Über das Buch

Drei Frauen im Krieg und ein geheimer Code.

1940, Schweden: Das Schicksal führt Signe, Elisabeth und Iris, die unterschiedlicher nicht sein könnten, in Stockholm zusammen. Sie alle müssen hier einen Neuanfang wagen, während die Bedrohung durch die Nazis in Europa immer größer wird. Die drei werden aufgrund ihrer mathematischen Begabung ausgewählt, an einem geheimen Projekt teilzunehmen: Sie sollen dabei helfen, die Funknachrichten der Nazis zu entschlüsseln und nach versteckten Botschaften zu durchsuchen. Doch jede der drei Frauen birgt ein Geheimnis – und eines Tages werden sie von ihrer Vergangenheit eingeholt.

Die spannende Geschichte dreier junger Frauen mit einem besonderen Talent, das ihnen zur Waffe wird

Über Denise Rudberg

Denise Rudberg, 1971 in Stockholm geboren, studierte Filmwissenschaft und Dramaturgie in New York. Zusammen mit Camilla Läckberg moderierte sie im schwedischen Fernsehen eine Kultur- und Literatursendung. In Schweden ist sie eine Bestsellerautorin.

Hanna Granz, geboren 1977, hat in Bonn Skandinavistik, Romanistik und Vergleichende Literaturwissenschaften studiert. Sie lebt mit ihrer Familie in Wanfried/im Werratal.

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Denise Rudberg

Der Stockholm-Code

Die erste Begegnung

Aus dem Schwedischen
von Hanna Granz

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Prolog

Signe

Elisabeth

Signe

Elisabeth

Iris

Signe

Elisabeth

Signe

Iris

Signe

Iris

Elisabeth

Signe

Iris

Elisabeth

Signe

Elisabeth

Signe

Iris

Signe

Elisabeth

Signe

Iris

Signe

Iris

Signe

Elisabeth

Signe

Iris

Elisabeth

Signe

Elisabeth

Signe

Iris

Elisabeth

Iris

Signe

Elisabeth

Iris

Signe

Iris

Signe

Iris

Signe

Elisabeth

Iris

Elisabeth

Signe

Iris

Elisabeth

Iris

Signe

Epilog

Danksagung der Autorin

Impressum

»Nicht mit Gewalt überwindet man den Hass,
und die Rache ist nicht
der beste Balsam für Kränkungen.«

Aus Jane Eyre (Charlotte Brontë)

Prolog

Pärnu, Rigaischer Meerbusen
Samstag, den 6.
 August 1938

Iris blickte auf die Ostsee hinaus, wo die Sonne sich anschickte, hinter dem Horizont zu verschwinden. Nichts deutete an diesem Sommerabend darauf hin, was dieses Meer, das sie so sehr liebte, schon bald für sie bedeuten sollte. Dass es für den Rest ihres Lebens nur mehr Tod und tiefsten Kummer symbolisieren würde.

Sie legte sich die Halskette um und warf einen Blick auf die Uhr. Es wurde Zeit.

Sie lief die Treppe zum Salon hinunter, wo ihr Mann und ihr ältester Sohn sich konzentriert über das Schachbrett beugten.

»Bist du fertig, Rudolf? Karl-Fredrik mag es nicht, wenn man zu spät zu seiner Party kommt.«

Wie aus tiefem Schlaf gerissen, blickte Rudolf auf.

»Entschuldige, Liebes, wir sind mitten in einem Zug.«

Iris trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. Dabei warf sie ihrem Sohn, der noch immer auf seine Dame und seinen König starrte, einen strengen Blick zu.

»Papa und ich müssen los, Josef. Onkel Ritter kann es nicht leiden, wenn etwas nicht so läuft, wie er es geplant hat.«

Josef antwortete nicht, sondern runzelte nur die Stirn, den Blick weiterhin auf das Schachbrett gesenkt.

Rudolf klatschte in die Hände und stand auf.

»Komm, Josef, deine Mutter hat recht. Ein kluger Spieler weiß, dass er seinen nächsten Zug nie überstürzen sollte. Morgen ist auch noch ein Tag. Und übermorgen, und überübermorgen.«

Josef warf seiner Mutter einen finsteren Blick zu, schluckte seinen Ärger jedoch hinunter. Im selben Moment sprang die Haustür auf, und Jan stürmte herein, die Hände voller Murmeln.

»Mama, Mama, ich habe gewonnen, das ganze Turnier habe ich gewonnen!«

Josef schnaubte verächtlich.

»Turnier? Ihr habt doch bloß Murmeln gespielt.«

Jan beachtete ihn nicht weiter, sondern zeigte stolz die Murmeln vor, die er ergattert hatte. Iris küsste ihn auf die Wange.

»Geh in die Küche, und lass dir von Unni ein Marmeladenglas geben, dann kannst du sie darin aufbewahren. Papa und ich müssen los, damit wir rechtzeitig zu Onkel Ritters Sommerfest kommen.«

Jan blinzelte.

»Ich dachte, er ist krank? Du hast doch gesagt, ihm geht es nicht so gut.«

Seine Mutter legte einen Finger auf die Lippen.

»Darüber spricht man nicht so laut. Ich meinte es auch eher im übertragenen Sinne. Er ist diesen Sommer nicht ganz er selbst gewesen.«

Doch Jan interessierte sich nicht für weitere Erklärungen, er war schon unterwegs in die Küche, um sich ein Glas geben zu lassen.

Im weißen Leinenanzug kehrte Rudolf kurz darauf in den Salon zurück und küsste seine Frau.

»Müssen wir wirklich?«, fragte er. »Ich habe so ein ungutes Gefühl dabei.«

Iris sah ihn bittend an. Sie freute sich schon seit Tagen darauf, Karl-Fredrik zu sehen.

»Also gut. Du siehst übrigens bezaubernd aus. Kaum zu glauben, dass ausgerechnet ich mit der schönsten Frau Estlands verheiratet sein darf.«

Iris verdrehte lächelnd die Augen. Er grinste.

»Wahrscheinlich nur deshalb, weil du noch dazu ganz schön was auf dem Kasten hast.«

Iris gab ihrem Mann, der nach Rasierwasser duftete, einen Klaps. Sie verabschiedeten sich von ihren Söhnen und versprachen ihnen, dass sie am nächsten Morgen alle zusammen am Strand frühstücken würden.

Karl-Fredrik Ritters Haus lag direkt am Meer. Die meisten Gäste schienen bereits eingetroffen zu sein, und so beeilten Iris und Rudolf sich, zu ihnen zu stoßen.

Schon von Weitem rief eine Stimme aus dem Garten: »Mein Schwesterherz!«, und Kati lief mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Sie umarmte erst Iris und küsste sie auf die Wange, dann warf sie Rudolf einen Luftkuss zu. Er nickte kurz. Iris sah ihm an, dass er nicht damit gerechnet hatte, Kati hier zu begegnen. Noch ehe er etwas erwidern konnte, entdeckte Kati jemand Neues und wandte sich ab.

»Euer Exzellenz Botschafter Stenström«, hörten sie sie rufen. »Wie schön, Sie hier zu sehen. Mein Henry hat erzählt, dass Sie künftig in Berlin stationiert sein werden.«

»Warum ist sie hier?«, fragte Rudolf leise. »Ich wusste nicht einmal, dass sie in Pärnu ist. Wollte sie nicht bis Weihnachten in Berlin bleiben?«

Iris verzog das Gesicht.

»Anscheinend nicht. Außerdem ist sie ebenfalls mit Karl-Fredrik aufgewachsen, genau wie ich.«

»Normalerweise hält sie sich von Veranstaltungen fern, auf denen wir erwartet werden. Oder zumindest von solchen, bei denen ich auftauchen könnte.«

Iris musste sich zurückhalten, um nicht die Partei ihrer Schwester zu ergreifen. Rudolf war dagegen gewesen, als Kati verkündet hatte, den Deutschen Heinrich heiraten zu wollen. In der Folge hatte sie ihn ihren Unmut darüber deutlich spüren lassen. Iris selbst wusste nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollte. Ihre jüngere Schwester war zwar sehr impulsiv, vielleicht verfolgte sie aber auch einen ganz bestimmten Plan mit ihrer Partnerwahl, von dem sie ihnen nur noch nichts erzählt hatte.

Iris stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Rudolf.

»Wir werden es überleben. Immerhin ist sie meine Schwester. Sie wird sich schon nicht unnötig aufspielen. Die Leute hier sind doch vor allem unsere Freunde.«

Rudolf drückte sie an sich.

»Gut, dass du meine Frau bist, du machst mich zu einem besseren Menschen.«

Iris zog ihn hinter sich her zum Haus und zu den anderen weißgekleideten Gästen.

Mit dem alljährlichen gemeinsamen Essen feierte man das Ende des Sommers. Alle Anwohner entlang des schönen Strandes waren eingeladen und mussten sich für den Abend weiß kleiden. Der schwedische Gastgeber, Karl-Fredrik Ritter, stand mitten im Garten seines Sommerhauses und hieß die Neuankömmlinge mit ausgebreiteten Armen willkommen. Sein weißer Leinenanzug bildete einen schönen Kontrast zu der tiefen Sommerbräune, die dank der vielen freien Zeit auf dem Meer seine Haut überzog. Iris hatte bemerkt, dass die anderen Männer ihm sein Holzboot neideten, das am größten Steg des Strandes vertäut lag.

»Iris! Rudolf!«

Karl-Fredrik Ritter küsste Iris auf die Wangen und klopfte Rudolf freundschaftlich auf den Rücken.

»Es tut mir leid, dass wir uns diesen Sommer so selten gesehen haben. Und jetzt wird es bald schon wieder Zeit, nach Hause zu fahren.«

Melancholisch blickte er über den Garten und aufs Meer hinaus.

Iris zuckte die Achseln.

»So ist es eben. Das Leben wird schwieriger.«

Karl-Fredrik musterte sie, bevor er antwortete. Zwischen seinen blauen Augen hatte sich eine Falte gebildet.

»Ich weiß, dass die Situation hier in Estland deutlich kritischer ist, aber auch für Schweden sind schwere Zeiten angebrochen, genau wie für den Rest Europas. Ich erkenne meine Landsleute manchmal kaum wieder.«

Rudolf nickte.

»Das Klima ist rauer geworden. Aber wie laufen denn die Geschäfte?«

Karl-Fredrik hob die Schultern.

»Das hört sich jetzt bestimmt seltsam an, aber ich hatte tatsächlich ein Rekordjahr. Noch nie haben so viele wohlhabende Menschen so viel teure Kunst gekauft. Darüber müsste ich mich eigentlich freuen, aber ehrlich gesagt bin ich mir noch nicht sicher, was ich von dieser Entwicklung halten soll.«

Iris nahm einen Schluck von ihrem Drink.

»Welcher Entwicklung?«

»Nun ja, dass die Leute, die richtig Geld haben, die Chance nutzen, um zu investieren, während es der Mittelklasse immer schlechter geht. Ich glaube, das führt zu nichts Gutem. Eine demokratische Gesellschaft verträgt es nicht, allzu tief gespalten zu werden.«

Rudolf blinzelte.

»Hierzulande hat man ja schon häufig Strukturen zusammenbrechen sehen, und leider stets verbunden mit Blutvergießen«, sagte er dann. »Es erstaunt mich jedoch, dass Sie diese Tendenz jetzt auch in Schweden bemerken. Ich dachte immer, Sie blieben dort vom Schlimmsten verschont.«

»Noch ist es ja auch so. Allerdings werden immer mehr Stimmen laut, die begrüßen, was gerade in Deutschland passiert. Hermann Göring hat einen Großteil des Sommers im Ferienhaus seiner Frau verbracht und sich mit diversen einflussreichen Mitgliedern der höheren Gesellschaft getroffen, unter anderem mit meinem Cousin, dem Piloten. Ihr seid ihm hier schon ein paarmal begegnet. Im letzten Jahr war ich mehrfach gezwungen, mit diesen Leuten zu verkehren, und ich muss sagen, ich bin es wirklich leid, mich mit solchen wie ihnen abgeben zu müssen. Umso mehr genieße ich es, heute mit euch zusammen zu sein, meinen Freunden. Aber jetzt setzen wir uns lieber mal, Kerstin wirft mir schon böse Blicke zu. Darf ich dich zu Tisch führen, Iris?«

Die Tafel auf der Veranda war wie immer reich gedeckt, im Hintergrund glitzerte das Meer. Kerstin Larsson war die schwedische Haushälterin, die Karl-Fredrik überallhin begleitete. Iris hatte den Eindruck, als wären es diesmal noch mehr Gäste als sonst. An die vierzig Personen waren um den Tisch versammelt. Sie lächelte Karl-Fredrik dankbar zu, auch, weil er sie zu seiner Tischdame erkoren hatte. Ihre Freundschaft reichte weit in die Vergangenheit zurück. Schon ihre Mütter hatten als Kinder zusammen gespielt, hier und in Schweden.

Karl-Fredrik legte seine Hand auf ihre und wurde plötzlich ernst.

»Versprich mir, Iris, dass du niemals Schlechtes von mir denkst. Ich gebe dir mein Ehrenwort, dass du mir vertrauen kannst, egal, was passiert.«

Bevor sie ihn fragen konnte, was er damit meinte, stand er auf und erhob sein Glas.

»Liebe Gäste, ein Jahr ist vergangen, und ihr gebt mir erneut die Ehre. Ich glaube, nirgendwo sonst ist die Süße des Sommers so spürbar wie hier in Pärnu. Mit dem Meer als ständiger Gesellschaft und der Sonne, die stets über uns scheint. Stoßen wir an, auf dieses Paradies auf Erden.«

Die ganze Gesellschaft prostete dem hochgewachsenen Kunsthändler zu. Seinen Strohhut trug er wie immer mit Finesse, und er duftete vertraut nach Tabak und Sandelholz. Kurz setzte er sich wieder hin, aber nur, um Iris zuzuflüstern: »Entschuldige, ich habe meine Zigarren auf dem Boot vergessen. Ich bin gleich wieder zurück.«

Etwas in seinem Gesicht hätte sie möglicherweise warnen können, doch sooft sie später auch versuchte, sich seine Worte wieder ins Gedächtnis zu rufen, vermochte sie nie zu sagen, was ihr hätte auffallen sollen. Vielleicht der plötzliche Glanz in seinen ernsten Augen. Vielleicht sein Händedruck, bevor er aufstand und über die Sanddünen zum Wasser hinuntereilte.

Sie erinnerte sich an ihre Überraschung und die plötzliche Unruhe, als sein Motorboot startete und aufs Meer hinaussteuerte. Wie sie sich zu Rudolf umdrehte und seinem fragenden Blick begegnete. Dann die Explosion. Der Feuerball, der vom Motorboot in den Himmel aufstieg, brannte sich für immer in ihre Netzhaut ein. Das Paradies verwandelte sich in eine Hölle.

Sie konnte nicht ahnen, dass das nur der Anfang war.

Signe

Juni 1940

Signe Jansson knöpfte sich den Mantel zu und sah sich noch einmal in der kleinen Kammer um, ob sie auch nichts vergessen hatte.

»Bitte, Mama, bleib. Bleib bei mir.«

Signe ging neben Erik in die Hocke. Seine Augen schwammen in Tränen.

»Ich muss leider fort.«

Er schüttelte heftig den Kopf.

»Nein, du sollst bei mir bleiben.«

Signe zwang sich zu einem Lächeln und strich ihm über die weiche Wange und das blonde Haar.

»Dein Papa bleibt doch bei dir. Und Großvater und Großmutter. Sie sind ebenso deine Familie.«

»Du bist meine Familie. Wann kommst du zurück?«

Signe blinzelte eine Träne weg. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Ich weiß es nicht, Erik. Du musst jetzt tapfer sein.«

Plötzlich trat Stig aus dem Dunkeln und zog seinen Sohn an sich.

»Ich glaube, es ist besser, wenn Signe jetzt geht. Wir wollen doch nicht, dass sie den Bus verpasst, oder, Erik?«

»Doch!«, brüllte er. »Ich will nicht, dass Mama fährt.«

»Signe ist nicht deine Mutter, und sie muss weg. Wir kommen sehr gut alleine zurecht, du und ich. Du wirst mir helfen, nicht wahr?«

Erik schluchzte und schlug ihm mit seinen kleinen Fäusten gegen die Brust. Stig warf Signe einen wütenden Blick zu und bedeutete ihr mit einem Winken zu gehen.

Sie nahm Eriks Hand und hielt sie fest, schaute ihm in die blauen Augen. Sie liebte den Jungen mehr als alles auf der Welt.

»Mag sein, dass ich nicht deine Mutter bin, aber ich liebe dich, als wäre ich es. Der Postbote wird dir jede Woche einen Brief von mir bringen. Ich werde immer für dich da sein, immer für dich beten. Mein lieber, kleiner Erik.«

Ihre Stimme versagte, sie nahm ihren Koffer und ging hinaus. Hinter ihr schluchzte Erik noch immer, und sie hörte, wie Stig versuchte, den verstörten Vierjährigen zu beruhigen.

Mühsam schleppte Signe den schweren Reisekoffer über den Hof. Sie wünschte sich, sie hätte ein Paar Handschuhe gehabt, denn es war noch immer empfindlich kalt. Von ihren Geschwistern, die noch auf dem Hof lebten, war niemand zu sehen. Sie verstanden und akzeptierten ihre Entscheidung nicht. Noch enttäuschter waren wahrscheinlich ihre Eltern, die in den letzten Tagen kaum noch ein Wort mit ihr geredet hatten. Sie kamen nicht einmal, um sich von ihr zu verabschieden.

An der Hauptstraße fuhr ein großer, mit Kiefernzweigen beladener Wagen an ihr vorbei, kurz darauf kam planmäßig ihr Bus. Signe lauschte auf das Fauchen der Bremsen und zwang sich, sich nicht umzusehen.

Der Fahrer wischte sich den Schweiß von der Stirn und nickte ihr zu.

»Wohin?«

Signe räusperte sich und hielt ihm ihr Zweikronenstück hin.

»Åkersberga.«

Der Fahrer riss einen Fahrschein ab und schob ihr das Wechselgeld hin. Der Bus war nur zur Hälfte besetzt, und sie ließ sich auf einer der mittleren Bänke nieder, um Platz für ihr Gepäck zu haben. Schützend legte sie eine Hand auf den Koffer, immerhin enthielt er alles, was sie jetzt noch besaß.

Der Bus fuhr los, durch das offene Fenster drang eine Abgaswolke herein. Immer schneller sausten die Birken an ihr vorüber, und Signe bemühte sich, das Bild von Erik zu verdrängen, der ihr hinterherwollte, und nicht an Stig zu denken, der sich bis zuletzt geweigert hatte, ihr noch einmal in die Augen zu sehen.

Auf Höhe der Roslags-Kulla-Kirche hielt der Bus, und zwei ältere Damen lösten ebenfalls einen Fahrschein nach Åkersberga. Wahrscheinlich wollten sie zum Markt. Signe starrte aus dem Fenster. Sie hatte kein Bedürfnis, irgendwelchen Bekannten zu begegnen. Stattdessen versuchte sie, sich Stockholm vorzustellen. Es war zehn Jahre her, seit sie die Hauptstadt besucht hatte, und damals war sie im Grunde nur auf der Durchreise gewesen. Die kurze Zeit hatte kaum genügt, um sich einen Überblick über die Stadt zu verschaffen.

Sie tastete nach dem Brief in ihrer rechten Tasche, um sich zu vergewissern, dass er noch da war. Als der Briefträger ihn vor einer Woche gebracht hatte, hatte sie keine großen Erwartungen gehabt oder gar zu hoffen gewagt, dass er ihr irgendeine Art von Sicherheit geben würde.

Das Einzige, was sie jetzt wusste, war, dass sie sich in vierundzwanzig Stunden bei einem Professor Svartström einfinden sollte.

***

Der Zug ratterte auf den Schmalspurgleisen der sogenannten Roslagsbana durch den Park Lill-Jansskogen und weiter durch eine fabrikähnlich anmutende Gegend, in der Bahnarbeiter mit Schweißgeräten und schwerem Werkzeug schwitzend ihrer Tätigkeit nachgingen. Beinahe taten ihr die Männer leid, die vor Schmutz und Staub beinahe so schwarz waren wie Schornsteinfeger. Signe fand, sie sahen unheimlich aus.

Immer langsamer fuhr der Zug, die Bremsen quietschten, dass es in den Ohren wehtat. Behände schwang sich der Schaffner auf die kurze Leiter und fuhr die letzten hundert Meter an der Außenwand des Zuges mit. Er zog seine Schaffnermütze und grüßte mit übertriebener Geste einen Kollegen auf der anderen Seite der Gleise. Zuvor hatte er Signe zugezwinkert, als sie ihre Fahrkarte löste, und sie gefragt, ob sie in die Stadt wolle, um sich zu amüsieren. Sie hatte zu Boden geschaut und sich schnell einen Sitzplatz gesucht.

Während der Fahrt hatte unter den Reisenden eine beinahe familiäre Stimmung geherrscht. Man plauderte über die neuesten Lebensmittelrationierungen sowie über die Koalition, die vor einem halben Jahr mit Per Albin Hansson als Staatsminister an die Regierung gekommen war und die nach allgemeiner Übereinkunft trotz allen Elends gar nicht so übel war. Signe hatte sich zu Hause bemüht, die Tageszeitungen zu lesen, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. Seit jedoch im April die Spannungen in Norwegen gewachsen waren, hatten Stig und ihre Eltern beschlossen, dass es genügte, die Rundfunknachrichten im Radio zu hören.

Die Reisenden stellten sich an den Türen an, und allmählich leerte sich der Zug. Signe schluckte und hielt ihren Koffer ganz fest. Zum hundertsten Mal prüfte sie, ob der Brief noch in ihrer Manteltasche steckte. Draußen auf dem Bahnsteig unterhielt sich der zu Späßen aufgelegte Schaffner mit zwei Polizisten. Sie lachten herzlich, und Signe fühlte sich ruhiger. Auch wenn Stockholm mit seinen vielen Menschen sie überforderte, gab es hier doch auch mehr Polizisten und Ordnungshüter.

Ihre Cousine, die bereits mit fünfzehn als Dienstmädchen nach Stockholm gezogen war, hatte ihr geholfen, eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden. Sie putzte im Hauptquartier der Heilsarmee, wohnte aber mit Mann und Kindern draußen auf Kungsholmen zur Miete bei einer älteren Frau. Dort war Besuch streng verboten, deshalb hatte die Cousine Signe erklärt, es gebe Übernachtungsplätze bei der Heilsarmee. Allerdings dürfe sie erst nach dem Abendessen dort auftauchen. Es war erst vier Uhr, und Signe rechnete mit etwa einer guten halben Stunde Fußweg bis zur Greve Turegatan. Das bedeutete, dass sie mindestens zwei Stunden totschlagen musste.

Das Restaurant an der Östra Station war acht Jahr zuvor mit viel Tamtam eröffnet worden. Signes Vater und ihr Nachbar waren damals in die Hauptstadt gefahren, um zur Bank zu gehen, und hatten sich ordentlich herausgeputzt. Es war das einzige Mal gewesen, dass sie ihren Vater, abgesehen von Hochzeiten und Beerdigungen, im Anzug gesehen hatte. Nach dem Banktermin hatten die beiden an der Östra Station zu Mittag gegessen, und ihr Vater hatte noch lange davon erzählt, wie schlecht das Fleisch dort gebraten gewesen sei. Es sei noch völlig rot und zäh gewesen, und so sei ihm nichts anderes übriggeblieben, als es in seine Serviette einzuschlagen und es für die Katze mitzunehmen.

Signe griff nach dem schweren Koffer und betrat zögernd den Bahnhof, wo sich im ersten Stock das Restaurant befand. Das Gebäude verfügte über einen Wartesaal, der wie ein Atrium wirkte. Eine Frau mit großem Busen in gestärkter weißer Bluse und eng anliegendem Rock sah sie freundlich an.

»Sind Sie allein, gnädiges Fräulein? Kann ich Ihnen helfen?«

Signe räusperte sich und nickte.

»Ich würde gern eine Kleinigkeit essen. Aber ich habe leider diesen großen Koffer dabei.«

Die Frau lächelte.

»Das sind wir hier am Bahnhof gewöhnt. Ich stelle ihn in die Garderobe. Wollen Sie am Fenster sitzen oder lieber auf die Züge hinunterschauen? Sie haben freie Platzwahl, der Mittagsansturm ist schon vorüber.«

»Gerne am Fenster, wenn es geht.«

Die Frau half ihr aus dem Mantel, den Hut behielt sie jedoch auf. Fest umklammerte sie die Handtasche, als sie der Frau zu einem Tisch mit Blick auf den Ziegelpalast der Königlich Technischen Hochschule und auf den dichten Verkehr auf dem Valhallavägen folgte.

»Möchten Sie vor dem Essen noch etwas trinken?«

»Nein, danke, Wasser genügt.«

Signe irritierte die Frage. Vor dem Essen trank man doch nicht?

»Das Tagesgericht ist gebratener Salzhering mit Zwiebelsoße, aber ich würde Ihnen Kartoffelpuffer empfehlen. Von denen kann ich nicht genug bekommen, wie man leider sieht.«

Die Frau klatschte sich mit der Hand auf die Hüfte. Signe lächelte.

»Dann nehme ich Kartoffelpuffer. Und dazu ein Glas Milch, wenn es Ihnen keine Umstände macht.«

Kurz darauf kehrte die Kellnerin mit einer Wasserkaraffe und einem Glas Milch zurück. Dazu gab es ein Körbchen mit Knäckebrot und ein Schälchen Butter. Signe fand, wenn sie schon teuer bezahlte, konnte sie sich auch ruhig daran bedienen. Sie hatte dreihundertzwanzig Kronen in ihrem Portemonnaie, das waren ihre gesamten Ersparnisse. Da konnte man es sich nicht leisten, oft in Lokale wie dieses hier zu gehen.

Der Kartoffelpuffer wurde mit Speck und Preiselbeeren serviert und war genauso köstlich, wie die Kellnerin versprochen hatte. Signe aß alles auf und lehnte sich dann auf dem Stuhl zurück. Nach der Anspannung des Tages begann sie sich erschöpft zu fühlen.

Auch Erik hatte wohl inzwischen zu Abend gegessen, vielleicht die Reste vom Vortag, die sie in die Kühlkammer gestellt hatte. Sie hoffte, dass der Napfkuchen, den sie tags zuvor gebacken hatte, ihn ein bisschen über seinen Kummer hinweggetröstet hatte. Erik liebte ihren Napfkuchen.

Signe zwang sich, nicht an ihren Neffen zu denken, sie wollte nicht schon wieder weinen. Eine einzelne Träne war bereits ihre Wange hinuntergerollt, verstohlen wischte sie sie ab.

Die Kellnerin trat noch einmal zu ihr.

»Entschuldigung, dass ich Sie so kurz nach dem Essen störe, aber wir hatten eine Fehlbestellung, und jetzt haben wir einen Nachtisch übrig. Dürfen wir Sie dazu einladen? Es ist so schade, in Zeiten wie diesen Essen wegzuwerfen. Vielleicht mögen Sie auch noch einen Kaffee dazu?«

Signe starrte die freundliche Frau verwirrt an und nickte dann dankbar. Sie hoffte, das Dessert wäre nicht allzu mächtig, denn inzwischen war sie ziemlich satt.

Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen, als der Nachtisch vor ihr stand. Eingelegte Birnen mit Schlagsahne, noch nie hatte sie etwas so Köstliches gegessen.

Sie fühlte sich beinahe wie ein Filmstar, wie sie da am Bahnhof saß und hervorragendes Essen in einem Restaurant aß. Sie, die unscheinbare Signe Jansson aus Roslags-Kulla.

Elisabeth

Elisabeth Herrman stürmte zur Tür hinaus und wurde vom hellen Sonnenlicht über der Birger Jarlsgatan geblendet. Fahrradfahrer sausten an ihr vorbei, fast so schnell wie die Straßenbahn, und sie musste ausweichen, sonst wäre sie von einem Kurier erfasst worden. Gullan hatte am Abend vorher extra noch mal angerufen, um sie zu bitten, heute auf jeden Fall pünktlich zu sein. Elisabeth verzog das Gesicht. Sie war bereits vier Minuten später dran als vereinbart.

Plötzlich packte jemand sie am rechten Arm und zischte ihr ins Ohr: »Ich hab doch gesagt, du sollst pünktlich sein.«

Gullan lachte, und Elisabeth schüttelte den Kopf.

»Du spinnst ja. Was machst du überhaupt hier, wir wollten uns doch an der Sturegatan treffen.«

Gullan verdrehte die Augen.

»Ach, Betty, ich wusste doch, worauf ich mich einlasse, als wir verabredet haben, einmal in der Woche zusammen zur Arbeit zu gehen. Meine Mutter wäre jedenfalls froh, wenn sie das wüsste, sie findet es gut, wenn wir ein bisschen an der frischen Luft sind, bevor wir uns im Büro verbarrikadieren.«

»Glaubt sie immer noch, bei dir seien Hopfen und Malz verloren, bloß weil du eine Arbeit angenommen hast?«

Gullan seufzte, während sie zügig die Sturegatan hinaufgingen, vorbei am Humlegården-Park, der in sommerlichem Grün leuchtete.

»Ja, sie fragt ständig, wozu das gut sein soll. Ich glaube, ihr fällt es vor allem schwer, zu verstehen, warum wir ausgerechnet einen Job beim Luftwaffenstab angenommen haben. Wahrscheinlich hat sie Angst, sie schicken uns in den Krieg.«

»Und mein lieber Bruder, was sagt der dazu? Zu Hause war er ganz schön eingeschnappt, weil ich mich ›zum Militärdienst habe einberufen lassen‹, wie er es ausdrückt.«

»Zu mir hat er noch nichts gesagt. Allerdings sind wir ja auch nicht verlobt, deshalb hat er mir ohnehin nichts zu sagen.«

»Das ist nur eine Frage der Zeit, das weißt du doch. Er küsst den Boden, auf dem du gehst. Und wenn er nicht bald in die Puschen kommt, dreh ich ihm den Arm um.«

Etwas gemächlicher gingen sie weiter Richtung Karlavägen und bogen rechts zum Karlaplan ab. Der Springbrunnen war wieder in Betrieb genommen worden, und ein paar kleine Jungs versuchten eifrig, ihre Rindenboote zum Schwimmen zu bringen. Als sie den Valhallavägen Richtung Banérgatan überquerten, wo der ziegelrote Neubau stand, stellte Elisabeth überrascht fest, dass sie ganze zehn Minuten zu früh waren.

»Komm, wir setzen uns ein bisschen in die Sonne, bevor wir reingehen, ich fühle mich so blass.«

»Blass? Du hast das ganze Gesicht voller Sommersprossen.«

Elisabeth gab ihrer Freundin einen Klaps auf den Arm, dann ließ sie sich auf die Bank neben dem Eingang fallen. Genüsslich legte sie den Kopf zurück und blinzelte in die Sonne.

»Wenn ihr heiratet, du und Arne, dann bist du seine Ehefrau. Das werde ich wohl nie werden.«

Gullan lachte.

»Ist ja auch besser, wenn du gar nicht erst darüber nachdenkst, deinen Bruder zu heiraten.«

»Quatsch, ich meine doch, überhaupt eine Ehefrau.«

»Das kann man nie wissen. Ehe du dich versiehst, taucht er plötzlich auf, dein Traumprinz.«

Elisabeth schüttelte den Kopf.

»Nein, das ist nichts für mich. Ich glaube einfach nicht, dass es zu mir passt. Jemanden lieben möchte ich schon, aber ich weiß nicht, ob ich jemandes Frau werden will.«

Gullan schnaubte.

»Ach, was redest du denn da!«

Anschließend schwiegen sie, bis es Zeit wurde, hineinzugehen. Der Wachmann lächelte breit, als er ihnen die Schranke öffnete, und zwinkerte Elisabeth zu.

»Die stabseigene Rita Hayworth! Wann habe ich wohl endlich die Ehre, das Fräulein zum Tanz auszuführen?«

Elisabeth hob die Augenbraue.

»An dem Tag, an dem Sie sich Cary Grant nennen dürfen.«

Signe

Signe gelang es, ihren Aufbruch noch um eine gute Stunde hinauszuzögern, doch dann war es an der Zeit, das Restaurant zu verlassen. Am Zeitungsständer im Erdgeschoss hielt sie inne und fuhr mit der Hand über die leuchtend bunten Zeitschriften, bis sie sich schließlich für eine Frauenzeitschrift mit Sickan Carlsson auf dem Titelblatt entschied. Sie konnte der Schauspielerin einfach nicht widerstehen, wie sie in einer grünen, glänzenden Bluse vor Pelargonien in die Kamera lächelte. Signe war sich ihrer eigenen Makel bewusst, niemand käme auf die Idee, sie eine Schönheit zu nennen. Aber wenn sie träumen durfte, wünschte sie sich, ein bisschen wie Sickan auszusehen, die für ihre aufrichtige Freundlichkeit bekannt war.

Signe setzte sich auf eine der Bänke ganz hinten in der Wartehalle, ein wenig beschämt darüber, sich die Zeit so sinnlos zu vertreiben. Das Interview mit der Schauspielerin war ziemlich sensationslüstern. Sie hatte zu Beginn des Kriegs 1939 geheiratet und die Hochzeit tatsächlich selbst bezahlt. Hundertzwanzig Hochzeitsgäste waren auf dem traditionsreichen Hasselbacken draußen in Djurgården zusammengekommen, doch von Sickans eigener Familie hatte kaum jemand teilgenommen.

Signes Kehle schnürte sich zusammen. Sie fühlte sich der Schauspielerin, die auf ihre Verwandten offenbar genauso wenig zählen konnte wie sie selbst, mit einem Mal viel näher. Sie las konzentriert weiter und war beinahe enttäuscht, als der Artikel zu Ende war. Zerstreut blätterte sie den Rest der Zeitschrift durch: seitenweise Haushaltstipps und Leserbriefe, in denen gefragt wurde, wie man am besten einen Sonntagsbraten zubereitete oder seine schrundigen Fersen pflegte.

Nachdem Signe die Zeitschrift noch einmal von vorn bis hinten durchgeblättert hatte, war eine weitere Stunde verstrichen. Nun konnte sie sich endlich aufmachen. Ihre Cousine hatte ihr eine detaillierte Wegbeschreibung gegeben, laut der sie auf Höhe des Stureparks rechts in die Östermalmsgatan einbiegen sollte. Dann waren es nur noch zwei Häuserblocks bis zu ihrem Ziel.

Der Verkehr auf dem Valhallavägen war so laut, dass Signe schon bald die Ohren schmerzten. Weiß gekleidete Krankenschwestern schoben alte Menschen im Rollstuhl zur Pforte des Krankenhausgeländes. Signe, die selbst im Altersheim gearbeitet hatte, wurde beim Anblick der gebrechlichen Herren mit Wolldecke über den Knien ganz warm ums Herz. Am Stadion marschierten Wehrpflichtige in strengen Reihen auf und ab, und Signe hielt sich abseits, um ihre Ordnung nicht zu stören. Von der Sturegatan bog sie rechts ab und gelangte zum Sturepark. Ein paar Jungen spielten auf dem Kiesweg Murmeln, und daneben sprangen zwei Mädchen Seil. Von der Östermalmgatan bog Signe nach links ab und entdeckte gleich das Haus, zu dem sie wollte. Es war alt, und vor der Tür standen ein paar junge Frauen und rauchten. Sie trugen Kopftücher und hatten Lippenstift aufgelegt.

Signe nickte höflich.

»Ist das hier das Heim der Heilsarmee?«

Eine Frau mit kurzen Haaren grinste sie an.

»Jawohl, gnädiges Fräulein, hierher schickt man die gefallenen Mädchen in der Hoffnung auf Besserung und Heilung.«

Die anderen lachten, und die Kurzhaarige nickte zum Haus hin.

»Die Vorsteherin sitzt drinnen, wenn du dich aufnehmen lassen willst. In welchem Monat bist du?«

Signe starrte sie an. »Was meinen Sie damit?«

»Wie lange bist du schon schwanger?«

»Schwanger? Ich bin doch nicht schwanger!«

Das Mädchen runzelte die Stirn.

»Warum bist du dann hier? Hierher schickt man nur solche wie uns.«

Signe schnappte nach Luft und verfluchte innerlich ihre Cousine, die es nicht für nötig gehalten hatte, ihr zu erklären, was das hier für ein Ort war.

Das Mädchen schnippte den brennenden Zigarettenstummel fort.

»Keine Angst, ich komme mit rein. Soll ich dir mit dem Koffer helfen?«

Signe schüttelte den Kopf und folgte dem Mädchen, das lange Hosen und eine in der Taille geknotete Bluse trug. Jetzt drehte es sich um und lächelte.

»Wir sind netter, als wir aussehen. Wer hat dich denn hergeschickt?«

»Ich möchte nur für eine Nacht bleiben, morgen habe ich ein Vorstellungsgespräch in der Nähe. Meine Cousine hat gesagt, ich könne hierherkommen, Lena Emilsson, sie putzt für die Heilsarmee.«

Signe hielt ihre Handtasche fest umklammert. Sollte sie wirklich über Nacht hierbleiben?

»Ach, die kenne ich – sehr energisch. Manchmal ein bisschen muffelig, aber wer ist das nicht?«

Sie kamen zu einem winzigen Zimmer, das fast gänzlich von einem Schreibtisch ausgefüllt wurde. Dahinter saß eine Frau um die fünfzig mit strengem Dutt und kleiner runder Brille, die sie so weit unten auf der Nasenspitze balancierte, dass sie jeden Moment herunterzufallen drohte.

»Frau Johansson, Sie haben Besuch.«

Signe trat einen Schritt vor.

»Signe Jansson. Meine Cousine, Lena Emilsson, schickt mich. Ich würde gern hier übernachten, weil ich mich morgen als Dienstmädchen bei einem Professor Svartström in der Linnégatan vorstellen soll.«

Die Frau blickte auf und sagte freundlich: »Wie schön, Sie kennenzulernen. Lena hat mir viel Gutes von Ihnen erzählt. Ich hatte fast schon gehofft, Sie würden hier bei uns bleiben. Wir haben eine Stelle als Weblehrerin frei.«

Signe lächelte nervös.

»Vielen Dank. Ich komme gerne darauf zurück, wenn der Professor mich nicht für geeignet hält. Ich bin eigentlich nur seinetwegen hier.«

Die Frau schob ihre Brille hoch.

»Dann warten wir das Ergebnis Ihres Treffens morgen ab. Sie machen einen sehr patenten Eindruck. Als Lenas Cousine werden Sie wohl kein Problem damit haben, die Ärmel hochzukrempeln und anzupacken. Gut, dann bitte ich das Fräulein Ekman hier, Sie zu Ihrem Schlafplatz zu begleiten. Das Abendessen ist schon vorbei, aber gegen acht gibt es noch mal Kaffee und Zwieback. Fräulein Ekman, sorgen Sie bitte dafür, dass Signe sich heimisch fühlt.«

Fräulein Ekman nickte ihr zu, dann griff sie resolut nach dem Koffer und ging Richtung Treppe.

»Kommen Sie mit.«

Signe knickste und bedankte sich, dann beeilte sie sich, der jungen Frau zu folgen. Oben angekommen beugte diese sich ängstlich zu ihr hinüber und flüsterte: »Sie versprechen mir doch, Frau Johansson nicht zu erzählen, dass ich vorhin so unverschämt zu Ihnen war? Das war keine Absicht.«

Vielleicht war es ja doch gar nicht so gefährlich hier. Signe grinste vorsichtig.

»Was meinen Sie denn mit unverschämt? Ich kann mich an nichts erinnern.«

Fräulein Ekman lächelte dankbar und führte sie in ein großes Zimmer, in dem insgesamt acht penibel gemachte Betten standen. An jedem Fußende war ein Namensschild angebracht.

»Wie nett Sie es hier haben«, sagte Signe. »So ordentlich.«

»Danke. Wir räumen jeden Morgen auf, nach dem Frühstück wird kontrolliert.«

Den Kaffee gab es in der großen Küche. Signe bedankte sich, als ihr ein Teller mit Zwieback angeboten wurde, die mit Margarine bestrichen waren. Sie setzten sich um den großen Holztisch und schlürften ihren dünnen Kaffee. Manche Frauen tranken aus der Untertasse, andere tauchten ihren Zwieback ein.

»Wusstet ihr, dass Signe sich bei einem Professor beworben hat?«, fragte Fräulein Ekman. »Sie wird ein eigenes Zimmer bekommen.«

Die anderen hörten aufmerksam zu und sahen Signe mit großen Augen an. Signe hatte sich so schrecklich einsam gefühlt, seit sie aufgebrochen war, dass es schön war, ein wenig mit anderen plaudern zu können.

»Ich habe gerade mein Elternhaus verlassen, wo ich mein bisheriges Leben verbracht habe. Ich habe keine Ahnung, ob ich das hier schaffe. Weit weg von meiner Familie und alles. Ich kenne niemanden hier in der Stadt, außer meiner Cousine Lena, aber die wohnt mit ihrer Familie auf Kungsholmen.«

Fräulein Ekman beugte sich vor.

»Das wird schon gut gehen, warten Sie’s ab! Und sonst können Sie jederzeit zu uns kommen. Wir bleiben wahrscheinlich noch mindestens ein Jahr, bis wir uns eine neue Stelle suchen können.«

Die jungen Mädchen waren wirklich rührend, wie sie da saßen und Signe ihre Hilfe anboten. Sie lächelte.

»Darauf komme ich vielleicht tatsächlich zurück. Ein bisschen Angst habe ich schon vor der Großstadt.«

Die Mädchen kicherten und erzählten, wie sie selbst zum ersten Mal hierhergekommen waren. Einige waren in Stockholm geboren, aber mindestens ebenso viele schienen aus allen Ecken und Enden des Landes zu kommen. Die einen, um ihr Glück zu finden, die anderen der Liebe wegen, aus der dann doch nichts geworden war. Das Leben in Stockholm war nicht leicht, wenn man nicht schnell seinen Platz fand. Signe traute sich nicht zu fragen, hatte aber begriffen, dass die meisten hier am Tisch Kinder bekommen hatten, die sie anschließend ins Heim geben mussten, weil sie nicht in der Lage waren, sich um sie zu kümmern. Signe konnte sich den Schmerz vorstellen, den sie durchlebt hatten, die ständige Sorge, mit der sie leben mussten, und die Frage, ob ihre Kinder es gut hatten. Die Sehnsucht …

Im Schlafsaal ging es hoch her, nachdem alle sich umgezogen hatten. Die Mädchen wirkten auf Signe alle viel zu jung, noch gar nicht erwachsen genug, um mit dem zurechtzukommen, was ihnen widerfahren war. Kurz darauf kam die Vorsteherin herein und ermahnte alle, leise zu sein. Sie bat um besonders gutes Benehmen, weil sie an diesem Abend einen Gast hatten.

Signe kroch auf die einfache Pritsche und lauschte dem Flüstern der Mädchen. Deren hartes Schicksal machte ihr bewusst, wie viel mehr Sicherheit und Geborgenheit sie trotz allem in ihrem eigenen Leben erfahren hatte. Auch wenn die Zukunft ungewiss schien, spürte sie doch eine eigenartige Zuversicht. Sie fühlte, dass sie bisher doch insgesamt Glück gehabt hatte.

Elisabeth

»Sind Sie bitte so freundlich, noch mal zu mir reinzukommen, wenn Sie hier fertig sind, Elisabeth?«

Elisabeth blickte von ihrer Schreibmaschine auf.

»Selbstverständlich, Herr Oberst.«

Der Oberst nickte und entfernte sich rasch über den Flur. Elisabeth warf Gullan einen Blick zu.

»Glaubst du, er hat gemerkt, dass wir Freitag früher Schluss gemacht haben?«, flüsterte die Freundin besorgt von ihrem Schreibtisch aus.

Elisabeth schüttelte den Kopf, zog das fertige Dokument aus der Schreibmaschine und ließ es auf den Stapel mit der internen Ausgangspost fallen.

»Nein, ich glaube nicht. Wir waren die Letzten, die noch hier waren, und ich habe den Oberst anschließend mehrfach getroffen, ohne dass er es irgendwie kommentiert hätte. Es geht bestimmt um etwas anderes.«

Gullan schien nach wie vor skeptisch.

»Aber was? Sie werden dich doch nicht feuern? Stell dir vor, wir fliegen alle raus, vielleicht haben sie beschlossen, dass wir nicht mehr gebraucht werden.«

Elisabeth hob die Augenbraue.

»Nicht mehr gebraucht? Der Luftwaffenstab hat fähiges Personal ja wohl noch nie so dringend benötigt wie jetzt. Die Verteidigungskräfte werden mit jedem weiteren Kriegsmonat aufgestockt, und innerhalb kürzester Zeit wird es keinen einzigen arbeitstauglichen Mann mehr in der Stadt geben. Bestimmt geht es um etwas völlig Belangloses wie Essensmarken, die ich mal wieder vergessen habe abzugeben, oder dass ich gestern verschlafen habe. Rausfliegen werde ich deshalb nicht. Und du auch nicht.«

Sie überließ Gullan ihren Sorgen und begab sich zum Büro des Obersts. Sie drückte die Klinke herunter, als der Oberst sie hereinrief. Es war ein großzügiges Eckzimmer mit Blick auf den prächtigen Stadtteil Gärdet und auf den Värtavägen hinaus. In ihrer Schlichtheit wirkten die Neubauten draußen wie delikate Zuckerwürfel.

»Bitte, setzen Sie sich, Fräulein Herrman.«

Er deutete auf einen Stuhl ihm gegenüber, und sie nahm vorsichtig Platz.

Der Oberst lächelte, und für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl, er wäre ein bisschen verlegen. Dann legte er die Fingerspitzen aneinander und räusperte sich.

»Nun, Fräulein Herrman, Folgendes: Wir sind viele Leute in dieser Abteilung, und wir müssen irgendwie miteinander auskommen. Allein auf dieser Etage sitzen an die hundert Personen. Und zwei Büros von Ihnen entfernt arbeiten, wie Sie sicher wissen, ein paar neu eingestellte Ingenieure, die unseren künftigen Bedarf berechnen sollen. Denn leider müssen wir davon ausgehen, dass wir uns noch einige weitere Jahre in Bereitschaft befinden werden.«

Elisabeth schluckte.

»Nun gibt es da also ein kleines Problem. Wie es aussieht, fällt es einem der Ingenieure schwer, sich zu konzentrieren, wenn das Fräulein Herrman in der Nähe ist. Grund ist Ihr auffällig langes rotes Haar. Wir haben deshalb beschlossen, dass es das Einfachste wären, wenn Sie sich eine etwas kürzere und praktischere Frisur zulegen würden. Damit wäre das Problem ganz einfach gelöst.«

Der Oberst legte die Handflächen auf den Tisch und lächelte. Elisabeth wartete kurz, ob er noch etwas sagen wollte. Nach mehreren Sekunden des Schweigens begriff sie, dass es alles gewesen war.

»Der Herr Oberst verlangt also, dass ich mir die Haare schneide, weil einer der Ingenieure sich sonst nicht konzentrieren kann. Ist das richtig?«

»Ja, das ist korrekt. Sicherlich könnten wir uns darauf einigen, dass wir Ihnen die Friseurkosten erstatten, wenn Sie das wünschen. Ich habe gehört, der Salon hier um die Ecke soll ganz anständig sein.«

Elisabeth atmete tief durch. Wieder meinte sie einen Anflug von Verlegenheit im Gesicht des Obersts zu erkennen.

»Ich respektiere vollkommen, dass wir alle etwas zum allgemeinen Wohlbefinden beitragen müssen«, sagte sie schließlich und blickte den Oberst dabei fest an. »Und dass wir alle unser Bestes geben müssen, damit die Streitkräfte in dieser angespannten Lage konzentriert arbeiten können. Deshalb finde ich aber auch, dass wir diesem sogenannten Dilemma einmal wirklich auf den Grund gehen sollten. Lassen Sie mich also klarstellen, dass der Ingenieur, von dem Sie sprechen, wie auch seine Kollegen, in den letzten Monaten mehrmals falsche und nachlässige Analysen gestellt haben, die ich die Herren bitten musste zu korrigieren. Leider muss ich darüber hinaus melden, dass es sich dabei nicht nur um Flüchtigkeitsfehler, sondern um völlig idiotische Rechenfehler handelte, die diesen Personen trotz ihrer akademischen Ausbildung unterlaufen sind. Ich verspreche Ihnen, Herr Oberst, dass ein normalbegabter Gymnasiast nach ein paar Jahren Mathematikunterricht diese Aufgaben besser hätte lösen können. Wenn es tatsächlich so sein sollte, dass einer dieser unfähigen Herren sich über meine Haare beschwert hat, so wäre ich bereit, während der Bürozeiten einen straffen Dutt zu tragen. Was Sie allerdings von mir verlangen, steht meiner Meinung nach einer Demokratie wie Schweden nicht gut zu Gesicht.«

Betroffen sah der Oberst zu, wie sie von ihrem Stuhl aufstand. Ohne seine Antwort abzuwarten, ging Elisabeth zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal kurz um.