Über das Buch

»Ihre Prosa gibt ein schmerzhaftes Gefühl von Ungewissheit preis.« (New Yorker) — Susan Sontags wichtigste Erzählungen endlich auf Deutsch

Es sind Lebensthemen, die Susan Sontag in ihren Erzählungen bewegen: Mit 14 besucht sie Thomas Mann in seinem kalifornischen Exil — mit hinreißender Ironie beschreibt sie die Verletzlichkeit ihres jugendlichen Ichs. Jahre später erfährt Sontag von der AIDS-Diagnose eines engen Freundes — ihre Ängste und Hoffnungen werden zum Stimmenchor des intellektuellen New York. Und lange nach ihren berühmten Essays über Fotografie beschäftigt sie sich wieder mit dem Verhältnis von Bildern und Realität — in der Geschichte von einem Vogel und einem Nachkommen Noahs. Dieser Band versammelt wichtige Erzählungen der großen amerikanischen Autorin endlich auf Deutsch — sie zeigen sie von ihrer persönlichsten Seite.

Susan Sontag

Wie wir jetzt leben

Erzählungen

Aus dem Englischen von Kathrin Razum

Mit einem Nachwort von Verena Lueken

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Wie wir jetzt leben

Beschreibung (einer Beschreibung)

Die Briefszene

Der Blick aus der Arche

Wallfahrt

Nachwort

Wie wir jetzt leben

Erst hat er nur abgenommen, sich nur etwas angeschlagen gefühlt, sagte Max zu Ellen, und Greg zufolge war er nicht zum Arzt gegangen, weil er es schaffte, mehr oder weniger im gleichen Rhythmus weiterzuarbeiten, allerdings hörte er, wie Tanya anmerkte, mit dem Rauchen auf, was nahelegt, dass er Angst hatte, aber auch, dass er, mehr als ihm bewusst war, gesund sein wollte, oder jedenfalls gesünder, vielleicht wollte er auch nur wieder ein paar Kilo zunehmen, sagte Orson, denn, fuhr Tanya fort, er hatte ihr erzählt, dass er damit gerechnet habe, die Wände hochzugehen (erzählten das nicht alle?), dann aber zu seiner Überraschung festgestellt, dass ihm die Zigaretten überhaupt nicht fehlten, und das Gefühl genossen, dass seine Lunge zum ersten Mal seit Jahren schmerzfrei war. Ob er denn einen guten Arzt habe, wollte Stephen wissen, denn es wäre doch verrückt, sich nicht untersuchen zu lassen, wo er jetzt nicht mehr so unter Druck stand und die Konferenz in Helsinki hinter sich hatte, auch wenn er sich danach schon wieder besser fühlte. Tatsächlich sagte er, und zwar zu Frank, dass er zum Arzt gehen wolle, obwohl er in der Tat Angst habe, wie er Jan gegenüber zugab, aber wer hätte heutzutage keine Angst, wobei er sich, so seltsam das erscheinen mag, erst seit kurzem Sorgen machte, wie er Quentin eingestand, erst seit einem halben Jahr habe er den metallischen Geschmack von Panik im Mund, denn ernsthaft krank zu werden sei etwas, das anderen Leuten passiere, ein normaler Irrglaube, wie er Paolo gegenüber bemerkte, wenn man achtunddreißig sei und nie eine ernsthafte Krankheit gehabt habe, er war, bestätigte Jan, kein Hypochonder. Natürlich war es schwierig, sich keine Sorgen zu machen, alle machten sich Sorgen, aber es brachte nichts, in Panik zu geraten, denn, so Max zu Quentin, man konnte nichts tun als abwarten und hoffen, abwarten und von nun an halt aufpassen, aufpassen und hoffen. Und selbst wenn sich herausstellte, dass man krank war, sollte man nicht aufgeben, es gab neue Behandlungsmethoden, die das unaufhaltsame Fortschreiten der Krankheit zum Stillstand zu bringen versprachen, die Forschung kam voran. Anscheinend meldeten sich alle mehrmals die Woche bei allen anderen, um sich auf dem Laufenden zu halten, ich habe noch nie so viele Stunden am Stück telefoniert, sagte Stephen zu Kate, und wenn ich erschöpft bin, nachdem zwei oder drei Leute bei mir angerufen und mir das Neueste berichtet haben, schalte ich das Telefon nicht stumm, um mich etwas zu erholen, sondern ich tippe die Nummer eines anderen Freundes oder einer Bekannten ein, um die Neuigkeiten weiterzugeben. Ich weiß nicht, ob ich es mir erlauben kann, so viel darüber nachzudenken, sagt Ellen, und ich misstraue meinen Motiven, da ist so etwas Morbides, an das ich mich gewöhne, das ich aufregend finde, so ungefähr müssen sich die Leute in London während der deutschen Bombenangriffe gefühlt haben. Soweit ich weiß, bin ich nicht gefährdet, sagte Aileen, aber man weiß ja nie. Wir haben so was einfach noch nie erlebt, sagte Frank. Aber findet ihr denn nicht, dass er zum Arzt gehen sollte, beharrte Stephen. Hör zu, sagte Orson, man kann die Leute nicht dazu zwingen, auf sich aufzupassen, und warum denkst du überhaupt das Schlimmste, vielleicht ist er einfach ausgelaugt, man kann nach wie vor ganz normale Krankheiten kriegen, schreckliche Krankheiten, warum meinst du, es müsste das sein. Ich will mir einfach sicher sein, sagte Stephen, dass er weiß, welche Möglichkeiten er hat, denn die meisten Leute wissen das nicht, sie denken, man könnte nichts tun. Kann man denn überhaupt etwas tun, soll er (Greg zufolge) Tanya gefragt haben, ich meine, was habe ich davon, wenn ich zum Arzt gehe; wenn ich wirklich krank bin, sagte er angeblich, werde ich es schon früh genug merken.

Und als er dann im Krankenhaus war, schien sich, zumindest Donny zufolge, seine Stimmung aufzuhellen. Er wirke fröhlicher als in den vergangenen Monaten, stimmte Ursula zu, habe die schlechte Nachricht geradezu mit Erleichterung aufgenommen, so Ira, sie im Gegenteil als absoluten Schock empfunden, so Quentin, aber man konnte kaum erwarten, dass er all seinen Freunden das Gleiche erzählte, schließlich hatte er zu Ira eine völlig andere Beziehung als zu Quentin (meinte Quentin, der stolz auf ihre Freundschaft war), vielleicht glaubte er, Quentin werde es verkraften, ihn weinen zu sehen, aber Ira beharrte, das könne nicht der Grund dafür sein, dass er sich ihnen gegenüber so unterschiedlich verhalte, vielleicht habe er ja bei seinem, Iras, Anblick den Schrecken überwunden, seine Kräfte mobilisiert und angefangen, um sein Leben zu kämpfen, wohingegen ihn Hoffnungslosigkeit übermannt habe, als Quentin mit Blumen gekommen sei, die Blumen hätten ihn jedenfalls in schlechte Stimmung versetzt, berichtete Quentin Kate, denn das Krankenhauszimmer quoll über von Blumen, nicht eine einzige weitere Blume hätte mehr hineingepasst, da übertreibst du sicher, sagte Kate lächelnd, Blumen mag doch jeder. Wer würde in diesen Zeiten nicht übertreiben, erwiderte Quentin scharf. Findest du nicht, dass das die eigentliche Übertreibung ist. Natürlich, sagte Kate sanft, es war nur Spaß, ich meine, natürlich kein Spaß. Ich weiß, sagte Quentin mit Tränen in den Augen, und Kate umarmte ihn und sagte, na ja, dann werde ich ihm jedenfalls keine Blumen mitbringen, wenn ich ihn heute Abend besuche, was hätte er denn gern?, worauf Quentin antwortete, Max zufolge am liebsten Schokolade. Und sonst, wollte Kate wissen, ich meine, so wie Schokolade, aber eben keine Schokolade. Lakritz, sagte Quentin und putzte sich die Nase. Und außerdem? Übertreibst du jetzt nicht ein bisschen, sagte Quentin lächelnd. Stimmt, erwiderte Kate, also, wenn ich ihm tonnenweise Zeug mitbringen will, was dann noch außer Schokolade und Lakritz. Fruchtgummis, sagte Quentin.

Paolo zufolge wollte er nicht allein sein, und in der ersten Woche kamen jede Menge Leute zu Besuch, die jamaikanische Schwester sagte, es gebe andere Patienten auf der Station, die man mit den überzähligen Blumen erfreuen könne, die Leute scheuten sich nicht mehr vor Besuchen, es ist nicht mehr wie früher, betonte Kate gegenüber Aileen, sie werden, merkte Hilda an, im Krankenhaus nicht mehr von den anderen abgesondert, es hängt kein Schild mehr an der Tür, das auf die Ansteckungsgefahr hinweist, wie noch vor ein paar Jahren; er liegt sogar in einem Doppelzimmer, und er hat Orson erzählt, dass der alte Mann, der auf der anderen Seite des Vorhangs liegt (und es eindeutig nicht mehr lange macht, sagte Stephen), nicht mal die Krankheit hat, du solltest ihn also, fuhr Kate fort, wirklich besuchen, er würde sich freuen, dich zu sehen, er bekommt gern Besuch, du gehst ja wohl nicht deshalb nicht hin, weil du Angst hast, oder? Natürlich nicht, sagte Aileen, aber ich weiß nicht, was ich zu ihm sagen soll, ich glaube, ich würde mich unbehaglich fühlen, und das würde er garantiert merken, und dann würde er sich noch schlechter fühlen, mein Besuch würde ihm also nicht gut tun. Er wird überhaupt nichts bemerken, sagte Kate und tätschelte Aileens Hand, es ist nicht so, wie du dir das vorstellst, er urteilt nicht über die Leute oder hinterfragt ihre Motive, er freut sich einfach, seine Freunde zu sehen. Aber ich war nie eine wirkliche Freundin für ihn, du bist eine Freundin, dich mag er schon immer, du hast mir erzählt, dass er mit dir über Nora redet, ich weiß, dass er mich mag, er fühlt sich sogar zu mir hingezogen, aber dich respektiert er. Wesley zufolge war Aileen allerdings deshalb so geizig mit ihren Besuchen, weil sie ihn nie für sich haben konnte, es waren immer schon andere da, und wenn sie gingen, waren in der Zwischenzeit wieder andere gekommen, sie war seit Jahren in ihn verliebt, und ich kann Aileens Verbitterung schon verstehen, sagte Donny, denn wenn es eine Freundin hätte geben können, mit der er nicht nur mal beiläufig ins Bett ging, eine Frau, die er wirklich liebte, mein Gott, sagte Victor, der ihn damals schon gekannt hatte, nach Nora war er verrückt, was für ein herzzerreißendes Paar die beiden waren, zwei ruppige Engel, hätte es eine solche Frau geben können, dann wäre es nicht sie gewesen.

Und als einige seiner Freunde, diejenigen, die jeden Tag zu Besuch kamen, die Ärztin im Flur abpassten, war es Stephen, der die kundigsten Fragen stellte, er las nicht nur all die Berichte, die mehrmals die Woche in der Times erschienen (und die George, wie er zugab, nicht mehr las, weil er es nicht mehr ertrug), sondern auch die einschlägigen Artikel in den medizinischen Zeitschriften, die hier, in England und in Frankreich erschienen, und war lose bekannt mit einem der wichtigsten Ärzte, der in Paris unter großer medialer Aufmerksamkeit zu der Krankheit forschte, aber seine Ärztin sagte wenig mehr, als dass die Lungenentzündung nicht lebensbedrohlich sei und das Fieber allmählich nachlasse, natürlich sei er noch schwach, aber er spreche gut auf die Antibiotika an, er müsse auf jeden Fall die vorgesehene Zeit im Krankenhaus verbringen, was bedeute, ein Minimum von einundzwanzig Tagen am Tropf, ehe sie ihn auf das neue Medikament setzen könne, denn sie sehe gute Chancen für seine Aufnahme in die Studie, und als Victor sagte, er habe ja solche Probleme mit dem Essen (wenn sie ihn dazu bringen wollten, von dem Krankenhausessen zu essen, erzählte er allen, nichts schmecke ihm mehr richtig, er habe immer so einen metallischen Geschmack im Mund), da sei es doch sicher nicht gut, dass seine Freunde ihm so viel Schokolade mitbrächten, lächelte die Ärztin nur und sagte, in diesen Fällen spiele die Moral der Patienten eine wichtige Rolle, und wenn es ihm mit Schokolade besser gehe, spreche ihrer Ansicht nach nichts dagegen, was Stephen ärgerte, wie er Donny gegenüber später anmerkte, denn sie wollten schließlich an die Verheißungen und Tabus der modernen Hightech-Medizin glauben, und dann kam diese beruhigend kurz angebundene, silbrig ergraute Ärztin an, eine Spezialistin auf dem Gebiet der Krankheit, die häufig in der Presse zitiert wurde, und redete wie eine altmodische Hausärztin, die der Familie erklärt, Tee mit Honig oder Hühnerbrühe könne dem Patienten genauso gut helfen wie Penicillin, was möglicherweise hieß, befand Max, dass sie ihn nur pro forma behandelten, tatsächlich aber nicht so recht wüssten, was sie tun sollten, oder vielmehr, wie Xavier einwarf, was sie taten, ja dass in Wahrheit, setzte Hilda noch mal eins drauf, in Wirklichkeit die Ärzte eigentlich keine Hoffnung mehr hatten.

O nein, sagte Lewis, das ertrage ich nicht, das kann doch nicht sein, nein, das glaube ich nicht, bist du dir sicher, ich meine, sind die sich sicher, haben sie wirklich alle Untersuchungen gemacht, ich traue mich schon kaum mehr, ans Telefon zu gehen, weil ich befürchte, dass es wieder jemand ist, der mir erzählt, dass jemand anderes jetzt auch krank ist; aber hat Lewis wirklich bis gestern nicht Bescheid gewusst, fragte Robert unwirsch, ich kann mir das kaum vorstellen, alle reden doch darüber, es ist kaum denkbar, dass niemand Lewis angerufen hat, und vielleicht wusste er ja wirklich Bescheid und gab bloß aus irgendeinem Grunde vor, es nicht zu wissen, denn hat Lewis nicht, erinnert sich Jan, schon vor Monaten gegenüber Greg, und nicht nur ihm gegenüber, bemerkt, dass er schlecht aussehe, abgenommen habe, dass er sich Sorgen um ihn mache und finde, er solle mal zum Arzt gehen, die ganz große Überraschung kann es also nicht gewesen sein. Na ja, alle machen sich heute um alle Sorgen, das ist jetzt normal, so wie wir jetzt leben. Und sie waren sich ja mal sehr nah, hat Lewis nicht immer noch den Schlüssel zu seiner Wohnung, ihr wisst schon, wie man jemanden halt auch nach der Trennung noch den Schüssel behalten lässt, ein kleines bisschen, weil man hofft, der andere könnte irgendwann spätabends, betrunken oder high, hereinspaziert kommen, hauptsächlich aber einfach deshalb, weil es vernünftig ist, bei mehreren Leuten in der Stadt Schlüssel deponiert zu haben, wenn man allein lebt, noch dazu ganz oben in einem ehemaligen Geschäftshaus, das zwar schwer was hermacht, es aber nie zu einem Portier bringen wird oder auch nur zu einem im Gebäude wohnenden Hausmeister, bei irgendjemandem, an den man sich wenden kann, wenn man nachts feststellt, dass man seinen Schlüssel verloren oder sich ausgeschlossen hat. Wer hat denn sonst noch Schlüssel von ihm, wollte Tanya wissen, ich habe nämlich gedacht, vielleicht könnte morgen jemand bei ihm zu Hause vorbeigehen und ein paar seiner Schätze ins Krankenhaus mitbringen, neulich hat er sich beklagt, ergänzte Ira, wie trostlos das Krankenhauszimmer sei, es komme ihm vor, als wäre er in einem Motelzimmer eingesperrt, und daraufhin haben alle angefangen, lustige Geschichten über Motelzimmer zu erzählen, in denen sie mal waren, und als Ursula ihre Geschichte vom Luxury Budget Inn in Schenectady zum Besten gab, brach die Runde um sein Bett in schallendes Gelächter aus, während er sie alle mit fieberglänzenden Augen schweigend beobachtete und dabei die ganze Zeit, erinnerte sich Victor, diese verdammte Schokolade in sich hineinstopfte. Laut Jan, die sich mithilfe von Lewis’ Schlüssel in Gregs mondäner Junggesellenbude hatte umsehen können, auf der Suche nach irgendeinem tröstlichen Kunstobjekt, das dem Krankenhauszimmer etwas Glanz verleihen würde, hing die byzantinische Ikone nicht mehr über seinem Bett, was sie alle vor ein Rätsel stellte, bis Orson wieder einfiel, dass er ohne sonderliche Betrübnis (was Greg allerdings bestritt) berichtet hatte, der Junge, den er vor kurzem losgeworden sei, habe sie gestohlen, zusammen mit vier der Maki-e-Lackschatullen, als ließen sich diese Gegenstände genauso leicht auf der Straße verkaufen wie ein Fernseher oder eine Stereoanlage. Er war immer sehr großzügig, sagte Kate leise, und er liebt zwar schöne Dinge, hängt aber nicht wirklich an ihnen, wie Orson gesagt hat, was, kommentierte Frank, für einen Sammler ungewöhnlich ist, und als Kate erschauerte und ihr die Tränen kamen, worauf Orson besorgt fragte, ob er, Orson, etwas Falsches gesagt habe, wies sie darauf hin, dass sie schon angefangen hätten, wie im Rückblick von ihm zu sprechen, zu rekapitulieren, wie er war, warum sie ihn mochten, als wäre er am Ende, fertig, als gehörte er bereits der Vergangenheit an.

Vielleicht wird er ja die vielen Besucher allmählich leid, sagte Robert, der, wie Ellen sich nicht verkneifen konnte anzumerken, selbst nur zweimal zu Besuch gekommen war und wahrscheinlich nach einem Grund suchte, nicht regelmäßig erscheinen zu müssen, aber es konnte kein Zweifel bestehen, so Ursula, dass seine Stimmung sich verschlechtert hatte, nicht dass es irgendwelche entmutigenden Neuigkeiten seitens der Ärzte gegeben hätte, aber er schien jetzt gern mehrere Stunden am Tag allein zu sein; Donny hatte er erzählt, er habe angefangen, ein Tagebuch zu führen, zum ersten Mal in seinem Leben, um festzuhalten, wie er seelisch auf diese unerwartete Wendung in seinem Leben reagierte, und um parallel zu dem, was die Ärzte taten, die jeden Morgen kamen und an seinem Bett über seinen Körper berieten, selbst etwas zu tun, vielleicht sei es gar nicht so wichtig, was er da schreibe, letztlich handele es sich, wie er Quentin gegenüber sarkastisch bemerkte, um wenig mehr als die üblichen Banalitäten über Angst und die Verwunderung, dass ihm, auch ihm, das alles geschehe, plus die üblichen reumütigen Rückblicke auf sein bisheriges Leben, auf seine verzeihlichen Oberflächlichkeiten, jedes Mal gekrönt von dem Entschluss, besser zu leben, inniger, in engerer Verbindung mit seiner Arbeit und seinen Freunden, es nicht so rasend wichtig zu nehmen, was andere Leute von ihm dachten, und zwischendurch immer wieder die Mahnung an sich selbst, dass in seiner momentanen Situation sein Lebenswille wichtiger war als alles andere und dass er, wenn er wirklich überleben wollte und dem Leben traute und sich selbst hinlänglich mochte (nieder mit dir, alter Deibel Thanatos!), auch überleben würde, er würde die Ausnahme sein, aber vielleicht, grübelte Quentin, als er mit Kate telefonierte, ging es gar nicht um das alles, vielleicht ging es vielmehr darum, dass er durchs Tagebuchschreiben Text ansammelte, den er irgendwann später würde lesen können, und dadurch listig Anspruch auf eine Zukunft erhob, in der das Tagebuch ein Objekt sein würde, ein Andenken, sodass er womöglich doch nicht mehr darin lesen würde, weil er dieses Martyrium würde hinter sich lassen wollen, aber das Tagebuch würde in der Schublade seines umwerfenden Majorelle-Sekretärs liegen, ja er sah sich schon, das sagte er tatsächlich an einem sonnigen Spätnachmittag zu Quentin, in seinem Krankenhausbett ans Kissen gelehnt, das herzzerreißende Lächeln auf der einen Seite von verschmierter Schokolade umrahmt, sah sich schon in seinem Penthouse sitzen, wo die Oktobersonne durch die klaren Fensterscheiben fiel anstatt durch dieses schlecht geputzte Fenster hier, während das Tagebuch, das traurige Tagebuch, sicher verwahrt in der Schublade lag.