon im Fischental lag. Hebeisen liebte die schattige und verwachsene Nagelfluhschlucht, durch welche die Schienen führten, sowie die fünf grossen olivgrünen Tankkessel, die sie in der Mitte bedienten. Sie standen hälftig im Wald, waren verwittert, und es wurde in ihnen Heizöl gelagert.

An diesem romantischen Ort fand Hebeisen seine Ruhe.

Er liebte Einsamkeit. Gleichzeitig handelte es sich dabei um eine zweischneidige Sache. Es verhielt sich damit in seinem Leben ein bisschen wie mit dem Ei, mit dem Huhn und der Frage danach, was von beidem wohl zuerst gewesen sei. Hebeisen war sich nämlich nie so richtig im Klaren darüber, ob er sich zurückzog, weil er tatsächlich von einzelgängerischem Wesen war, oder ob er es bloss aus Stolz tat, um der subtilen Zurückweisung zuvorzukommen, wie er sie täglich in seiner Familie erlebte und deshalb auch vom Rest der Welt erwartete.

Hebeisen hielt sich deswegen lange Zeit für einen ungewollten Sohn. Bis ihm jemand erklärte, dass es sich gerade bei den unvorhergesehenen um so genannte Liebeskinder handeln würde, weil sie ohne Kalkül gezeugt würden. Sie seien unter einem ganz besonderen Stern geboren und würden deshalb vom Leben später bevorzugt behandelt. Es leuchtete Hebeisen ein, weshalb er die Möglichkeit für sich irgendwann ausschloss. Ein solches Liebeskind zu sein, das stand zu sehr im Widerspruch zu seiner Befindlichkeit.

Weiterhin erfuhr er chauvinistische Verletzung aus dem Kreis seiner Nächsten, ohne die dicke Haut zu spüren, die ihm deswegen um die Seele wuchs.

Hebeisen sollte früh eine Beziehung zum Katholischen entwickeln. Er begann damit, die römisch-katholische Kirche im Ort aufzusuchen, den modernen, quadratischen Raum mit den vielen Kabinen fürs Beichtgespräch. Aber nur alleine und wenn kein Gottesdienst war. Papst Johannes Paul II. war eine Figur, die ihn früh faszinierte. Es handelte sich um eine natürliche Verbundenheit, und im Gegensatz zur restlichen Familie empfand er dabei keinerlei Berührungsängste. Das Katholische war ganz einfach das, was Hebeisen in der Isolation seiner Kindheit als Erstes erreicht hatte, sinnstiftend und absolut. Intrigen in Schweizer Bistümern interessierten ihn nicht. Es betraf nicht das, woran er im Stillen partizipierte. Vor allem aber vermochten solche Konflikte nichts an seiner Einstellung zu verändern.

Im Dachstock seines Elternhauses belegte Hebeisen eine Kammer. Nur er besass dazu einen Schlüssel. Er nannte das Estrichabteil sein Atelier. An die Wand hatte er ein selbstgemachtes Kruzifix gehängt. Im Raum machte er experimentelle Musik auf einer elektrischen Gitarre, die er occasion erworben hatte. Arnold Böcklin, der Maler, und Stuart Sutcliffe, der Musiker, waren Vorbilder, die ihn inspirierten. Er malte grosse Bilder in Ölfarben, nachts und im Licht von Opferkerzen. Meistens handelte es sich um Mordfantasien: um Hinrichtungen, um Duelle und um die Porträts von sterbenden Nazis. Die Werke, die meist in Grau und Rot gehalten waren sowie auf schwarzem Papier, hatten eine hohe Qualität, und Hebeisen wusste, dass er Talent besass. Es war eine innere Unbestechlichkeit, die seinen Pinsel führte. Trotzdem blieb es bei der Selbstbefriedigung im Versteckten. Es war Scham, die ihn davon abhielt, diesen Teil seiner Persönlichkeit öffentlich zu machen. Zu arg kollidierte er mit den seelischen Erfordernissen seiner Erziehung. Sein Kreatives war dem Unsensiblen nicht gewachsen, wie es das Protestantische für ihn überall bereithielt. Kam es hingegen vor, dass er mit seinen klandestinen Leidenschaften tatsächlich auf fremdes Interesse stiess, bei Verwandten, bei Lehrern oder bei Freunden seiner Eltern, dann fand sich Hebeisen stets in der Rolle desjenigen wieder, der sein Werk zu schützen hatte wie einen hochempfindlichen Film, dem Zerstörung durch Überbelichtung drohte, so sehr fürchtete er sich damals vor falscher Aufmerksamkeit, vor der Entweihung seines Unabhängigsten durch den Inzest.

Im engen Refugium gab es auch eine Musikanlage, einen Plattenspieler mit Radio und zwei zugehörigen Boxen. Abends hörte Hebeisen hier «Sounds», die Sendung mit François Mürner auf DRS3. Bei der ersten Schallplatte, die er in einem alternativen Musikgeschäft in Zürich kaufte, handelte es sich um die Maxisingle «Eloise», nämlich in der Version von The Damned, und «Paris, Texas», der Film von Wim Wenders, weckte Hebeisens tiefere Leidenschaft fürs Kino, nachdem das aufsehenerregende Werk seinerzeit in Cannes die Goldene Palme gewonnen hatte.

Sein Atelier war Hebeisens Gummizelle, die der Unliebsame eingerichtet hatte, um den Rest der Familie vor seiner Pubertät zu bewahren.

Von Zeit zu Zeit hielt er auf seinen Leinwänden die Aussicht fest, die ihm das kleine Mansardenfenster bot: den Hain und die Dächer des Quartiers, nämlich im Licht der verschiedenen Jahreszeiten. Dazu benutzte er Rahmglacéfarben, die er auf seiner Sperrholzpalette anrührte wie Tonglasur. Auf den Sims neben dem Aschenbecher streute er hie und da Körner, um damit die Amseln und die Spatzen zu füttern. Das Mansardenfenster lag zufälligerweise nach Norden. Hebeisen war stolz darauf, denn er hatte gehört, dass viele berühmte Künstler bei nördlichem Lichteinfall gemalt hatten, weil es dann im Atelier keine wandernden Schatten gab, die das Resultat auf der Leinwand verfälschen konnten.

Die Zeitungen berichteten über Tschernobyl, über den Borkenkäfer und übers Waldsterben.

Das familiäre Mobbing hörte auf zum Preis, dass Hebeisen sich im Alltag nun selbst verletzte.

Es war die Zeit, in der er anfing, sich um sein Äusseres zu kümmern.

4

Hebeisen hatte jung ein schmales und dunkles indianisches Gesicht mit schönen Zügen und vollen männlichen Lippen. Sein magischer Blick entsprang schwarzbraunen Augen. Er hatte dunkle gerade Haare, die ihm etwas Abenteuerliches verliehen, weil er sie schulterlang trug. Er wusste, dass er durch sein Äusseres auffiel. Gleichzeitig haftete seinem guten Aussehen etwas Eigenbrötlerisches an: eine exotische Verletzlichkeit, ein Nimbus von Unschuld, eine fast schon heiligenhafte Unnahbarkeit. Seine ganze Person war von kontrolliertem, rundem Wesen.

In seiner Jugend mochte er braune Lederjacken mit Wollstössen, die ihm etwas vom arktischen Pionier verliehen. Dazu trug er meistens Bluejeans und Turnschuhe von Adidas, nämlich aus abgewetztem, knochenweissem Leder und mit himmelblauen Streifen. Lange besorgte ihm die Mutter seine Hemden, die er unter ärmellosen Pullovern trug. Es gab eine Phase, da gefiel er sich mit Beret. Im Winter trug er dicke, uneitle Wollschals. Indem er gerne einen legèren Eindruck machte, hatte er lange Zeit etwas von einem ungelenken, französischen Sozialisten. Damals hätte man sich nicht gewundert, ihn in einem Boulevardcafé beim Schreiben von Literatur und beim Trinken von Pastis anzutreffen. Ein Stückweit handelte es sich jedoch um Verkleidung. Das Frühlingshafte an der Kluft seiner Jugendzeit sollte über jene Schwermut hinwegtäuschen, die in ihm hockte wie ein unerklärliches Schuldgefühl, nämlich seit er denken konnte, und die er deshalb mit sich herumschleppte wie eine unsichtbare Sträflingskugel.

Ein Arzt hatte ihm einmal vom Unglück erzählt, das eine fehlgeschlagene Injektion bei einem Patienten verursachen sollte: Das Serum habe sich nach dem Einspritzen, anstatt im ganzen Körper heilende Wirkung zu entfalten, in einer einzigen Blase gesammelt, um im Fleisch nichts weiter zu verursachen als schrecklichen Schmerz. Das Bild schoss Hebeisen immer dann in den Kopf, wenn er an seine Erziehung denken musste. Es war ein Gift, das sein Organismus Zeit seines Lebens abgestossen hatte. Er wollte kein Teil jener Sache sein, die sie das Protestantische nannten. Immer musste er an diese Zeile aus dem Song von Supertramp denken, «You take a long way home», und daran, wie sehr ihn der Inhalt ärgerte. Er war nicht homosexuell. Das Leben, das vor ihm lag, sollte nicht bloss einen spasshaften Umweg bilden auf dem Weg zurück nach Hause und zur Mutter. Er hatte vor, die halbstarke Prägung irgendwann zu verlassen, mit der ihm seine Umwelt ständig ein Bein stellte. Er war nicht einverstanden mit seinem Platz im grossen Puzzle, das man für ihn vor langer Zeit ausersehen hatte, und er wehrte sich deshalb mit Kräften dagegen, wie ihm hinterrücks und in Respektlosigkeit die nötigen Kanten abgeschlagen wurden, damit er ihn trotzdem irgendwann ausfüllen konnte. Er wollte sein eigener Puzzleteil werden, um im Laufe seines Lebens jene Lücke zu finden, in die er tatsächlich passte. Mochten sie ihm noch so viele Fallen stellen. Mochte es dauern, so lange es wollte. Hebeisen wollte zum eigenen Nutzen wachsen und nicht im weibischen Interesse seiner Familie. Er wollte ins Leben vorstossen und nicht in den Schoss irgendeines reformierten Inzests. Er wollte den Ödipus loswerden, mit dem er von seiner Gemeinde manipuliert wurde. Hebeisen wollte nicht bleiben. Er wollte weg.

5

Sie hiess Tonia Büsser und besuchte die Parallelklasse.