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Die Autoren

Ulrich T. Egle, Univ.-Prof. Dr. med., Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Spezielle Schmerztherapie. Nach Emeritierung als Senior Consultant an der Psychiatrischen Klinik Sanatorium Kilchberg in Zürich zur Etablierung eines Behandlungskonzepts für Patienten mit stressbedingten Schmerzzuständen tätig. Psychiatrische, psychosomatische, psycho- und schmerztherapeutische Weiterbildung am Psychiatrischen Krankenhaus Haina/Kloster, an der Psychiatrischen Universitätsklinik Marburg sowie der Psychosomatischen Uniklinik Mainz. Dort auch Habilitation und Ruf auf eine Professur für Psychosomatische Schmerzdiagnostik und -therapie. Ärztlicher Direktor zweier Reha-Kliniken in Südbaden (Gengenbach, Freiburg). Bisher Veröffentlichung von 10 Büchern und mehr als 300 Artikeln in Fachzeitschriften und als Buchbeiträge. 1990 Hans-Roemer-Preis des DKPM, 2006 Walther-Engel-Preis der baden-württembergischen Zahnärztekammer, 2016 Heigl-Preis – jeweils zum Thema Psychosomatische Schmerztherapie.

Burkhard Zentgraf, Dr. med., Facharzt für Psychiatrie, Facharzt für Neurologie, Psychotherapeut; Zusatzbezeichnung Sozialmedizin; Psychosomatische Schmerztherapie. Zertifizierter psychosomatischer Schmerzgutachter (IGPS), dort mehrjährige Dozententätigkeit.

Studium an der JLU Gießen. Nach Abschluss der Facharzt-Weiterbildungen stellvertretender abteilungsleitender Arzt an einem Psychiatrischen Landeskrankenhaus, anschließend Oberarzt an einer Psychosomatischen Rehabilitationsklinik.

Klinische Schwerpunkte: psychosomatische Schmerztherapie, Stress-Folgeerkrankungen und deren Therapie (depressive Störungen, Angststörungen), Sozialmedizin und sozialmedizinische Begutachtung.

Seit 2007 Chefarzt der psychosomatischen Fachklinik »Celenus Klinik Kinzigtal« in Gengenbach und leitet dort die Schmerzabteilung.

Ulrich T. Egle

Burkhard Zentgraf

Psychosomatische Schmerztherapie

Grundlagen, Diagnostik, Therapie und Begutachtung

3., aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

 

Die 1. Auflage dieses Werkes ist 2014 innerhalb der Reihe »Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik«, herausgegeben von Michael Ermann und Dorothea Huber, erschienen.

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3., aktualisierte Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036795-1

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-036796-8

epub:   ISBN 978-3-17-036797-5

mobi:   ISBN 978-3-17-036798-2

Inhalt

  1. Vorwort zur 3. Auflage
  2. 1 Alles bio-psycho-sozial? – Was bedeutet bio-psycho-soziales Schmerzverständnis?
  3. 1.1 Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell
  4. 2 Theoretische Grundlagen: Schmerz, Bindung, Trauma
  5. 2.1 Einleitung
  6. 2.2 Neurobiologische Zusammenhänge von Schmerz- und Stressverarbeitung
  7. 2.3 Schmerz und frühe Stresserfahrungen
  8. 2.4 Epigenetik der Stressverarbeitung
  9. 2.5 Frühkindliche Belastungsfaktoren und spätere Stressvulnerabilität
  10. 2.6 Disstress und Hyperalgesie
  11. 3 Klinische Grundlagen
  12. 3.1 Biographische Anamnese
  13. 3.2 Standardisierte Erhebungsverfahren
  14. 3.3 Differentialdiagnose chronischer Schmerzen nach zugrundeliegenden Pathomechanismen
  15. 3.4 Bindungsverhalten und Arzt-Patient-Beziehung
  16. 4 Ausgewählte Krankheitsbilder
  17. 4.1 Stressinduzierte Hyperalgesie (SIH)
  18. 4.2 Fibromyalgie-Syndrom
  19. 4.3 Unspezifischer Rückenschmerz
  20. 4.4 Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) und idiopathischer Gesichtsschmerz
  21. 4.5 Chronische Primäre Kopfschmerzen
  22. 4.6 Kopfschmerzen durch Medikamentenübergebrauch
  23. 5 Therapie
  24. 5.1 Opiatinduzierte Hyperalgesie (OIH) und andere Probleme von Analgetika in der Behandlung chronischer Schmerzzustände
  25. 5.2 Patienteninformation
  26. 5.3 Grundprinzipien der psychosomatischen Schmerztherapie
  27. 5.4 Placebo/Nocebo
  28. 6 Begutachtung chronischer Schmerzzustände
  29. 6.1 Leistungsbeurteilung mit Hilfe der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)
  30. 6.2 Begutachtung beim Fibromyalgie-Syndrom
  31. Literatur
  32. Stichwortverzeichnis

 

 

Vorwort zur 3. Auflage

 

 

 

Die Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzerkrankungen ist weiterhin stark von fachspezifischen Therapiestrategien geprägt. Dabei steht die Verordnung von Analgetika – und hier immer mehr von Opiaten – bei anästhesiologischen Schmerztherapeuten, aber zunehmend auch bei Orthopäden, Rheumatologen und Neurologen ganz im Vordergrund, ohne dass dies durch die wissenschaftliche Studienlage legitimiert wäre. Neue Metaanalysen belegen, dass Opiate bei Nicht-Tumor-Schmerzen der Applikation von Placebos nicht überlegen sind (Chapparro et al., 2013, Reinecke et al., 2015, Welsch et al., 2015), jedoch ganz erhebliche Nebenwirkungen zur Folge haben. Als Folge kommt es bei nicht-tumorbedingten Schmerzzuständen zu einem erheblichen Ausmaß an Chronifizierung bei den betroffenen Patienten und enormen Kosten bei Krankenkassen wie Rentenversicherungen. Viele chronischen Schmerzpatienten leiden in erster Linie unter ihrer Behandlung, deren Nebenwirkungen und Komplikationen! Unsere Erfahrungen bei der Leitung einer Rehaklinik mit Schmerzschwerpunkt zeigten uns dies täglich aufs Neue. Deutlich wird dabei auch, dass bei den einseitig medikamentös ausgerichteten Therapiestrategien eine sorgfältige Abklärung psychosozialer Einflussfaktoren vor Behandlungsbeginn nicht stattfindet und dann in der Therapieplanung meist auch keine Berücksichtigung findet. Wird bereits früh ein Psychiater oder ein ärztlicher bzw. psychologischer Psychotherapeut hinzugezogen, so bedeutet dies noch nicht, dass eine hinreichende Abklärung psychischer und sozialer Einflussfaktoren tatsächlich stattfindet. Oft beschränkt sich der Psychiater auf die Abklärung einer komorbiden Depression (und übersieht z. B. Angsterkrankungen, PTBS oder Persönlichkeitsstörung) und verordnet ein Antidepressivum. Dies hat auch damit zu tun, dass im psychopathologischen Befund Schmerz im Hinblick auf eine diagnostische Einordnung keine Relevanz hat. Beim ärztlichen bzw. psychologischen Psychotherapeuten kommt die Therapieschulen-Zugehörigkeit zum Tragen: Viele Verhaltenstherapeuten beschränken sich leider immer noch oft auf die Klärung inadäquater Copingstrategien (z. B. Katastrophisieren) und wollen dem Patienten therapeutisch einen anderen Umgang mit seinen Schmerzen näherbringen. Viele tiefenpsychologisch sozialisierte Therapeuten sehen den Körperschmerz immer noch als Ausdruck eines Seelenschmerzes, der bereits in der Kindheit einwirkte, und interpretieren ihn – ebenfalls reduktionistisch – ausdruckshaltig i. S. einer Konversionssymptomatik. Anders ausgedrückt: Die adäquate Versorgung des Schmerzkranken ist häufig ein medizinisches »Schnittstellen-Problem«. Die Realisierung eines bio-psycho-sozialen Schmerzverständnisses bleibt in der Versorgungsrealität meist eine leere Worthülse.

Eine »Psychosomatische Schmerztherapie« möchte dieses Schnittstellen-Problem lösen. Vor dem Hintergrund neurobiologischer Forschungserkenntnisse propagiert der vorliegende Leitfaden eine bio-psycho-soziale Diagnostik und Therapie chronischer Schmerzzustände und skizziert deren Umsetzung. Im Mittelpunkt steht dabei die Beantwortung der Frage: Welche Behandlung für welchen Schmerzpatienten? Dies setzt zunächst eine sorgfältige Diagnostik voraus, aus der dann eine spezifische, an den zugrundeliegenden Mechanismen orientierte Therapie abgeleitet wird. Damit der Schmerzkranke dabei den erforderlichen Eigenbeitrag leisten kann, braucht er hinreichend Information. Nur so kann eine inhaltliche Asymmetrie in der Arzt-Patient-Beziehung überwunden werden, nur so kann sich der Patient aus einem schmerzinduzierten Schonverhalten zu einem aktiv Handelnden in der Therapie entwickeln. Gelingt dies, ist Schmerzfreiheit bei vielen chronischen Schmerzpatienten ein durchaus realistisches Therapieziel, wie wir in unserem klinischen Alltag immer wieder feststellen können. Zur praktischen Ergänzung dieses Leitfadens gibt es inzwischen auch ein spezielles Curriculum »Psychosomatische Schmerztherapie«, das gemeinsam von der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) und der Interdisziplinären Gesellschaft für Psychosomatische Schmerztherapie (IGPS) durchgeführt wird. In diesem werden neben den theoretischen Grundlagen auch praktische Fertigkeiten für den »Psychosomatischen Schmerztherapeuten« vermittelt, welche neben einer neurobiologisch fundierten Schmerzedukation und mechanismenbasierten Differentialdiagnose auch die Durchführung von Einzel- und interaktioneller Gruppenpsychotherapie, von Biofeedback und anderen Entspannungsverfahren sowie einer gut dosierten Sporttherapie umfassen.

Auch für die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung chronischer Schmerzzustände ist ein bio-psycho-soziales Schmerzverständnis bedeutsam, wie dies seitens der WHO in Form der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) entwickelt wurde. Da in vielen sozialmedizinischen Gutachten auch weiterhin nur das Ausmaß der Gewebe- und Nervenschädigung für die Beurteilung schmerzbedingter Einschränkungen zugrunde gelegt wird, haben wir uns entschlossen, auch diese Thematik in den vorliegenden Band aufzunehmen.

Im Vergleich zu 2. Auflage sind nicht nur bei vielen Details Aussagen vor dem Hintergrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse aktualisiert worden, sondern auch neue Abschnitte hinzugekommen. Gleich zu Beginn wurde eine Definition des bio-psycho-sozialen Schmerzverständnisses neu aufgenommen. Sehr viel ausführlicher wird das Thema Opiattherapie abgehandelt und durch Zahlen deutlich gemacht, dass dies nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland und der Schweiz ein gesundheitspolitisches Problem darstellt. Ebenfalls ausführlicher haben wir – nicht zuletzt aufgrund der Rückmeldungen von Lesern – bei der Leistungsbeurteilung den Bezug zur Internationalen Classification of Functioning and Disability (ICF) gestaltet.

Das vorliegende Büchlein entstand auf der Basis von vier Vorlesungen bei den Lindauer Psychotherapie-Wochen (2013, 2016, 2018, 2019).1 Wir möchten uns bei Dr. Ruprecht Poensgen vom Verlag W. Kohlhammer dafür bedanken, dass er uns zur Abfassung dieses Leitfadens motivierte. Unser Dank für eine ausgesprochen sorgfältige Lektorierung gilt wie bei den ersten beiden Auflagen erneut Frau Stefanie Reutter.

Freiburg/Gengenbach im Januar 2020

Ulrich T. Egle

Burkhard Zentgraf

1     Dieses Buch stellt eine grundlegend überarbeitete und erweiterte Fassung der Vorlesungen dar, die U. T. Egle zum gleichen Thema im Rahmen der Lindauer Psychotherapiewochen 2013, 2016, 2018 und 2019 gehalten hat (www.auditoriumnetzwerk.de).

 

1          Alles bio-psycho-sozial? – Was bedeutet bio-psycho-soziales Schmerzverständnis?

Als wir (Egle & Hoffmann, 1993) vor mehr als 25 Jahren im deutschen Sprachraum den Begriff »bio-psycho-sozial« im Zusammenhang mit chronischen Schmerzzuständen einführten, ging es uns darum, in Diagnostik und Therapie von Schmerzkranken das von Neurophysiologen und anästhesiologischen Schmerztherapeuten dominierte bio-medizinische Schmerzverständnis um die psychosoziale und die interaktionelle Dimension zu erweitern und dadurch das pathogenetische Verständnis, das diagnostische Vorgehen und nicht zuletzt die therapeutischen Strategien grundlegend zu erweitern. Obwohl in den darauffolgenden Jahren der Begriff »bio-psycho-sozial« im Kontext von Schmerzverständnis und Schmerztherapie immer häufiger Verwendung fand, kam es nur bedingt zu den angestrebten Veränderungen. Dies hat wesentlich damit zu tun, dass der Begriff für fast alles Verwendung fand, was sich diagnostisch und therapeutisch außerhalb der etablierten bio-medizinischen Schmerzkonzeption bewegte, nicht zuletzt jedwede Ergänzung der Behandlung mit Opiaten um andere Maßnahmen – ob im psychotherapeutischen oder komplementärmedizinischen Bereich. Einen wesentlichen Beitrag zur inhaltlichen Verwässerung des bio-psycho-sozialen Schmerzverständnisses lieferte auch die in den 1990er Jahren sich zunehmend in der Therapie chronischer Schmerzzustände etablierende kognitive Verhaltenstherapie, die als Ergänzung des bio-medizinischen Schmerzverständnisses Behandlungsstrategien für eine bessere Schmerzbewältigung entwickelte und damit die einseitig analgetisch-interventionellen Therapiestrategien der anästhesiologischen Schmerztherapie bis heute zu ergänzen versucht (Gatchel et al., 2007, Hulla et al., 2019). In einer sehr ausführlichen und bis heute weit mehr als 1000 Mal zitierten Übersichtsarbeit in einer renommierten psychologischen Fachzeitschrift (»Psychological Bulletin«) wird zwar auf den »Erfinder« des bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells, den amerikanischen Internisten und Psychiater G. L. Engel, Bezug genommen, ohne allerdings dessen Konzeption (Engel, 1977, 1997) genauer darzustellen und sich an dieser zu orientieren.

1.1       Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell

In Engels bio-psycho-sozialem Krankheitsmodell ist der Mensch Teil umfassender übergeordneter Systeme (Zwei-Personen-Ebene, Familie, Gesellschaft, Kultur/Subkultur, Staat/Nation, Biosphäre) und selbst wiederum ein System aus mehreren Subsystemen (Nervensystem, Organsystem/Organe, Gewebe, Zelle, Organelle) bis hinab auf die molekulare Ebene (image Abb. 1.1; Engel, 1977).

Diese Ebenen sind so integriert, dass das jeweilige Subsystem über eine gewisse Autonomie verfügt, gleichzeitig jedoch auch von den über- und untergeordneten Subsystemen beeinflusst und geregelt werden kann. Es handelt sich also um eine Hierarchie von Systemen mit Programmen aus Regulation und Gegenregulation, zugehörigen Soll- und Ist-Werten, die über Steuer- und Rückmelde-Variablen funktionieren und jeweils über eigene Zeichen und Kodierungen verfügen. Auf der physiologischen Ebene verständigen sich Nervensysteme und Organsysteme mit Hilfe biochemischer und elektrophysiologischer Signale, die von spezifischen Rezeptoren empfangen werden und der jeweiligen Prozessregulation dienen. Dabei lassen sich verschiedene Zeichensysteme unterscheiden, u. a. das immunologische, das endokrine und das neuronale. Auch bei den psychosozialen Systemen gibt es spezifische und voneinander differenzierte Zeichensysteme, welche die Kommunikation der Person mit ihrer Umwelt regulieren. Auf den verschiedenen biologischen ebenso wie den psychosozialen Systemebenen spielen als wesentliches Kontrollprinzip negative Feedback-Mechanismen eine zentrale Rolle. Das Ausmaß der Wechselwirkungen zwischen Organismus und Umwelt wurde in den letzten 20 Jahren durch wissenschaftliche Erkenntnisse zur erfahrungsgesteuerten neuronalen

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Abb. 1.1: Bio-psycho-soziales Krankheitsmodell

Plastizität und seitens der Epigenetik zunehmend entschlüsselt. Nachgewiesen wurde ein permanentes Interagieren zwischen genetischer Ausstattung und Umweltbedingungen in Form eines An- und Abschaltens bestimmter Genabschnitte und damit einhergehender physiologischer, neuro- und molekularbiologischer Prozesse. Diese sind im folgenden Kapitel (image Kap. 2) genauer dargestellt.

Bio-psycho-soziale Wechselwirkungen führen also bereits früh zu biologischen, psychischen und sozialen Prägungen, welche die Vulnerabilität für die Entstehung verschiedener Formen von Schmerz (nozizeptiv, neuropathisch, stressinduziert) unterschiedlich beeinflussen und auch eine große Bedeutung für die individuelle Schmerzperzeption haben.

Das bio-behaviorale Schmerzverständnis

Die bio-psycho-sozialen Wechselwirkungen in der Entstehung von chronischen Schmerzen werden in den zahlreichen Publikationen von Gatchel und seiner Arbeitsgruppe bis heute (vgl. Hulla et al., 2019) ausgeklammert. Beim Thema Schmerzvulnerabilität wird auf »vorwiegend genetisch verankerte« Persönlichkeitsfaktoren verwiesen, welche das Bewältigungsverhalten beeinflussen können (Gatchel et al., 2007). Die bio-psycho-sozialen Wechselwirkungen beschränken sich auf eine – durchaus sorgfältige – Aufarbeitung psychosozialer Einflussfaktoren nach Auftreten der Schmerzen und deren Bedeutung für deren Chronifizierung im Hinblick auf dysfunktionale Kognitionen und Verhaltensweisen. Vorausgegangene Prägungen und daraus resultierende bio-psycho-soziale Wechselwirkungen in der Pathogenese werden nicht berücksichtigt. Die der Schmerzentstehung individuell zugrundeliegenden neurobiologischen und epigenetischen Mechanismen bleiben eine »Black Box«. Gatchels bio-psycho-soziales Modell liefert die theoretischen Grundlagen für behaviorale Therapieansätze, die sich auf Schmerzbewältigung beschränken und als Ergänzung zu den bio-medizinischen Therapiemaßnahmen durchgeführt werden, unabhängig davon, durch welche biologischen Mechanismen das Schmerzgeschehen zustande gekommen ist. Dieses Schmerzverständnis sollte deshalb zutreffender als bio-behaviorales bezeichnet werden.

 

Weiterführende Literatur

 

Egle UT, Heim C, Strauß B, von Känel R (2020) Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell – revisited. In: Egle UT, Heim C, Strauß B, von Känel R (Hrsg) Psychosomatik. Neurobiologisch fundiert, Evidenz basiert. Kohlhammer, Stuttgart

Engel GL (1977) The need for a new medical model: a challenge for biomedicine. Science 196:129–136

Engel GL (1997) From biomedical to biopsychosocial. Being scientific in the human domain. Psychosomatics 38:521–528

Gatchel RJ, Peng YB, Peters ML, Fuchs PN, Turk DC (2007) The biopsychosocial approach to chronic pain: scientific advances and future directions. Psychol Bull 133:581–624.

 

2          Theoretische Grundlagen: Schmerz, Bindung, Trauma

2.1       Einleitung

Dass frühkindliche Traumatisierungen die Vulnerabilität für chronische Schmerzen erhöhen, wurde bereits 1959 von dem amerikanischen Internisten, Psychiater und Psychoanalytiker G. L. Engel auf der Basis sorgfältiger klinischer Beobachtungen beschrieben. Als es ab Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zunehmend mehr um die Objektivierung psychosomatischer Zusammenhänge ging und von Seiten der Psychologie behaviorale Ansätze das Verständnis und die Behandlung chronischer Schmerzzustände zu dominieren begannen, wurden solche biographischen Zusammenhänge als spekulativ abgetan – und werden es teilweise bis heute noch (z. B. Sommer et al., 2008). Trotz einer Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts im JAMA erschienenen Studie, die deutlich Zusammenhänge zwischen sexuellen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und späterer Entwicklung körperlicher Beschwerden im Rahmen einer Somatisierung erbrachte, wurde eine Überbewertung des Zusammenhangs zwischen Kindheitstraumatisierung und späterer chronischer Schmerzerkrankung aufgrund retrospektiver Befragung unterstellt (Raphael et al., 2002). Dabei zeigen sorgfältige Studien und Metaanalysen der letzten Jahre genau das Gegenteil: Eine methodisch sorgfältig durchgeführte retrospektive Datenerhebung führt eher zu einer Unterbewertung des Zusammenhangs zwischen Kindheitstraumatisierung und späterer Symptombildung (Hardt & Rutter, 2004; Nelson et al., 2010). Inzwischen gilt wissenschaftlich als gesichert, dass vor allem kindliche, aber auch spätere Traumatisierungen die Vulnerabilität für ein chronisches Schmerzsyndrom deutlich erhöhen können. Dabei spielt das mit Schmerz einhergehende Auslieferungserleben bei körperlicher Misshandlung bei Kindern offensichtlich eine sehr viel größere Rolle als sexueller Missbrauch!

Bis heute ist bei vielen chronischen Schmerzpatienten ebenso wie bei vielen Ärzten jedoch immer noch die Vorstellung verbreitet, dass Schmerz nur als Folge einer Gewebsschädigung entstehen kann und die Stärke des Schmerzes dem Ausmaß der Gewebsschädigung entspricht. Die vorherrschende Vorstellung der Schmerzverarbeitung im zentralen Nervensystem geht vom Prinzip einer Art »Telefonkabel« aus, das Aktionspotentiale von einem Ort zu einem anderen leitet, in denen Informationen über Beginn, Dauer, Stärke, Lokalisation und Qualität eines peripheren nozizeptiven Reizes codiert sind (Woolf, 2011). Dieses Mitte des 17. Jahrhunderts von René Descartes postulierte Schmerzverständnis hat bis heute weitreichende Folgen für Diagnostik und Therapie chronischer Schmerzpatienten. Insbesondere psychische Störungen mit dem Leitsymptom Schmerz werden vor dem Hintergrund des kartesianischen Schmerzverständnisses aufgrund der damit einhergehenden fehlenden Erklärbarkeit als diagnostische Restkategorie gesehen und damit implizit oder gar explizit mit Simulation gleichgesetzt. Vernachlässigt werden dabei die durch die Möglichkeiten der Bildgebung des Gehirns gewonnenen Erkenntnisse zur zentralen Schmerzverarbeitung der letzten 10 Jahre.

Der Nachweis deszendierend-hemmender Schmerzbahnen – von Melzack und Wall bereits 1965 im Rahmen ihrer Gate-Control-Theorie postuliert – Ende der 70er Jahre führte zu der Erkenntnis, dass bereits auf spinaler Ebene, d. h. im Zusammenhang mit der Umschaltung peripherer Schmerzreize vom ersten auf das zweite Neuron in der Substantia gelatinosa im Bereich des Hinterhorns des Rückenmarks, komplexere Regelmechanismen in der Schmerzverarbeitung wirksam sind. Wirkt ein peripherer Reiz über längere Zeit ein, so kommt es sowohl auf spinaler als auch auf zentraler Ebene über biochemische Umbauprozesse zu einer erhöhten Schmerzsensitivierung (Hyperalgesie).

Eine besondere Bedeutung bei der Verknüpfung von Schmerz- und Stressverarbeitungssystem haben eine Reihe von Neuropeptiden, welche von Mastzellen bzw. im Gehirn von Microglia sezerniert werden (u. a. Substanz P, Prostaglandin, Nerve Growth Factor, Calcitonin Gene-related Peptide CGRP, Brain Derived Neurotrophic Factor BDNF; Neuropeptid Y, Cholecystokinin), und Zytokine, die bei verschiedenen chronischen Schmerzerkrankungen (z. B. Fibromyalgie-Syndrom, chronischem Kopfschmerz, chronischem Schulter-Nacken-Schmerz nach Schleudertrauma) nachgewiesen werden konnten. Inzwischen wurde in tierexperimentellen Studien gezeigt, dass alle diese Neuropeptide auch bei psychosozialem Stress aktiviert werden und über neuroinflammatorische Prozesse peripher wie zentral eine verstärkte Schmerzwahrnehmung induzieren können (Xanthos & Sandkühler, 2014; Littlejohn, 2015).

2.2       Neurobiologische Zusammenhänge von Schmerz- und Stressverarbeitung

Nach Umschaltung im Hinterhorn des Rückenmarks vom ersten auf das zweite Neuron wird der periphere Schmerzreiz zum Thalamus geleitet. Von den lateralen Thalamuskernen erfolgt eine Umschaltung in Richtung des somatosensorischen Kortex, wo eine topographische Verortung der Schmerzreize stattfindet (»Homunculus«): Kommt der Schmerzreiz aus dem rechten Daumen, dem linken Unterschenkel usw.? Festgestellt wird auch die Reizstärke, ohne dass dies jedoch – wie man sich dies früher vorstellte – bereits der Schmerzstärke entspräche. Diese wird vielmehr durch die Einbeziehung anderer Hirnareale bedingt. Besonders bedeutsam sind dabei Insula, Amygdala, Hippocampus, anteriorer Gyrus cinguli (ACC) und verschiedene Bereiche des Präfrontalkortex. All diese Hirnbereiche sind auch Teil des zentralen Stressverarbeitungssystems.

Entscheidend für die Interpretation des Schmerzreizes ist deshalb die situative Gesamtverfassung des Individuums, wie sie sich vor dem Hintergrund des Interagierens verschiedener Hirnareale darstellt. Auch vorausgegangene Lernerfahrungen im Umgang mit Schmerz und Disstress werden bei der Bedeutungserteilung des Schmerzreizes bzw. eines andauernden Schmerzempfindens herangezogen und beeinflussen anschließend die Erwartungshaltung. Vereinfacht kann man sagen, dass Schmerz für das Gehirn nur eine besondere Variante von Stress darstellt und entsprechend verarbeitet bzw. beantwortet wird. Die »Schmerzmatrix« hat eine weitreichende Überlappung mit dem Stressverarbeitungssystem (image Abb. 2.1a und image Abb. 2.1b).

Aus einem Schmerzreiz mit definierbarer Intensität (»sensation«) wird ein individuelles Schmerzerleben (»perception«). Dabei ist das Gehirn viel aktiver als lange angenommen: Es wartet nicht als Endorgan darauf, bis zuvor »schlafende« Neuronen aktiviert werden und ihm Reize zuliefern (»bottom-up«), die es dann zu dechiffrieren hat, sondern es schafft durch vorausgegangene Prägungen eine Vorannahme und nimmt dann bei der Schmerzbewertung eine Art Kompromissbildung zwischen der objektiven Reizstärke und der subjektiven Vorannahme im dazwischen liegenden Irrtumsbereich vor (vgl. Feldmann-Barrett & Simmons, 2015). Erwartet man einen geringen Schmerz, so wird die Perzeption niedriger als die reale Reizstärke sein. Erwartet man einen starken Schmerz, so wird die Perzeption höher sein, was bei ängstlichen Menschen besonders ausgeprägt ist (Paulus & Stein, 2010). Beides sind auch wesentliche Grundlagen der Wirkung von Plazebo und Nozebo (image Kap. 5.4). Es entsteht eine subjektive Schmerzrealität, die nach heutigem Wissensstand im Bereich der vorderen Insula stattfindet.

Der Präfrontalkortex ist unser am weitesten entwickelter Hirnbereich. Er ist für unsere kognitiven Fähigkeiten verantwortlich und reguliert unser Denken, unser Handeln und unsere Emotionen. Er ist für die kognitive Bewertung der Gesamtsituation zuständig. Dabei können vier Teilbereiche mit unterschiedlichen Zuständigkeiten unterschieden werden (image Abb. 2.2, Arnsten, 2009).

•  Der dorsolaterale PFC (dlPFC) hat intensive Verbindungen zu motorischen und sensorischen Hirnarealen und hat eine zentrale Bedeutung für die Regulation von Aufmerksamkeit, Denken und Handeln (kognitive Verarbeitung)

•  Der ventromediale PFC (vmPFC) hat Verbindungen zu subkorticalen Hirnbereichen (Amygdala, Ncl. accumbens und Hypothalamus), welche emotionale Reaktionen auslösen, und ist dadurch in der Lage, Emotionen zu regulieren. Seine erhöhte Aktivität verbessert die Erholung durch Schlaf, verringert die Aktivität des Sympathikus, erhöht die Aktivität des Parasympathikus und fördert damit die Widerstandsfähigkeit gegenüber Stress (»Resilienz«).

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Abb. 2.1a: Wesentliche Hirnareale bei der zentralen Schmerzverarbeitung (nach Egle et al., 2016, S. 527). Reprinted by permission from Springer Nature, Der Schmerz, 30 (6), 526–536, Stressinduzierte Hyperalgesie (SIH) als Folge von emotionaler Deprivation und psychischer Traumatisierung in der Kindheit, U. T. Egle, N. Egloff, R. von Känel, Copyright © 2016)

•  Der dorsomediale PFC ist zuständig für die Realitätsprüfung und Fehlererkennung.

•  Der rechte inferiore PFC scheint beim Menschen für die Hemmung inadäquater motorischer Reaktionen zuständig zu sein.

All diese Bereiche des Präfrontalkortex stehen in enger Verbindung untereinander. Dies bewirkt eine enge Abstimmung und bietet die Grundlage für die Fähigkeit des Menschen zu Entscheidungsfindung, Alltagsorganisation und Zukunftsplanung. Der PFC hat auch Verbindungen zu monaminergen Zellkörpern im Hirnstamm (Locus coeruleus,

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Abb. 2.1b: Schmerzmatrix

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Abb. 2.2: Aufgaben der verschiedenen Bereiche des Präfrontalkortex

Substantia nigra, VTA, PAG), in welchen katecholaminerge Projektionsbahnen (Dopamin, Noradrenalin) ihren Ausgangspunkt haben.

Während eine überschaubare (kontrollierbare) Stresssituation (Ausschüttung von CRH) vor allem im Bereich des Hypothalamus über eine Aktivierung des Sympathikus (»LC-NE-Achse«) zur Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin im Nebennierenmark sowie über die Aktivierung der Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (»HPA-Achse«) zur Ausschüttung von Glukokortikoiden (Cortisol) in der Nebennierenrinde führt und darüber sowohl Stoffwechsel- als auch Lernvorgänge induziert, welche der Adaptation dienen, führen anhaltende und unkontrollierbare Stresssituationen über eine massive Glukokortikoid-Ausschüttung zu bleibenden Schädigungen im Bereich des Hippocampus und erhöhte Noradrenalin- und Dopamin-Ausschüttungen zu Schädigungen des Präfrontalkortex (image Abb. 2.3, Roozendaal et al., 2009) sowie zu Einschränkungen im adaptiven Lernen (Sapolsky, 1996; McEwen, 2003). Für solche toxischen Schädigungen ist das kindliche Gehirn in besonderem Maße empfindlich. Doch auch das Gehirn des Erwachsenen ist davor nicht gefeit. Durch eine verstärkte Ausschüttung von Noradrenalin und Dopamin wird aus der »Top-down«-Kontrolle (vmPFC -> Amygdala) ein »Bottom-up«-Prinzip (image Abb. 2.2). Die emotionale Kontrolle seitens des vmPFC wird reduziert bzw. eingestellt. Statt bedachtsamen und eher langsam durchgeführten Handlungen stehen schnelle und reflexhafte Reaktionen im Vordergrund. Bei ängstlich und anankastisch strukturierten Menschen tritt dies schneller auf als bei selbstsicheren.

Was bedeutet dies für das Wahrnehmen eines Schmerzreizes? Ist kognitiv-emotional eine adäquate Bewertung möglich, führt dies im Sinne einer Top-Down-Regulation zu einer Unterdrückung der emotionalen und biographischen Einflussfaktoren. Geplantes Handeln steht im Vordergrund. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die fehlende Möglichkeit zur kognitiv-emotionalen Bewertung den Einfluss affektiver und biographischer Einflussfaktoren auf das Schmerzerleben besonders ausgeprägt werden lässt.

Die Ausschüttung des zentralen Stresshormons Corticotropin-Releasing Hormon (CRH) – vor allem im Bereich des Hypothalamus – führt darüber hinaus zu einer Einflussnahme auf einen Bereich des Hirnstamms, auf das Periaquäduktale Grau (PAG) bzw. zentrale Höhlengrau,

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Abb. 2.3: Auswirkung von anhaltendem Disstress auf Präfrontalkortex, Hippocampus und Amygdala

welches Ausgangspunkt der serotonergen deszendierend-hemmenden Schmerzbahnen ist. Diese modulieren die Umschaltung peripherer Schmerzreize vom ersten auf das zweite Neuron im Bereich des Hinterhorns auf Rückenmarksebene (»gate«). Während akute Stresssituationen darüber zu einer kurzzeitigen Schmerzunterdrückung führen, bewirken anhaltende Schmerz- und Stresssituationen eine Senkung der Schmerzschwelle auf Rückenmarksebene und damit eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit (image Abb. 2.4a und image Abb. 2.4b; nach Neugebauer, 2004).

CRH beeinflusst im Hirnstamm zudem auch den Locus coeruleus, welcher das vegetative Nervensystem steuert. Dies erklärt die parallel auftretenden vegetativen Reaktionen, u. a. auch das Auftreten muskulärer Verspannungen (z. B. im LWS- und HWS-Bereich).

Durch diese Verknüpfungen ist es möglich, dass Schmerz nicht nur als Folge einer Gewebe- oder Nervenschädigung, sondern auch aus einer psychosozialen Belastungssituation bzw. der Reaktivierung einer solchen aus der Vergangenheit entsteht. Bedenkt man, dass nach den Ergebnissen einer repräsentativen Studie ca. 9 % der Kinder in Deutschland

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Abb. 2.4a: Einfluss von Emotionen auf das Schmerzerleben über die Amygdala

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Abb. 2.4b: Einfluss von Emotionen auf das Schmerzerleben über die Amygdala

körperlichen Gewalterfahrungen in der Familie ausgesetzt sind (Baier et al., 2009), so besteht ein relativ hohes Risiko für das frühe Erleben von Schmerz und für ein mit intrafamiliärer Gewalterfahrung verbundenes Auslieferungserleben. Vor allem Ausgrenzungs- und auch Auslieferungssituationen, welche mit Schmerzerfahrungen einhergingen, führen zu Prägungen, welche später wieder reaktiviert werden können. Gut untersucht ist dies bei der Triggerung traumabezogener Intrusionen durch optische oder akustische Reize. Viele Menschen kennen dies auch von der Aktivierung lange zurückliegender bildhafter Vorstellungen durch Gerüche.

Als Ergebnis kommt es zu einer dysfunktionalen Verarbeitung von Schmerz ebenso wie von Stress durch Einflussnahme auf die Amygdala, das zentrale Höhlengrau (PAG) im Hirnstamm und das deszendierend-hemmende System.

2.3       Schmerz und frühe Stresserfahrungen

Eine erhöhte Stress- und Schmerzvulnerabilität (SIH) entsteht durch das frühe Einwirken ungünstiger Umweltbedingungen während der Ausreifung des genetisch determinierten Stressverarbeitungssystems in der Kindheit. Durch eine erhöhte Aktivierung der HPA-Achse kommt es psychoimmunologisch auch zu einer verstärkten Aktivierung proinflammatorischer Zytokine, welche über eine neuronale Wirkung Schmerzreize verstärken und durch eine unter Stress erhöhte Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke für Makrophagen, die sie transportieren, vermehrt im Gehirn vorhanden sind und über Entzündungsprozesse zentral Schmerzen generieren können (Xanthos & Sandkühler, 2014).

Tierexperimentell ebenso wie in Studien am Menschen konnte nachgewiesen werden, dass es in verschiedenen Bereichen des Schmerz- und des Stressverarbeitungssystems durch postnatal einwirkende Schmerzreize zu Sensitivierungsprozessen mit der Folge einer späteren Hyperalgesie kommen kann (vgl. Schwaller & Fitzgerald, 2014; Victoria & Murphy, 2016):

•  nozizeptive Sensitivierung,

•  zentrale Sensitivierung,

•  Beeinträchtigung des deszendierend-hemmenden Systems,

•  Dysfunktion der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden (HPA)-Achse.

Altersabhängig verändert sich dabei die Ausschüttung von Interleukinen von einer anti-inflammatorischen zu einer proinflammatorischen Wirkung. Postnatal supprimieren bei Verletzungen – vermutlich zum Schutz der Ausreifung des Schmerzsystems – in Mastzellen und den Microglia des ZNS ausgeschüttete anti-inflammatorische Zytokine (IL-4, IL-10) die Wirkung proinflammatorischer Zytokine (IL-1β, IL-6, TNF-α). Dies bedeutet, dass Gewebe- und Nervenschädigungen in der frühen Entwicklung (Baby, Kleinkind) »maskiert« werden und erst später (Adoleszenz, Erwachsenenalter), wenn das System nach abgeschlossener Ausreifung auf die Erkennung von Außeneinwirkungen umgestellt wird, reaktiviert werden können mit der Folge, dass solche Schmerzen dann von Ärzten meist als »funktionell« oder »nicht erklärbar« eingeschätzt werden (Fitzgerald & McKelvey, 2016; Walker et al., 2016). Auch beim Menschen gibt es Studien, die einen Zusammenhang zwischen frühen Schmerzerfahrungen und später erhöhter Schmerzvulnerabilität belegen (Taddio et al., 1997, 2002; Lidow, 2002; Fitzgerald, 2005; Hermann et al., 2006).

Als Folge von postnatalem Disstress in Form einer experimentell induzierten Bindungsstörung (längere Trennung vom Muttertier) kann im Erwachsenenalter eine anhaltende Belastungssituation zur Auslösung von Muskelschmerzen führen (Alvarez et al., 2013). Vor diesem Hintergrund wurde von der gleichen Arbeitsgruppe (Green et al., 2011a, b) gezeigt, dass frühe Stresseinwirkungen zu einer muskulär empfundenen Hyperalgesie sowie einer nozizeptiven Sensitivierung bei ausgewachsenen Ratten führen können.

Eine wesentliche Mediatorfunktion zwischen frühem Disstress und späterem Stress, wie z. B. einer Schmerzvulnerabilität, kommt dem Neuropeptid Oxytocin (»Kuschelhormon«) zu, das durch Bindung, Beziehung und das Erleben sozialer Unterstützung im Hypothalamus aktiviert wird und sowohl zentral als auch peripher wirksam ist. Es wirkt antagonistisch zu CRH und Cortisol, reduziert Stress, Angst und Depression und baut eine Angst induzierte Amygdala-Aktivierung ab (vgl. Rash et al., 2014). Dass soziale Unterstützung zu einer Schmerzreduktion beiträgt, wurde in zahlreichen Studien sowohl experimentell als auch klinisch belegt. Allerdings sind die Ergebnisse bisher veröffentlichter Studien zur Wirksamkeit von intranasal appliziertem Oxytocin bei verschiedenen chronischen Schmerzsyndromen noch nicht sehr überzeugend (vgl. Tracy et al., 2015), so dass psychotherapeutische Maßnahmen mit explizit bindungsbezogenem Fokus bis auf Weiteres wohl als wesentlicher therapeutischer Ansatz fungieren werden.

Parallel zum Oxytocin-System wird auch die Ausreifung des endogenen Opiat-Systems durch frühe Bindungserfahrungen geprägt und beeinflusst wiederum das Bindungsverhalten sowie die Schmerzvulnerabilität. Nachgewiesen werden konnte ein signifikanter Zusammenhang zwischen unsicher-vermeidender Bindung und einer reduzierten Verfügbarkeit von µ-Opiat-Rezeptoren in Thalamus, ACC, PFC, Amygdala und Insula (Zubieta et al., 2001; Kiosterakis et al., 2009; Nummenmaa et al., 2015). Je mehr von diesen Rezeptoren vorhanden sind und je mehr endogene Opiate ausgeschüttet werden, desto höher ist die Schmerzschwelle (D’Amato & Pavone, 2012), d. h., desto weniger anfällig sind wir für Schmerzreize.