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Lotte misch mit

Klaus Heimann

edition oberkassel

Sie stand am Wohnzimmerfenster und blickte zwischen den mächtigen alten Bäumen hindurch auf das glitzernde Wasser der Havel. Wie so oft.

Es klingelte. Sie sah auf die Wanduhr. Wer sollte um diese Zeit vorbeikommen? Sie ging, um zu öffnen.

Die Überraschung ließ sie kurz stutzen. Damit hatte sie nach so langer Zeit nicht gerechnet. Die Begrüßung fiel knapp und freudlos aus. Von beiden Seiten.

Sie führte den Besuch ins Wohnzimmer. Ihre Mutter war auf dem Sofa sitzen geblieben. Als sie zusammen eintraten, nickte sie nur mit dem Kopf. Man einigte sich darauf, Tee zu trinken. Sie ging in die Küche und erhitzte das Wasser. Dann füllte sie den losen Tee in den Einsatz der Glaskanne und goss das heiße Wasser hinein. Sie wählte das alltägliche Geschirr. Tassen, Löffel, Zuckertopf mit Kandis und Teekanne drapierte sie auf dem zerkratzten Tablett aus Teakholz. Die ganze Zeit über wechselte der Besuch kein Wort mit ihrer Mutter. Jedenfalls bekam sie durch die offen stehende Küchentür nichts davon mit. Das Tablett in den Händen, kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.

Zuerst sah sie die Mutter. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Warum stand in ihrem faltigen Gesicht ein solcher Schrecken geschrieben? Mit einer beinahe unmerklichen Kinnbewegung lenkte sie die Aufmerksamkeit ihrer Tochter auf den Besuch.

Als sie herumwirbelte, starrte sie in die Mündung einer Pistole. Fast zeitgleich krachte der Schuss. Das Tablett fiel zu Boden. Den zweiten Schuss hörte sie schon nicht mehr.

Urlaubsbekanntschaft

»Lucy ist schwanger!«

Die Neuigkeit quillt aus mir heraus, als Ecki gerade in Guidos Kneipe hineingestolpert ist. Mein Tresenkumpel und ich treffen uns einigermaßen regelmäßig hier. Ecki – mit vollem Namen Eckhard Schulz – arbeitet bei der Schutzpolizei. Ich, Siegfried Siebert, für gute Bekannte einfach Sigi, war bei der Kripo. Man hat mich in den vorzeitigen Ruhestand geschickt, nachdem ich vor Jahren bei einer leichtsinnigen Aktion angeschossen wurde. Im fernen Namibia. Alte Geschichte.

Lucy ist meine Tochter. Das einzige Kind von Lotte, meiner Frau und mir. Sie lebt mit Tom, ihrem Freund, in Berlin. Er ist Lehrer, Lucy arbeitet an der Uni. Als Kunsthistorikerin. Dass die beiden Nachwuchs geplant haben, halte ich für unwahrscheinlich. Eher hat unsere liebenswert verpeilte Tochter vergessen zu verhüten. Egal. Lotte und ich freuen uns riesig auf das Enkelkind.

»Hallo, Sigi! Das sind ja Nachrichten. Dafür spendierst du mir aber einen!« Ecki drückt mich derart kräftig an seinen voluminösen Körper, dass ich beinahe husten muss, weil mir die Luft wegbleibt.

»Nicht so heftig. Schließlich bin ich demnächst Opa. Nur einen spendieren? Den ganzen Abend halte ich dich frei!«

Hatte ich das gerade wirklich gesagt?

Im Grunde bin ich knauserig veranlagt. Ich weiß noch, wie entrüstet ich war, als Lucy uns damals offenbarte, sie wolle in Berlin studieren. Das war überwiegend auf Lottes und meine Kosten geschehen. Heute bin ich froh, dass wir sie unterstützt haben. Meine Angetraute und ich sind mächtig stolz auf den Erfolg unserer Kleinen. Sie hat sogar ihren Doktor gebaut.

Wie unsere Tochter das wohl unter einen Hut bekommen wird, Kind und Beruf? Wir Großeltern können sie von Essen aus schlecht dabei unterstützen. Ach was, das wird. Tom ist ein prächtiger Bursche und er wird Lucy nach Kräften entlasten. Da bin ich ganz sicher.

Guido, der Wirt, schaut mich aus dem Rund des hufeisenförmigen Tresens aus dunklem Holz aufmunternd an.

»Zwei Pilschen, die Herren?«

»Gerne. Heute gibt es was zu feiern!«

»So? Was denn?«

»Ich werde Großpapa!«

»Glückwunsch. Die erste Lage geht aufs Haus. Bei so einer Nachricht kann ich mich doch nicht lumpen lassen!«

Guido macht sich daran, die Biere zu zapfen. Der Schaum arbeitet sich im Glas nach oben. Unser Wirt lässt ihn etwas ruhen. Wie sich das gehört für ein vernünftiges Pils.

»Der Sigi wird Opa! Mann, wie die Zeit vergeht«, sinniert Ecki.

»Da sagst du was Wahres. Gestern noch bist du Mördern hinterhergehechtet, heute kriegt deine Tochter Nachwuchs.«

»Was sagt denn Lotte dazu? Arbeitet sie eigentlich noch?«

»In wenigen Tagen wird sie dreiundsechzig. Den Rentenantrag hat sie längst gestellt.«

»Oh, oh. Mama ante Portas«, neckt mich Ecki.

»Wir sind beide fest entschlossen, das Beste daraus zu machen. Wir haben durchaus Chancen, ein Rentnerteam zu werden. Bilde ich mir jedenfalls ein.«

»Und ein Großeltern-Tandem, was? Geht mir Lucy und Tom nur nicht auf den Zeiger mit eurer neu gewonnenen Freiheit.«

Unser Wirt hat an einer anderen Ecke der Theke zu schaffen. Er bedient zunächst die Gäste dort - zwei Frauen, die dem Weißwein zusprechen -, ehe er unsere Gerstenkaltschalen vollendet. Mir wird angesichts der festen Schaumkronen ganz sehnsuchtsvoll ums Zäpfchen.

Endlich nimmt Guido zwei Bierdeckel von einem bereitstehenden Stapel, legt sie vor uns auf den Tresen und stellt die Gläser darauf ab.

»Wohl bekomm’s, die Herren. Und alles Gute für den werdenden neuen Erdenbürger. Für Oma und Opa natürlich auch.«

Wir nehmen uns die Biere zur Brust und prosten unserem Gastgeber zu. Dann nehmen Ecki und ich den ersten, durstigen Schluck. Das ist unbestritten der beste einer ansehnlichen Reihe Schlucke an so einem Abend.

Seufzend stellt mein Zechkumpan sein Glas wieder ab.

»Wenn ich mich recht erinnere, hattet ihr es manchmal schwer als Zweiergespann, Lotte und du.«

Ich wiege den Kopf. Das Thema ist mir unangenehm, trage ich schließlich die Hauptschuld an diesen Phasen. Keine Ruhmesblätter.

»Der Job, weißt du. Immer, wenn ich mich in einen Fall verbissen hatte, dann habe ich nicht mehr nach links und rechts geschaut. Dann war mir die Familie manchmal zu gleichgültig. Ich kenne diese Schwäche.«

»Und trotzdem bist du letztes Jahr in den Werden-Fall eingestiegen. Ganz alleine. Als Pensionär.«

Schulterzucken meinerseits. »Wenn ich eines aus dem Werden-Fall gelernt habe, dann bestimmt, dass wir mehr an einem Strang ziehen müssen, wir werdenden Großeltern. Ich mag Lotte immer noch sehr. Selbst nach beinahe vier Jahrzehnten Ehe. Ich bereue die Eigenmächtigkeiten, die ich hinter ihrem Rücken begangen habe aufrichtig.« Mehr will ich heute nicht dazu sagen.

Plötzlich fällt mir der Doppelmord wieder ein, der uns seinerzeit beide in die Ermittlungen hineingezogen hatte. Als Team hatten meine Holde und ich damals nicht unbedingt agiert – auch wenn wir am Ende auf gewisse Art gemeinsam erfolgreich gewesen waren. Ich schmunzele in mich hinein.

Ecki beobachtet mich. »Woran denkst du?«

»An unseren Doppelmord.«

»Ah, der Herr denkt an die Sache in Borbeck. In der Lotte quasi undercover unterwegs gewesen war.«

»Genau daran musste ich denken. Das war der letzte Fall vor dieser Taxifahrt zum Nordkap.«

Ecki nickt bedächtig mit dem Kopf. »Ja, ja. So harmlos kann ein Fall anfangen. Mit einer Urlaubsreise. Verträgst du noch ein Gezapftes?«

Ich schaue ihn schräg an. »Habe ich mich verhört?«

Er kichert. »Könnte ja sein, dass Lotte dich auf Alkdiät gesetzt hat.«

»Jetzt mach aber mal ’nen Punkt. Guido, zwei Pils!«

Unser Wirt gibt mir mittels hochgerecktem Daumen zu verstehen, dass er die Bestellung mitbekommen hat. Er reichert zwei vorgezapfte Biertulpen mit einer Schaumkrone an und tauscht die vollen gegen die vor uns stehenden leeren Gläser. Zwei Striche auf meinem Deckel und fort ist er.

Ich grabe weiter in meiner Erinnerung.

»Eigentlich waren das damals drei Geschichten. Die von der Frau, die von dem Mann und natürlich die von Lotte und mir.«

»Leg einfach los, Sigi. Bleibt mir ja doch nicht erspart. Wir stehen hier trocken und warm, das Bier ist angenehm temperiert und süffig, ab und zu kommt Guido mit einem Kurzen um die Ecke – dazu gehört einfach eine deiner Fall-Geschichten. Warum nicht die vom Doppelmord im Urlaub?«

***

»Ein schönes Fleckchen ist das hier. Das war ein guter Tipp von Lucy!«

Lotte stand im Schlafzimmer unserer Ferienwohnung in Werder an der Havel und schaute aus dem Fenster auf den Marktplatz mit der alten Eiche. Unser Quartier lag auf der Insel mit dem historischen Stadtkern, nur über eine kopfsteingepflasterte Brücke erreichbar. Vor einer Stunde waren wir angekommen. Mittlerweile waren die Koffer ausgepackt und unsere paar Brocken im Bad und im Kleiderschrank verstaut. Uns stand der Sinn nach einem ersten Erkundungsrundgang.

Eine Woche Urlaub hatten wir geplant, einen Besuch des hiesigen traditionellen Baumblütenfests Ende April. Am nächsten Tag wollten wir unsere Tochter Lucy treffen, die im benachbarten Berlin studierte. Doch zunächst hieß es einkaufen und den Ort inspizieren.

Wir zogen unsere Jacken und Schuhe an und verließen das Haus. Die Straßen säumte eine historische Bausubstanz, verträumt und herausgeputzt.

Auf einer Insel führen naturgemäß alle Wege zum Wasser. Nach drei Wendungen erreichten wir das Havelufer. An einem Schiffsanleger wurden Ausflugsfahrten angepriesen.

»Das wäre auch mal eine schöne Idee«, meinte Lotte.

Ich rümpfte die Nase. Sigi Siebert auf spießiger Bötchen-Tour. Naja.

Ein Stück weiter das Ufer entlang, trafen wir auf eine Fischbude. Nebenan ein Fischlokal. Mein Magen knurrte und erinnerte mich daran, dass er seit der Mettwurst in Höhe Hannover nichts mehr zu arbeiten erhalten hatte.

»Was hältst du von einem Aalbrötchen, Schatz?«

Bei dem Gedanken daran, lief mir das Wasser im Munde zusammen. Ich nickte zustimmend zu Lottes Idee.

Meine Allerbeste war schnell bei der Hand. »Ich besorge uns zwei.«

Drei Minuten später bissen wir in die mit frisch geräuchertem Aal belegten, knackigen Brötchen. Wunderbar!

Wir schlenderten weiter.

»Sieh mal, Sigi. Noch jemand aus Essen.«

Der rote Golf parkte am Straßenrand vor einem Hotel.

»Warum nicht? Längst kein Geheimtipp mehr, Deutschlands Osten.«

»Ich habe jedenfalls vor Lucys Vorschlag nichts von Werder an der Havel gehört.«

»Aber vom Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.«

Lotte lachte. »Na klar, dem mit dem Birnbaum. Wir mussten das Gedicht in der Grundschule noch auswendig lernen.«

»Vielleicht kommen wir da ja auch noch hin.«

»Mal sehen.«

Wir setzten unseren Weg fort. Er führte uns an einer markanten Kirche und einer Windmühle vorbei. Eine richtige Einkaufsmöglichkeit hatten wir bis jetzt nicht entdeckt.

»Wir werden wohl kurz mit dem Auto von der Insel runterfahren müssen. Hier sieht es schlecht aus mit Lebensmitteln«, überlegte ich laut.

»Es hängt mir zwar zum Hals heraus, das Fahren, aber was bleibt uns übrig? Los. Je eher, desto besser.«

Lotte hatte den ganzen Weg hierher alleine kutschieren müssen. Ich hatte das Autofahren vor Jahren an den Nagel gehängt. Aus Gründen, die ich selbst nicht benennen kann. Meine patente Frau trägt das immerhin mit Fassung.

Gleich nach dem Verlassen der Insel fanden wir einen Supermarkt, in dem wir das Notwendigste einkauften. Nachdem wir unsere Vorräte in die Ferienwohnung geschleppt hatten und ein paar Flaschen Bier und der Schnaps im Kühlschrank verstaut waren - meine wichtigsten Handgriffe beim Einräumen der Besorgungen -, rief ich unsere Tochter per Handy an. Sie meldete sich in der für sie typischen Art, indem sie ihren Vornamen als Frage aussprach: »Lucy?«

»Hallo Töchterlein. Papa hier. Wir sind da.«

»Tag Paps. Super. Gefällt es euch in Werder?«

»Ja, echt nett hier. War eine gute Empfehlung von dir …« Mein Vorrat an Gesprächsstoff war damit versiegt. »Warte, ich gebe dir Mama.«

Ich gab das Handy an Lotte weiter. Sofort füllte sich unser Ferienquartier mit munterem Mutter-Geschnatter. Blumig schilderte Lotte, was wir auf unserem Inspektionsgang schon an Weltsehenswürdigkeiten entdeckt hatten, dann fügte sie den neuesten Tratsch aus der Heimat an. So ging das immer. Während meine Gespräche mit unserer Tochter eher einsilbig verliefen, kamen die Mädels aus dem Schwatzen gar nicht wieder heraus.

»Wann treffen wir uns?«, kam Lotte nach einer guten halben Stunde anscheinend langsam zum Ende.

»Aha. Also nicht morgen. Übermorgen am Bahnhof in Werder? Zehn Uhr? Na gut, elf. Prima, Lucy … Wir freuen uns auch. Richte ich Papa aus. Tschüss. Tschüüüsss. Ja, tschüüüüüsssss.«

Lotte drückte das Gespräch weg und gab mir das Handy zurück.

»Lucy kann erst übermorgen kommen. Sie hat noch zu tun an der Uni«, informierte sie mich.

Ich sah auf meine Armbanduhr. »Sollen wir essen gehen?«

»Ist mir noch zu früh, so kurz nach dem Aalbrötchen. Können wir nicht schon mal ausbaldowern, wo der Bahnhof liegt?«

»Klar.«

Eine Karte der Gegend hatte ich bereits zu Hause besorgt. Ich ging nicht gerne unvorbereitet auf Reisen.

Ich breitete den Faltplan aus und fuhr mit dem Finger die Straßen nach. Es schien nicht kompliziert, den Bahnhof zu finden. Er lag jedoch etwas entfernt und es empfahl sich, das Fahrrad zu nehmen.

Beim Blick auf die Karte überlegte ich, dass wir auf unseren Touren stets die Möglichkeiten im Auge behalten sollten, die Havel und etliche Seen zu überqueren. Es war in solchem Gelände wichtig, den Überblick zu behalten, um nicht irgendwo an einem Ufer zu stranden. In Nähe des Bahnhofs schien eine Brücke auf die gegenüberliegende Havelseite zu führen. Auf unserem Weg dorthin könnten wir gleich danach suchen.

Unsere Fahrräder hatten wir von zu Hause mitgebracht. Die Vermieterin hatte uns bei unserer Ankunft zwei Stellplätze in einem Schuppen gezeigt, die wir benutzen durften. Ich hatte unsere Drahtesel vom Autodach gehievt und dort abgestellt.

Wir verließen das Anwesen diesmal auf der Gartenseite und holten die Räder aus dem Schuppen. Wieder ging es herunter von der Insel, ein kurzes Stück durch wuseligen Kleinstadtverkehr, dann rechts in eine ruhigere Straße, neben der eine Fahrradspur auf dem breiten Bordstein angelegt war. Wenige Minuten später erreichten wir den Bahnhof. Das war wirklich nicht schwer gewesen. Den Einstieg zur Überquerung der Havel fanden wir dagegen nicht.

»Vielleicht fragen wir jemanden?«, schlug Lotte entnervt vor.

Orientierung in fremden Gefilden war keine Disziplin, bei der sie langen Atem aufbrachte.

Passanten in Angelegenheiten zu bemühen, die derart offensichtlich der Karte zu entnehmen waren, ging jedoch entschieden gegen meine Hauptkommissars-Ehre.

»Hat ja noch Zeit«, brummelte ich und ignorierte Lottes Vorschlag.

Hungrig kehrten wir von unserer ersten Orientierungsfahrt zurück. Die Fahrräder wanderten wieder in den Schuppen und wir machten uns kurz frisch. Dann setzten wir uns, quer über den Marktplatz, zu einem kleinen Restaurant in Marsch, das wir, noch die Reste des Aalbrötchens aus den Zahnlücken leckend, vorhin schon für den gemütlichen Ausklang des Tages ausgeguckt hatten.

Es war rappelvoll in der Bude. Alle Tische besetzt. Bei mir setzt so etwas Flucht-Reflexe frei.

Ganz anders Lotte. Ihr ist es nie zu eng. Entschlossen schritt sie auf eine junge Frau zu, die hier kellnerte.

»Entschuldigen Sie. Können Sie absehen, ob hier demnächst etwas frei wird?«

Die junge Frau rollte die Augen. »Das kann dauern. Fragen Sie doch, ob Sie sich irgendwo dazusetzen dürfen.« Damit ließ uns die Bedienung ratlos im Lokal stehen.

Wir ließen unsere Blicke durch den gemütlichen Raum schweifen.

»Da hinten sitzen nur zwei an einem Sechsertisch«, rief Lotte und zeigte mit dem Finger in die Richtung. Schon setzte sie sich in Bewegung. Konnte ich anders, als ihr folgen?

Am Tisch saß ein Pärchen, etwa in unserem Alter. Die Frau trug blondes oder blond gefärbtes – welcher Mann kann so etwas schon unterscheiden? – schulterlanges Haar. Den Kopf des Mannes zierte eine ausgeprägte Glatze, umfriedet von einem millimeterkurz geschorenen, silbernen Haarkranz.

Meine Allerbeste blieb die treibende Kraft in Sachen Tischbeschaffung.

»Guten Abend. Verzeihen Sie, sind diese beiden Plätze noch frei?«

Die beiden Frauen verstanden sich auf Anhieb. »Ja. Bitte, setzen Sie sich doch.«

Wir rutschten auf die gegenüberstehenden äußeren Stühle und ließen jeweils einen Platz zu unseren Nachbarn frei. Automatisch bildeten sich eine Männer- und eine Frauenseite.

Die Bedienung brachte die Speisekarte. Ich bestellte ein großes Bier, Lotte einen Rotwein. Dann studierten wir die aufgelisteten Gerichte.

Das Pärchen neben uns setzte sein Gespräch fort. Es ging um Pläne für den nächsten Tag. Sie schienen ebenfalls Fahrräder mitgebracht zu haben. Dann fiel das Stichwort, das uns aufhorchen ließ.

»Im Juni werden wir dann endlich den Ruhrtal-Radweg in Angriff nehmen. Ist ja fast eine Schande. Wir wohnen nebenan und fahren immer nur das Stück zwischen Hattingen und Mülheim.«

Lotte, die mir ohnehin mehr auf das Gespräch nebenan als auf die Speisekarte konzentriert gewesen schien, schnappte gleich nach dem Gesprächsfetzen. Kontakt schloss meine Angetraute schnell.

»Entschuldigen Sie. Ich habe gerade mitbekommen, dass Sie in der Nähe der Ruhr wohnen. Darf ich fragen, woher Sie kommen?«

»Natürlich«, antwortete die Blonde. »Aus Essen.«

»Nein. Was für ein Zufall. Wir kommen auch aus Essen. Wir wohnen in Rüttenscheid. Vorhin haben wir ein Auto mit Essener Kennzeichen gesehen. Könnte das Ihres sein?«

»Wir fahren einen roten Golf.«

»Den Typ weiß ich nicht mehr. Rot war der Wagen. Siebert übrigens, unser Name.«

»Wir sind die Lindemanns.«

Während unsere Frauen Bekanntschaft schlossen, musterten wir Männer uns stumm. Auf den ersten Blick nicht unsympathisch, der Silberbekränzte.

»Rutschen Sie doch näher heran. Wir müssen ja nicht über die Stühle hinweg miteinander plaudern«, schlug Frau Lindemann vor.

Lotte folgte der Einladung spontan. »Gerne.«

Notgedrungen tat ich es ihr nach. Das geht mir manchmal zu schnell mit ihr. Ich hatte mich eigentlich auf eine Woche Familie gefreut. Ohne neue Bekanntschaften.

Lindemanns erhoben sich. Wir reichten uns alle vier gegenseitig die Hände. Dann setzten wir uns.

»Wo wohnen Sie? Auch in Werder?«, trieb die Blonde die begonnene Plauderei weiter.

»Wir haben eine Ferienwohnung gemietet, direkt am Markt. Hier gleich um die Ecke. Und Sie?«

»Wir sind im benachbarten Hotel untergebracht. Wir sind vorgestern angekommen.«

»Wir erst heute Mittag …«

Wieder sahen wir Männer uns an. Wir ahnten, dass sich auf der gegenüberliegenden Tischseite soeben ein echtes Frauengespräch entspann. Da würden wir keinen Satz dazwischen bekommen. Was blieb uns übrig, als eine eigene Unterhaltung anfangen?

»Kennen Sie sich hier aus?«, versuchte ich es mit ihm.

»Wir sind zum ersten Mal hier.«

Pause.

Zum Glück brachte die Bedienung in diesem Moment die Getränke. Reihum in die Augen schauend, prosteten wir uns zu. Meine Göttergattin hatte im ersten Überschwang ganz vergessen, sich ein Essen auszusuchen. Auf ihre diesbezügliche Nachfrage schickten wir die Kellnerin unverrichteter Dinge wieder fort und baten sie, später wiederzukommen.

»Haben Sie hier schon gegessen? Können Sie etwas empfehlen?«, fragte Lotte die Blonde.

»Fisch würde ich vorne essen. In dem Lokal, das auch die Bude betreibt. Da waren wir gestern.«

»Ach, eigentlich reicht mir ein Salat …«, bezog meine Angetraute den Tisch in ihre Entscheidungsfindung ein. Prompt diskutierte die Blonde mit ihr die halbe Speisekarte.

»Was haben Sie bestellt?«, erkundigte ich mich bei meinem Tischnachbar, um dieser Diskussion zu entgehen.

»Steak.«

Präzise, die Auskunft. Ein Wort, alles klar. So mag ich das.

Nachdem Lotte im Anschluss an endloses Palaver endlich feststellte, dass sie richtig Hunger hätte und ein Salat vielleicht doch zu bescheiden sei, schloss sie sich meiner Wahl »Havelschnitzel« an. Ich habe die Frauensleute echt im Verdacht, dass sie nur so kompliziert sind, damit sie quatschen können. Irgendwie müssen sie mehr Worte pro Tag loswerden als wir Männer.

Nachdem wir unsere Bestellung endlich aufgegeben hatten, fühlte sich auch der Silberbekränzte gemüßigt, etwas zur Unterhaltung beizutragen.

Er wandte sich nicht an die Runde, sondern direkt an mich: »Haben Sie Räder dabei?«

»Ja. Hier kann man anscheinend gut fahren.«

»Gestern habe ich mir eine Karte besorgt. Sieht nach schönen Touren aus.«

»In der Nähe des Bahnhofs soll es eine Brücke über die Havel geben. Die haben wir vorhin gesucht, aber den Einstieg nicht gefunden.«

»Es geht über die Eisenbahnbrücke. Den Weg haben wir heute ausprobiert. Fantastische Gegend da drüben!«

Seine Frau hatte unser Gespräch mitbekommen und hakte ein.

»Morgen früh will Jens einen alten Freund treffen. Da bin ich alleine. Darf ich mich euch anschließen? Dann kann ich euch den Weg zeigen.«

»Gerne!«, jubelte Lotte.

Na, das würde morgen eine nette Schwatzrunde zu Drahtesel geben.

»Ach komm, sind wir doch nicht so kompliziert. Ich bin die Charlotte.«

»Ich bin die Frauke und mein Mann heißt Jens.«

»Siegfried. Nennt mich ruhig Sigi. Das tun alle. Und Charlotte dürft Ihr gerne Lotte nennen.«

Ich weiß, dass meine Holde die Verstümmelung ihres Namens überhaupt nicht mag. Das klinge naiv, meint sie. Die kleine Spitze hatte sie aber für ihr übereifriges Anbandeln unbedingt verdient!

Ein grimmiger Mahnblick traf mich, während vier Hände eifrig nach einem Partner zum Schütteln suchten.

»Das begießen wir jetzt aber mit einem Schnaps«, hörte ich mich sagen. Den hatte ich selbst aus etlichen Gründen nötiger als alle anderen, wie mir schien.

Während die Damen zu einem weichgespülten Ramazzotti griffen, wählten Jens und ich einen Willi. Geschmack besaß mein neuer Duzbruder zum Glück. Wir stießen alle vier miteinander an. Dann besiegelte der Schnaps unsere Verbrüderung.

»Von der Sprache her hätte ich dich nicht nach Essen gesteckt, Jens«, stellte ich fest.

»Das stimmt«, antwortete mein Tischnachbar. »Ich bin in Anhalt aufgewachsen. Da bleibt der Slang an dir kleben. Später habe ich in Potsdam und in Chemnitz gelebt. Erst nach dem Fall der Mauer habe ich zu euch rübergemacht.«

Lotte bekam große Augen. »Ach, interessant. Kommst du auch aus dem Osten, Frauke?«

»Ja. Mein Heimatort liegt östlich von Berlin.«

»Das hört man aber nicht«, stellte ich fest.

Lotte interessierte etwas anderes: »Erzählt mal. Wie war das denn damals so in der DDR?«

Erwähnte ich bereits, dass meine Angetraute eine ziemlich Direkte ist?

Unsere Tischnachbarn zierten sich etwas. Es war Jens, der meiner vorwitzigen Frau ein paar Brocken hinwarf. Ich spürte, dass ihm dieses Thema nicht behagte. Lag das an dem immer noch spannungsgeladenen Verhältnis zwischen Ossi und Wessi? Fühlte sich Ossi im dritten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung immer noch als Deutscher zweiter Klasse? Ich finde das schade. Wer kann schon was für seine Herkunft? Was zählt, ist doch der Mensch an sich.

Ich bemühte mich, das Gespräch in eine andere Richtung zu treiben.

Ich fragte Jens, was ihn nach Essen geführt hätte.

»Die Arbeit natürlich. Bei uns zu Hause ging doch alles den Bach runter. Ich habe einen guten Draht zu einem der Männer gehabt, der von seiner Firma geschickt worden ist, um unseren Laden auf Vordermann zu bringen. Energieversorgung, wisst Ihr. Na, jedenfalls hat der mir einen Kontakt zur Zentrale verschafft. Da war gerade ein Job frei, der genau zu meiner Fachrichtung passte …«

Das Essen kam auf den Tisch. Jens und ich bestellten ein weiteres Bier. Beim Zulangen merke ich erst, wie hungrig ich mittlerweile wirklich war. Es schmeckte ausgezeichnet.

Die Frauen unterhielten sich während des Essens munter weiter. Jetzt tauschten sie wichtige Informationen über ihre Familienkonstellation aus.

Unsere Urlaubsbekanntschaft hatte keine Kinder, was meine Angetraute prompt auf Lucy brachte. Sie lobte unsere Tochter über den grünen Klee und stellte ihr Studium als das einzig mögliche hin, das ihren Talenten wirklich entsprach. Mir war das neu. Für mich hatte Lucy nach dem Fach gesucht, das ihr am wenigsten praktisches Talent abforderte. Ich schwieg jedoch zu Lottes blumenreichen Ausschmückungen. Dass wir das alles finanzierten, überging sie glatt.

Wir Männer schwiegen während des Essens. Die Angler und Jäger kommunizieren still und effektiv. Was stand am heutigen Abend denn schon zur Klärung an?

Danach befragt, hätten wir wahrscheinlich gleichlautend geantwortet: Nickes!

Nachdem wir aufgegessen hatten, wurde der Abend nicht mehr allzu lang. Lotte und ich verließen das Lokal gegen halb zehn, nicht ohne, dass meine Göttergattin die Essener Telefonnummer von Frauke Lindemann abgefischt und im Gegenzug unsere hinterlassen hätte.

Der Marktplatz war menschenleer. In der alten Eiche hatten sie Lichterschlangen verlegt, die bis in die Spitzen der Äste reichten. Wie eine Kunstskulptur erleuchtete der Baum den Platz.

Lotte hakte mich unter. »Wie romantisch!«

Wir blieben eine Weile unter dem Baum stehen und verfolgten die leuchtenden Spuren in seinem Geäst. Dann gingen wir die paar Schritte zu unserem Feriendomizil hinüber. Ich schloss auf und wir stiegen – immer noch Arm in Arm – die Treppe zu unserer Wohnung hinauf.

Nachdem wir beide die notwendigen Handgriffe der Abendtoilette vollbracht hatten, fielen wir erschöpft in die Federn. Anreise, Spaziergang, Einkaufen, den Bahnhof suchen, Kneipe – das langte für den ersten Tag.

Fahrradtour mit einem Platten

Am nächsten Morgen besorgte ich in der Nähe der Brücke, die auf die Insel führte, ein paar Brötchen zum Frühstück. Als ich zurückkehrte, hatte Lotte bereits den Tisch gedeckt und Eier gekocht. Wir genossen die Zeitlosigkeit, die beim Frühstück im Urlaub herrscht. Eine Tageszeitung hatte ich ebenfalls mitgebracht. Alles, was Sigi Siebert für einen relaxten Start in den Tag benötigt.

Nach dem Aufräumen holten wir unsere Fahrräder aus dem Schuppen und schoben sie durch die Hintertür des Gartens zum verabredeten Treffpunkt. Frauke wartete dort bereits auf uns, bekleidet mit einer schwarzen Trainingshose und einem schwarzen Kapuzenshirt mit langen Armen. Sie war allerbester Laune. »Guten Morgen. Gut geschlafen?«

»Die erste Nacht im fremden Bett ist immer scheiße«, gab ich wahrheitsgemäß kund.

»Hör nicht auf den. Kommt in die Jahre, mein Bester«, lachte Lotte.

Dieser kleine Nadelstich war zu erwarten gewesen. Ich versuchte mich nicht zu ärgern und verbuchte die Bemerkung als Retourkutsche dafür, dass ich Lindemanns erlaubt hatte, meine Angetraute Lotte zu nennen.

Frauke fuhr voraus. Sie lenkte ihr Fahrrad auf denselben Weg zum Bahnhof, den wir gestern genommen hatten. Es war im Prinzip ganz einfach, den Einstieg zum kleinen Abzweig zu finden, der an der Eisenbahnbrücke endete. Wir hatten Tomaten auf den Augen gehabt. Wahrscheinlich eine Folge der anstrengenden Anreise.

Auf die Brücke hinauf führte eine Treppe. Zur Erleichterung des Fahrradtransports war an einer Seite eine Metallschiene angebracht. Wir fädelten unsere Drahtesel ein und schoben sie hinauf. Oben gab es parallel zur Eisenbahnlinie einen Übergang, etwa in Gehwegbreite. Auf der anderen Seite führte ebenfalls eine Treppe mit Metallschiene wieder hinab. Als wir unten waren, schwenkte Frauke auf einen unbefestigten, schmalen Weg nach rechts.

Die ganze Zeit über ratschten die beiden Frauen miteinander – wie erwartet. Es wurde über Auswüchse der aktuellen Mode gelästert, sich über Ausflugsziele im Havelland ausgetauscht, über Passanten hergezogen. Es dauerte nicht lange, da hatte ich abgeschaltet. Ich genoss lieber die Ausblicke aufs Wasser und das sonnige Wetter. Sollte die Damenwelt ihrem Lieblingszeitvertreib nachgehen.

Wir fuhren durch einen schmalen Grünstreifen, der von Büschen und Bäumen markiert wurde, und gelangten nach einigen hundert Metern an einen beschaulichen Strand. In der Nähe gab es einen Steg, an dem Boote vertäut lagen. Seitlich im Wasser ein Schilffeld, dahinter die Insel mit der Altstadt von Werder. Der Kirchturm grüßte über die in der Sonne glitzernde Havel hinweg.

»Hier ist es aber schön«, brach Lotte in spontane Verzückung aus.

»Da steht eine Bank. Sollen wir einen Moment bleiben?«, schlug Frauke vor.

Es war wirklich idyllisch hier. Auch, wenn wir kaum Strecke gemacht hatten, willigten Lotte und ich in den Vorschlag ein.

Wir nahmen auf der Bank Platz und blickten aufs Wasser. Ein Graureiher schwebte durch unsere Postkartenaussicht. Eine leichte Brise kräuselte die Havel. Sieht aus wie Cellulite - dachte ich. Zum Glück zähmte ich meine Zunge. Diese Assoziation teilte ich lieber nicht mit meinen Begleiterinnen!

Lotte nahm meinen Arm und legte ihren Kopf auf meine Schulter. Ich streichelte einmal sanft über ihre Wange. Man kennt sich ja so lange.

In diese Stimmung platzte plötzlich Frauke hinein: »Verflixt. Ich habe meine Herztablette vergessen. Ich muss zurück.«

Lotte wurde wieder munter. »Das wird wohl nicht so schlimm sein.«

»Hast du eine Ahnung! Mein Herz ist ziemlich im Eimer. Ich muss meine Tabletten nehmen. Seid Ihr mir böse? Ihr kennt ja jetzt den Weg über die Eisenbahnbrücke.« Richtig hektisch wurde Frauke.

»Wenn du meinst«, erwiderte Lotte verschnupft. Sie hatte deutlich darauf gesetzt, wesentlich ausgiebiger zum Plaudern zu kommen. Das konnte ich ihr natürlich nicht bieten.

Im Grunde war auch mir die Beschäftigung der beiden Frauen miteinander nicht ganz unlieb gewesen.

»Sollen wir auf dich warten?«, schlug ich vor.

»Nein, nein. Eine Dreiviertelstunde brauche ich bestimmt. Das ist nett von euch.«

»Sehen wir uns denn heute Abend?«, hoffte meine Angetraute.

»Ihr wisst ja, wo wir wohnen. Fragt einfach nach. Tschüss Ihr zwei. Schönen Tag Euch!«

Frauke stieg auf ihr Fahrrad und verschwand in die Richtung, aus der wir gekommen waren.

»Bis heute Abend«, rief ihr Lotte nach. Ihr Tonfall verriet Enttäuschung. »Die hat es aber verdammt eilig!«

»Wenn sie doch ihre Tabletten nehmen muss«, beschwichtigte ich und zog die Fahrradkarte aus meiner Gepäcktasche. Wir studierten sie gemeinsam und stimmten kurz miteinander ab, wo es weitergehen sollte.

Nun hielten wir es nicht mehr länger am Strand aus. Ein paar Kilometer sollten wir durchaus drauflegen. Wir bestiegen unsere Räder und fuhren weiter nach Wildpark West hinein.

Kurz darauf durchradelten wir eine Wohngegend, die mit ihrem wohlsituierten Gepräge so ziemlich alles ausstach, was wir jemals auf dem platten Land gesehen hatten. Von nordischer Holzbauweise, in Falunrot angestrichen mit weißen Kanten, Fenstern und Türen, bis hin zu moderner, schicker, kantiger Architektur, reichte das Spektrum. Auf der Havelseite erstreckten sich riesige Gärten mit altem Baumbestand bis ans Ufer. Keine Gegend für den Geldbeutel von Otto-Normalverbraucher.

»Sieh dir das an«, geriet Lotte ins Schwärmen. »So müsste unsereins wohnen!«

Ich kehrte den Praktiker hervor. »Möchtest du solche Flächen putzen? Was meinst du, wie viel Raum die bewohnen. Dreimal, viermal so viel wie wir. Und obendrein der Garten.«

»Lass mich doch mal träumen«, konterte Lotte.

Als wir am Ende des Ortes angelangt waren und ich gerade Gas geben wollte, bremste mich meine Allerbeste aus. »Sigi, lass uns noch eine Runde drehen.«

»Warum?« Ich verspürte wenig Lust, den gepflegten Luxus, der uns hier entgegenschlug, weiter anzugaffen.

»Bitte!«

Ich gab nach. Wenn Lotte es sich wünschte …

Wir fuhren eine Schleife, die von der Havel wegführte. Für mich setzten sich die Eindrücke nur fort, für Lotte schien sich die Welt zu weiten.

»Schau mal dort, den Eingang.« – »Ist das ein schönes Haus.« – »Die könnten mehr daraus machen.« – »So viel Kitsch auf einem Flecken. Tss, tss …«

Geduldig fuhr ich im Schneckentempo hinter ihr her. Aber was war das? War das Hinterrad an Lottes Drahtesel etwa platt? Merkte sie in ihrem aufgedrehten Zustand denn gar nichts davon? Frauen!

»Halt bitte mal an, Schatz!«

Lotte betätigte den Rücktritt. Sie blieb mit den Zehenspitzen abgestützt auf dem Sattel sitzen. Ich stellte mein Gefährt am Wegrand ab und ging zu ihr. Skeptisch befühlte ich den luftleeren Reifen.

»Völlig herunter.«

»Pumpst du ihn mir auf?«

»Das wird nichts. Aufgepumpt habe ich ihn erst zu Hause. Du hast einen richtigen Platten. Steig doch mal ab.«

Lotte knurrte. Widerwillig hievte sie ihren Allerwertesten vom Sattel. Ich bat sie, ihr Fahrrad hinten anzuheben. Mit der Handfläche strich ich über die Lauffläche. Schon blieb mein Mittelfinger an etwas Hartem, Scharfen hängen. Ich sah genauer hin: Ein Schraubenkopf ragte aus der Reifendecke.

»Da hast du dir was Schönes reingefahren. Der Schlauch ist hinüber, den muss ich flicken.«

»Oh Gott. Hier?«

»Natürlich hier. Weiterfahren kannst du damit auf keinen Fall.«

»Hast du denn Werkzeug dabei?«

»Klaro. Ein Mann ist auf so was vorbereitet.«

»Püüh«, kommentierte Lotte meine Allzeit-bereit-Äußerung mit einem Laut, der mir deutlich zu verstehen gab, was sie davon hielt.

»Bist du sicher, dass du das hinkriegst? Bei deinem Talent?«

Mein Puls kletterte spontan um mindestens dreißig Zähler. Warum nahm ich wohl Werkzeug mit, wenn ich mir nicht zutraute, es einzusetzen?

»Keine zehn Minuten, dann geht es weiter«, großkotzte ich.

Meine Angetraute half mir dabei, das Fahrrad umzudrehen und auf Lenker und Sattel abzustellen. Sah komplizierter aus, als gedacht. Richtig: Mein Vater hatte es mir in meiner Kindheit an einem Fahrrad ohne Gangschaltung gezeigt.

»Ich habe mehr als einmal zugeschaut, wie man einen Schlauch flickt«, sprach ich mir selbst Mut zu.

Die Hand am Kinn überlegte ich, wie am sinnvollsten vorzugehen wäre. Das dauerte meiner Göttergattin bereits zu lange.

»Fängst du bald mal an?«

Noch hatte ich mich im Griff. »Bitte lass mich in Ruhe arbeiten, Schatz, ja?«

Nach drei Fehlversuchen fand ich endlich den passenden Maulschlüssel. Ich schraubte die beiden Hutmuttern am Hinterrad los und versuchte es aus den Fallenden herauszudrücken. Ging nicht. Ich ruckte etwas heftiger. Das Fahrrad begann zu schwanken. Immer noch nicht.

Natürlich hatte das Auskundschaften der Sachlage bereits den größten Teil meines zu knapp geschätzten Zeitfensters aufgefressen. Meine Angetraute hielt mit ihrer Ungeduld nicht länger hinter dem Berg.

»Wie lange muss ich noch hier stehen? Das Hinterrad ist ja nicht mal ausgebaut.«

Das war zu viel. »Jetzt halt endlich die Klappe. Wie soll man arbeiten, wenn man andauernd kritisiert wird?«

»Ich kritisiere nicht. Ich frage nur.«

»Natürlich kritisierst du.«

Geübt im Umgang mit Erregungszuständen ihres Mannes, verstummte Lotte, um das Zünden weiterer Stufen auf der ehelichen Eskalationsleiter zu vermeiden.

Es gelang mir immer noch nicht, das Hinterrad aus seinen Fallenden zu befreien. In der durch weibliche Ungeduld aufgeheizten Stimmung brachte das mein Innerstes zum Kochen. Ich fluchte ungeniert und nicht zitierfähig.

Meine Beste hatte endgültig genug von mir.

»Wenn du jetzt anfängst zu fluchen, Sigi, dann gehe ich. In einer halben Stunde bin ich wieder zurück. Die wird dem Profi wohl reichen, um ein kleines Löchlein in einem Fahrradschlauch zuzupflastern.« Sprach’s und verschwand.

Lottes Eigenmächtigkeit machte mich rasend. Ich ruckte und ruckte. Für meinen ungestümen Krafteinsatz erwies sich die Lagerung des Fahrrads auf Lenker und Sattel als zu instabil. Es stürzte um und schlug mir dabei schmerzhaft gegen das Schienbein. Ich schrie auf.

Meine Holde war noch nicht weit genug entfernt, um das nicht mitzubekommen.

Sie entrüstete sich aus der Ferne: »Du spinnst doch. Mach mein Rad nicht kaputt, du Grobmotoriker.«

Dann setzte sie ihre Flucht fort. Mit dem geschulten Auge des Ehemanns erkannte ich an der Art, wie sie sich bewegte, dass sie mit Wut in allen vier Backen davonstürmte.

Das schmerzhafte Malheur dämpfte meinen Zorn auf tote Gegenstände etwas. Missmutig rieb ich mir das Schienbein und richtete den Drahtesel wieder auf. Dann sah ich mir die Baustelle genauer an. Irgendetwas klemmte. Ich verfiel erneut ins Grübeln. Da ragte ein Hebel aus der Schaltnarbe heraus, der am Rahmen befestigt war. Ich erinnerte mich. Lottes Fahrrad besaß Rücktritt. Also losgeschraubt, das Ding.

Ich unternahm den nächsten Versuch, das Hinterrad aus seiner Halterung zu befreien. Leider dosierte ich dabei den Krafteinsatz so wie bei den vorausgegangenen, vergeblichen Versuchen. Das völlig lockere Rad sauste aus den Fallenden heraus, die Antriebskette rasselte vom Zahnkranz der Schaltung herunter. Ich spürte einen kurzen Widerstand. Knack. Das dünne Drahtseil der Schaltung hatte meinem Rucken nachgegeben. Es war kurz vor seinem Ende abgerissen. Leider hatte ich vergessen, es vor dem Ausbau des Hinterrads zu lösen.

Ich fluchte gottlästerlich. Das würde ein Spezialist in Ordnung bringen müssen. Hier war ich mit meinem Latein definitiv am Ende.

Unter diesen Umständen machte das Flicken des Schlauchs keinen Sinn mehr. Ich ersparte mir weitere Versuche. Unter Aufbringung letzter Geduldreserven befestigte ich das Hinterrad wieder an Ort und Stelle. Dann setzte ich mich bedröppelt neben dem Fahrrad in den Straßenstaub. Ein Häufchen Elend.

Was für eine Blamage Lotte gegenüber!