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Peter C. Burens

Grenzgänger

Mittsommertage in Lothringen

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Impressum

© Münster Verlag Basel 2019

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.

Umschlaggestaltung:

Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Bern

Gestaltung und Satz:

Christoph Krokauer, Würzburg

Druck und Einband:

CPI books GmbH, Ulm

Verwendete Schriften:

Adobe Jenson Pro

Papier:

Umschlag, 135g/m2, Bilderdruck glänzend, holzfrei;
Inhalt, 90g/m2, holzfrei Werkdruck 1,75fach

ISBN 978-3-907146-25-5

eISBN 978-3-905896-44-2

Printed in Germany

www.muensterverlag.ch

Für Katarina

Inhalt

Grenzland

Alte Kameraden

Zettelkästen

Kleines Glück

Schlachtenbummler

Traumwelten

Glossar

Grenzland

«Nehmen Sie mich mit?» Die Stimme leise, nicht zaghaft. Eher herausfordernd. Den Kopf zur Seite geneigt, mit keckem Augenaufschlag auf den regenverhangenen Himmel weisend.

Die junge Frau lehnt an einem Mittelklassewagen, der sein älteres Baujahr nicht verheimlicht. Das glatte, zu einem Pferdeschwanz gebundene schwarze Haar wirbelt im böigen Wind.

Riemen eines Gepäckstücks lasten auf der Schulter. Die prallgefüllte, ausgebeulte Reisetasche in cognacfarbigem Leder und angesagtem Vintage-Look stilisiert ihre Trägerin als modisch en vogue wie traditionsbewusst.

Der Halter des moosgrünen Peugeot 205 kommt geradewegs auf sie zu. Schlaksigen Schritts kehrt er von der Raststätte an der Autobahn nahe Strasbourg zu seinem Wagen zurück.

Ein Mann mit Gardemaß, bei leicht untersetztem Körperbau. An die Fünfzig dürfte er sein, eventuell darüber. Das Leben hat sich noch nicht in die weichen Gesichtszüge eingegraben.

Blauer Anzug, weißes Hemd. Die Jacke des Leinenanzugs hängt lässig über dem Unterarm. Ein geschorener, kaum sichtbarer Haarkranz begrenzt die gebräunte Glatze. Auf der Nase klemmt eine Nickelbrille.

Er schaut verschmitzt, mustert die Anhalterin. Schüttelt letzte Wassertropfen von den Händen. Dann zupft er mit spitzen Fingern ein Taschentuch aus der Hose.

«Der Lufttrockner ist mal wieder defekt. Und Papiertücher? Die sind eher Mangelware», schimpft er vor sich hin.

«Wohin soll’s denn gehen?» Er zückt den Schlüssel für Autotür und Zündschloss.

«Nach Reims. Fahren Sie dorthin?» Nach einer Pause fügt die Frau selbstbewusst hinzu. «Zumindest einen Teil der Strecke?» Die feste Aussprache unterstreicht eine erfüllbare Erwartung.

Er richtet den Blick nach oben, auf sich bedrohlich auftürmende Wolkenberge. «Steigen Sie schon ein, bevor sich ein Dauerregen über uns ergießt.»

In den Wagen gebeugt, den von Schriftstücken belagerten Beifahrersitz freiräumend, verrät er knapp. «Unser gemeinsamer Weg führt bis Verdun.»

Das Jackett wirft er auf die Rückbank. Eine Mappe mitsamt den Akten stapelt er neben dem Koffer im Heck, dazu das Bündel mit ihren Reiseutensilien.

Er startet den Motor, setzt den Wagen in Bewegung. Zunächst langsam. Als dieser den Beschleunigungsstreifen der vierspurigen Straße erreicht, geht er die Fahrt betont sportlich an.

«Warum in aller Welt Reims?», will er wissen. Das gut geschnittene Gesicht ihr zugewandt, während der Tachometer 160 anzeigt. «Paris dürfte prickelnder sein.»

Sie informiert, dass es die neuen, von Imi Knoebel gestalteten Fenster der gotischen Kathedrale sind, die sie nach Reims führen. Zuletzt habe sie die Kirchenfenster von Marc Chagall in Mainz und Zürich bewundert, auch die Arbeiten des Künstlers Gerhard Richter im Kölner Dom. Nun seien halt die von Knoebel an der Reihe.

Von der zwanzig Jahre Jüngeren lässt er sich zu den verschiedenartigen Motiven, Techniken, Materialien, Formen und der Farbgebung bei Glasmalereien unterweisen. Er hört fasziniert zu, erkundigt sich interessiert.

Auf Nachfrage berichtet sie von ihrer Arbeit in der Marketingabteilung eines kleinen Kunstbuch-Verlags im schweizerischen Neuchâtel. Dort habe sie täglich Zugang zu religiösen Themen. Sie lebe bei einem Freund, der im zwölften Semester Politikwissenschaft studiere, die Weltrevolution predige und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halte.

Für Hobbys und Urlaub bleibe da selten Geld übrig. Trampen betrachte sie als Möglichkeit, nicht alltägliche Wünsche zu verwirklichen. Für zeitgenössische Künstler wie Knoebel könne sich ihr Freund eh nicht erwärmen. Dieser spöttele: Sind alles Knechte des Kapitals.

Er erinnert sich an seine Jugend, da er selbst als Hitchhiker unterwegs gewesen war: Auf der Suche nach der Fremde, Weite und sich selbst. Mit Rucksack, langer Haarmähne, ausgestellten Schlaghosen.

Heute trifft er nur noch vereinzelt auf Weltenbummler. Insofern sind Zufallsbekanntschaften wie diese für ihn eine Chance, sich vital zu geben.

Mit Bedauern erklärt er ihr, dass er sie nicht nach Reims begleiten könne. Er habe für den kommenden Tag ein Referat beim Internationalen Historiker-Kongress in Verdun fest vereinbart.

Sodann bereichert er den Dialog mit Kulturhistorischem zum Reimser Bauwerk: Die Krönungskirche der französischen Könige, umkämpfter Ort im Verlauf von La Grande Guerre, eine Stätte der Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg.

Kurzweilig, überaus lebendig bis spritzig weiß er von der Teilung des karolingischen Erbes in Verdun 843 zu plaudern, vom Reich Lothars I. als Pufferzone zwischen dem West- und Ostfrankenreich seiner Brüder. Sie habe lediglich 27 Jahre existiert, sei mit dem Tod von Lothar II. endgültig Gegenstand machtpolitischer Ränkespiele geworden.

Das Streben nach natürlichen Grenzen zwischen Frankreich und Deutschland erweise sich seit damals als höchst unerfreuliche Thematik. Bis heute habe sie eine Vielzahl von Grenzverschiebungen zwischen Rhein und Maas zur Folge.

Sie lernt von ihm, wie er von ihr. Sachlich, neugierig. Im Umgangston immer kameradschaftlicher. Beide imponieren einander, ohne jedes Imponiergehabe, begegnen sich auf Augenhöhe. Schätzen und genießen es.

«Schön, dass wir ähnliche Vorlieben haben», schmunzelt er, beobachtet die Bewegung ihrer Hände, der Lippen. Das muntere Wesen erregt bei ihm mehr als rein fachliche Begeisterung.

Wann die Anrede vom Sie zum Du wechselt, und wer von den Beiden das miteinander vertraut Werden zuerst bemerkt? Irgendwo beim Überschreiten der Vogesen muss es geschehen sein.

Der Wortwechsel geschieht subtil, unbeachtet. So wie die deutsche Sprache bei der Fahrt nach Westen zum Elsässischen mutiert und bald ganz vom Französischen abgelöst wird.

Ein Straßenschild ruft ihm ins Gedächtnis, dass sich in Luxemburg, Flandern, Holland eigene Sprachen erhalten haben. Über die Zeiten hinweg sind sie Beleg für das Pochen auf Eigenständigkeit im ehemaligen Zwischenreich Lothars.

Zur Verdeutlichung der sprachlichen und territorialen Gemengelage zitiert er das moselfränkische Bekenntnis der Luxemburger: Wir welle bleiwe wat mir sin. Sie verzichtet auf ein Bonmot in Schwyzerdütsch.

Er schaltet die Außenbeleuchtung des Autos an. Durch den starken Regen hat die Abenddämmerung früher als im Sommer üblich eingesetzt.

Dörfer ziehen schemenhaft vorbei, flackernde Lichter in den Häusern. Wolkenverhangene Wälder, nebelbedeckte Wiesen und Weiden.

Ohne Unterlass prasseln Wassermassen gegen die Fenster. Der Scheibenwischer quietscht aufgeregt. Hagelkörner hämmern blechern auf das Dach. Die Reifen schleudern Regenpfützen hart gegen den Unterboden der Grünen Minna.

So nennt er seinen Wagen liebevoll, getauft auf die Farbe des PKWs und den Namen der Tochter des Doktorvaters. Mit ihr verbindet ihn ein amouröses Fahrterlebnis vor zwei Dekaden.

Er hat die Geschwindigkeit gedrosselt. Dreißig Stundenkilometer sind bei den widrigen Witterungsverhältnissen für sein Gefährt das Äußerste. Mehr wäre nicht zu verantworten.

«Wie kann ich die Rückenlehne des Sitzes verstellen?» Sie räkelt gähnend den schlanken Körper.

Als Kavalier beugt er sich galant und hilfsbereit über sie. Das Steuerrad in der linken Hand, bedient er rechts einen Hebel. Die Lehne senkt sich.

Jetzt angelt seine rechte Hand auf dem Rücksitz nach der Leinenjacke und einem geringelten Pullover. Fürsorglich breitet sie der Fahrer über der Schläfrigen aus.

«Mach’ ruhig die Augen zu. Ich wecke dich vor Verdun.»

Gegenüber der Eingenickten erwähnt er beiläufig, dass er in einem Dorf nahe der Stadt für sich Quartier gemacht hat.

Le Petit Bonheur liegt in einem Weiler auf den Höhen am Ufer der Maas. Ein altes Herrenhaus, aus massiven Kalksteinen erbaut. Mit acht Gästezimmern, ohne Restaurant.

Er hupt bei der Ankunft zweimal. Wie von Geisterhand öffnet sich das hölzerne Tor zur Einfahrt in den Hof.

Durch die schrille Hupe des Autos aufgeschreckt, wacht sie auf, reibt die Augen. Verwundert erblickt sie Unbekanntes, vernimmt französische Laute.

«Vous n’êtes pas seul, Monsieur?», stellt ein Concierge erstaunt fest. Aber auch «Bon, ça fait rien.»

Im Nu sind alle Transportstücke entladen, zehn lange Meter ohne Schirm im strömenden Regen zurückgelegt. Eilig wird aufgeweichter Lehmboden durchwatet. Die Fußabdrücke verlieren sich schnell im glitschigen Schlamm.

Über die knarrende Stiege führt man das Paar in eine geräumige Kammer mit Kamin, bleiverglasten Butzenscheiben, verblichenen Stofftapeten, antikem Mobiliar. Der Brokatvorhang wirft dekorativ Falten.

Mit einladender Handbewegung deutet der Concierge auf das vor Tagen telefonisch bestellte Tellergericht: Ziegenkäse, Tomaten, Ardenner Schinken und Quiche Lorraine. Stolz präsentiert der Mann eine entkorkte Flasche Beaujolais und ofenfrisches Baguette.

«Dies sollte für uns beide ausreichen, was meinst du?» Er schielt nach ihr. Die Frage bedarf keiner Erwiderung.

Flink ist die beige Überdecke des Französischen Betts in den Maßen ein Meter vierzig mal zwei Meter gefaltet, vom Hausdiener auf einem Beistelltisch deponiert. Zur Illumination zündet er zwei Kerzen an. Nach einem «Bonne soirée» fällt die Eichentür hinter dem Concierge eisern ins Schloss.

Bereits beim Betreten des Raums hatten die Neuankömmlinge die vom Lehm verschmutzten Schuhe ausgezogen und vor der Tür zum Trocknen aufgereiht.

Gut erzogen, lässt er ihr bei der Toilette und dem Ablegen durchnässter Kleider den Vortritt. Er wühlt derweil in seiner Aktenmappe.

Als sie aus dem Bad tritt, ist der Oberkörper unbekleidet. Ein Badetuch allein um die schmalen Hüften geschlungen.

Er sieht sie an. Ihren grazilen Hals, weiße Brüste, den makellosen Bauchnabel. Rosa lackierte Fingernägel glänzen.

Ihr Verhalten verwirrt, jedoch nur kurz. Es wirkt weder obszön noch schamlos, eher jugendlich unbefangen. Natürlich, wie selbstverständlich. Mit einem Schuss Egozentrik.

Jetzt sitzt sie aufrecht im Bett, den Rücken am gepolsterten Kopfteil. Ihren Zeigefinger in Richtung des vorbereiteten Abendbrots gestreckt.

«Ich möchte ein Stück Baguette mit viel Käse. Zuallererst aber ein großes Glas Rotwein als Willkommenstrunk.» Weiblich kokett folgt ein «Bitte».

Dienstbeflissen erfüllt er ihr jeden Wunsch. Reicht behänd ein Brot mit Ziegenkäse. Die Weingläser klingen beim Anstoßen wie helles Geläut.

Beide lachen, essen. Sprechen über das scheußliche Wetter, Kirchenfenster, weltliche und allzu weltliche Dinge.

«Ist das nicht öde, so ein Happening von Historikern?», unterstellt sie. «Treffen sich da nicht männliche Grufties mit weißen Bärten, dunklen Anzügen und altmodischen Fliegen? Im Gespräch mit verknöcherten, senilen Jungfern, piepsenden Archivmäusen?» Beschwipst kringelt sie sich.

«So schlimm ist es auch wieder nicht.» Er wiegelt ab. «Da kommen morgen bestimmt eine Menge Nachwuchsforscher. Die nutzen solche Treffs als Stellenbörse.»

Missbilligend runzelt sie die Stirn. Mimik und Gestik sind eindeutig.

Er ist verdutzt, füllt die Weingläser nach. «Äh, habe ich etwas Blödes gesagt? Ich kann mich nicht entsinnen.» Seine Pupillen fixieren den Kristallleuchter an der Decke.

Sie faucht garstig. «Streng deinen Grips an!»

«Ich werde verrückt!» Ihm dämmert es. «Du bist doch nicht etwa eine Emanze? Ich muss wohl extra beteuern, dass auch Frauen was in der Birne haben?»

«Du musst», brummt sie unterkühlt. «Im Übrigen bin ich keine Emanze, dafür emanzipiert.»

Mit dem Satz «Und ich bin kein Historiker, sondern Literaturgeograph» lotst er die Unterredung auf Unverfänglicheres, gibt weitere Einzelheiten zu seiner Person preis.

«Als Exot soll ich die Diskussion in Verdun wohl anreichern», so seine Vermutung. «Besitze allerdings keine Fliege als Halsschmuck, weder gestreift noch gepunktet. Bloß eine Krawatte mit Blümchen-Muster aus grauer Vorzeit.»

Ein herzhaft unbekümmertes Gejohle aus zwei Kehlen hallt in der Kammer, will kein Ende nehmen.

«Was für ein schöner Tag.» Sie atmet tief, legt eine Hand auf seinen muskulösen Unterarm. «Merci.»

«Wir machten uns getrennt auf den Weg, sind zusammen hierher gefahren, um diesen Abend gemeinsam zu verbringen.» Sie schaut nach ihm, vergnügt und zufrieden.

«Glaubst du an Zufälle?»

Er zögerlich. «Hm, weiß nicht so recht. Ich mache mich dann mal für die Nacht fertig.» Schon verschwindet er im Bad.

Nach zehn Minuten kehrt er zu ihr zurück, kalt geduscht und wohlgemut, im himmelblauen Pyjama. Den Odem des Mittelalters neutralisiert eine Zahnpasta mit Pfefferminzgeschmack.

Da träumt die Beifahrerin längst dem nächsten Tag entgegen. Entspannt, mit einem Engelslächeln. Von Kopf bis Fuß eingehüllt in ein weißes Laken.

Er schläft unruhig, ist aufgeputscht. Dreht und wendet sich auf seiner Betthälfte. Die Situation überfordert ihn, Männer-Phantasien halten ihn gefangen.

Für ihn ist es ungewohnt, die Nacht neben einer begehrenswerten Frau zu verbringen. Einfach nur so.

Um vier Uhr in der Früh flüchtet er aus dem warmen Lager. Kauert fröstelnd in einem Ohrensessel neben dem unbeheizten Kamin. Die um den Leib drapierte Überdecke des Betts bietet kargen Schutz vor innerer Kälte und mangelnder Behaglichkeit.

Sie erwacht gegen sieben Uhr, ausgeruht und gut gelaunt. Das Übernachten in Mehrbettzimmern bei Freunden ist für sie gelebter Alltag, nichts Ungewöhnliches.

Mit Erstaunen nimmt sie wahr, dass er bereits aufgestanden ist. Munter guckt sie Richtung Fenster.

Der Himmel hat über Nacht aufgeklart. Heiteres Morgenlicht blinzelt durch die Scheiben. Nur am Horizont ein tief hängendes Firmament und Wolken, die hastig ostwärts ziehen.

«By the way, ich hab’ nachgedacht», gesteht sie ihm. «Was ich dir gestern noch sagen wollte …»

Er blickt voller Bangen und Hoffen zu ihr hinüber. Sie zwinkert ihm zu.

«Das Kölner Kirchenfenster von Gerhard Richter erstrahlt besonders prächtig um die Mittagsstunde. So eine Art leuchtender Teppich fürs Meditieren. Total cool. Da musst du unbedingt hin.»

Müde, unrasiert, über sein unfertiges Referat für den internationalen Kongress brütend, setzt er sich zu ihr auf die Bettkante.

«Wie gern würde ich jetzt mit dir durchbrennen. Nach Paris. Oder auch nur bis Reims.»

Bevor er weitere Pläne schmieden kann, berührt ihre Hand den geöffneten Mund. Streichelt sanft über seinen Kopf.