Über das Buch

Nach Max Czolleks Bestseller »Desintegriert euch!« liefert er nun ein Manifest für die plurale Gesellschaft, das Antworten auf die politische Gegenwart gibt.

In Zeiten der Krise leiden Gesellschaft und Vielfalt. Für Max Czollek bieten staatstragende Konzepte wie »Leitkultur« oder »Integration« darauf keinerlei Antwort. Seit 2018 wird viel diskutiert über Max Czolleks Streitschrift »Desintegriert euch!«. Beschrieb sie den Status quo des deutschen Selbstverständnisses, entwirft Czollek nun das Modell für eine veränderte Gegenwart: Wie muss sich die Gesellschaft wandeln, damit Menschen gleichermaßen Solidarität erfahren? Welche liebgewonnenen Überzeugungen müssen wir alle dafür aufgeben? Wie kann in einer fragmentierten Welt die gemeinsame Verteidigung der pluralen Demokratie gelingen? Max Czollek trifft ins Herz des Jahres 2020 — diese Polemik ist sein Schrittmacher.

Max Czollek

Gegenwartsbewältigung

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Einleitung: Gegenwartsbewältigung

Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Heimat

Quarantini-Time für die deutsche Leitkultur

Kultur gestern? Fragen an die Nachkriegsliteratur

Wehrhafte Poesie, oder: Schreibe so, dass die Nazis dich verbieten würden!

Symbolische Juden und andere Trophäen

Hufeisentheorie forever. Symmetrie im rechten Winkel

Ostdeutscher antifaschismus, ostdeutsche Realitäten

Die politische Schönheit des 9. Novembers

Komplexe Intersektionalität

Jüdisch-Muslimische Leitkultur

Danksagung

Literatur

Für Leah und Gudrun

Einleitung:
Gegenwartsbewältigung

Auch wenn politische Regime gestürzt, Ideologien kritisiert und demontiert werden können — hinter jedem Regime und seiner Ideologie steht eine Art des Denkens und Fühlens, eine Reihe von kulturellen Gewohnheiten, eine Wolke von dunklen Instinkten und unauslotbaren Trieben.

UMBERTO ECO1

Keine*r kann genau sagen, wann das mit der Corona-Krise so richtig anfing. Zunächst war es nicht mehr als ein dumpfes Grummeln in den Newsfeeds, ein entferntes Gewitter wie so viele da draußen, das schon vorbeiziehen würde. Einige Wochen zählte ich die allmählich kürzer werdenden Pausen zwischen Blitz und Donner, beruhigt, dass ich noch lange in den zweistelligen Bereich kam. Und dann, plötzlich, brach die Krise heraus aus ihren kurzen Erwähnungen in den Nachrichten — und hinein in meine Gegenwart. Am 18. März 2020 trat Angela Merkel vor die Kameras und tat etwas, das sie in ihren fünfzehn Jahren als Bundeskanzlerin sonst nur zu Neujahr getan hatte: Sie wandte sich mit einer Ansprache an die deutsche Bevölkerung.

Mit zunehmendem Abstand scheint es mir, als konzentriere sich in Merkels Rede die Corona-Krise als zeitgeschichtliches Ereignis. Aber das bemerkte ich im Moment der Ansprache nicht. Auf ihre nüchterne Weise appellierte die Bundeskanzlerin an die Vernunft derjenigen, die den Menschen um sich herum irgendwie Gutes wünschen — aller Vermutung nach immer noch die Mehrheit in diesem Land —, und versuchte, sie von der Gefährlichkeit des Virus zu überzeugen. Aber mit ihrer »letzte[n] Mahnung aus dem Kanzleramt«2 stimmte sie die Bevölkerung gleichzeitig ein auf die rasch auf die Rede folgenden drastischen Beschränkungen demokratischer Freiheiten.

Nur einen Tag vor Merkels Ansprache hatte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron in seiner Rede von einem Krieg gegen einen »unsichtbaren Feind« gesprochen, was wie der Aufruf zu einer »Generalmobilmachung«3 klang. Im Vergleich dazu hatte die Bundeskanzlerin ein wohltuendes, weniger bellizistisches Vokabular gewählt, was vielleicht auch daran lag, dass Deutsche ihre Kriege tendenziell verlieren. Ganz ohne Kriegserwähnung aber kam auch sie nicht aus, wie das in einem Land, in dem viele Eltern und Großeltern knietief in den mörderischsten Krieg aller Zeiten verwickelt waren, ja auch nur angemessen ist. Um die Bedeutung der Corona-Krise zu unterstreichen, sprach Merkel von der größten Herausforderung »seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg«.4 Ich fragte mich, welche Herausforderung Merkel meinte — wirklich den Zweiten Weltkrieg oder nicht doch eher die Zeit danach? Sicherlich, Welteroberung und Völkermord sind anstrengende Geschäfte, aber die Bundeskanzlerin hatte wohl eher die zerstörte deutsche Industrie vor Augen als die deutschen Vernichtungsfeldzüge in Osteuropa.

Wie dem auch sei, meiner Meinung nach lag die Bundeskanzlerin mit ihrem historischen Verweis auf den Zweiten Weltkrieg ohnehin nicht ganz richtig. In der emotionalen Wucht, mit der sie die deutsche Bevölkerung ganz unkriegerisch zu einer Art solidarischer Mobilmachung aufrief, erinnerte mich die Rede weniger an die Zerstörung des Zweiten Weltkriegs als an die nationale Euphorie zu Beginn des Ersten. In einer der berühmtesten Ansprachen an die Deutschen überhaupt formulierte es Kaiser Wilhelm II. damals am 4. August 1914 folgendermaßen:

Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.

Damit hatte der Kriegseintritt Deutschlands seine Formel gefunden. An der anschließenden öffentlichen Inszenierung der deutschen Volksgemeinschaft nahmen dann auch diskriminierte Gruppen wie Sozialdemokrat*innen oder Juden und Jüdinnen teil, auch, weil sie sich durch ihre Beteiligung ein höheres Maß an Anerkennung erhofften.5 Diese allgemeine Hochstimmung zu Kriegsbeginn 1914 wird auch als Augusterlebnis bezeichnet. So viel in den Monaten der globalen Entwicklung der Corona-Pandemie passierte und weiterhin passieren wird: die euphorische öffentliche Solidarisierung von deutschem Staat und Gesellschaft Anfang 2020 möchte ich analog als Märzerlebnis bezeichnen. Denn auch hier war die behauptete umfassende Solidarität nicht nur ungewöhnlich — sondern auch äußerst fragwürdig.

Je weiter der März 2020 zurückliegt, umso erstaunlicher scheint mir nämlich, mit welcher Geschwindigkeit und welchem Enthusiasmus die Menschen den Vorschlägen und Anweisungen der Regierung Folge leisteten. Und zwar auch jene Bevölkerungsteile, deren Angehörige nur wenige Wochen zuvor beim größten rassistischen Mord der Nachkriegsgeschichte in Hanauer Shishabars ermordet wurden und die zweifelsohne auch in Zukunft weiterhin als »Integrationsprobleme« bezeichnet werden würden. Dieser Gehorsam gilt übrigens auch für mich, denn ich begab mich zu einem Zeitpunkt in Selbstisolation, zu dem die meisten Menschen um mich herum noch zur Arbeit gingen. Meine Veranstaltungen waren abgesagt worden, die Arbeit an diesem Buch machte die Umstellung ohne größere Probleme möglich und die Worte der Kanzlerin und der Expert*innen schienen mir nachvollziehbar. Da kaufte ich eben für zwei Wochen Nahrungsmittel, sah meine Freund*innen nur noch über das Internet und beschränkte mich auf kurze Spaziergänge über Kreuzberger Friedhöfe, während es vor meinem Fenster Frühling wurde. Wie alle in meiner Umgebung stellte ich mein Leben im Sinne der staatlichen Maßnahmen so schnell und so grundlegend um, wie ich es noch kurz zuvor niemals für möglich gehalten hätte.

Wie gern würde ich glauben, dass ich das gemeinsam mit den 95 Prozent der Bevölkerung, die die Maßnahmen der Bundesregierung Ende März befürworteten, vor allem aus Solidarität mit den besonders bedrohten sogenannten Risikogruppen tat.6 Aber das wäre nur die halbe Wahrheit. Denn dieser beeindruckend kollektive Akt der Solidarisierung ergab sich nicht spontan und auch nicht einfach nur aus einer plötzlich entdeckten Menschenliebe der Deutschen heraus. Vielmehr wird derartiger »Schutz der Bevölkerung« seit Jahrzehnten und Jahrhunderten rhetorisch und politisch eingeübt — seine Kehrseite ist nicht nur die nationale Abschottung nach außen, die auch während der ersten Monate der Corona-Krise nicht nachließ, sondern außerdem der Entzug von Solidarität für diejenigen Teile der deutschen Bevölkerung, die nicht zur Gesellschaft gezählt werden oder gleichermaßen an ihr teilhaben können.

Solches Denken beschränkter Solidarität kann weltweit viele Formen annehmen, in Deutschland hat es eine ganz eigene tödliche Tradition. Die als Gemeinschaftsaufgabe beschworene und zunächst von Millionen Menschen freiwillig, bald auch durch Verordnungen geregelte persönliche Isolation verband Staat und Gesellschaft in einer spezifischen Denk- und Fühlweise, die radikal unterscheidet zwischen jenen, die staatliche Hilfe und Solidarität verdienen, und jenen, die es nicht tun. Selbstverständlich passierte das alles unter der Beteuerung der besten Absichten sowohl von Regierungsseite als auch von uns, den mit aller Glaubenskraft sich beispielhaft solidarisch wähnenden Bürger*innen.

Aber die kollektive Akzeptanz von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit, der bereitwillige Verzicht auf das Grundrecht der Freizügigkeit, die begrenzten Besuche der Angehörigen Sterbender in den Krankenhäusern und die vielen weiteren Eingriffe in Rechte und Sicherheiten eignen sich nicht als schillernde Beispiele für eine Solidarität, die Menschen in einer funktionierenden Gesellschaft füreinander empfinden können und empfinden sollten. Denn eine solche Solidarität braucht kein Bedrohungsszenario und gilt für alle gleichermaßen. Die Fähigkeit staatlicher Institutionen, unter rasanter Suspendierung bürgerlicher Freiheitsrechte schnell und entschlossen durchzugreifen, demonstrierte vor allem eines in aller Deutlichkeit: Dass etwa die seit vielen Jahren nahezu ausbleibenden Reaktionen auf Nazistrukturen in Polizei, Bundeswehr und Verfassungsschutz oder die unterlassene Hilfe für das vor den Augen der Welt elende Vegetieren der Männer, Frauen und Kinder an den Außengrenzen der Festung Europa niemals Resultate gesellschaftlichen und staatlichen Unvermögens waren — sondern ihres Unwillens.

Die Corona-Krise wirkte von Anfang an als »Kontrastmittel«, das mit den Worten der Autorin Carolin Emcke gesprochen »sichtbar macht, was in unseren Gesellschaften fehlt, was wir fahrlässig geschwächt haben, welche Ungleichheiten toleriert, wem Anerkennung verweigert wurde und wem angemessener Lohn«.7 Unter Zugabe des viralen Kontrastmittels trat deutlich hervor, dass die so viel beschworene Solidarität keineswegs für alle gleichermaßen galt — und gilt. Ich notiere das mit der gebotenen Vorsicht. Selbstredend stimme ich zu, dass es notwendig ist, ein gefährliches Virus auch durch gemeinsame Anstrengungen zu bekämpfen, die bis zum demokratisch kontrollierten Verzicht auf Freiheitsrechte reichen können. Zugleich meine ich, dass wir angesichts des einzigartigen staatlichen Appells an die Solidarität die Frage stellen müssen, für wen derartige ungeheure Anstrengungen eigentlich unternommen werden. Und die schmerzhafte Antwort lautet: In jenen Monaten des Jahres 2020, in denen der Staat seinen Subjekten einen Weg in die solidarische Isolation wies, wurden wir alle zu Kompliz*innen eines Systems, das manche Menschen verrecken lässt und andere nicht.

Von dieser Kompliz*innenschaft handelt dieses Buch: von den Vorstellungen, die wir von Gesellschaften allgemein und insbesondere der deutschen Gesellschaft haben, und davon, wen das überhaupt meint, die deutsche Gesellschaft, wer dazugehört zu ihrem Wir. Ich werde zeigen, dass zu seiner Konstruktion eine Menge Konzepte kursieren, deren historische und politische Hintergründe häufig nur unzureichend aufgearbeitet sind. Wie im Falle der Gemeinschaftsgefühle zu Beginn der Corona-Krise meinen Menschen es oft gut, wenn sie »wir« sagen, das aber macht die dahinter liegenden Arten des Denkens und Fühlens nicht weniger gefährlich für diejenigen, die darin nicht einbezogen sind oder denen die Solidaritätsgemeinschaft nicht in erster Linie gilt. Auf den kommenden Seiten geht es mir also nicht so sehr um das völkische Programm einer Partei, die seit 2017 im Bundestag sitzt, sondern mich beschäftigen etablierte und weit verbreitete Denkweisen. Und es geht mir um die Abgründe, die sich auftun, sobald man diese handelsüblichen Konzepte und Überzeugungen mit den Handlungen abgleicht, die sich aus ihnen ergeben.

Ich möchte argumentieren, dass diese Denkweisen nicht mehr in der Lage sind, die Gegenwart zu bewältigen — und ich möchte über Alternativen nachdenken. Das ist es, was ich als Gegenwartsbewältigung bezeichne. Auf den Begriff stieß ich das erste Mal in einem Essay des New Klezmer-Sängers und Dichters Daniel Kahn aus dem Jahr 2009.8 Kahn versteht unter Gegenwartsbewältigung eine künstlerische Perspektive, die die vielen verlorenen Zukünfte jüdischen Lebens in Europa erkundet — nicht aus Nostalgie, sondern weil sie Perspektiven für die Gegenwart liefern.9 Mir gefällt diese Idee, weil in ihr künstlerische Praxis und ein politisches Bewusstsein zusammenkommen. Das war auch der Grund, aus dem ich gemeinsam mit dem Autor Deniz Utlu ab 2012 eine Lyrik- und Diskursreihe unter demselben Titel im Studio Я des Maxim Gorki Theaters Berlin organisierte. 2018 schließlich erschien das Themenheft Gegenwartsbewältigung des von mir mitherausgegebenen Magazins Jalta. Positionen zur Jüdischen Gegenwart.10 Der Buchtitel entstammt also jenen postmigrantischen und jüdischen Kontaktzonen, die in den letzten Jahren künstlerisch und intellektuell entstanden sind. Ohne sie wären die folgenden Gedanken wohl kaum möglich.

Das Konzept der Gegenwartsbewältigung hat einen konkreten begrifflichen Kontrapunkt: Vergangenheitsbewältigung. Dieser Bezug auf eine Phase des deutschen Umgangs mit der Geschichte des Nationalsozialismus ist nicht zufällig. Vielmehr verweist er auf die enge Verwandtschaft, die bei allen politischen und kulturellen Auseinandersetzungen dieser Jahre in Deutschland zwischen aktuellen Herausforderungen und einem bestimmten Umgang mit der deutschen Vergangenheit besteht. In meinem 2018 erschienenen Essay Desintegriert euch!11 habe ich beschrieben, wie eine neue Form der offiziellen Gedenkkultur ab den achtziger Jahren den Startpunkt für die Neuerfindung eines positiven deutschen Selbstverständnisses bildete. Erst musste Deutschland nach der sogenannten Wiedervereinigung zum Erinnerungsweltmeister werden, der die Vergangenheit allen Pogromen und Grundgesetzänderungen der neunziger Jahre zum Trotz angeblich perfekt bewältigt hatte, bevor es den Deutschen möglich wurde, zur Fußball-WM 2006 ungehemmt Deutschlandfahnen zu schwenken und beim Public Viewing mehrstimmig die Nationalhymne zu rülpsen.

In diesem Gedächtnistheater12 spielen die »Juden« eine entscheidende Rolle, auch wenn sie aufgrund eines bestimmten, für manche endlos weit entfernten historischen Ereignisses nicht mal mehr ein Viertel Prozent der Bevölkerung dieses Landes ausmachen. Der Buchtitel zeigt an, dass ihnen auch bei der Auseinandersetzung um die Gegenwart und Zukunft der deutschen Gesellschaft eine zentrale Aufgabe zugedacht wird. Stimmt es beispielsweise, dass einzig eine »deutsche Leitkultur« die Sicherheit der jüdischen Bevölkerung in Deutschland dauerhaft gewährleisten kann, wie der CDU-Politiker Philipp Amthor anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 2020 in die Kameras plapperte? Oder sind die Juden bei solch einer ungemein zeitgeistigen Aussage nicht eher eine argumentative Krücke, mit der sich die konservative Behauptung der deutschen kulturellen Dominanz stützen lässt? Denn wer heute in Deutschland Juden schützt, steht nun einmal auf der guten Seite — oder?

Mit der Behauptung, die deutsche Leitkultur sei der einzige effektive Schutz gegen Antisemitismus, lässt sich beides verbinden — das bereits beschriebene Gedächtnistheater mit der Debatte um Zugehörigkeit, die ich in meinem ersten Essayband als Integrationstheater13 bezeichnet habe. Integrationstheater unterscheidet zwischen »uns«, die schon hier sind, und »den Anderen«, die erst dazukommen. Da diese Unterscheidung auf einer willkürlichen Grenzziehung beruht, bedarf sie der fortlaufenden öffentlichen Inszenierung. Schenkt man der Berliner Soziologin Naika Foroutan und ihrer vieldiskutierten Studie Die postmigrantische Gesellschaft14 Glauben, dann wird der Fokus auf das Integrationstheater immer zentraler, weil die deutsche Öffentlichkeit Zukunftsfragen zunehmend im Rahmen von Migrationsdebatten verhandelt — und diese wiederum immer häufiger mit einer abwehrenden Diskussion über »Muslime« kurzschließt.15

Das Angstbild von den alles flutenden, kinderreichen, fundamentalistischen Muslim*innen ist derzeit eine der wichtigsten gesellschaftlichen Konstruktionen zur Abwehr der veränderten Realitäten einer radikal vielfältigen deutschen Gesellschaft. Diese Realität bezeichne ich mit Naika Foroutan, Riem Spielhaus, Juliane Karakayali und vielen anderen als »postmigrantisch«16, wobei der Begriff bereits 2009 von Shermin Langhoff eingeführt wurde, als sie noch Leiterin des Theaters Ballhaus Naunynstraße in Berlin Kreuzberg war.17 Leider aber sind die Reaktionen auf die veränderte gesellschaftliche Realität bei weitem nicht immer so produktiv wie beim postmigrantischen Theater. Vielleicht, weil sich die eigene Wiedergutwerdung18 so gut anfühlte, antwortet ein nicht unerheblicher Teil der tonangebenden deutschen Dominanzkultur19, einzig die Herrschaft bestimmter Handlungs- und Denkweisen könne die Gesellschaft zusammenhalten, während Vielfalt gefährlich sei und reguliert werden müsse. Diese bewusst und unbewusst weit verbreitete Überzeugung verdichtet sich in der Forderung nach einer deutschen Leitkultur. An der Aussage des CDU-Politikers Amthor, diese Leitkultur diene dem Schutz der jüdischen Bevölkerung Deutschlands, lässt sich demnach zweierlei ablesen: das Selbstbild einer von ihrer Geschichte vermeintlich erfolgreich geläuterten deutschen Gesellschaft und die Vorstellung, dass diese Gesellschaft hierarchisch geordnet sein müsse, um in Gegenwart und Zukunft gut zu funktionieren.

Hinter der Vorstellung einer Leit-Kultur steht also der Glaube, dass es für ein gelingendes Zusammenleben einer hierarchischen Ordnung bedarf, in die sich alle Teile einer Gesellschaft einfügen müssen. Es braucht Gemeinsamkeiten in einer Gesellschaft, und diese Gemeinsamkeiten diktieren noch immer wir! Mia san mia. Der Begriff Leit-Kultur meint zugleich, dass diese Gemeinsamkeiten in einer bestimmten geschichtlichen Kontinuität verortet sein sollen. Wer hier dazugehören will, der muss eben nicht nur das Grundgesetz und die Straßenverkehrsordnung auf einem Bein stehend und mit dem Finger auf der Nasenspitze aufsagen können, sondern gefälligst auch den über Jahrhunderte hinweg gewachsenen Geist der Gesellschaft inhaliert haben, auch bekannt als deutsche Kultur.

Nun genügt rudimentäres Allgemeinwissen, um zu ahnen, dass sich die Geschichte der deutschen Kultur nicht ohne weiteres als Vorbild für gesellschaftliches Zusammenleben in der Gegenwart eignet. Denn mit dieser Geschichte ist es ein bisschen wie mit deutschen Talkshows: Hier und da ein paar gute Momente, aber insgesamt blickt man in einen klaffenden Abgrund. Bei einer solch massiven Erdspalte reicht es nicht aus, lediglich die Nazizeit zu überbrücken, denn im Archiv der deutschen Kultur stört ständig irgendetwas, das ausgelagert, individualisiert oder verharmlost werden muss: Völkischer Nationalismus in romantischen Texten? — den zeitlichen Umständen geschuldet! Antisemitismus bei Richard Wagner? — ein Einzelfall! Misogynie und Rassismus bei Immanuel Kant? — darum geht es doch gar nicht!

Das mühevolle Ausklammern solcher Hauptsächlichkeiten würde ohne den regelmäßigen Bezug auf Juden und Jüdinnen kaum funktionieren. Rahel Varnhagen, Moses Mendelssohn, Heinrich Heine, Kurt Tucholsky, Hannah Arendt: Sie alle gehörten meistens nicht dazu, wenn bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die deutsche Kulturnation beschworen wurde. Nun aber dürfen sie wie selbstverständlich auf eilig hinzugestellten Stühlen Platz nehmen. Nach dem Holocaust haben lebende wie tote Juden in der Leitkultur nämlich einen Wert als symbolisches Kapital gewonnen, von dem man möglichst viel um sich anhäufen möchte. Denn der Grad der Legitimität eines deutschen Ordnungskonzepts wie der deutschen Leitkultur bemisst sich in der Gegenwart auch nach der Menge lebender und toter Juden, die es für sich deklarieren kann.

Die Anerkennung der Juden mag sich zwar irgendwie gut anfühlen, macht mich aber misstrauisch wie ein Liebesgeständnis auf Ecstasy. Und die Zweifel sind nicht unbegründet, wenn ich mir anschaue, wer alles nicht an die Gesellschaftstafel eingeladen ist, von der auch der Soziologe Aladin El-Mafaalani spricht.20 Die handliche Zauberformel für diesen Ausschluss lautet »christlich-jüdisches Abendland«, ein Fantasiebegriff, über den sogar ein konservativer Historiker wie Michael Wolffsohn zu Recht urteilt, er sei »geistiger Müll«21. Nur wird dieser Müll eben nicht entsorgt, sondern türmt sich bei den Diskussionen um Geflüchtete immer höher auf dem Silbertablett. Dabei gäbe es vor, während und nach der zugespitzten Situation der Corona-Krise eigentlich mit allen Mitgliedern der Gesellschaft viel zu besprechen, etwa zum Thema Klimawandel oder auch zum sich immer weiter aufheizenden Klima einer weltweit existierenden Klassengesellschaft. Stattdessen fantasiert man in grotesker Selbstablenkung über die eigene ach so jüdisch-christliche Beziehungsgeschichte und schließt damit einen guten Teil der Bevölkerung aus dem Gespräch aus.

Glücklicherweise ist die Idee deutscher Dominanz nicht die einzige Antwort auf die Frage nach der Zukunft dieser Gesellschaft. Die Alternative liegt auf der Hand: Ein Viertel der Bevölkerung dieses Landes hat eine Migrationsgeschichte, genau wie der Rest unterscheidet es sich weiter nach Begehren, Einkommen, Körpern, Weltanschauung, Alter, Religion. Die größte Gemeinsamkeit der Deutschen ist wahrscheinlich ihre Differenz zueinander: Deutsche hören Hiphop oder Schlager, gehen ins Theater oder zum Oktoberfest, besuchen mit Studiosus-Reisen die Türkei oder australische Sexpartys, manchmal auch beides. Leitkultur funktioniert in einer solchen radikal vielfältigen Gesellschaft nicht, weil es kein dominantes Zentrum mehr gibt. Und wenn überhaupt, dann wäre sie eben nicht nur Schiller, Revolverheld und Zwiebelkuchen, sondern auch May Ayim, Russendisko und Baklava. Aber das ist natürlich nicht gemeint, wenn von Leitkultur die Rede ist.

Die beeindruckende Reihe wissenschaftlicher Arbeiten etwa von Isolde Charim22 oder den bereits erwähnten Aladin El-Mafaalani23 und Naika Foroutan24 verdeutlicht, dass alle, die von dieser neuen gesellschaftlichen Realität wissen wollen, auch davon wissen können. Die Frage ist also nicht, ob wir mit Foroutan tatsächlich in einer »postmigrantischen« oder mit Isolde Charim in einer »pluralisierten Gesellschaft«25 leben. Aus Perspektive der Gegenwartsbewältigung ist vielmehr entscheidend, warum sich bestimmte Annahmen kultureller Dominanz einer radikal gewandelten gesellschaftlichen Realität zum Trotz beständig halten.

In seinem eingangs zitierten Essay »Der ewige Faschismus« identifizierte der italienische Semiotiker Umberto Eco 1995 Merkmale faschistischer Ordnungen. Gleich als Erstes verweist er auf einen »Kult der Überlieferung«26, bei dem der fortwährende Bezug auf eine vermeintlich positive Vergangenheit die Gegenwart aufwertet. Ich denke, derartige Selbstsuggestion spielt auch für das Verständnis von Gesellschaft und Politik im postnationalsozialistischen Deutschland eine entscheidende Rolle. Die aktuelle Idealisierung der deutschen Geschichte und Kultur ist hoffentlich kein Vorbote eines neuen Faschismus. Aber sie ist ein Zeichen dafür, dass ein Teil dieser Gesellschaft seinen eigenen emotionalen Bedürfnissen auf den Leim geht. Konzepte, die über Jahrhunderte entwickelt und eingeübt wurden, werden unter gänzlich geänderten Bedingungen verwendet, weil sie dem Anschein nach auch unter diesen neuen Bedingungen Orientierung und Stabilität bieten. Das vielleicht deutlichste Beispiel dafür ist das gegenwärtig wieder immens politisch aufgeladene Konzept von Heimat.

Konzepte werden nicht dadurch gut, dass sie sich gut anfühlen. Im Gegenteil verdeckt das Angenehme häufig die Gefahren, die es gesellschaftlich produziert. Das hat die von der AfD unterstützte und von demokratischen Parteien kalkulierte Wahl eines Ministerpräsidenten in Thüringen im Februar 2020 eindrucksvoll demonstriert. Dieses Ereignis, eine demokratische Polarkappenschmelze erster Güte, machte deutlich, dass die Vertreter*innen der selbsterklärten bürgerlichen Mitte zur Durchsetzung ihrer Interessen im Zweifelsfall eiskalt mit einer völkischen Partei paktieren, die die Gleichberechtigung der vielfältigen Bevölkerung dieses Landes und damit das Fundament der Demokratie bedroht.

Es mag ein kalendarischer Zufall sein, dass nur wenige Wochen nach Thüringen ein rechter Terrorist in der hessischen Kleinstadt Hanau zehn Menschen erschoss, weil sie nicht seiner rassistischen Vorstellung von Deutschland entsprachen. Aber eine solche Ereignisdichte ist Ausdruck einer veränderten gesellschaftlichen Bedrohungslage, für deren Bewältigung tradierte Deutungsangebote und Handlungsstrategien schlicht nicht mehr ausreichen.

Dieses Buch ist eine Streitschrift, die ich geschrieben habe, weil ich parteiisch bin. Ich schreibe das hier nicht für irgendwelche Rechten, sondern für meine Kolleg*innen, die wegen rechter Drohungen ihre Wohnungen wechseln müssen. Ich schreibe es für meine Familie und meine Freund*innen: Wir halten uns fest. Ich schreibe es für den jüdischen Punk, der als einziger Linker in einem Dorf in Hessen aufwuchs und bei einer meiner Lesungen saß und nickte. Ich schreibe es, weil da nur eine einzige dicke Holztür war zwischen dem schwer bewaffneten Nazi und den Betenden in Halle. Ich schreibe es, weil die Türen der Shishabars in Hanau sich ein halbes Jahr später widerstandslos öffnen ließen.

In den Monaten der Ausbreitung des Corona-Virus ist ein starker Staat zurückgekehrt, der dringend der kritischen Begleitung bedarf. Im Kielwasser der Gesundheitskrise wird das langjährige Versagen etablierter politischer und ökonomischer Modelle, der gesellschaftlichen Gegenwart gerecht zu werden, für alle sichtbar, die sehen wollen. Die Solidarisierung von Staat und Gesellschaft mag sich beim Märzerlebnis 2020 gut angefühlt haben, aber innen wie außen fallen andere aus dem Raster. Sie sind nicht unsichtbar. Sondern Menschen. Diese Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten eine andere geworden. Darum können wir sie anders denken. Und diese Gesellschaft wird bedroht von ihrer eigenen Vergangenheit. Darum müssen wir sie anders denken. Und zwar so, dass alle in ihr geschützt werden — und nicht nur manche. Gegenwartsbewältigung eben.

Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Heimat

Deutschlands zwanziger Jahre des einundzwanzigsten Jahrhunderts begannen mit einer Reihe gewaltiger Paukenschläge, von denen das Virus SARS-CoV-2 nur der vorläufig letzte war: der Angriff auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 und die eskalierende Situation an der türkisch-griechischen Grenze, die Kooperation zwischen CDU, FDP und völkischen Rechten im Thüringer Landtag Anfang Februar 2020 und die Terrorangriffe von Hanau im selben Monat. In den Monaten, in denen ich mich abwechselnd über die Nachrichtenseiten und das Manuskript dieses Buches beugte, schien alles wie im Schnelldurchlauf an mir vorbeizuziehen, das in Deutschland schiefläuft. Es schien, als kehrten mit den zwanziger Jahren auch Konzepte zurück, von denen die vielbeschworene Mehrheitsgesellschaft lange Zeit glaubte, sie wären mit dem Nationalsozialismus auf Dauer diskreditiert: völkisches Denken, Heimatdiskurse und die deutsche Leitkultur.

Diese Rückkehr totgewünschter Konzepte lässt sich auch als Ausdruck eines Verlustes verstehen. Denn wir befinden uns inmitten eines Epochenwechsels der Erinnerung. In wenigen Jahren werden wir den Nationalsozialismus nur noch in materiellen Zeugnissen und öffentlichen Ritualen, Theaterstücken und Romanen nachvollziehen können. Dieser Verlust lebendigen Wissens erzeugt eine Leere, die auf unterschiedliche Weise gefüllt werden kann. Eines der zunehmend verabreichten Mittel aus dem Giftschrank der Politik ist Umberto Ecos bereits erwähnter »Kult der Überlieferung«, der sich in einer Art politischer Nostalgie manifestiert. Diese Nostalgie bedarf zweier Elemente — einer Krisenwahrnehmung in der Gegenwart und eines historischen Bezugspunkts, der weit genug entfernt ist, um sich zur Idealisierung zu eignen. Man kennt das aus eigener Erfahrung — manche etwa erinnern sich an die stickige Plattenbauwohnung, in der sie groß wurden und die ihnen im Nachhinein heimelig erscheint. Andere an die übergriffige Beziehung, die ihnen einige Jahre später vertrauensvoll vorkommt. Und wieder andere an die vergangene Diktatur, nach deren Stabilität sie sich mittlerweile wieder sehnen.

Während Objekte mit zunehmender Entfernung kleiner werden, scheinen die Gegenstände der politischen Nostalgie zu wachsen, je weiter wir uns von ihnen entfernen. Zweifelsohne existiert dieses Phänomen nicht nur hierzulande, sondern stürmt derzeit in vielen Teilen der Welt und Europas die politischen Charts — für England als regressive Wiederbelebung des British Empire im Brexit-Format, für Ungarn in Victor Orbans braunen Ermächtigungsgesetzen, und für Deutschland … ja, für Deutschland ist es schwieriger. Denn man kann noch so viele Stadtschlösser wieder aufbauen und darin kleptomanische Humanisten verehren, sich mittels Serien und Partys nach Zwanziger-Jahre-Charleston-Tänzen sehnen oder jüdische Sportfestspiele im 1936 errichteten Olympiastadion feiern — stets merkt man den Inszenierungen die Mühe an, mit der sie versuchen, der deutschen Vergangenheit auch positive Seiten abzuquetschen, als wäre noch etwas drin in dieser Tube.

Wir haben eine ruhmreiche Geschichte, die länger dauerte als 12 Jahre. Und nur wenn wir uns zu dieser Geschichte bekennen, haben wir die Kraft, die Zukunft zu gestalten.1

Dieses Zitat könnte von jeder*m beliebigen Nostalgiker*in stammen, ist aber von Alexander Gauland. Und zwar aus derselben Skandalrede, in welcher der Vorsitzende der AfD im Juni 2018 Hitler und die Nazis als Vogelschiss bezeichnete, als Lappalie innerhalb einer an sich ruhmreichen deutschen Geschichte. Ob rhetorisch oder ernst gemeint, ich möchte direkt die Gegenfrage stellen, welche Dinge Gauland von den »großen Gestalten der Vergangenheit von Karl dem Großen über Karl V. bis zu Bismarck«2 konkret zu lernen wünscht. Vielleicht Strategien zum Verhökern eines ganzen Kontinents, wie von Bismarck bei der Westafrika-Konferenz, die 1884/85 auf seine Einladung hin in Berlin stattfand und die Aufteilung Afrikas unter den europäischen Großmächten zur Folge hatte?

Der AfD ist an so vielen Stellen Revisionismus vorgeworfen worden, dass manchmal aus dem Blick gerät, wie sehr sie mitunter auf Augenhöhe mit der Gegenwart operiert. Man sieht das auch an der äußerst heutigen Vorgehensweise in Gaulands Rede: Selbstverständlich bekennt er sich zuerst zur Verantwortung für die zwölf Jahre Nationalsozialismus, ehe er sein Recht behauptet, »den Stauferkaiser Friedrich II., der in Palermo ruht, zu bewundern«.3 Der deutsche Nostalgiker von Welt macht eben die vorbildliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus zum Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion seines Nationalstolzes aus den Tiefen der deutschen Geschichte und Kultur. Das verbindet einen AfDler wie Gauland mit zahlreichen anderen konservativen und nostalgischen Akteur*innen: Die Vorstellung, der Nationalsozialismus dürfe nicht dazu führen, gleich alle Kronjuwelen des deutschen Nationalismus aufzugeben, der Glaube, eine Besinnung auf die »eigenen« Wurzeln sei eine adäquate Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart.

Der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn vertritt die These, dass die Erinnerungsarbeit nach 1945 auf die Kollektive Unschuld4individuellerfamiliärer2006