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Titel

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7503-6 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6024-7 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Aachen

DieserTitel erschien zuvor unter der ISBN 978-3-7751-2922-0.
1.Auflage 2020 (2. Gesamtauflage)

© der deutschen Ausgabe 2020
SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: info@scm-haenssler.de

Originally published in English under the title: The Ramparts of Heaven
© 1997 by Gilbert Morris
Published by Tyndale House Publishers, Inc.

Übersetzung: Laura Zimmermann
Umschlaggestaltung: Jan Henkel, www.janhenkel.com
Wappen: Adler: © Potapov Alexander/Shutterstock.com,
Schild: ©pashabo/Shutterstock.com,
Titelbild: Farmhaus: © Drunaa / Trevillion Images,
Mann vorne: © Lee Avison / Trevillion Images
Satz: Satz & Medien Wieser, Aachen






In liebevoller Erinnerung an Kenneth Swinney:
graue Augen, starke Hände, leise Rede, weiser Rat –
mein Vater.

Für Cher Ami, G.I. Joe und alle Brieftauben der beiden Weltkriege:
Mögen diese unbesungenen Helden, die im Angesicht des
Todes zahllose Leben gerettet haben, unvergessen bleiben.






Nähme ich die Flügel der Morgenröte oder wohnte am äußersten Meer, würde deine Hand mich auch dort führen und dein starker Arm mich halten.

Psalm 139,9-10

Inhalt

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Epilog

Nachwort der Verfasserin

Fragen

Dank

Über die Autorin

Anmerkungen

Leseempfehlungen

1

Ornament

Hastings, England, 9. April 1918

Er erstickte. Eingeschlossen unter einem Meter tonnenschwerem Erdreich, versuchte er, sich mit bloßen Händen durch Schutt und Geröll zu graben und zum blauen Himmel durchzudringen. Seine Lungen drohten zu platzen. Sie gierten nach Luft. Aus dem offenen Fleisch unter seinen abgebrochenen Fingernägeln sickerte Blut in die Erde, während er sich nach oben wühlte. Die Qual in seiner Brust wurde unerträglich, doch noch immer verschlang ihn die Finsternis, blieb der Himmel über ihm unerreichbar. Das Gefühl der Sinnlosigkeit überwältigte ihn. Er würde sterben, elendiglich, hier, an diesem Ort. Lebendig begraben …

Colin erwachte mit einem Ruck. Er atmete schwer. Schweißgebadet wie er war, überlief ihn ein unwillkürlicher Schauder. Es war immer der gleiche Albtraum, der ihn quälte: Obwohl er sich mit beiden Händen verzweifelt abmühte, gelang es ihm nie, zur Bläue des Himmels über sich vorzustoßen, wo Licht und Luft waren.

Von der Tür her erklang ein scharfes Klopfen. Das graue Licht der Morgendämmerung fiel durch das Schlafzimmerfenster seiner winzigen Mietwohnung an der britischen Küste. Er drehte sich zu seinem Nachtischchen und knipste die Lampe an. Blinzelnd ob der plötzlichen Helligkeit starrte er auf den Wecker. Es war fünf Uhr dreißig. Das nächste Klopfen wurde von einer männlichen Stimme begleitet, die zaghaft fragte: »Leutnant Mabry?«

Es war sein Untergebener, Unteroffizier Albert Goodfellow. »Einen Augenblick bitte.« Colin richtete sich auf, setzte sich auf die Bettkante und stellte seine nackten Füße auf den Teppich, der den Dielenboden bedeckte. Mit dem Laken trocknete er sich notdürftig den Schweiß ab, dann angelte er nach der mit Hosenträgern versehenen Reithose, die über dem stummen Diener am Fußende des Bettes hing. Er schlüpfte in die Hose und wollte antworten. Dann unterbrach er sich jedoch noch einmal, griff nach der Wollsocke auf dem Nachttischchen und streifte sie über den Stumpf seines linken Arms. »Herein.«

Ein großer, spindeldürrer junger Soldat in Uniform stieß die Tür auf, blieb jedoch auf der Türschwelle stehen. Unteroffizier Goodfellow nahm seine Mütze ab. Ein dichter Schopf kurzer roter Haare kam zum Vorschein. Der junge Bursche lächelte verlegen. »Guten Morgen, Leutnant. Habe ich Sie aufgeweckt, Sir?«

Colin warf ihm einen säuerlichen Blick zu. »Unteroffizier, was wollen Sie hier zu dieser unchristlich frühen Stunde?« Er ging quer durchs Zimmer zum Schrank und nahm ein sauberes Unterhemd heraus. Als sein Besucher nichts sagte, drehte er sich um. »Nun?«

Albert Goodfellows Blick hing wie gebannt an dem stummen Diener neben dem Bett und dem Prothesenschaft, der dort auf seine Verwendung wartete. Jetzt sah er Colin an. »Das Taubenhaus hat einen Haufen Botschaften erhalten, um die Sie sich kümmern müssen, Sir. Sie sind als dringend gekennzeichnet, deshalb hat der Oberst mich geschickt. Sie sollen so schnell wie möglich ins Büro kommen. Es wird ein ganz schön heftiger Tag werden, Sir.«

Colin presste die Lippen zusammen, als er an die nächsten Stunden dachte. Jetzt würde er den ganzen Tag damit zubringen, verschlüsselte Nachrichten von der Front zu decodieren. Leider hielten die britische Armee und der Geheimdienst alles für »dringend«, auch die täglichen Berichte, die Nachschubforderungen und die Wettervorhersage für Frankreich.

Mit etwas Mühe schob er seinen Arm durch das ärmellose Unterhemd und streifte es sich über den Kopf. »Sagen Sie dem Oberst, dass ich sofort bei ihm bin.«

Wieder schwieg Goodfellow. Colin griff nach einem gebügelten Uniformhemd im Schrank. Er quälte sich in das kakifarbene Hemd. Dann drehte er sich abermals um und sah den Unteroffizier irritiert an. Goodfellow hatte sich nicht von der Stelle gerührt. »Ist noch etwas, Soldat?«

»Ich habe Befehl zu warten, Sir.« Der Unteroffizier trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

»Sie meinen, mich zur Eile antreiben?«, raunzte Colin. Hatte der Oberst ihm Goodfellow als Kindermädchen geschickt? »Ich ziehe mich allein an, seit ich drei bin, Unteroffizier. Das schaffe ich immer noch selbst, danke.«

»Verzeihung, Sir, ich meinte nur …« Der Unteroffizier war rot geworden. »Gut. Ich warte dann am Pier beim Jeep.«

Sein Bursche salutierte kurz und zog sich rasch zurück. Colin starrte voller Zorn und Scham auf die geschlossene Tür. Dann fiel sein Blick auf sein offenes Hemd und er dachte an die Aufgabe, die ihm bevorstand. Elende Knöpfe! Vor fast einem Jahr waren sie zum Fluch seines Lebens geworden.

Er beschloss, sich wenigstens noch kurz zu rasieren und mit einem nassen Kamm durchs Haar zu fahren, ehe er sich an die lästige Pflicht machte. Danach legte er beide Kanten seines Hemds mit der rechten Hand dicht aneinander und machte sich an die mühevolle Aufgabe, die winzigen Knöpfe durch die entsprechenden Knopflöcher zu schieben, die ganze vordere Hemdseite hinunter. Das Hemd saß sehr eng, was ihn wieder einmal daran erinnerte, dass er sich neue Hemden kaufen musste. Die Monate nach seiner Entlassung aus dem Lazarett hatte er zur Erholung von seiner Verletzung auf der Farm seines Onkels in Dublin verbracht. Dort hatte er tüchtig bei der Arbeit geholfen und dabei ordentlich Muskeln aufgebaut.

Das Zuknöpfen war erledigt. Er schlang eine braunseidene Halsbinde um seinen hochgestellten Kragen, knüpfte einhändig einen einfachen Knoten und rückte ihn zurecht. Dann steckte er das Hemd in die Hose, streifte sich die baumwollenen Hosenträger über die Schultern und trat zu dem stummen Diener, an dem der Prothesenschaft hing. Er schob das Ding, das ihn zu verhöhnen schien, fest über das linke Handgelenk und schnallte die Armspange daran fest. Zum Schluss rückte er den Schultergurt zurecht, schlang den langen Riemen um seinen Rücken und schloss ihn vorn auf der Brust.

Als er sich schließlich noch in seine Uniformjacke und die Lederreitstiefel gezwängt hatte, glänzte seine Stirn feucht von Schweiß. Er fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht, setzte die Mütze auf, schnallte sein Lederhalfter mit dem Colt .455-Revolver um und griff nach dem Baumwollbeutel, der noch an dem stummen Diener hing.

Er schüttete den Inhalt des Beutels aufs Bett und starrte auf das bunte Sammelsurium: zwei Stahlhaken, ein Stahlpickel, eine Holzhand in einem Handschuh und eine Gabel zum Essen. Sämtliche Teile waren mit einem Metallstiel versehen, der auf den Schaft an seinem Handgelenk passte. Aus Gewohnheit wählte Colin die behandschuhte Hand. Dann steckte er alles andere wieder in den Beutel und schob sich den Riemen über die Schulter. Ganz zum Schluss musterte er sich noch kurz in dem hohen Standspiegel.

Ein vorschriftsmäßig gekleideter britischer Offizier starrte ihn an, doch die haselnussbraunen Augen unter der Uniformmütze blickten gehetzt und freudlos und ganz und gar nicht wie die Augen eines einundzwanzigjährigen Mannes. Er dachte an die Albträume, mit denen er jetzt seit neun Monaten, seit seiner Rückkehr von der Front, kämpfte. Der Krieg hatte ihn um Jahre altern lassen.

Herr, bitte, schenke mir einen neuen Geist. Sein kritischer Blick ruhte noch einen Moment auf seinem Spiegelbild, dann wandte er sich ab. Er ging noch rasch in seine winzige Küche, nahm sich ein paar Kekse aus der Blechdose im Schrank und verließ die Wohnung.

Der scharfe Aprilwind vom Meer biss in seine frisch rasierte Haut. Rasch ging er die Uferstraße entlang zum Hastings Pier, wo Goodfellow auf ihn wartete. Er verlangsamte den Schritt, atmete tief die nach Seetang riechende salzige Luft ein und ein Gefühl der Erleichterung, wieder draußen zu sein, durchströmte ihn.

Am Horizont zeigte sich bereits die Sonne. Der Morgen dämmerte. Die Küstenstadt schlief noch und er genoss die Stille, die nur von den Schreien hungriger Möwen und dem Geräusch der Wellen unterbrochen wurde. Noch wirkte alles friedlich, aber damit würde es schnell vorbei sein, wenn erst die Sonne am Himmel stand.

Der Unteroffizier wartete neben dem Jeep. Wenige Minuten später fuhren sie den Hügel hinauf zu dem unauffälligen Gebäude, das die Büros des MI 8 in Hastings beherbergte. Das zweistöckige Holzhaus lag etwa fünfzig Meter entfernt vom Home Defense Pidgeon Service, einem stationären Taubenhaus, das ein paar Hundert Brieftauben beherbergte.

»Ich setze gleich den Kessel auf, ja?«, fragte Goodfellow, während er parkte.

»Großartige Idee.« Colins Laune hob sich. Die Albträume raubten im viel erholsamen Schlaf. Eine Tasse Tee war da genau das Richtige.

Goodfellow verschwand rasch im Innern des Gebäudes, Colin folgte ihm langsamer. An der Treppe zum Eingang hob er den Kopf und sah eine grauweiße Taube im Anflug auf die Einflugöffnungen im steilen Dach des Taubenhauses.

Colin wusste wenig über diese Vögel. Er kannte sie nur von der Front, wo er gesehen hatte, wie sie von den Schützengräben aufstiegen, um Nachrichten an die Hauptquartiere zu überbringen. Seine Aufgabe beim MI 8 war es, diese Nachrichten, die meist vom MI 5 oder dem Hauptquartier der britischen Armee in Montreuil, im nordfranzösischen Pas-de-Calais, kamen, zu entschlüsseln und sie dann per Kurier an seinen Vorgesetzten in der Admiralität in London weiterzuleiten.

In dem Moment, in dem er dem Vogel nachblickte, stieg am Horizont die Sonne auf. Sie tauchte den Flügelschlag der Taube in strahlendes Licht und ließ ihre Federn golden aufleuchten. Aus irgendeinem Grund fiel ihm dabei die Geschichte von Noah aus der Bibel ein. Er stellte sich vor, wie der weiße Vogel mit einem Ölzweig im Schnabel zur Arche zurückkehrte. Er brachte das Zeichen für das Ende der Sintflut, ein Symbol des Friedens.

Das Bild verblasste. Die Vögel, die er hier sah, überbrachten nur Botschaften von Krieg und Unruhe, von der drohenden deutschen Invasion oder hin und wieder einen Dienstplan von der Front. Er sah auf die leblose behandschuhte Hand hinunter. Ungeachtet all seiner Gebete hatte ein Jahr des Kampfs ihn gelehrt, dass der Friede lediglich ein naives Ideal war, eine unhaltbare optimistische Vorstellung, die den Leidenden Trost bot. Er blieb ein ferner, unerreichbarer Traum.

Colin trat ins Haus und stieg hinauf in den zweiten Stock, in sein enges, kleines Büro. An der Wand neben seinem kompakten Schreibtisch hing ein glasgerahmtes Bild, das vor zwei Jahren aufgenommen worden war. Darauf war er in nigelnagelneuer Reitmontur auf seinem Rotfuchs Wyatt zu sehen. An der gegenüberliegenden Wand fiel das Morgenlicht durch ein hohes, vergittertes Fenster. Es traf auf triste grüne Wände.

»Der Oberst hat vorhin diese Nachrichten aus dem Hauptquartier in Frankreich herübergebracht.« Unteroffizier Goodfellow stand mitten im Büro und entnahm einem Lederbeutel mindestens ein Dutzend winziger, dünner Papierrollen, jede etwa zweieinhalb Zentimeter lang und vom Durchmesser einer Zigarette. Eine Rolle konnte bis zu fünfzig zu entschlüsselnder Botschaften enthalten.

Colin starrte den Berg mit zusammengepressten Lippen an. Der Unteroffizier schien zu ahnen, wie ihm zumute war. »Ich hole den Tee, Sir.«

Als er fort war, setzte Colin sich hin und nahm das hübsche Nadelkissen aus der Schreibtischschublade, das seine Schwester Grace für ihn angefertigt hatte, als er die Stellung in Hastings antrat. Lächelnd las er die in unbeholfener Gobelin-Stickerei gemachten, leicht schief geratenen Buchstaben: Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten. Die Worte aus dem 126. Psalm waren ihm vertraut. Sie verhießen Lohn für Mühe und gaben den Verzweifelten Hoffnung. Sein Lächeln erlosch. Würde er Freude und Hoffnung, wie er sie aus der Zeit vor dem Krieg kannte, je wieder empfinden? Der Krieg hatte ihn verändert, und zwar nicht nur äußerlich. Er betete täglich darum, wieder zu sich selbst zu finden. Er wollte wieder imstande sein, den Weg, auf den er sein Leben ausgerichtet hatte, fortzusetzen.

Er blickte auf die behandschuhte Hand, die leblos auf dem Schreibtisch lag. Wenn er schon nicht den alten Weg fortsetzen konnte, hätte er wenigstens gern den neuen gekannt, den Gott für ihn vorgesehen hatte. Es musste schließlich einen Grund dafür geben, warum er Colin Mabry am Leben gelassen hatte.

Er legte das Nadelkissen behutsam auf die Schreibtischplatte. Seine Zwillingsschwester würde nie eine gute Näherin werden. Colin liebte sie jedoch umso mehr dafür, dass sie sich seinetwillen solche Mühe gegeben hatte. Grace würde in einem knappen Monat einen Angehörigen des britischen Hochadels heiraten und er freute sich von ganzem Herzen für sie. Irgendwie empfand er es als tröstlich, dass es noch immer Liebe und Hoffnung auf der Welt gab, zumindest für seine Schwester.

Er griff nach der ersten der winzigen Papierrollen und breitete sie mit Hilfe von Daumen und Zeigefinger flach auf dem Stück Karton aus, das auf seinem Schreibtisch lag. Dann hielt er das Papier mit seine Prothese fest und pinnte es mit Nadeln aus dem Kissen auf den Karton.

Zum Schluss legte er sein Codebuch und ein Blatt Papier bereit und wollte sich gerade an die Arbeit machen, als Goodfellow mit dem Tee zurückkam. »Ah, danke, Goodfellow.« Colin sog den einladenden Duft des Darjeeling ein. »Irgendwelche Nachrichten aus London?«

»Ja, Sir, von der Admiralität. Ich habe schon etwa ein Dutzend verschlüsselt und wenn Sie sie auf Fehler überprüft haben, bringe ich sie nach nebenan, damit sie nach Frankreich geschickt werden können.«

Colin seufzte und griff nach der Tasse. Es würde wirklich ein langer Tag werden. »Ich bin ganz sicher, dass Ihre Arbeit einwandfrei ist.«

Von der anderen Seite des Kanals vernahmen sie plötzlich ein lautes Donnern, das beide erschreckte. Klirrend stellte Colin seine Tasse ab.

»Klingt, als ob sie wieder Paris bombardieren, Sir.«

»Ja, sieht so aus.« Um sein Unbehagen zu verbergen, griff er erneut nach der Tasse, doch bevor er sie an die Lippen führen konnte, ertönte bereits der nächste Donner. Er umklammerte den Griff der Tasse, um nichts von der heißen Flüssigkeit zu verschütten. »Sie können wieder an die Arbeit gehen, Unteroffizier.« Colin bekam kaum mit, wie der andere das Zimmer verließ. Er setzte die Tasse wieder ab und sah auf seine zitternde Hand. Er ballte sie zur Faust. Gott, bitte hilf mir.

Er schloss die Augen und versuchte, seine Angst niederzuhalten, da ertönte ein weiterer Schlag. Er knirschte mit den Zähnen. Wie viel von Paris hatten die Deutschen bereits zerstört? Vor ein paar Wochen erst hatte die deutsche Frühjahrsoffensive begonnen. Jetzt wurde die französische Hauptstadt mit einem neuen Typ von Artillerie-Geschützen mit großer Reichweite beschossen. Die täglichen Explosionen, so fern sie stattfanden, erinnerten ihn dennoch ständig daran, dass ihn nur gut fünfzig Kilometer Wasser vom Schauplatz des Krieges trennten. Warum hatte er sich nur breitschlagen lassen, diesen Posten in Hastings anzunehmen?

Als wollten sie ihn verspotten, schwiegen die Geschütze plötzlich. Es wurde wieder still und Colin konnte in Ruhe seinen Tee trinken. Nach ein paar Minuten hatte er sich so weit gefasst, dass er wieder an die Arbeit gehen konnte.

Er kannte das Codebuch größtenteils auswendig, deshalb dauerte es nicht lange, die ewig gleichen Forderungen nach Verpflegungsnachschub und die immer gleich lautenden Truppenberichte zu übersetzen, damit sie an das Londoner Kriegsministerium weitergeleitet werden konnten. Daneben wurden mehr Brieftauben angefordert, da der Vorrat in Montreuil knapp wurde. Colin hatte gelernt, dass die Vögel nur einen Weg flogen, zurück in ihre Behausungen. Von Hastings mussten also Tauben nach Frankreich geschickt werden, damit diese wiederum wichtige Nachrichten nach England überbringen konnten.

Den Kopf über den Schreibtisch gebeugt, arbeitete Colin bis zum Mittag. Als seine Schicht sich dem Ende zuneigte, war er hungrig und seine Schultern schmerzten. Er dechiffrierte gerade die letzte Botschaft des Tages, gekennzeichnet mit »nach London weiterleiten«, als sein Telefon klingelte. Erleichtert über die Ablenkung, griff er nach dem Hörer. »Leutnant Mabry am Apparat.«

»Colin, wie läuft es in Hastings?«

Er straffte sich unwillkürlich beim Klang der metallischen männlichen Stimme. »Lord Walenford.«

»Nicht doch! Jack oder Benningham genügt völlig. Schließlich sind wir bald Brüder.« Jack Benninghams Stimme wurde wärmer. »Apropos, ich wollte fragen, ob du heute Abend mit mir essen möchtest. Mein Diener kann dich an der Victoria Station abholen und zum Stadthaus bringen.«

Zum Stadthaus? Colin hatte sich immer noch nicht an die Vorstellung gewöhnt, dass seine Schwester einen Viscount, den künftigen Grafen von Stonebrooke, heiraten würde, den Mann, der Colins Vorgesetzter war. Das bedeutete, dass er, obwohl er nicht die geringste Lust dazu hatte, heute Abend nach London zu fahren, seinem Chef und künftigen Schwager kaum absagen konnte. »Ich kann von Hastings aus den Zug nehmen.«

»Großartig. Ich erwarte dich dann um acht. Mrs Riley macht ihren Rationierungseintopf.«

Colin starrte blind auf die unvollendete Arbeit auf seinem Schreibtisch. Er wunderte sich noch immer über die Einladung. »Sehr gut, Lord, äh, Jack. Ich freue mich.«

»Ausgezeichnet. Bis heute Abend dann. Wir essen in meinem Arbeitszimmer. Wenn du Nachrichten für die Admiralität hast, kannst du sie gleich mitbringen.«

»Natürlich.« Während Colin auflegte, fiel sein Blick auf die letzte Nachricht, an der er gearbeitet hatte, und er registrierte zum ersten Mal die Buchstaben, die er bereits dechiffriert hatte. L, T, C, O, L, I

Er fuhr fort, die Geheimzahlen zu entschlüsseln. Sein Herz hämmerte, während sich langsam die Worte herausbildeten: Lt. Colin Mabry, britische Armee, c/o Swan’s Tea Room, London: Dringend. Denk an dein Liebesversprechen. Wir treffen uns im Café de la Paix, Paris. 10. April, 15 Uhr. Du bist meine letzte Hoffnung. J. R.

J. R.! Der Schock, den ihm die Nachricht versetzte, ließ seinen Pulsschlag förmlich explodieren. Jewel Reyer lebte!

Er hatte im letzten Jahr oft an sie gedacht: an ihr schönes Gesicht und ihr Lachen. Ihr Name entsprach ihrem Aussehen. Jewel hatte leuchtende Haut, goldschimmerndes Haar und sanfte blaue Augen, die strahlten, wenn sie sang. Und sie hatte ihn geküsst.

Wieder hörte man jenseits des Kanals eine Explosion. Colin zuckte zusammen und starrte auf die Nachricht. Jewel lebte. Sie war in Paris.

Schweiß trat ihm auf die Stirn. Besonders eine Erinnerung löste fast übermächtige Gefühle in ihm aus. Ja, er hatte ihr versprochen zurückzukommen.

2

Ornament

Kensington, London

»Wie war die Fahrt von Hastings nach London?« Lord Walenfords dunkelblaue Augen sahen ihn über den kleinen, mit feinem Leinen eingedeckten Tisch hinweg an.

»Ganz gut, … Jack.« Colin setzte sich auf den Stuhl gegenüber seinem blonden Arbeitgeber. Knowles, der langjährige Butler, hatte ihn ins Arbeitszimmer geführt. Jetzt ließ er unauffällig seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Der holzgetäfelte Raum in dem eleganten viktorianischen Backsteinhaus in der Holland Street war größer als seine ganze Wohnung in Hastings.

Er griff nach seiner weißen Leinenserviette, bevor Knowles sie ihm reichen konnte, schüttelte sie, um sie zu entfalten, und legte sie sich auf seinen Schoß. Als er wieder aufblickte, bemerkte er erstmals Jacks hellen Leinenanzug und die locker gebundene rote Halsbinde. Jack sah seinen Blick und lächelte. »Ich kleide mich zum Essen nur sehr selten so leger.«

Colin war dankbar, dass er keinen formellen Abendanzug hatte anziehen müssen. Das Militär hatte die Vorschriften über das Tragen von Ausgehuniformen während des Kriegs ausgesetzt. Zwar waren sein Smoking und die weiße Halsbinde im Londoner Haus seiner Familie in Knightsbridge verblieben, doch bis er endlich alle erforderlichen Knöpfe und Manschettenknöpfe geschlossen gehabt hätte, wäre Jack am Verhungern gewesen. »Zwanglose Dinnereinladungen kommen mir sehr entgegen und die Uniform erspart mir viel Kopfzerbrechen.«

»Noch ein Vorteil, wenn man beim Militär ist.« Jack griff grinsend nach seinem Weinglas. »Wie auch immer. Angesichts der neuen Rationierungen sind die Mahlzeiten heutzutage sowieso eher schlicht.« Er lehnte sich zurück. Seine Augen funkelten. »Wenn du Mrs Riley sagst, dass ich das gesagt habe, werde ich es abstreiten. Immerhin macht sie aus den schlichtesten Zutaten noch ein geschmackvolles Essen.«

Er trank einen Schluck Rotwein, dann sah er Colin an. »Und – wie gefällt es dir in dem malerischen Küstenstädtchen?«

»Hastings ist auf jeden Fall besser, als hier in der Stadt wohnen zu müssen.« Colin erinnerte sich an seine Angst, als er vor zwei Monaten von der Farm seines Onkels in London eingetroffen war. »Mit weniger Menschen komme ich besser zurecht. Ich bin dir sehr dankbar, dass du mir die Stelle verschafft hast.«

»Gern geschehen.« Als Jack lächelte, kräuselte sich die vernarbte Haut um seine Augen. Der Krieg hatte auch ihm seine Opfer abverlangt. »Aber ich kann gut nachvollziehen, dass du, seit Kaiser Wilhelm letzten Monat mit seiner Frühjahrsoffensive begonnen hat, ganz schön unter dem Lärm von der anderen Kanalseite zu leiden hast. Manchmal hören wir die Geschütze sogar bis hierher nach London.«

Colin griff nach seinem Wasserglas aus Kristall und starrte es einen Moment lang an, dann stellte er es wieder hin. »Das Geräusch ist – verstörend, aber nicht unerträglich.« Als er aufblickte, sah er das Mitgefühl in Jacks attraktivem Gesicht.

»Jedes Mal wenn ein deutsches Flugzeug unsere Abwehr durchbricht und ein oder zwei Bomben über London fallen lässt, erschrecke ich zu Tode.« Er schwieg und spielte mit dem Stiel seines Glases. »Grace hat mich gebeten, dir zu sagen, dass dein Vater sich noch immer wünscht, dass du zurückkommst und in sein Geschäft eintrittst. Wenn deine Schwester und ich verheiratet sind, wird sie ihre Stellung als Geschäftsführerin im Teehaus aufgeben. Patrick möchte, dass du die Leitung übernimmst und das Teegeschäft von der Pike auf lernst.«

Colin presste die Lippen zusammen. Das Schuldgefühl, das er empfand, war wie ein Stich. Seit ihre Mutter vor zwei Jahren an Tuberkulose gestorben war, standen er und seine Schwester sich näher denn je. Grace besuchte ihn sogar hin und wieder in Hastings.

Er hingegen war nur ein seltener Gast im Haus der Familie Mabry in Knightsbridge. Es fiel ihm schwer, die traurigen Blicke zu ertragen, die Grace zu verbergen suchte, wenn sie zusah, wie er aß oder seinen Mantel zuknöpfte. Auch dem Mitleid seines Vaters, der es geflissentlich vermied, seine Prothese anzusehen, und verzweifelt bemüht war, seinem Sohn alle schwierigeren Handgriffe abzunehmen, wollte er sich möglichst selten aussetzen. Noch schlimmer aber waren die ständigen Versuche seines Vaters, Colin zu bewegen, ins Familiengeschäft einzusteigen.

»Du weißt doch, dass ich nicht bei Swans arbeiten kann. So in der Öffentlichkeit zu stehen …« Er schob seinen Arm mit der hölzernen Hand noch etwas weiter unter den Tisch.

Jack seufzte. »Ich habe es ihr gesagt. Ich habe Monate damit verbracht, mich nach der Explosion vor der Gesellschaft zu verstecken, weil ich wusste, wie sehr ich die Dorfbewohner erschrecken würde.« Er berührte seine vernarbte Braue. »Blind, wie ich war, wollte ich einfach nur unsichtbar sein.«

Colin nickte nur.

Es klopfte. Ein älterer Diener – er hinkte leicht – betrat das Arbeitszimmer. Er trug ein Tablett mit einer weißen Suppenterrine. Unter dem wachsamen Blick von Knowles schöpfte er Mrs Rileys dampfend heißen Rationierungseintopf auf die Teller.

Colin war erleichtert gewesen, als er gehört hatte, dass Eintopf auf dem Speiseplan stand. Er griff nach seinem Löffel, sog den Duft nach Fleischbrühe und Thymian ein und dachte, dass das frische Gemüse wahrscheinlich von Jacks Anwesen in Kent stammte, wo Colins Schwester den Erben von Stonebrooke kennengelernt hatte, als sie auf seinem Gut mit ein paar Frauen aus dem Women’s Forage Corps bei der Heuernte half.

Die beiden Männer widmeten sich dem Essen. Colin schmeckte kleine Fleischstückchen wie die in den Dosen mit Rinderpastete, welche die Soldaten an der Front erhielten, heraus.

»Da du schon mal hier bist, würde ich dich gern um einen Gefallen bitten.« Jack sah von seinem Teller auf. »Ich brauche deine Hilfe bei der Hochzeit.«

Colin hielt inne, den Löffel auf halbem Weg zum Mund. Neugier kämpfte mit Skepsis. »Inwiefern?«

»Ich hätte dich gern als Trauzeugen.«

»Mich?« Colins Magen zog sich schmerzhaft zusammen, sein Löffel fiel zurück auf den Teller. »Aber … ich dachte, du hast schon einen Trauzeugen, Hauptmann Weatherford.«

Jack wurde ernst. »Ja, ich hatte eigentlich an Marcus gedacht, doch er hat London vor ein paar Wochen im Auftrag der Krone verlassen und seither haben wir nichts mehr von ihm gehört.« Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. »Nicht einmal sein Abteilungsleiter besitzt irgendwelche Informationen über ihn.«

Colin war Hauptmann Weatherford zweimal begegnet, seit er nach London zurückgekehrt war. Er wusste, dass der Mann für den MI 6 bei der Admiralität arbeitete und dass er und Jack Benningham enge Freunde waren. Der Tag der Hochzeit rückte unaufhaltsam näher. Warum hatte er Jack nicht längst kontaktiert? Die Möglichkeit, dass der Hauptmann auf ein falsches Spiel hereingefallen war, wollte Colin lieber nicht in Erwägung ziehen.

Der kalte Schweiß brach ihm aus, als er sich vorstellte, wie er neben Jack in einer Kirche voller Mitglieder der vornehmsten Adelsfamilien Englands stand. Und alle, alle würden auf die Braut und den Bräutigam – und Colins Prothese starren.

»Vielleicht kommt Hauptmann Weatherford ja noch rechtzeitig zur Hochzeit zurück.« Seiner Stimme war die Verzweiflung anzumerken, während er unbehaglich den Kopf hin und her drehte, weil sein Kragen sich auf einmal viel zu eng anfühlte.

»Ich verspreche dir, wenn Marcus bis dahin auftauchen sollte, bist du von deiner Aufgabe entbunden.« Jack beugte sich vor, den Löffel in der Hand. »Colin, ich weiß, wie dir zumute ist, wenn du dich in der Öffentlichkeit präsentierst, aber ich will auf keinen Fall Grace' Hochzeit ruinieren, nur weil ich keinen Trauzeugen habe.« Er lächelte. »Und wen außer Marcus könnte ich darum bitten, wenn nicht meinen künftigen Schwager?«

Colin sah ihn an. Er verdankte Jack unendlich viel. Sein Gastgeber hatte sehr viel mehr für ihn getan, als ihm lediglich einen Posten zu besorgen, auf dem er sich in diesem Krieg noch immer nützlich machen konnte. Außerdem musste er dabei nicht in London leben, wo ihn so viele Menschen voller Neugier oder auch Mitleid angafften. Jack Benningham hatte ihm das Leben gerettet.

Er blickte auf die Prothese in seinem Schoß und dachte daran, dass sein Leben zwar nie mehr dasselbe sein würde, dass er jedoch – durch Gottes Gnade – überlebt hatte. Jack war über den Kanal an die Front gereist und hatte dank seines schon fast unheimlichen Orientierungssinns den eingebrochenen Tunnel aufgespürt, in dem Colin und mehrere andere Soldaten lebendig begraben gewesen waren. Er hatte es natürlich für Grace getan, doch Colin war trotzdem dankbar, der Nutznießer dieses Liebesdienstes gewesen zu sein. Als sein Trauzeuge zu fungieren, war wirklich das Mindeste, was er für ihn tun konnte.

Er schluckte und sah seinem künftigen Schwager in die Augen. »Es wird mir eine Ehre sein, bei der Hochzeit an deiner Seite zu stehen.«

»Wunderbar!« Jack lächelte erleichtert und schob sich einen großen Löffel Eintopf in den Mund.

Colin starrte auf sein Essen hinunter. Auf der Zugfahrt von Hastings nach London hatte er überlegt, wie er Jewels Nachricht ansprechen sollte.

Doch Colin selbst war der lebendige Beweis, dass sein künftiger Schwager ein mutiger und ehrenhafter Mann war. Ganz bestimmt würde Jack verstehen, warum er der Frau, der er so viel verdankte, helfen wollte. »Ich würde gerne auch noch etwas mit dir besprechen.«

Jack blickte auf. »Und das wäre?«

Colins Herz schlug schneller, als er an die täglichen Bombardements jenseits des Kanals dachte. »Vor der Hochzeit muss ich noch nach Paris fahren.«

»Wann?«

»Morgen.«

Jack legte seinen Löffel hin und griff nach seiner Serviette. »Willst du es mir erklären?«

»Ich … ich muss mich dort mit jemandem treffen.«

»Ich verstehe.« Jack blickte zu dem älteren Butler hinüber, der an der Tür stand. »Das ist alles, Knowles. Ich läute, wenn ich Sie brauche.«

Als der Butler das Zimmer verlassen hatte, wandte Jack seine Aufmerksamkeit wieder Colin zu. »Dieser Jemand muss dir aber sehr wichtig sein, wenn du bereit bist, in eine Stadt zu reisen, die im Moment vom Feind bombardiert wird.«

»Ich habe ein Versprechen gegeben, das ich halten muss.« Colin legte seine Hand flach auf den Tisch. »Vor einem Jahr habe ich in der britischen Aufklärungseinheit der Zweiten Kavalleriedivision in Arras gekämpft. Ein Teil von uns ritt in östliche Richtung. Dabei haben wir die Orientierung verloren. Plötzlich regnete es Granaten auf uns nieder. Eine landete dicht vor uns. Als ich aufwachte, sah ich die anderen tot daliegen. Dabei habe ich auch mein Pferd Wyatt verloren.« Er knüllte das Ende des weißen Tischtuchs mit seiner Faust zusammen. »Ich rappelte mich hoch und ging los. Irgendwann hatte ich mich restlos verirrt. Es war schon dunkel, als ich endlich einen einsamen Hof etwas außerhalb des französischen Dörfchens Havrincourt erreichte.«

»Havrincourt!« Jack kniff die Augen zusammen. »Da hat es damals von Deutschen nur so gewimmelt.«

Colin nickte. »Ich glaube, Gott war mit mir, denn ich sah eine junge Frau aus einer Scheune kommen. Sie trug etwas in ihrer Schürze – Kartoffeln, glaube ich. Ich grüßte sie auf Französisch und erzählte ihr, was geschehen war. Sie nahm mich mit und versteckte mich in einem Keller unter der Scheune.«

Jack pfiff leise durch die Zähne. »Das nenne ich Fügung.«

»Ich hatte einen Schrapnellsplitter im rechten Bein. Jewel und ihre Tante haben mich verarztet. Obwohl sie selbst während der Besatzung fast verhungerten, haben sie die wenigen Rationen, die sie vom Feind bekamen, mit mir geteilt. Jewel hatte eine außergewöhnliche Stimme. Sie lernte ein paar deutsche Lieder, die sie in der Stadthalle von Havrincourt für den Kommandanten und seine Offiziere vortrug, und teilte auch das mit mir, was sie dafür bekam.« Er löste seine Faust. »Ich war einen Monat dort, wir haben viel Zeit miteinander verbracht.«

»Ah, so ist das.«

Als er Jacks wissendes Grinsen sah, wurde Colin rot. Er würde ihm nicht sagen, dass Jewel die erste Frau war, die ihn geküsst hatte.

Er räusperte sich. »Irgendwann konnte ich fliehen.« Colin starrte auf die getäfelte Wand hinter Jacks Schulter und dachte an die letzten rührenden Momente. »Sie bat mich, sie mitzunehmen. Sogar ihre Tante versuchte, mich zu überreden, ihre einzige Nichte vor den Boches, den Deutschen, zu retten.«

Colin sah seinen Gastgeber an. »Jewels Vater kämpfte in der französischen Armee. Die beiden Frauen waren ganz allein auf dem Hof. Trotzdem habe ich ihre Bitte abgeschlagen. Ich konnte nicht riskieren, sie mit auf die Flucht durch das Niemandsland zu nehmen, durch das ich mich auf dem Rückweg zu meinem Regiment durchkämpfen musste. Sie hätte getötet werden können – oder Schlimmeres.«

»Natürlich.« Jacks Lächeln war erloschen. »Ich war auch dort, aber nur kurz. Es war absolut kein Ort für Zivilisten, schon gar nicht für weibliche.«

»Ich sagte Jewel, es sei sicherer, wenn sie im Dorf bliebe, jedenfalls solange sie in dem Kommandanten, für den sie sang, einen Beschützer hatte. Und ich versprach ihr, nach dem Krieg zurückzukommen.«

Wieder schnürten die Schuldgefühle ihm die Brust zusammen. »Ich bin also zu meinem Regiment zurückgekehrt. Die Kampfhandlungen zogen sich noch wochenlang hin. Es war schrecklich. Ich habe nichts mehr von ihr gehört. Nicht, dass ich damit gerechnet hätte, schließlich war die Gegend vom Feind besetzt. Kurz darauf wurde ich nach Passchendaele versetzt, wo ich bei den Tunneln mitarbeiten sollte.« Er sah Jack dankbar an. »Was dann geschah, weißt du ja.«

Jack nickte.

»Letztes Jahr im Dezember, als ich noch in Dublin bei dem Seelenklempner in Behandlung war, habe ich mitbekommen, dass unsere Panzer in Frankreich hinter die Hindenburg-Linie durchgestoßen waren, und zwar in Cambrai, ganz in der Nähe von Jewels Dorf. Die Deutschen fingen an, sich zurückzuziehen, doch nach ihrem Artilleriefeuer war Havrincourt fast ganz zerstört. Die meisten Einwohner waren tot oder vermisst.« Colin starrte auf den Tisch. »Ich habe in der Hoffnung, etwas über Jewel und ihre Tante zu erfahren, an das Rote Kreuz geschrieben, doch sie besaßen keine Informationen. Daraufhin nahm ich an, dass sie beide tot seien.«

»Deshalb bist du Weihnachten nicht nach Hause gekommen.«

»Es war einer der Gründe.« Für seine Schwester und seinen Vater war es ein Schlag gewesen, doch er hatte es schlicht und einfach nicht fertiggebracht, nach Hause zu fahren und fröhliche Feierstimmung zu verbreiten. »Ich hielt es für das Beste.«

»Und diese Miss …?«

»Reyer. Ihr Name ist Jewel Bernadette Reyer.«

»Reyer, sagst du?« Jack schürzte nachdenklich die Lippen. »Deine Miss Reyer ist also offenbar noch am Leben?«

Colin erzählte ihm von der verschlüsselten Nachricht, die er heute erhalten hatte. »Das Treffen in dem Café in Paris ist für morgen angesetzt, den Zehnten. Ihre Bitte klang sehr dringend.«

»Reyer …« Jack stand auf. »Entschuldige mich einen Moment.«

Colin sah ihm nach, wie er quer durch das Zimmer zu dem Eichenschreibtisch neben dem Kamin ging. Er durchsuchte einen Papierstapel, zog eine Akte heraus und kam zurück zum Tisch.

»Den Namen habe ich schon mal irgendwo gehört.« Er setzte sich, schlug die Akte auf und begann, aufmerksam die Seiten zu überfliegen. »Du glaubst, Jewel arbeitet für die Deutschen?«

Er musste beinahe lachen, bis Jacks ernster Blick seinen Zorn weckte. »Das ist doch lächerlich! Bei allem, was sie in dem besetzten Land erdulden musste! Jewel würde Frankreich niemals verraten.«

»Bist du da so sicher?« Jack sprach ganz ruhig. »Vielleicht hatte sie keine Wahl. Du hast doch erwähnt, dass sie die Gunst des Kommandanten besaß.«

»Aber doch nicht so!« Colin warf seine Serviette hin und stand auf. Erinnerungen holten ihn ein: Jewel, wie sie leise sang, während sie ihn verband, und dann ihr letztes Stück Brot mit ihm teilte. Wie sie ihn zum Lachen brachte, indem sie den deutschen Kommandanten nachmachte und über den Kellerboden stolzierte, sinnlose deutsche Wörter plapperte und das Ende eines imaginären Schnurrbarts zwirbelte, bis sie Colin lachend zu Füßen fiel.

»Niemals.« Er starrte Jack an, die Lippen fest zusammengepresst. »Reyer ist ein häufiger Name in Frankreich und der Buchstabe J kann außer für Jewel genauso gut für Jean oder Joseph oder hundert andere Namen stehen.«

Als Jack ihn nur ansah, stieß Colin den Atem aus. »Ich habe dir doch gerade gesagt, was sie für mich getan hat, was sie für meine Sicherheit geopfert hat. Du weißt ja nicht, wie es für sie war. Was es bedeutete, mich in diesen Wochen vor dem Feind zu verstecken. Welche Risiken sie auf sich genommen hat, als sie mir zu essen gab und mich versorgt hat und alles.«

Colin erinnerte sich an den warmen Druck ihrer Lippen und die Liebe, die aus ihren sanften blauen Augen geleuchtet hatte. »Bitte, Jack, ich muss zu ihr.« Umso mehr, als die Alliierten sie verdächtigen, für den Feind zu spionieren!

Es schien eine Ewigkeit, bis Jack sprach. »Du hast recht. Es stehen Tausende Namen auf dieser Liste und es ist durchaus möglich, dass J. Reyer jemand völlig anderes ist.« Er tippte sich an die Schläfe. »Dieser Unteroffizier in Hastings, mit dem du zusammenarbeitest, Goodfellow, nicht wahr, könnte er während deiner Abwesenheit die Stellung halten?«

»Selbstverständlich.« Colin unterdrückte seine nervöse Aufregung und setzte sich wieder hin.

Jack zögerte, dann legte er die Akte beiseite. »Gut. Ich genehmige dir einen Flug von Kenley morgen früh. Wann kommst du zurück?«

»In zwei, höchstens drei Tagen.« Der Gedanke, Jewel nach fast einem Jahr wiederzusehen, ließ sein Herz höher schlagen.

Jack sah ihn streng an. »Es versteht sich zwar von selbst, aber ich sage es dennoch: Der Feind steht vor den Toren von Paris und in der Hauptstadt wimmelt es von Spionen, also sieh dich vor! Du bist ein erfahrener Soldat, Colin, und du hast eine Geheimdienstausbildung, deshalb weiß ich, dass du auf dich aufpassen kannst. Doch bis du Genaueres über Miss Reyers Situation weißt, nimm dich in Acht.«

»Natürlich.« Colins Herz schlug noch schneller. Morgen um diese Zeit wäre er in Paris. Die Belagerungsgeschütze…

»Schaust du vorher noch bei Grace vorbei?«

Er dachte stirnrunzelnd nach. Seine Schwester würde die Nachricht ganz und gar nicht gut aufnehmen.

Jack las seine Gedanken. »Da du nur kurz fort sein wirst, sage ich es ihr einfach, wenn du weg bist. Aber tu mir einen Gefallen und melde dich beim britischen MI‑6-Büro in Paris, damit sie wissen, dass du da bist.« Er lächelte ironisch. »Dann kann ich ruhiger schlafen.«

Colin lächelte dankbar. »Das mache ich. Danke, Jack.«

»Schon gut. Jetzt lass uns aber essen.«

Die beiden Männer aßen weiter. Colin dachte darüber nach, was Jack gesagt hatte. Was, wenn Jewel doch die J. Reyer auf der Liste der Alliierten war? Das würde immerhin ihre dringende Botschaft erklären. Und obwohl er ihr ein so abscheuliches Verbrechen wie Spionage niemals zutrauen würde, konnte Jack doch recht damit haben, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte. Wenn es so war, dann steckte sie ganz bestimmt in ernsten Schwierigkeiten.

Den Rest des Essens über schweiften Colins Gedanken immer wieder zu Jewel ab. Als Lord Walenfords Chauffeur ihn später zum Haus seiner Familie nach Knightsbridge fuhr, versuchte er sich einzureden, dass das Ganze pure Einbildung war und Jewel ihn nach der langen Zeit einfach gern wiedersehen wollte. Oder steckte doch mehr dahinter?

3

Ornament

Paris, Frankreich, 10. April

Vielleicht hatte man ihn ja doch in eine Falle gelockt. Colin saß an einem Fenstertisch in dem Café und blickte nun schon zum dritten Mal auf seine Uhr.

Heute Morgen hatte er den Kanal überquert und dabei sein Leben aufs Spiel gesetzt. Das Doppeldecker-Jagdflugzeug, in dem er mit dem Piloten gesessen hatte, hätte leicht zur Beute des deutschen Luftwaffengeschwaders werden können, das ständig über der französischen Küstenlinie patrouillierte. Nach seiner Ankunft in Paris hatte er zuerst das Pariser MI‑6-Büro aufgesucht, wie Jack ihn gebeten hatte, danach hatte er sich ein Zimmer im Grand Hôtel an der Place de l’Opéra genommen. Nun wartete er im Café de la Paix auf seinen Kaffee. Die Minuten verstrichen, doch Jewel kam nicht. Seine Vorfreude verwandelte sich langsam in Sorge.

Hier in diesem Café, im hellen Tageslicht, kam ihm Jacks Warnung fast unangebracht vor. Wieder einmal dachte er an Jewels einladendes Lächeln, an ihren herzförmigen Mund, der sich sanft auf seine Lippen gelegt hatte. Der Kuss hatte ihn überrascht, doch er hatte sich darüber gefreut. Dann fielen ihm die Opfer ein, die sie und ihre Tante gebracht hatten, um ihn vor dem Feind zu verstecken. Bei diesen letzten Gedanken hatte er das Gefühl, dass sein Kopf wieder klar wurde. Ganz bestimmt war seine erste Vermutung richtig: Der Name Reyer auf der Liste der feindlichen Spione musste ein Zufall sein.

Und warum kommt sie dann nicht, Mabry? Jacks andere Warnung fiel ihm ein, dass es in der Stadt von Spionen nur so wimmle. Der Chef des MI 6 in Paris hatte das bestätigt. Er hatte ihm erzählt, dass der Feind häufig hübsche junge Französinnen rekrutierte, die den Grünschnäbeln, die hier stationiert waren, Informationen entlocken sollten. Colin sollte schlicht und einfach keinem Menschen trauen.

Er mochte zwar jung sein, doch als Grünschnabel bezeichnet zu werden, gefiel ihm überhaupt nicht. Er hatte sich in den letzten beiden Jahren sehr verändert und war nicht mehr der idealistische Rekrut, der losziehen und den Hunnenkönig schlagen wollte. Er hatte keine Schuldgefühle, weil er seinem Land diente. Im Gegenteil, er war stolz darauf, in seinem Kavallerieregiment für England gekämpft zu haben, aber der Krieg war keineswegs so, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Obwohl er als Entschädigung für den Verlust seiner Hand und seines Seelenfriedens befördert und ihm mehrere Medaillen verliehen worden waren, musste er dennoch jeden Tag aufs Neue dagegen ankämpfen, zu verbittern.

Hinter ihm brach eine männliche Stimme in lautes Lachen aus. Colin drehte sich um und sah zu den übermütigen alliierten Soldaten an der Bar hinüber, die alle die Ausgehuniformen ihrer Heimatländer trugen. Auch draußen, an den Tischen auf dem Gehsteig, saßen Dutzende Soldaten und Franzosen. Das Café, das Jewel vorgeschlagen hatte, schien ein sehr beliebter Treffpunkt in der Stadt zu sein.

War es wirklich Jewel gewesen, die ihn kontaktiert hatte, oder war es ein deutscher Spion gewesen, der ihn nach Paris hatte locken wollen? Kidnapping kam in diesem Metier zwar nur sehr selten vor, doch Colin war über die Möglichkeit informiert worden. Sein Vater war äußerst wohlhabend und Grace würde bald dem britischen Adel angehören.

Dann dachte er darüber nach, dass sie noch immer keine Nachrichten von Hauptmann Weatherford hatten, der schon vor mehreren Wochen abgereist war. Beide, Colin und der Hauptmann, hatten mit Jack Benningham zu tun. Verrannte er sich jetzt in ein Hirngespinst oder war hier wirklich etwas faul?

Er widerstand dem Drang, erneut auf die Uhr zu sehen, und schaute aus dem Fenster. Hinter den voll besetzten Tischen draußen sah er ältere Männer in leinenen Geschäftsanzügen und breitkrempigen Strohhüten oder Melonen vorüberhasten. Manche hatten Spazierstöcke in der Hand, andere trugen Ledermappen unter dem Arm. Alle bewegten sich sehr zielbewusst, als seien sie unterwegs zu einem Treffen oder eilten nach einem späten Mittagessen zurück ins Büro.

Andere, meist jüngere Männer, wirkten wie Soldaten auf Heimaturlaub. Auf der Taxifahrt ins Hotel waren Colin ausgemusterte Soldaten in geflickten Armeeuniformen aufgefallen, welche die Menschen auf den Straßen um ein paar Münzen anbettelten. Welch ein Unterschied zu den gestärkten, sauber gebürsteten Uniformröcken der Männer an der Bar!

Eine kleine Gruppe Soldaten stand vor dem Opernhaus. Nach ihren Uniformen zu urteilen waren es Amerikaner. Sie bewunderten das prachtvolle Palais Garnier. Im Weitergehen zogen sie die Mützen vor zwei Blumenfrauen, die sie zu sich winkten. Sie boten blaue Schwertlilien, rosa Rosen und Narzissen an. Die Blumenverkäuferinnen standen am Rand eines belebten Marktes. Dort machten Frauen, die meisten in Trauerkleidung, mit Weidenkörben am Arm ihre Einkäufe.

Nachdem Colin sich die Damen an den Außentischen des Cafés angeschaut hatte, nahm er die Frauen auf dem Markt in Augenschein und versuchte, ihre Gesichter zu erkennen. Ein Jahr war vergangen, seit er Jewel zuletzt gesehen hatte. Hatte sie sich so sehr verändert, dass er sie nicht mehr erkannte?

Sein Blick kehrte zurück zum anderen Ende des Platzes und fiel auf die entkernte Hülle, die von einem mehrstöckigen Wohnhaus übrig geblieben war. Er hatte das Gebäude bereits bei seiner Ankunft im Hotel gesehen. Eine Wand stand noch, schief, wie betrunken, neben einem riesigen Schuttberg. In den Fensterlöchern bauschten sich zerrissene Vorhänge in der sanften Frühlingsbrise. Angesichts des ganz normalen Lebens nur wenige Meter entfernt wirkte diese Erinnerung an den Krieg bizarr. Er sollte sich von der Szene vor sich nicht täuschen lassen. Auch während er hier im Café saß, gingen praktisch ohne Pause Granaten auf die Stadt nieder.

Colin schlug das Herz bis zum Hals. Er war kaum eine Stunde in Paris gewesen, als er sich bereits bei einer ohrenbetäubenden Explosion über der Stadt flach auf den Boden seines Taxis gepresst hatte. Bis jetzt hatte er noch keinen direkten Angriff erlebt, doch die ständige Erwartung war ebenso nervenaufreibend wie die drohende Explosion selbst.

»Ein Geschenk von den dreckigen Boches und ihren Geschützen, Leutnant.«

Sein Kopf fuhr zu dem Kellner herum, der einen dampfend heißen Café au Lait vor ihn auf den Tisch stellte. Der drahtige, dunkelhaarige Mann in gestärktem weißem Hemd mit schwarzer Fliege nickte zu dem Haus hinüber.

»Wann ist das passiert?«

»Vor zwei Wochen, als die Bombardierung begann.« Er zog finster die Brauen zusammen. »Diese großen Geschütze und die Gotha-Bomber haben das Gesicht meiner wunderschönen Stadt mit Narben übersät.«

Er sah Colin an. »Ihre Liebe – kommt sie nicht?«

Colin blinzelte. »Wer hat etwas von …«

»Warum sonst sollte ein gut aussehender junger Soldat hier ganz allein sitzen und aus dem Fenster gucken und alle paar Minuten auf die Uhr sehen?« Sein Lachen gab den Blick auf eine Reihe schiefer Zähne unter dem schmalen Schnurrbart frei. »Ich bin Franzose, Leutnant. Ich kenne mich mit so etwas aus.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich mit seinem leeren Tablett um und ging zurück zu der lärmenden Gruppe an der Bar. Colin schaute ihm nach, dann sah er abermals auf die Uhr: fünfzehn Uhr dreißig. Dreißig Minuten nach der ausgemachten Zeit.

Das Brummen eines Motors direkt vor dem Café erregte seine Aufmerksamkeit. Ein Motorrad mit Seitenwagen hielt am Straßenrand. Der Fahrer im Ledermantel, mit einer passenden Lederhaube auf dem Kopf, schwang den Fuß mit dem schweren Stiefel über die Maschine. Behandschuhte Hände nahmen erst die Motorradbrille, dann die Haube ab. Colin starrte auf die lange Strähne blonden Haars, die auf den hochgestellten Kragen des Mantels fiel.

Mit klopfendem Herzen blickte er auf den zerzausten Knoten goldenen Haars, der auf ihrem Oberkopf festgesteckt war. Jewel! Plötzlich drehte sie sich um und blickte zum Fenster herüber. Ihr Gesicht war bis auf den Bereich, den die Motorradbrille geschützt hatte, von Staub und Schlamm verdreckt. Doch durch das Fensterglas sahen ihn nicht Jewels hellblaue, sondern ein Paar tief liegende, lapislazulifarbene Augen an.

Es war nicht Jewel. Doch seine Enttäuschung mischte sich mit Neugier, als die Frau sich abrupt umdrehte und ging. Er stand auf und blickte ihr nach, presste beinahe sein Gesicht ans Fenster, um sie zwischen den Menschen vor dem Café ausfindig zu machen. Sie war verschwunden.

Er betrachtete das Motorrad. Dass die feminine Jewel eine solche Maschine fahren würde, konnte er sich kaum vorstellen, aber auch er selbst hatte keine Erfahrung damit. Er bevorzugte ein gutes Pferd, wenn er irgendwohin wollte, kein benzinfressendes Gefährt.

Plötzlich vernahm er trotz der lauten Gespräche der Gäste die Glocke über Tür des Cafés und als er sich umdrehte, sah er die geheimnisvolle Frau eintreten. Sie ging quer durch das Café. Dabei öffnete sich ihr schlammbespritzter Ledermantel ganz leicht und er erschrak beinahe, als er sah, dass sie dunkle Reithosen und eine Uniformjacke zu den Stiefeln trug.

War sie ein Kurier? Er hatte in London schon gehört, dass es Frauen gab, die Männerkleidung trugen und als Kuriere für die Marine und die Luftwaffe arbeiteten. Er hatte allerdings noch keine dieser Frauen kennengelernt. Nachdenklich setzte er sich wieder auf seinen Stuhl.

Die Frau betrachtete prüfend die Gesichter der Soldaten an der Bar, dann schob sie sich durch die Gäste. Dabei wich sie gelegentlich einem betrunkenen Rüpel aus, der versuchte, sie zu begrapschen. Als die Männer anfingen zu pfeifen und zu johlen, zog sie ihren Mantel enger zusammen. Colin spürte, wie Zorn in ihm aufstieg. Betrunkene Trottel!

»Êtes-vous Leutnant Colin Mabry?«