Die Autorin

Laila Brenden – Foto © Eigil Korsager

Laila Brenden, geboren 1956, ist die Autorin von mehr als achtzig in Norwegen sehr erfolgreichen historischen Liebesromanen. Von den Büchern ihrer Reihen Hannah und Mountainroses hat sie mehr als eine Million Exemplare verkauft. Die Harfenspielerin ist ihr erster großer Roman.

Das Buch

Eine berührende Geschichte über die heilende Kraft der Musik Norwegen, 1905: Ane Solingen hat mit ihrem Mann Hans das Glück gefunden. Zurückgezogen im Wald, ganz im Einklang mit der Natur, leben sie auf einem kleinen Gehöft. Bis Hans eines Tages bei einem Gewitter ums Leben kommt. Während Ane um ihren Mann trauert, kümmern sich die Dorfbewohner rührend um sie. Sie machen ihr ein Geschenk, das ihr Leben für immer verändern wird: eine Harfe. Ane entdeckt ihr Talent für das märchenhafte Instrument. Schwanger mit Hans’ Kind beginnt sie, an eine glückliche Zukunft zu glauben. Als das Schicksal erneut zuschlägt, begibt sie sich auf eine mutige Reise mit ungewissem Ausgang – immer begleitet vom Zauber der Musik, die ihr Herz auch in düsteren Zeiten zum Klingen bringt.

Laila Brenden

Die Harfenspielerin

Roman

Aus dem Norwegischen
von Sylvia Kall

Ullstein

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www.ullstein.de

ISBN 978-3-8437-2375-6
© für die deutsche Ausgabe: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021
© 2019 Vigmostad & Bjørke / Autorin: Laila Brenden
Die norwegische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
Toner fra en stille skog bei Vigmostad & Bjørke, Bergen.
Umschlaggestaltung: Büro für Gestaltung – Cornelia Niere, München
Titelabbildung: Arcangel / © Ildiko Neer (Frau),
Shutterstock / © Javitravel (Hintergrund)
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Teil 1

1

Der Ofen bullerte, trotzdem legte Ane weitere Holzscheite hinein. Sie lief von Fenster zu Fenster und starrte hinaus in die Dämmerung. Bald würde sie den Wald, der die Lichtung umgab, nicht mehr sehen können. Sie zog ihr Umhängetuch enger um die Schultern. Hans hatte die Hütte noch nie für so lange Zeit verlassen.

Sie nestelte an den Fransen des Tuchs, knautschte die Fäden zu einem Knäuel zusammen. Sie hatte nur ihn, den Holzfäller und Pelztierjäger, der keine anderen Nachbarn als Nadelbäume und Raubtiere haben wollte. Wenn er morgen nicht zurückkäme, würde sie ihn suchen gehen müssen.

Die Stille zog sich bedrohlich um sie zusammen. Während es draußen immer dunkler wurde, flüsterte sie stockend ein Gebet. Wie um das Unbehagen abzuschütteln, zuckte sie mit den Schultern, dann holte sie ihr Stopfzeug hervor. Während sie wartete, wollte sie das Loch in seiner Jacke ausbessern.


Etwas schlug hart gegen die Hüttenwand. Einen Moment lang wusste sie nicht, warum sie vollständig angezogen auf dem Stuhl saß, doch dann fiel es ihr wieder ein. Mit einem Satz war sie an der Tür und riss sie erwartungsvoll auf, aber er war nicht da; es empfingen sie nur hohe Fichten, die ihre Wipfel im Wind tief zur Erde neigten. Höhnische Verbeugungen im Morgenlicht. Im Laufe der Nacht war das Wetter umgeschlagen, und dunkle Wolken trieben über den Wald und ins Gebirge hinauf. Das Geräusch, das sie gehört hatte, kam vom Griff der an der Wand hängenden Sense, die von den Böen angestoßen wurde.

Sie erledigte schnell die morgendliche Arbeit im Stall. Anschließend schmierte sie sich Brote, packte ihren Rucksack und schloss beim Hinausgehen die Tür leise hinter sich. Ihre Schritte waren schwerfällig, und der Moorboden seufzte unter ihren Stiefeln. Sie watete über Bäche. Umrundete umgestürzte Bäume, stieg über Baumstümpfe und eilte Abhänge hinauf. Sie stieg über einen alten, flechtenüberwachsenen Steinwall und passierte eine zugewucherte Rodungsfläche, auf der ein rostiger Kaffeekessel im Gestrüpp vor sich hin gammelte. Hans hatte vorgehabt, ihn zu vergraben.

Auf der Hochebene blies der Wind so stark, dass sie sich zusammenkrümmen musste, als sie dort stehen blieb, um auf den Wald hinunterzuschauen. Die kleine Lichtung, auf der die Hütte stand, lag versteckt zwischen den dicht stehenden Fichten, aber wenn jemand Feuer im Ofen gemacht hätte, müsste sie Rauch sehen. Er war nicht zurückgekommen.

Sie trieb sich an weiterzugehen. Hinauf. Vorwärts. Der Wald war größer und das Gebirge kleiner, als sie es in Erinnerung hatte, aber alles war groß genug, um sie mutlos werden zu lassen. Und ängstlich.

Dem Wind den Rücken zukehrend, hielt sie an, schloss die Augen und verschnaufte einen Moment. Hans war sicher zur Fischerhütte gegangen. Und auch wenn sie nie dort gewesen war, würde sie sie bestimmt finden. Hinter der großen Anhöhe. Sie musste einfach weitergehen. Aber der Unwetterhimmel war verräterisch, er täuschte sie mit seinem dunklen Farbenspiel, sodass sie zu spät bemerkte, dass der Tag sich bereits seinem Ende zuneigte. Nicht nur der Sturm war für die frühe Dunkelheit verantwortlich.

»Hans!«

Ihre Stimme versagte. Am liebsten hätte sie sich hingesetzt und auf das Morgenlicht gewartet, aber die Vernunft trieb sie weiter. Um den Berg herum und am Moor vorbei. Sie war so klein in alldem. Aber gerade, als ihre Gedanken zerfaserten und sie kurz davor war aufzugeben, stieß sie auf einen Moränenrücken und sah etwas blank schimmern.

Sie ließ sich auf die Knie fallen und versuchte, mit den Händen Wasser zu schöpfen, aber es rann sofort zwischen ihren Fingern hindurch. Also tauchte sie das ganze Gesicht in den See, und eine brennende nasse Kälte riss sie zurück in die Wirklichkeit. Sie musste einen Unterschlupf finden.

Der größte Teil der Umgebung lag in Dunkelheit verborgen, und sie wusste nicht, an welchem Ende des Sees die kleine Hütte lag. Ihr Körper fühlte sich taub an. Kalte Böen wehten von allen Seiten, und wäre sie sich vollkommen sicher gewesen, dass Hans nicht mehr am Leben war, hätte sie sich einfach hingelegt und den Wind gebeten, sie auch zu holen.

Eine Weile blieb sie schwankend stehen, starrte gleichgültig vor sich hin und vergaß die Zeit. Doch als die ersten Regentropfen gegen ihre Haut hämmerten, erinnerte sie sich an etwas, das Hans zu sagen pflegte: An dem Tag, an dem wir die Hoffnung aufgeben, ist alles vorbei. Freude. Stärke. Leben.

»Hans!«

Ihre Stimme verhallte in der Dunkelheit. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, und ihr Kopf schmerzte, als sie vorwärtsstolperte.

Plötzlich erhob sich drohend etwas Großes vor ihr. Ein Bär? Sie kniff die Augen zusammen und wartete. Wenn er sie angreifen wollte, sollte er das ruhig tun. Aber der Bär rührte sich nicht, ragte bloß wie ein Riese im Dunkeln vor ihr auf. Es war kein Tier; es war die Hütte.

»Wenn Gott oder jemand anderes mich geführt hat, danke schön.«

Sie wusste nicht, ob sie es laut aussprach oder bloß dachte. Sie war sich auch nicht bewusst, dass sie den Riegel aufschob und hineinging, aber das war der Fall. Das Nächste, was sie wahrnahm, war, dass sie sich über die Feuerstelle beugte und versuchte, ein Streichholz anzureißen, wobei ihr Tränen über die Wangen liefen. Die Finger wollten ihr nicht gehorchen, und viele Streichhölzer zerbrachen, bis es in der trockenen Birkenrinde aufleuchtete.

Eine kleine Pfütze Regenwasser aus ihrer Kleidung sickerte in den Boden der Hütte, der nur aus festgetretener Erde bestand, und bildete einen dunklen Fleck um ihre Stiefel. Sie starrte lange auf den Fleck, bevor sie den Knoten ihres Schultertuchs löste und das völlig durchnässte Kleidungsstück zum Trocknen aufhängte. Hans war nicht da – aber sich selbst hatte sie in Sicherheit gebracht.


Die Sonne versteckte sich hinter einer grauen Wolkendecke, als sie früh am nächsten Morgen aus der Hütte trat, aber kein Windhauch kräuselte die Oberfläche des Sees oder bewegte die gelben Halme, die sich nach dem Sturm trotzig wieder aufrichteten. Sie erschauerte, als sie den Riegel vor die Tür schob. Es war unheimlich still.

Weit entfernt glitzerte es auf einem weiteren See, aber bis dorthin konnte es gut ein Tagesmarsch sein, und sie glaubte nicht, dass Hans so weit gelaufen war. Zwei Schneehühner flatterten lärmend aus einem Gebüsch. Die Flügel in anmutigen Bögen nach unten gekrümmt, segelten sie zum Geröllfeld auf der Rückseite des Berges, um den sie am Tag zuvor herumgegangen war. Von dieser Seite war es leichter hinaufzugelangen, und vielleicht verlief eine Abkürzung quer darüber.

Ihr Blick folgte den Schneehühnern, aber sie konnte die Vögel nicht mehr vom Stein unterscheiden. Galt das Gleiche für Hans? Lag er irgendwo, wo er eins wurde mit der Umgebung? Oder war er schon auf dem Weg zurück zur Hütte? Sie wollte das so gern glauben, aber tief in ihrem Innern wusste sie, dass es nicht so war. Sie wusste es auf die gleiche Weise, wie eine Schneehuhnmutter es weiß, wenn ihr Küken eine plötzliche Frostnacht nicht überleben wird.

Der Schnee, der auf dem Bergrücken lag, war nass vom Schmelzwasser und glitschig, sodass sie auf dem Weg die Bergflanke hinauf immer wieder auf glatten Steinen wegrutschte. Sie musste kurze Schritte machen, die ganze Zeit aufpassen, wohin sie den Fuß setzte.

»Hans!«

Weitere Schneehühner erhoben sich gackernd von einem Stein und erschreckten sie, aber ansonsten lag der Berg in träger Herbststarre da. Ihre Stiefel hinterließen deutliche Spuren in der weißen Decke in Form eines schrägen Streifens Richtung Himmel. Am höchsten Punkt, wo ein kühler Luftzug sie umspielte, hielt sie an und wischte sich den Schweiß ab. Sie zwang sich, an den Rand des Abgrunds zu treten, schaute in die Tiefe hinab und fühlte den Sog im Magen. Und den Schwindel. Von ihrem Liebsten war nirgendwo etwas zu sehen. Also war er zumindest nicht hier abgestürzt.

Auf der anderen Seite verlief der Weg hinunter in undeutlichen Windungen über steilen Fels, sodass sie rückwärts hinabklettern musste. An einigen Stellen war der Pfad nur ein schmaler Streifen, und weit unten wartete ein bedrohliches Geröllfeld nur darauf, Ane zu empfangen, wenn sie strauchelte. Einmal stieß sie an einen losen Felsbrocken, der hinunterpolterte und dabei einen Schweif von Kieseln und Sand mit sich zog. Es dauerte eine Weile, bis die Lawine das Geröllfeld traf. Scharfkantige Steine, Überhänge und Felsvorsprünge vereinten sich zu einem wahren Waffenarsenal in der Bergflanke, und sie bereute es, diesen Weg gewählt zu haben.

Dann lösten sich weitere Steine, eine Wolke aus Erde und Kies rutschte den Hang hinunter, und Ane blieb bewegungslos stehen, bis sich der Staub gelegt hatte und alles wieder still wurde. Und da sah sie es. Die Farbe. Das grelle Blau, das zwischen den Felsbrocken dort in der Tiefe leuchtete. Ein Stück Stoff. Ultramarin, wie die Farbe des Schals, den Hans gewöhnlich um den Hals trug.

Später konnte sie sich nicht mehr erinnern, wie sie ins Geröllfeld hinuntergekommen war. Dorthin, wo ihr Liebster lag.

»Hans.«

Sie kniete neben ihm. Mit bebenden Fingern streichelte sie über den kräftigen Nasenrücken. Über die Bartstoppeln und die Stirn. Seine Haut war eiskalt. Ein roter Streifen geronnenen Bluts zog sich von der Schläfe hinunter bis zum Hals. Die Jacke war von einer dunklen Flüssigkeit durchweicht. Da lag nun der Einzelgänger, der ihr vor achtzehn Jahren die Hüttentür geöffnet und ihr Obdach gewährt hatte.

Wie gelähmt starrte sie die Bergflanke hinauf, entdeckte die Stelle, wo er abgestürzt war. Ein kleiner Bergsims zog sich quer über den dunklen Felsen. Es war ein tiefer und hässlicher Sturz gewesen. Sie legte ihm behutsam die Hand über die Augen und küsste ihn auf die Stirn.

Lange blieb sie in dem Geröllfeld sitzen, und ihre Hände zitterten, als sie schließlich ihren Rucksack öffnete und ein Tuch herausnahm. Sie faltete es ordentlich zusammen und schob es ihm vorsichtig unter die Wange.

»Jetzt schläfst du gut, Hans.«

Dann begann sie, ihn Stein für Stein einzumauern. Jeder Stein, den sie aufhob, riss ihr eine klaffende Wunde in die Brust, aber sie machte weiter, hielt nur ein einziges Mal inne, um in den Himmel zu schauen. Sowohl Raben als auch Adler würden gierig über dem Geröllfeld kreisen, wenn es ihr nicht gelänge, seinen Körper gut genug zu verstecken. Und erst als die Dämmerung sich heranstahl, richtete sie sich auf und betrachtete das Steingrab, das sie aufgeschichtet hatte. Ihre Nägel waren blutig, und sie hatte tiefe Risse in den Händen, aber sie war fertig. Er lag sicher.


In der Hütte stand die Zeit still. Draußen schlich ein listiger Jäger mit weißer Schwanzspitze herum, während die Eulen zielgerichtet durch die Luft schossen. Alle auf der Jagd nach Nahrung. Sie mussten ihren Hunger stillen. Wollten leben.

Ane jedoch nicht. Erst als die Morgenbrise die Fichtenwipfel erfasste und Leben in den Wald rüttelte, erhob sie sich vom Bett. Sie blickte hinaus zu der moosbewachsenen Mulde, die im Boden zurückgeblieben war, nachdem einige Bäume im Sturm umgestürzt waren. In jedem Frühling, wenn die Hainveilchen blühten, bedeckte ein prachtvoller blauer Teppich die Stelle, und sie hatten oft dort gesessen, bis der Abendhimmel die gleiche Farbe annahm wie der Veilchenteppich. Hans und sie. Blau, das war ihre Farbe. An manchen Abenden waberte ein leichter Dunst zwischen den Baumstämmen und über den Blüten, und in dem verschleierten Licht stellte sie sich vor, Elfen in dem blauen Schimmer tanzen zu sehen. Elfenruhe. So nannte sie die Stelle. Heute lag die Fläche herbstgelb und nackt da.

Ihre Festtagskleidung hing an einem Nagel an der Tür ihrer Schlafkammer. Ein dunkelgrauer Rock mit passender Jacke; sie trug sie nur, wenn sie Besorgungen beim Kaufmann zu erledigen hatte. Der weiche Wollstoff war kaum abgenutzt. Zum ersten Mal seit ihrer Konfirmation würde sie den Pfarrer aufsuchen müssen, denn Hans sollte in geweihte Erde.


Es war früh am Morgen und auf dem Hofplatz war es still. Weder bettelnde Unglückshäher noch lärmende Eichelhäher machten auf sich aufmerksam, als sie überprüfte, ob die Stalltür gut verschlossen war. Die Kühe, die trächtig waren und deshalb nicht gemolken werden mussten, würden bis zu ihrer Rückkehr allein im Stall zurechtkommen. Bis ins Kirchdorf würde sie einen halben Tagesmarsch brauchen, sie hätte also genug Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen. Während sie durch den dichten Wald lief, erinnerte sie sich an den Tag, als sie zum ersten Mal nach Storvelta gekommen war. Es war ihr sechzehnter Geburtstag gewesen. Ihre Tante hatte ihr einen fertig gepackten Rucksack in die Hand gedrückt und sie aufgefordert auszuziehen. Sie hätten sie lange genug durchgefüttert.

Jahrelang hatte sie in dem alten Eichmeisterhaus die Hausarbeit erledigt. Am Morgen war sie als Erste auf und heizte den Ofen an. Sie versorgte die Tiere im Stall und kochte das Essen. Sie machte Betten und wusch die Wäsche, nähte im Abendlicht Gardinen und Bettbezüge und putzte, sodass es in allen Räumen sauber roch. Ihre Tante sprach manchmal mit ihr, aber ihr Onkel hatte in all den Jahren kaum ein Wort mit ihr gewechselt. Ihre größte Freude war das Klavier ihrer Tante, zu dem sie sich, wenn sie allein im Haus war, heimlich schlich, um darauf zu spielen. Noch lange, nachdem sie den Deckel vorsichtig geschlossen hatte und wieder zur Hausarbeit zurückgekehrt war, klangen die Töne in ihr nach.

Der Regen am Tag zuvor hatte die kleinen Bäche, die den Weg kreuzten, anschwellen lassen. Sie raffte den Rock zusammen und sprang darüber, schritt zügig über Wurzeln und an Ameisenhaufen vorbei, merkte nicht, dass sie schneller wurde, aber als sie bei dem zugewucherten Karrenweg ankam, der zu einer alten Rodungsfläche führte, hatte sie schon die Hälfte der Strecke zum Hauptweg zurückgelegt, und es war immer noch früh am Tag.

Ihr sechzehnter Geburtstag. Sie war nicht darauf vorbereitet gewesen. Stand mit einem Mal ohne Dach über dem Kopf da und hatte keine Ahnung, wo sie eine Anstellung im Haushalt oder ein Bett zum Schlafen finden sollte. Sie hatte niemand anderen. In einem Zustand des Schocks und der Wut war sie einfach losgegangen. Weg aus bewohntem Gebiet. Hinein in den Wald. Sie wusste nicht, wo sie hinsollte, war aber einem Weg gefolgt. Irgendwo muss er ja hinführen, hatte sie sich wohl gedacht. Nachdem sie einen ganzen Tag gelaufen war, öffnete sich der Wald. Der grünste und idyllischste Platz der Welt lag gebadet in Abendsonne vor ihr, und ihr Herz war auf einmal zu klein.

Dann stand Hans vor ihr und bot ihr an, in seiner Hütte zu übernachten. So hatte es angefangen. Jetzt befand sie sich auf demselben Weg, aber in umgekehrter Richtung. Zurück zu all dem, von dem sie damals wegwollte.

2

Für lange Grübelei und Angst blieb ihr jedoch keine Zeit, denn als sie die Wegkreuzung erreichte, tauchte in der Kurve ein unbekannter Pferdewagen auf.

Bevor sie die Hand heben konnte, hielt das Pferd an, und der Kutscher nickte ihr zu.

»Willst du mitfahren?«

»Ja gern. Zum Pfarrhof?«

»Zum Pfarrer, ja, ja. Da bist du an den Richtigen geraten.« Der Mann machte ihr auf der Bank neben sich Platz. »Hier siehst du nämlich den Pfarrer persönlich.«

Ane schaute den Fremden verwundert an.

»Nun ja. Direkt hinter der Grenze bin ich das.« Der Pfarrer ließ die Zügel schnalzen und wies mit einem Nicken hinter sich in Richtung Schweden. »Ich will meinen norwegischen Amtskollegen besuchen.«

Er stammte aus Göteborg. Den Dialekt hatte sie früher schon gehört, im Eichmeisterhaus. Die Aufgabe ihres Onkels war es gewesen, darauf zu achten, dass im Warenverkehr die richtigen Maße und Gewichte benutzt wurden, daher war er viel auf Reisen und bekam oft Besuch. Auch aus Schweden.

»Nun, da das Abkommen zwischen uns geschlossen ist, darf ich zum Ergebnis gratulieren.«

Der Pfarrer verbeugte sich und zwinkerte verschmitzt.

»Das Abkommen zwischen uns?«

»Jetzt habt ihr Norwegen für euch allein. Unsere Union besteht nicht mehr.«

Sie ließ die Schultern sinken.

»Ist es also endlich so weit?«

Auf Storvelta hatten sie von den Unruhen, die ausbrachen, als das norwegische Parlament die Union für aufgelöst erklärte, so gut wie nichts mitbekommen, die Bewohner der Gegend waren lediglich etwas vorsichtiger, wenn sie die Grenze überquerten. Auf beiden Seiten der Grenze war die Einsatzbereitschaft verstärkt worden, aber für Jäger und Waldbauern ging das Leben seinen gewohnten Gang.

»Tja. Nach der Volksabstimmung läuft es wohl darauf hinaus. Jetzt stehen nur noch die Verhandlungen an.« Der Pfarrer warf ihr einen Blick zu. »Ich heiße Alvar. Alvar Bagge.«

»Ane Solingen.«

»Gehst du oft diesen Weg?«

»Nur, wenn ich etwas zu erledigen habe.«

Sie wäre lieber schweigend gefahren.

»Und jetzt hast du etwas zu erledigen?«

Sie seufzte.

»Ich muss einen Todesfall melden.«

»Hast du niemanden, der dich dabei begleiten kann?«

»Er ist tot.«

»Ich verstehe.«

Ane starrte Löcher in ihren Rock. Er verstand es nicht. Niemand konnte es verstehen. Sie richtete sich auf.

»Wir haben achtzehn Jahre zusammengelebt. Waren nicht verheiratet.«

»Der Tod ist denen, die zurückbleiben, kein guter Freund«, sagte er bloß. Sein Tonfall war alltäglich, aber nicht ohne Mitgefühl. »Der Tote selbst entbehrt nichts und sehnt sich nach nichts.«

Hans war so gesund gewesen, so lebensfroh, dachte sie. Die Freude, mit der er beim Heimkommen seine Jagdbeute präsentiert hatte, wo war sie jetzt? Alvar Bagge wandte den Kopf und schaute sie an. Sie begegnete seinem Blick, sah, dass ihm ihre Augen auffielen. Ein braunes und ein grünes. So etwas hatte er wohl noch nie gesehen. Aber er hob nur kaum merklich die Augenbrauen und fragte, ob sie reden wolle.

»Wir haben Zeit.«

Sie starrte auf ihre Hände. Die waren jetzt ohne Gottesglauben. Gebräunt, stark und voller Risse. Aber die Finger waren schlank und weich genug, um ein zartes Moosglöckchen zu pflücken.

»Kommst du allein zurecht?«

»Ich muss.«

Alvar war nicht der Pfarrer dieses Dorfes, also hatte es ihn nicht zu interessieren, ob sie in Sünde gelebt hatte. Sie schluckte. Sie musste ihm nichts erzählen. Aber ehe sie sich’s versah, sprudelte es dennoch aus ihr heraus. Und sie wurde nicht unterbrochen.

»Das war eine traurige Geschichte, und du erzählst schmerzlich schön. Aber der Herr wird dir helfen«, sagte Alvar schließlich, den Blick fest auf den Weg gerichtet.

»Nachdem er mich erst bestraft hat?«

»Gott hört uns und hält seine Hand über uns. Die Strafe, die Er verhängt, ist ein Wegweiser.«

Sie verstand ihn nicht, sagte aber nichts mehr. Sie näherten sich dem Pfarrhof, und bald würde sie alles noch einmal erzählen müssen.

»Hast du Nachbarn?«, fragte Alvar, als er vom Hauptweg in die zum Pfarrhof führende Allee einbog.

»Nein. Aber ich komme zurecht, wenn Hans nur in geweihte Erde kommt.«

»Ja. Dafür muss gesorgt werden.« Der Wagen kam zum Stehen, Alvar stieg ab und reichte ihr die Hand. »Vielen Dank für deine Bereitschaft, deine Geschichte mit mir zu teilen.«

»Vielen Dank für …«

Ihre Worte wurden von einer dröhnenden Stimme übertönt.

»Alvar!«

Die Augen des Dorfpfarrers Giert Lund strahlten freundlich, als er an Ane vorbeischaute und seinen Amtsbruder herzlich willkommen hieß. Alvar beantwortete den Gruß mit einem Schulterklopfen, bevor er auf Ane wies.

»Hier hat noch jemand einen weiten Weg zurückgelegt, um dich heute zu treffen«, erklärte Alvar. »Am besten kümmerst du dich zuerst darum.«

Der Dorfpfarrer sah Ane abweisend an.

»Das kann sicher bis morgen warten.«

»Nein.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich muss einen Todesfall melden.«

»Eben. Dann eilt es nicht.«

Sie sah den Pfarrer verständnislos an.

»Hans ist tot«, sagte sie leise. »Er liegt im Geröllfeld.«

»Dann können wir heute Abend nichts für ihn tun. Ich unterhalte mich gern morgen früh mit dir.«

»Aber ich muss zurück zu den Tieren.«

»Du willst doch wohl nicht sagen, dass du heute noch zurücklaufen willst?«

Der Dorfpfarrer wirkte fast verlegen wegen ihr.

»Ich glaube, die junge Dame braucht jemanden zum Reden und einen Schlafplatz für die Nacht«, fiel Alvar ein. »Wie ich dich kenne, Giert, sorgst du immer gut für deine Pfarrkinder.«

Das Lächeln des Dorfpfarrers sah eher nach einem verärgerten Zucken der Mundwinkel aus, als er Ane aufforderte, in seinem Büro auf ihn zu warten.

Sie ging ins Haus, nahm ihr Schultertuch ab und glättete ihre Haare mit den Fingern. Im Flur empfingen sie ein Schirmständer voller Spazierstöcke und ein eleganter Kleiderständer. Blank geputzte, schwere Kerzenleuchter aus Messing standen auf Rokokotischchen, sechs flackernde Flammen wiesen ihr den Weg ins Büro. Sie setzte sich auf die Stuhlkante. Dank des schwedischen Pfarrers war sie zumindest ins Pfarrhaus gelangt. Das Pfarrbüro hatte große, saubere Fenster, die den Blick auf den Friedhof freigaben, wo die Grabkreuze in Reih und Glied standen. Sie schloss die Augen. Bald würde eins hinzukommen.

»Nun, worum geht’s?«, fragte der Pfarrer, als er endlich den Raum betrat. »Todesfall, hast du gesagt?« Er holte ein großes Protokollbuch hervor und schlug es auf dem blank polierten Schreibtisch auf. Der Tisch war viel größer als der ihres Onkels, und das Holz glühte in einem satten Rotton. »Name?«

»Hans Jørgen Jonsson. Er …«

»Geboren?«

»2. Mai 1860. Er …«

»Wohnort?«

»Storvelta.«

»Todeszeitpunkt?«

»Das weiß ich nicht, aber ich habe ihn vor zwei Tagen gefunden. Unterhalb der großen Felswand.«

»War er allein?«

»Ja.«

»Keine Zeugen?«

Er sah sie forschend an.

»Er war allein auf der Jagd.«

»Na gut. Dann schreibe ich Unfall.« Der Pfarrer hob den Kopf und nahm die Brille ab. »Wann kannst du ihn zur Beisetzung bringen?«

»Das ist es ja gerade. Ich brauche Hilfe. Er liegt noch im Geröllfeld.«

Sie faltete die Hände und presste sie so fest zusammen, dass die Knöchel weiß wurden. Vor sich sah sie ganz deutlich ein bleiches Gesicht über einem blauen Schal.

»Ich werde mit meinem Jungknecht sprechen. Hast du einen Sarg?«

»Nein.«

Sie strich sich mit der Hand über die Wange. Starrte in ihren Schoß und wünschte sich weit weg.

»Nun gut. Die Burschen werden sich auch darum kümmern. Kannst du bezahlen?«

»Wenn der Herr Pfarrer Felle annimmt.«

»In Ordnung.«

»Wann glaubt der Herr Pfarrer, dass …«

»Schwer zu sagen«, unterbrach er sie. »Aber du wirst die Burschen schon sehen, wenn sie bei dir vorbeikommen. In drei, vier Tagen vielleicht.«

»Danke.«

Der Pfarrer klappte das Protokollbuch zu und erhob sich von dem Stuhl mit Goldlederbezug. Er blieb einen Augenblick stehen und trommelte leicht auf den Schreibtisch, sodass die silbernen Federhalter ein bisschen vibrierten und einen hellen Schatten auf die Tischplatte warfen. Er zog die Stirn in Falten und räusperte sich.

»Es wird wohl ein ruhiges Begräbnis?«

Sie nickte, verbeugte sich und folgte ihm, als er sich zur Tür wandte, die er ihr aufhielt.

»Wo schläfst du heute Nacht?«

»Ich werde sofort zurückgehen.«

Streifte da ein Anflug von Mitgefühl sein Gesicht?

»Du könntest doch sicher etwas Schlaf gebrauchen, bevor du dich auf den langen Heimweg machst.« Er sah auf seine Taschenuhr und murmelte, dass das Abendessen warte. »Geh in die Küche und lass dir etwas zu essen geben. Das Mädchen, wird dir zeigen, wo du schlafen kannst. Es kommt schon alles in Ordnung. Mit Gottes Hilfe.«

Das Letzte schob er rasch nach, als hätte er es kurzzeitig vergessen.

Die Kühe zu Hause auf Storvelta standen sicher im Stall und hatten genug Wasser. Sie konnte beruhigt bis zum nächsten Tag bleiben. Sobald sie in der Küche Suppe und Brot gegessen hatte, legte sie sich auf die Pritsche, die man ihr in der Backstube zugewiesen hatte, wo auch einige der Dienstmädchen schliefen. Aber das Weinen erreichte ihre Augen vor dem Schlaf, und sie stopfte sich den Zipfel ihres Umhängetuchs in den Mund, um keinen Laut von sich zu geben. Als die Dienstmädchen hereinkamen, um zu Bett zu gehen, glaubten sie wohl, sie schliefe, und merkten nicht, dass sie mitbekam, wie sie beide einen großen Bogen um ihre Pritsche machten.


Als sie früh am nächsten Morgen erwachte, waren ihre Augen verklebt. Offenbar hatte sie auch im Schlaf noch geweint. Als die Dienstmädchen sich anzogen, blieb sie ganz still liegen, bis sie sicher war, dass sie den Raum verlassen hatten.

Direkt vor der Backstube stand ein halb voller Wassereimer, und der Saum ihres Rocks diente ihr als Waschlappen. Das kalte Wasser tat gut, und sie schaute sich prüfend um. Vielleicht konnte sie einen Schluck Milch ergattern, ehe sie ging? Aber der Hof war menschenleer, und niemand hatte gesagt, sie solle in die Küche kommen, um sich Proviant mitzunehmen. Sie zog das Schultertuch enger um sich, nahm ihren Rucksack und ging, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie weigerte sich, den Hunger und die Trauer zur Kenntnis zu nehmen, und ließ stattdessen ihr Herz schwer im Rhythmus ihrer Schritte arbeiten. Die Bilder von Hans im Geröllfeld drängten sich ihr immer wieder auf, aber sie durfte sie nicht an sich heranlassen. Nicht jetzt. Sie musste aus dem Dorf herauskommen, hinein in den Wald. Dort war sie sicher. Dort war das Leben, das sie kannte.

»Hast du neue Schuhe?«

Als sie eine Hofzufahrt passierte, kam eine Schar Kinder angerannt. Der eisige Nordwind, der über halb gefrorene Felder und verwelktes Gras fegte, schien sie nicht zu stören.

»Solche Stiefel hat mein Großvater.«

Ein Junge in kurzer Hose schlug mit einem Stock nach ihren Füßen, sodass sie fast gestolpert wäre.

»Der Rock könnte von meiner Großmutter sein«, kicherte ein Mädchen und zupfte an Anes grauem Rock.

»Meine Mutter sagt, ihr seid dreckig. Wir dürfen nicht mit euch sprechen.«

So fühlte es sich also an, allein durchs Dorf zu gehen. Sie hastete weiter, während die Kinder alle durcheinanderredeten. Wenn sie mit Hans zusammen im Dorf gewesen war, hatten sie nur aus der Entfernung freche Bemerkungen gemacht.

»Bist du stumm?«

»Ihr jagt ohne Erlaubnis, sagt mein Vater.«

Ane richtete den Blick fest auf einen Schwarm Seidenschwänze, der in einer Eberesche ganz in der Nähe saß. Die Federhauben auf den Köpfen waren gut zu sehen. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie vielleicht trotz des Kindergeschreis das Zwitschern der Vögel hören. Es war wie Musik. Selbst die Laute einer Krähe hatten etwas Melodiöses an sich. In dem Moment stolperte sie und fiel auf den Weg. Es roch nach Pferdemist, Straßenstaub und trockener Erde, und die Gerüche spülten eine alte Erinnerung hoch. Ein Pferdewagen über ihr, ihr Onkel an den Zügeln, er hatte nicht einmal versucht, den Wagen zum Stehen zu bringen.

Über ihren Kopf hinweg lachten die Kinder, aber sie schluckte den Zorn hinunter und stand auf. Sie wusste gut, dass sie in dem Augenblick verloren hatte, in dem sie anfing, sie auszuschimpfen.

»Schluss jetzt, Kinder! Habt ihr nichts Besseres zu tun, als am Weg herumzulungern und Leute zu ärgern?«

Ein erwachsener Mann auf einem Fahrrad hielt neben ihr an, während die Kinder etwas Unverständliches murmelten und sich davonmachten. Der Spaß war vorbei.

»Alles in Ordnung?«

»Ja, danke.«

Sie sah ihn an. Er war in Hans’ Alter, groß, trug eine Schirmmütze und eine Baumwolljacke. Sie hatte ihn schon einmal gesehen.

»Willst du nach Hause zu Hans?«

»Ja.«

Die Antwort war heraus, bevor sie nachgedacht hatte.

»Da hast du noch einen weiten Weg.«

»Ja.«

»Du kannst das hier nehmen.« Der Mann schob ihr das Rad hin. »Stell es einfach da ab, wo der Waldpfad vom Weg abzweigt. Ich hole es später ab.«

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Er sah sie aufmunternd an, also raffte sie den Rock zusammen und schwang das eine Bein über die Stange. Ihr Fuß reichte gerade bis zum Pedal, aber der Rock war im Weg. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«

»Klar schaffst du das.« Der Mann hielt das Rad fest, bis sie im Sattel saß, und schob es dann vorwärts. »Jetzt musst du nur die Räder in Bewegung halten.«

Nach ein paar wackligen Metern hielt sie das Rad ruhiger. Der Mann lief hinter ihr her und rief ihr zu, es klappe doch gut. Ihr gelang es zu lenken. Sie erinnerte sich ans Fahrradfahren. Und dann ließ er los.

»Gute Fahrt! Grüß Hans von Reidar!«

Sie riskierte nicht, sich umzusehen, denn so sicher fühlte sie sich nicht. Stattdessen hob sie den Kopf und ließ den Wind auf ihre Stirn treffen. Durch das ungewohnte Erleben von Geschwindigkeit hatte sie kurzzeitig das Gefühl, unbesiegbar zu sein, und dunkle Felder zogen wie eilige Wolken an ihr vorbei. Sie sah nicht, ob auf den Hofplätzen Leute waren, aber sie sah den dichten Wald näher kommen. Bald war sie bei dem Waldweg angelangt, und etwas widerwillig stellte sie wie vereinbart das Fahrrad ab, gut sichtbar an einen Baumstamm gelehnt.

Der Rest des Weges war unbesudelt. Frei von unverschämten Kindern. Es kam ihr fast unwirklich vor, dass erst ein Tag vergangen war, seit sie den Pfad in umgekehrter Richtung gelaufen war.

Wie hatte der schwedische Pfarrer eigentlich ausgesehen? Und worüber hatten die Dienstmädchen auf dem Pfarrhof getuschelt, während sie schlief? Zwischen den Fichten ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Auf dem kalten Waldboden fiel das Gehen leicht, und das brüchige Laub knisterte leise unter ihren Stiefeln. Der Pfad schlängelte sich wie ein gelber Fluss durch den Wald, ein Fluss, der über Nacht Frost abbekommen hatte. Der Dorfpfarrer war kurz angebunden gewesen, hatte aber zugesagt, junge Männer ins Gebirge zu schicken, um Hans zu holen. Mehr konnte sie nicht verlangen. Aber was wäre, wenn irgendjemand sie aus der Hütte vertreiben wollte? Wo sollte sie dann hin?

Die letzte Frage verfolgte sie den ganzen restlichen Heimweg, und als sie Storvelta endlich erreichte, ging sie direkt in den Stall. Sie mistete aus und streute Späne auf den Boden, trug Wasser und Heu herein, bevor sie innehielt, die Stirn gegen die Flanke einer der Kühe legte und den Arm über den starken Rücken des Tieres. Zwei Kälber würden im Herbst zur Welt kommen, aber sie hatte nicht genug Futter, um vier Tiere zu ernähren, also würden die Kleinen im nächsten Sommer verkauft werden müssen. So hatten sie es immer gemacht. Hans und sie.

»Morgen dürft ihr wieder raus auf die Weide. Noch gibt es Futter im Wald.«

Ane trödelte herum. Beschäftigte sich mit den Kühen. Aber nach einer Weile sammelte sie Mütze und Handschuhe ein und schloss die Stalltür hinter sich. Ging in die Hütte. Zu Hans, der nicht da war.


Die nächsten Tage waren eine einzige ruhelose Wanderung um die Hütte. Immer wenn sie die Augen schloss, roch sie die Düfte des Waldes und hörte Hans’ Schritte, aber sobald sie die Hütte betrat, strömte die Trauer auf sie ein. Eine undurchdringliche, schwarze Masse aus flüssigem Pech stieg und stieg und drohte, sie zu ertränken. Sie floh wieder nach draußen. Hinaus zu den Sternen. In den beißenden Frost. Zum Geräusch unsichtbarer Flügelschläge, die wie das Kratzen einer Schreibfeder auf dem Nachthimmel klangen.

Sie versorgte die Kühe. Konnte sich nicht erinnern, wann sie selbst zuletzt gegessen oder geschlafen hatte, denn die Linie zwischen Licht und Dunkel gab es nicht mehr. Nicht bis zu dem Tag, als sie Hans holen kamen. Sie hörte sie schon von Weitem. Zweige zerbrachen mit einem Geräusch wie zerberstendes Eis, und zwischen den Fichtenstämmen hagelte es Flüche. Der Pfad nach Storvelta war gerade breit genug, um im Winter einen Langschlitten hinter sich herzuziehen.

Sie wartete vor dem Stall in der Morgensonne. Vier junge Männer blieben am Rand der Lichtung stehen und sahen sie zögernd an. Einer nahm die Mütze vom Kopf und fragte, wo die Leiche sei.

»Er heißt Hans. Er liegt im Geröllfeld.«

Als sie das sagte, überkam sie eine eigenartige Ruhe. Das würde sie hinbekommen. Sie richtete ihr grünes und ihr braunes Auge fest auf die jungen Männer.

»Es sind etwa zwei Stunden von hier.«

»Zwei Stunden!« Der Junge stand mit der Mütze in der Hand da und starrte sie entmutigt an. »Wir werden es nicht schaffen, ihn von dort wegzuholen, bevor es dunkel wird.«

»Seid ihr nicht deshalb hergekommen?«

»Aber wir wussten doch nicht, wie weit es ist.«

»Jetzt wisst ihr es. Und das Pferd muss hierbleiben.«

Ihre Ruhe hielt an. Ein leiser Stoß eines fahlen, jungfräulichen Gefühls jagte durch ihren Körper. Sie drehte sich um und trat als Erste zwischen die Bäume, machte keine Anstalten zu warten, als ihr die Jungen nachriefen, sie müssten erst das Pferd ausspannen. Sie waren jung, sie würden sie schnell einholen.

Auf der alten Rodungsfläche schaute sie sich nach dem rostigen Kaffeekessel um, suchte ihn, als wäre er ein lieber Freund. Er hatte lange im Heidekraut gelegen. Jetzt war er weg.

Es verging überraschend viel Zeit, bis die jungen Männer sie einholten, trotzdem beschleunigte sie ihre Schritte, wollte es hinter sich bringen.

Die Jungen keuchten hinter ihr her, schenkten dem Hasen keine Beachtung, der Deckung suchend unter eine verwachsene Zwerg-Moorbirke hoppelte. Sein Fell war weiß und graubraun, genau zwischen Sommer und Winter. Sie hob den Blick und spähte über die Hochebene. Die Ruhe, die sie bei der Hütte empfunden hatte, wich, je näher sie der Unfallstelle kamen, einem lähmenden Schmerz. Bruchstücke von Gesprächen tauchten in ihrer Erinnerung auf, und sie hörte Hans’ Stimme. Lass sie glauben, was sie wollen. Sagen, was sie wollen. Wir haben den Wald und das Gebirge.

Hinter ihr riefen sie.

»Ist es noch weit?«

Sie wandte sich nicht um, als sie antwortete, sie seien gleich da.

Aber es dauerte noch fast eine Stunde, bis sie stehen blieb, auf den Steinhaufen deutete und sagte, sie werde auf sie warten.

»Wickelt ihn gut ein.«

Während sie wartete, wuchs etwas in ihr, wobei sie sich nicht sicher war, ob ihr Herz oder ihr Atem mehr Platz beanspruchte. So oder so war ihr Körper zu klein. Wie in ihrer Kindheit, wenn ihre Tante ihr zur Strafe den Kopf unter Wasser drückte. Sie wollte atmen, aber konnte es nicht.

Ane zuckte zusammen, als Steinchen unter dicken Sohlen knirschten, und ihr Atem setzte wieder ein. Bei dieser allerletzten Wanderung zusammen mit Hans wollte sie an seiner Seite gehen. Ihn über die Hochebene begleiten, durch den Wald und schließlich zu seinem endgültigen Grab.

Sein Körper war gut zugedeckt, und dicke Seile hielten ihn auf einer Bahre aus splitterigen Stangen und kurzen Brettern. Wie eine missgebildete Puppe ruhte er schwer und sorglos zwischen vier starken Männern, die einzig und allein daran interessiert waren, so schnell wie möglich von dort wegzukommen. Aber sie hatten immerhin so viel Anstand, einen Moment stehen zu bleiben, sodass Ane ihre warme Hand auf die Last legen und Hans’ Namen flüstern konnte. Dann nickte sie, und sie verließen zusammen das Gebirge.

Ihre Hand ließ sie dort liegen, wo Hans’ Schulter sein musste, und sie nahm sie selbst dann nicht weg, wenn der Weg schmal wurde und ihr Zweige ins Gesicht peitschten. Ihre Augen waren trocken, aber das Dunkel in ihnen war unendlich. Niemand wagte es, eine Rast vorzuschlagen.