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Slavko Leban

IRRUNGEN
UND WIRRUNGEN
EUROPAS

Mensch und Masse in der
modernen Gesellschaft

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ISBN 978-3-99081-023-1

eISBN 978-3-99081-032-3

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Layout: Ecotext-Verlag Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, Wien

Inhalt

Zum Geleit

I.Prolog

II.Die Europäische Union

Die zeitgenössische europäische Gesellschaft

1) Allgemeines

2) Zusammensetzung der Gesellschaft

3) Zivilreligiöse Dogmen

4) Repressiver Apparat

5) Individualismus

6) Krise der Identität

Die religiöse Situation in der Europäischen Union

1) Allgemeines

2) Die Zivilreligion des anthropozentrischen Atheismus

3) Das Christentum

4) Der Islam

Masseneinwanderung und Multikulturalismus

III.Der öffentliche Raum: Grundlagen des gesellschaftlichen Verhaltens

Der Staat

Die Demokratie

Die Macht

Die Ideologie

Die Metapolitik

Die Moral

Die Rechtsstaatlichkeit

Die Gleichheit

Die Politik der Angst

Die Repression

Die Medienwelt

IV.Der zeitgenössische Mensch und die freiwillige Unterwerfung

V.Der Mensch in der zeitgenössischen technisierten Welt

VI.Epilog

Zum Geleit

Lieber Leser!

Diese Abhandlung soll als Aufruf zum Nachdenken über ein besseres Europa verstanden werden. In Bezug auf materiellen Wohlstand, verschiedene Freiheiten und die strukturelle Entwicklung der Gesellschaft stellt die Europäische Union sicherlich den bisherigen Höhepunkt in der Geschichte der Alten Welt dar, was aber kein Grund sein darf, sich vom Überfluss einlullen zu lassen und die vorhandenen Missstände zu bagatellisieren.

Ihnen, lieber Leser, wünsche ich ausreichend Geduld und viele Aufschlüsse. Ich würde mich sehr freuen, wenn es mir gelingen sollte, den Aufruf zum Nachdenken wirksam werden zu lassen.

Zadar (Kroatien), 26. November 2019

Dr. Slavko Leban

I.Prolog

Laut zahlreichen Umfragen weltweit schätzt der zeitgenössische Mensch die Freiheit als den höchsten Wert im öffentlichen Leben der Gesellschaft, oft ohne sagen zu können – oder vielleicht zu wollen –, was genau er darunter versteht. Über Jahrhunderte hinweg haben viele denkende Menschen die Frage aufgeworfen, was die Freiheit eigentlich sei. Das letzte Wort ist diesbezüglich noch nicht gesprochen; die lebhaften Diskussionen über unterschiedliche Freiheitsvorstellungen laufen weiter.

Die Freiheit stellt zugleich jenen Wert dar, für dessen Unvollständigkeit, Einschränkung oder Missbrauch die Politik von den Menschen erbarmungslos verantwortlich gemacht wird. Das ist im Grunde nicht außergewöhnlich, es ist aber auffällig und gewiss merkwürdig, dass diese Vorwürfe intensiver werden, je weiter die liberale Demokratie entwickelt ist und je üppiger die Libertinage auf dem Feld des Apolitischen wird. Ohne dass man an die Frage der philosophischen oder theologischen Erklärung des Begriffs „Freiheit“ näher herangeht, genügt es, festzustellen, dass der heutigen liberalen Demokratie, in deren Rahmen sich die politische Freiheit in der Moderne entwickelt und entfaltet, genug Werkzeuge zur Verfügung stehen, um jedem einzelnen Menschen die Partizipation am politischen und vorpolitischen Leben der Gesellschaft zu ermöglichen. Wir wollen an dieser Stelle nicht die Frage näher erörtern, ob das zeitgenössische Individuum an der aktiven Gestaltung der politischen Freiheit in seiner Gesellschaft und an der Übernahme der Verantwortung, die aus diesem Unternehmen hervorgeht, überhaupt wirklich interessiert ist; es genügt vorerst, festzustellen, dass das oben Erwähnte die zeitgenössische Gesellschaft Europas von den unfreien Systemen der Vergangenheit unterscheidet. Es unterscheidet die zeitgenössische pluralistische und liberal-demokratische Gesellschaft Europas von den tyrannischen, diktatorischen oder autoritären Systemen der Vergangenheit. Aber unabhängig von dem Lobgesang auf den Reichtum des Arsenals der erwähnten theoretischen Werkzeuge muss betont werden, dass das gegenwärtige Europa eine Gesellschaft der einseitigen Freiheit ist, ein Raum des geistigen Vakuums unter dem Etikett des Konsums, eine Welt in Erwartungen gefangener Menschen. Von diesem Standpunkt aus gesehen, ist die kritische Einstellung des Menschen gegenüber dem Stand der Freiheit in der heutigen liberal-demokratischen Massengesellschaft verständlich und nachvollziehbar. Das ist allerdings nur eine Seite der Wirklichkeit. Nimmt man die Motive der Kritik wie auch die Kritik selbst ernst und geht man von der Annahme aus, dass sich der heutige Mensch der Funktion der erwähnten Werkzeuge bewusst sei, dann ergibt sich zwangsläufig folgende Frage: Sind die Resignation und die Unzufriedenheit des heutigen Menschen Ausdruck seiner Trägheit beziehungsweise seines Desinteresses an engagiertem öffentlichen politischen Tun oder aber ein äußeres, sichtbares Zeichen seines mutlosen Gehorsams, sozusagen die Widerspiegelung seiner freiwilligen Unterwerfung? Als Begriffskonstrukt ist eine vollkommene politische Freiheit zwar möglich, als politische Wirklichkeit bleibt sie aber eine Utopie. Das gilt genauso für das Fehlen der politischen Freiheit; es gibt keine vollkommen freiheitslose Gesellschaft. Im Falle der politischen Freiheit geht es lediglich um die mehr oder weniger stark ausgeprägte Präsenz dieses hohen Wertes in einem Gemeinwesen. Es klingt zwar befremdlich, wenn man über die unterwürfige Verhaltensweise des Menschen in einer liberal-demokratischen und pluralistischen modernen Gesellschaft sinniert, da es in einer solchen Gesellschaft eine unterwürfige Verhaltensweise eo ipso nicht geben kann beziehungsweise sie nur als eine exotische Ausnahmeerscheinung möglich sein sollte. Die Europäische Union ist offiziell eine solche Gesellschaft, allerdings eine, in der die freiwillige Unterwerfung keine Ausnahme darstellt, sondern sogar die Regel ist. Über die Ursache des demütigen Verhaltens des zeitgenössischen massendemokratischen Menschen, die Diskrepanz zwischen dem politischen Gesagten und der politischen Wirklichkeit wie auch die Entfremdung des modernen Menschen von den Imperativen und Tugenden der Natur im zeitgenössischen Europa wollen wir in dieser Abhandlung nachdenken, um der Substanz des Habitus des heutigen Homo politicus näherzukommen.

Nach der heute allgemein geltenden Auffassung liegt die Grundaufgabe der Politik in der Gestaltung der Ordnung und dem Ausgleich der unterschiedlichen Interessen in der Gesellschaft. Um diese Aufgabe zu bewältigen, sind verbindliche Entscheidungen durch eine allgemein anerkannte und mit der politischen Autorität ausgerüstete Gewalt im Geltungsbereich öffentlicher Raum nötig. Die Durchsetzung politischer Pläne und Visionen wickelt sich in der Praxis durch die gezielte Einflussnahme verschiedener gesellschaftlichen Gruppen ab, die entschlossen sind, ihre Ziele als Modus Vivendi in der Gesellschaft durchzusetzen. Diese zweckorientierte Tätigkeit darf aber nicht mit dem Verfahrensmuster im verwaltungstechnischen Sinne verwechselt werden. In vergangenen Zeiten wurde die Politik hauptsächlich mit dem Begriff Staat in Verbindung gebracht; heute ist sie begrifflich auch teilweise privatisiert: Es gibt die Politik des Vereines, Verbandes, Unternehmens usw. Vorab muss betont werden, dass für diese Abhandlung nur die Politik im klassischen Sinne von Belang ist.

Das politische Handeln ist – dem deutschen Politikwissenschaftler Gerhard Lehmbruch zufolge – grundsätzlich darauf ausgerichtet, gesellschaftliche Konflikte über Werte verbindlich zu regeln. Ziel der Politik ist die Herstellung der Ordnung im Staate, wozu genaue Verfahrensregelungen vorgesehen sind. Im politischen Wesen der zeitgenössischen europäischen Gesellschaft, die sich in Bezug auf das Verfahrensmuster als eine parlamentarische Demokratie deklariert, stellt die Rechtsstaatlichkeit einen der wichtigsten Faktoren dar. Nach dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit müssen alle staatlichen Akte auf gesetzlicher Grundlage beruhen, und jeder Staatsbürger ist vor dem Gesetz als gleichwertig anzusehen. Formell stimmt das in der Praxis ohne Weiteres, es wird dabei nur eine Kleinigkeit übersehen: Die Gesetze, vor denen alle gleich sind, werden ausschließlich von der herrschenden politischen Klasse verabschiedet, nicht von der Bevölkerungsmehrheit, wiewohl die Gefühlslage der Bevölkerung von den Herrschenden in Betracht gezogen wird. Kommt die Verdrängung des Politischen hinzu, ist ein Konflikt grundsätzlich unausweichlich.

Ein unumgänglicher Faktor der Politik ist die Macht. Sie ist mit der Politik keinesfalls identisch, ist mit ihr aber sehr eng verbunden. Der Begriff „Macht“ ist offensichtlich schwer zu definieren. Jeder redet von Macht, doch eine allgemein akzeptierte Definition dieses Begriffes gibt es bis heute nicht. Eines ist allerdings unumstritten: Die Macht ist immer auf etwas oder auf jemanden bezogen. Der Begriff „Macht“ ist also ein bedingter. Es muss immer zwischen Macht als Möglichkeit durch Fähigkeit und Macht als Ausführung der erwähnten Möglichkeit unterschieden werden. In Bezug auf Politik ist diese Eigenschaft bedeutend. Mit dem Begriff Macht ist der Begriff Wille eng verknüpft. Ein willenloser Mächtiger in der Politik stellt nur Wortakrobatik dar, niemals die Wirklichkeit. In diesem Sinne bedeutet Macht die Herrschaft, was für die Zwecke dieser Abhandlung erheblich ist. Das Kratische gehört zu den wichtigsten Faktoren der Politik, da ohne Macht sowohl die grandiosesten Ideen als auch die allerbesten Sachkenntnisse immer leeres Potenzial bleiben. Macht ist natürlich kein Ziel der Politik, jedoch oft das eines Politikers. Sie bleibt stets ein unumgänglicher Faktor des politischen Handelns. Macht ist nicht gleich Gewalt, aber die Letztere, ultima ratio der Macht, ist zu gegenwärtig, um geleugnet zu werden. Obwohl die Mehrheit der Angehörigen der zeitgenössischen politisch-intellektuellen Elite – die sich ansonsten im Wolkenreich der Theorien üppig auslebt – von einer geschichtlichen Endsynthese spricht, kann sie mittlerweile niemanden mehr ernsthaft überzeugen, da die Erosionen des liberal-demokratischen Staates unübersehbar sind. Das Verhalten der Masse soll deshalb kratisch beeinflusst und gestaltet werden; es ist aber völlig ungewiss, ob die erwähnte Elite angesichts ihres ausgeprägten Antitraditionalismus fähig sein wird, den Horizont des jetzigen Politischen zu überschreiten und das Kratische auf das Niveau der Disposition zu zähmen.

Auf der anderen Seite interessiert sich der durchschnittliche Bürger in der heutigen Massengesellschaft kaum für die theoretische, wissenschaftliche Definition des Begriffes Macht. Es ist indessen unumstritten, dass die Frage der Macht jeden Menschen unmittelbar berührt, sowohl auf der geistigen als auch auf der physischen Ebene. Das Individuum ist sich mit Sicherheit der Tatsache bewusst, dass ihm bezüglich der Frage der Macht im Rahmen der Politik die Rolle einer Taube zukommt. Es träumt ohne Weiteres von der Transformation in die Rolle des Falken, was das Individuum, wenn es einen Wahlzettel in die Urne einwirft, theoretisch auch ist. Die Reflexion des Einzelnen über die Macht fußt auf einer biologischen Grundlage und ist vor allem emotional; seine Gruppenverhaltensweise ist sicherlich vorhanden, allerdings hauptsächlich fiktiv und ausschließlich formal normativ. Da der Politik in der Spätmoderne der Faktor Moral hinzugefügt worden ist, schmückt sich der moderne Massendemokrat mit der Rolle des Gerechten; der Begriff des Politischen setzt demnach den der Gerechtigkeit voraus. Die erwähnte Gerechtigkeit ist allerdings äußerst einseitig und ausschließlich utilitaristisch. Die Wurzeln dieses menschlichen Verhaltens liegen in seiner biologischen Fähigkeit, die Handlungsfolgen der Macht abzusehen, ohne sie direkt und konkret erfahren zu müssen. Die Breite seiner Verletzlichkeit kann er problemlos abschätzen und versucht, sie zu minimalisieren. Um sich von den Zumutungen innerhalb des zwischenmenschlichen Lebenskreises zu schützen, braucht er eben die Moral, die er aber ohne eine gehörige Sozialisierung der Instinkte nicht haben kann.

Aufgrund der zahlreichen und vielfältigen Mittel, die sie besitzt, um jedem Individuum die Teilnahme am politischen Leben und dadurch an der Gestaltung seiner Gesellschaft zu ermöglichen, stellt die Demokratie ein geeignetes und vielversprechendes Verfahrensmuster dar. Dieser Weg zum Zwecke der Gestaltung der politischen Ordnung in einer Gesellschaft ist schon im Altertum erdacht worden und wurde seitdem in verschiedenen Gestaltungsformen in der westlichen Welt praktiziert. In der Spätmoderne und danach haben die Intellektuellen und Denker auf den Ebenen der Metapolitik und Politik diesem im Prinzip wertneutralen Verfahrensmuster etliche Elemente des Ethischen hinzugefügt. Die zeitgenössische politische Klasse jauchzt wegen der Großartigkeit der unter ihrer Führung entwickelten liberalen Demokratie, allerdings ohne auch nur in Ansätzen darauf hinzuweisen, was man unter dem hochgelobten Begriff Großartigkeit eigentlich verstehen soll. Nach Meinung der erwähnten, durch den Geist der Aufklärung geprägten Intellektuellen und Denker sollte die Demokratie grundsätzlich über die Entelechie der Vernunft funktionieren. Es muss aber an dieser Stelle unbedingt unterstrichen werden, dass in der zeitgenössischen liberal-demokratischen Massengesellschaft der aufklärerischen Gottheit Vernunft der Wert Gleichheit übergeordnet ist. Aufgrund der Tatsache, dass die Demokratie im authentischen Sinne ihrer ursprünglichen Bedeutung ein Verfahrensmuster darstellt, dessen Quintessenz der Wettbewerb der Unterschiede ist, stellt der Lobgesang der politischen Klasse eine Chimäre von Volksmacht dar. Das Verhältnis der Bevölkerung zum Staat und zur politischen Klasse als dessen Träger ist in der Regel ambivalent. Es genügt vollkommen, dem zeitgenössischen Massenmenschen eine Brise von Gleichheit und Demokratie in den ideologischen Brei der politischen Klasse zu geben, um ihn anzuspornen, den realen Verlust der Freiheit hinzunehmen und die entstandene sanfte Intoleranz durch den Kult des Ichs zu kompensieren. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Wirklichkeit begünstigt immer das Aufkommen des Missbrauches. Entweder aufgrund von Unwissenheit oder aus spekulativen Gründen unterstützt die heutige Bevölkerung eine triviale Dekoration der Demokratie und endet in einem Zustand des kontraproduktiven Gehorsams.

Das unterwürfige Verhalten des Menschen im öffentlichen Raum und das relativ friedliche Verhalten der Bürger in der Europäischen Union werden als Ausdruck der Zufriedenheit mit der politischen Situation dargestellt. Wo es nicht möglich ist, die dahinterstehende Unterwürfigkeit zu verschweigen oder zu verbergen, wird sie zur Reaktion übertrieben ängstlicher Menschen erklärt; politisch gelten diese als konservativ. Auf dem politischen und metapolitischen Gebiet wird es allerdings ernst: Diese für die freiheitliche Demokratie unübliche Erscheinung sei eine Ausnahme und stelle ein gewöhnliches Abweichen von der politischen Gesundheit dar. Das ist aber keine Realität, sondern vor allem Demagogie und Propaganda, die in der gegenwärtigen europäischen Gesellschaft dominieren. Der Begriff Freiheit hat seinen festen Platz in der Verfassung und in den verschiedenen Konventionen, Deklarationen und Chartas; in der politischen Wirklichkeit überwiegt dagegen das Verhaltensphänomen freiwillige Unterwerfung. Bevor wir die tatsächliche Gegebenheit des unterwürfigen Verhaltens der Menschen in der gegenwärtigen europäischen Gesellschaft, die sich offiziell als eine pluralistische und freiheitliche Demokratie definiert, aus verschiedenen Perspektiven analysieren, wollen wir zunächst auf die wirkliche Situation in der Europäischen Union blicken.

II.Die Europäische Union

Der Kontinent Europa ist ein Raum mit einer großartigen geistigen und kulturellen Geschichte, allerdings auch eine Region vieler verheerender Kriege, deren Höhepunkt der Zweite Weltkrieg war. Aufgrund dieser Erfahrungen haben die Politiker der sechs europäischen Staaten Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Luxemburg und Niederlande im Jahre 1951 mit dem Prozess der Vereinigung und Integration Europas begonnen und diesen im Jahre 1993 (1. November, Maastricht-Vertrag) mit der Gründung der Europäischen Union formell abgeschlossen. Diese kann als ein föderativer Staat (Geldpolitik, Landwirtschaftspolitik, Umweltpolitik, Handelspolitik), eine Konföderation (Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik) und schließlich als eine internationale Organisation (Außenpolitik) definiert werden.

Die Europäische Union ist ein von oben ins Leben gerufenes Staatengebilde, ein Verbund von derzeit 28 Mitgliedstaaten, der in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) entstand. In den Augen der Pazifisten wird die EU als eine Antwort auf die beiden Weltkriege gesehen. Für sie ist die EU eine Win-Win-Situation für alle Menschen. Die politische Gemeinschaft der europäischen Völker beruht geistig-kulturell ohne Weiteres auf den Wurzeln der europäischen Tradition, sie ist allerdings ein junges, lebendiges und unvollendetes Projekt, das ständig gemästet werden muss. Die Europäische Union stellt eine zur Nivellierung intendierte Gesellschaft dar, sie ist ein politischer Großraum von Massenmenschen und mit einer Massenkultur – kurzum: eine Massengesellschaft –, die zu Konformismus führt und droht, ein Imperium der Entmutigung zu werden. Was die Legitimität der Europäischen Union angeht, so beruht sie offiziell auf den sogenannten europäischen Werten. Sich auf die Werte zu berufen bedeutet jedoch, dass der Grundzweck der Schaffung dieses politischen Konstruktes ethischer Natur ist. Die Beliebigkeit der erwähnten Werte erleichtert zwar der politischen Klasse das Herrschen durch Ideologie, bringt zugleich aber die Fundamente des Gemeinwesens ins Wanken. Dazu soll ad interim festgestellt werden: Die Europäische Union, die offiziell als liberal und demokratisch gilt, stellt eine politische Interessengemeinschaft mit parlamentarischem Regierungssystem und Exekutivföderalismus dar. Das herrschende Verfahrensmuster ist die Demokratie in ihrer repräsentativen Form; seitens der politischen Nomenklatura wird sie fast immer mit dem Adjektiv freiheitlich ausstaffiert, allerdings im Sinne des Absoluten. Genau betrachtet stellt die Europäische Union weder eine Konföderation noch eine Föderation dar, sondern einen Zusammenschluss von europäischen Nationalstaaten, den man ziemlich zutreffend mit dem Neologismus Staatenverbund bezeichnen kann. Angesichts der großen politischen Schwierigkeiten in der jüngsten europäischen Geschichte und der Weltentwicklung im 21. Jahrhundert ist die Idee der europäischen Einigung zweifellos positiv zu bewerten. Infolge der Tatsache, dass die Europäische Union das Staatswesen mit der größten politischen Freiheit in der Geschichte Europas ist, als auch aufgrund der ständigen, jedoch übertriebenen Lobgesänge der zeitgenössischen politischen Nomenklatura Europas auf das Freiheitsparadies EU hätte man davon ausgehen können oder sogar müssen, dass schon per definitionem das Verhaltensphänomen der freiwilligen Unterwerfung in der Europäischen Union ein Fremdwort sei. Die Wirklichkeit spricht allerdings eine andere Sprache.

Die zwei kompetitiven, richtunggebenden Grundpfeiler der Europäischen Union sind das Partizipationsprinzip und das Repräsentationsprinzip. In der Theorie stellen diese zweifellos gute Grundgedanken dar, doch dadurch allein lässt sich das Politische nicht gestalten. Die vage Klarstellung der Begriffe hat zwangsläufig dazu geführt, dass zwischen den idealen Prinzipien und der realen Wirklichkeit eine riesige Lücke klafft. Aufgrund der Tatsache, dass der europäischen staatspolitischen Konstruktion wichtige Elemente der Demokratie fehlen, auf die sich die Europäische Union sonst ständig beruft – wie zum Beispiel die Legitimation durch freie Wahlen oder die Existenz einer klaren Gewaltenteilung –, ist es erlaubt, von einer Tyrannei der Kommissionen zu sprechen, weil in diesen Kommissionen oder Räten alle Entscheidungen in der Europäischen Union fallen, obwohl sie keine demokratische Legitimation besitzen. Die Europäische Union hat weder mit Demos noch Kratia des Volkes zu tun, sie ist klar und deutlich ein Concilium praetorum der politischen Klasse der Nationalstaaten. Durch die Schaffung von immer mehr bürokratischen Barrieren, die kaum jemand kennt und versteht, beanspruchen die erwähnten Praetores die führende Rolle im Prozess des Aufbaus Europas. Die Situation ist so ernst, dass man sie nur auf sarkastische Weise richtig schildern kann: Die heutige Europäische Union könnte niemals in eine demokratische Europäische Union aufgenommen werden!

Das zentrale Organ der politischen Willensbildung in der Europäischen Union ist der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten. Der Europäische Rat stellt allerdings ein wahres Paradoxon im Verfahrensmuster Demokratie dar: Er ist Legislative und Exekutive in einem. Die eigentliche Regierung der EU ist die Europäische Kommission mit ihrem Präsidenten und 28 Kommissaren, die als sogenannte Hüterin der Verträge für den Europäischen Rat die wichtigsten Rahmenbeschlüsse und Ähnliches bereitstellt; ihren Sitz hat sie in Brüssel. Die Europäische Kommission scheint sich – genauso wie die Europäische Zentralbank und der Europäische Gerichtshof – selbst zu genügen und ist unabhängig gegenüber anderen, vor allem aber gegenüber dem europäischen Volk. Die europäische politische Klasse wird von den Euro-Bürokraten kräftig unterstützt. Das ist jedoch kein Wunder, weil die erwähnte Unterstützung auf den kaum nachvollziehbaren finanziellen und sonstigen Privilegien dieser Beamten fußt. Diese Situation ist für die breite Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar. Die Manager von Großunternehmen und die Lobbyisten von Wirtschaftsverbänden üben einen großen Einfluss auf die Politik der Europäischen Union aus. Das vertieft die Demokratur des Brüsseler Molochs und endet mit der totalen Entmachtung der Bürger.

Die Nomenklatura der Europäischen Union fußt auf der Macht des berüchtigten Trigons, bestehend aus der politischen Klasse, der Brüsseler Bürokratie und der neoliberalen Wirtschaft. Ausgesprochen verhängnisvoll zeigt sich die Verzahnung zwischen neoliberaler Wirtschaft und Brüsseler Moloch, sodass man oft nicht weiß, wer der eigentliche Entscheidungsträger ist. Als besonders folgenschwer hat sich der große Einfluss von Großunternehmen und Wirtschaftsverbänden auf die Politik der Europäischen Union erwiesen, der sich vor allem im Finanzsektor abspielt und sich in der immensen Staatsverschuldung widerspiegelt. Die Gesamtverschuldung der Euro-Länder wächst schnell und nähert sich der Grenze von 100 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Die Rettungspakete sind nicht die einzige Ursache für die Misere, allerdings die wichtigste. Diese Pakete, welche die Finanzoligarchie bei der Brüsseler politischen Klasse durchgesetzt – besser gesagt: erzwungen – hat, stellen den wesentlichen Teil des sogenannten Euro-Rettungsschirms dar. Zu diesen Maßnahmen gehören das OMT-Programm, der EFSM (Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus), die EFSF (Europäische Finanzstabilisierungsfazilität), der ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus), der SKS-Vertrag sowie Kreditvergaben des Internationalen Währungsfonds. Die große Einflussnahme der Finanzoligarchie auf die Brüsseler politische Klasse leitete über zu einer progressiven Deregulierung der Finanzmärkte, erweiterte das Feld für Geldspekulationen und resultierte in einer verheerenden Entwertung der produktiven Arbeit. Diese demokratieferne und antifreiheitliche Übermacht vertieft die Diktatur der EU-Bürokratie und endet nicht nur mit der totalen Entmachtung der Bürger, sondern auch mit der unheilvollen Schwächung der europäischen Nationalstaaten. Diese Machtlosigkeit spiegelt sich exemplarisch in der mangelnden Kontrolle der EU-Organe wider. Die entstandene Leere führt schlussendlich dazu, dass in der EU überwiegend Regelungen eingeführt werden, die der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit brachial widersprechen. Die Bevölkerung ist sich der Früchte dieser kriminellen Zusammenhänge bewusst und sehnt sich nach einem rettenden Protektionismus, übersieht dabei allerdings die Krallen der politischen Klasse.

Nach den ersten Jahren der Begeisterung über die europäische Vereinigung ist die Wirklichkeit der europäischen Gesellschaft am Ende der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts gewiss wenig strahlend; sie ist von einem sinnlosen Konsumismus begleitet, durch Materialismus und Hedonismus geprägt sowie vom Multikulturalismus korrodiert und bei genauer Betrachtung sogar gefährdet. Die einst weltweit führende wirtschaftliche, soziale und geistig-kulturelle Region stellt heute einen verblassten Mythos dar. Für diese Krise ist vor allem die politische Klasse verantwortlich, die sich vom eigenen Volk entfernt hat. Es wird zwar immer wieder gegen diese Situation protestiert, aber der Widerstand in einer hedonistisch-individualistischen und formell liberalen Gesellschaft wirkt wie ein schlecht besuchter Zirkus, der keinen bewegenden Enthusiasmus hervorrufen kann.

Die zeitgenössische europäische Gesellschaft

1) Allgemeines

Alle traditionellen Gesellschaften sehen in der Gattung Mensch ein gesellschaftliches Wesen, nicht aber die westliche Welt der Moderne. Die zeitgenössische westliche Massengesellschaft ist eine stark vom Individualismus geprägte Gemeinschaft, in gewissem Maße ein unter schlaue Kontrolle der Obrigkeit gestelltes Sammelsurium von Einzelnen, das nur wenige Menschen richtig durchschauen. Die Grundidee des Individualismus ist ein Wertesystem, in dem das Individuum den Mittelpunkt darstellt und in dem die Freiheit im Sinne einer Befreiung von allen Zwängen der Grundgedanke ist; der Gegensatz zu ihm ist der Kollektivismus. Der Einzelne hat im Individualismus einen Vorrang vor der Gemeinschaft beziehungsweise vor der Gesellschaft, deren Aufgabe lediglich ist, die Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen das Individuum seine Ziele verwirklichen kann. Die Legitimität der modernen Massengesellschaft gründet auf der uneingeschränkten Priorität des abstrakten, von seinen Zugehörigkeiten abgeschnittenen Individuums. Dieses stellt lediglich ein imaginäres Objekt des Begehrens dar, mit dem einzigen, spekulativen Zweck, die Ideologie der politischen Klasse populistisch zu untermauern. Die Wurzeln dieser spezifisch abendländischen Einstellung liegen in der christlichen Gleichwertigkeit vor Gott; die Zivilreligion des anthropozentrischen Atheismus hat diese nur weiterentwickelt und politisch korrekt gestaltet. Für die Modernisten stellt die Gesellschaft im Urzustand eine Tabula rasa dar, die durch die Göttin Ratio erst geformt werden muss. Für die Moderne zählt nicht das Vergangene, sondern die Zukunft, die zwar schwierig klar vorauszusehen ist, die aber theoretisch exakt vorherbestimmt werden kann. Beim heutigen Individualismus der westlichen Gesellschaft handelt es sich um eine irreale Eigensinnigkeit, um einen sachlich auf das Ich und zeitlich auf die begrenzte sterblich-irdische Dimension bezogenen Individualismus, in dem es keine Spuren eines höheren Seins mehr gibt, sondern nur das profane, hedonistische Haben-Wollen.

Unabhängig davon, dass das Individuum im Mittelpunkt der Ideologie steht und dass ständig über seine Freiheit, Würde und Menschenrechte geredet wird, berufen sich alle in ihrem Denken und Handeln auf das Gemeinwohl, wobei allerdings betont werden muss, dass jeder beim Begriff Gemeinwohl zuerst an sein Eigenwohl denkt. In einer zersplitterten Gesellschaft ist der Individualist ein Wesen der Ichbezogenheit, dessen Verbundenheit mit dem Übernatürlichen endgültig und total gebrochen ist. Der zivilreligiöse Humanismus, die eigentliche Kultur der Moderne, spiegelt nicht nur den beschleunigten Verfall der seelenlosen und hedonistischen Welt wider, sondern stellt den Menschen in den Mittelpunkt alles Seienden; außer dem Menschen gibt es nichts, was Subjekt sein sollte oder dürfte. Die Kultur wird alles, die Natur nichts. Das Wollen beziehungsweise das Haben tritt an die Stelle des Seins. Die Realität wird das Materielle, das Seiende wird das hypothetisch Werdende und das Geistige wird dessen Befriedigung. Im ethischen Sinne wird der moderne Massenmensch die moralischen Regeln der Makro- und Mikrowelt ausgleichen, womit er beide vernichtet. Aus dem Interesse des Individuums ist ein Grundrecht geworden, wodurch einerseits die Umverteilung chaotisch und pervertiert wurde und anderseits die Macht der politischen Klasse stieg.

Durch die gezielte demagogische Umverteilungspolitik versucht die politische Klasse, innerhalb der Masse von fordernden Genussmenschen – soweit es geht – erfolgreich zu schlichten, ohne dabei in den Ruch zu geraten, geizig oder sozial ungerecht zu sein. Da es in jeder Gesellschaft eo ipso vielfältige Interessen(-gruppen) und verschiedene Ziele gibt, wird auch der Individualismus unterschiedlich interpretiert. So meinen die klassischen Liberalen, dass dem freien Individuum das Primat des Privateigentums garantiert werden müsse, wie auch die volle Freiheit, allerdings nicht primär im Staate, sondern vom Staate. Für Christen und Konservative ist das Individuum ein Ebenbild Gottes, ein Wesen von unantastbarer Würde, welches sich erst in der Gemeinschaft voll entfalten kann. Die neomarxistischen Protagonisten der Ideologie des irdischen Paradieses bevorzugen indes einen steuerbaren Individualismus; der Einzelne ist für sie das Glied einer starken Kette, ein Proletarier, welcher im kommunistischen Skelett die Wirbelsäule darstellt. In dem geistigen Dunstkreis der Auflösung der Wertewelt des Christentums wird die Tiefe des natürlichen menschlichen Seins vergessen. Im Fokus der Aufmerksamkeit steht eine Maskerade. Wegen seiner Aktualität besonders wichtig ist der durch die geistige Insurrektion der 68er-Bewegung entstandene Individualismus, der vor allem durch das Streben nach Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung des Einzelnen gekennzeichnet ist. Dieser Individualismus ist äußerst narzisstisch und lehnt jegliche Autoritäten und hierarchischen Strukturen ab. Er ist die beherrschende Weltanschauung der heutigen europäischen Gesellschaft und stellt das Lebensideal der Menschen des linken und alternativen politischen Spektrums dar.

Die politische Klasse redet gern von Werten oder vom Gemeinwohl, sie steht diesem gesellschaftlichen geistigen Kleinod aber neutral gegenüber; im zeitgenössischen Lügenvokabular bedeutet Neutralität eigentlich Gleichgültigkeit. Neutral ist allerdings auch die Bevölkerung. Sowohl der Einzelne als auch die politische Klasse meinen, dass Individualismus gleichbedeutend mit Autonomie sei, mit der Schlussfolgerung, beides sollte unantastbar bleiben. Es wird allseitig versucht, den Individualismus zu retten, wenn auch damit verschiedene Ziele verfolgt werden. Freiheit stellt heute einen der höchsten Werte dar und gilt theoretisch als total. Da mit der erwähnten Totalität keine geordnete Gesellschaft zu kreieren ist, wird die Freiheit sofort eingeschränkt, indem man – wieder theoretisch – festlegt, dass sie dort aufhört, wo sie die Freiheit des anderen beeinträchtigt, was auch immer unter diesem schwammigen politischen Gewäsch verstanden werden mag. In Wirklichkeit aber ist das das Ende der Autonomie, das unaufhaltsame Schicksal jedes Individualismus.

Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass der Individualismus in der zeitgenössischen Massengesellschaft mit den erwähnten klassischen Individualismen wenig gemeinsam hat. Die heutige Gesellschaft ähnelt eher einem zerstreuten Sammelsurium mündiger Roboter. Die zeitgenössische (über-)individualisierte Gesellschaft ist eine zerstückelte Ganzheit, die durch die Vervielfachung von Einzelnen formlos und summarisch geworden ist. Das zeitgenössische Individuum ist eine entpersonifizierte Person und stellt die ideale Substanz für die Schaffung einer Gesellschaft der totalen Gleichheit dar, die man aber nicht mit dem Begriff Gleichberechtigung verwechseln sollte. Die von der traditionellen Erhabenheit entzauberte Gesellschaft der herrschenden Gleichheit zermalmt alles Überkommene. Das befreite Individuum wird allmählich von der Transzendenz abgetrennt, ohne dass es sich in der Verzückung seiner ideologisierten Lyrik von Freiheit dessen überhaupt bewusst wäre. Das Sammelsurium solcher frei schwebender Wesen der Seelenlosigkeit ist natürlich leicht steuerbar und noch leichter kontrollierbar. In dem modernen gesellschaftlichen und politischen Theater stellt das Individuum eine unendlich reproduzierbare Negativmaske dar, ein Massenprodukt in einer demokratischen Massengesellschaft der Wertebedeutungslosigkeit. In der heutigen Welt des absoluten Relativismus und der herrschenden wissenschaftlich-technischen Denkweise wird die altehrwürdige Persona zerstört und das neu geschaffene Individuum auf die Ebene des jederzeit Austauschbaren herabgesetzt. Es wird trotzdem nicht zum Roboter, sondern versucht sich anzupassen, indem es in einer neuen, von den beständigen Werten entheiligten Barbarei das Gewand des mündigen Rohlings anzieht. Ohne diese Entwicklung vor Augen zu haben, ist das Verhalten des Massenmenschen nicht zu verstehen.

Die moderne westliche Gesellschaft, deren Hauptcharakteristika repräsentative Demokratie, allgemeiner Pluralismus und die wissenschaftlich-technische Denkweise sind, ist unter anderem auch dadurch gekennzeichnet, dass sie im Vergleich mit der übrigen Welt einen viel höheren Lebensstandard aufweist. Mit dem Begriff „Lebensstandard“ ist hier die Messung der Qualität des Lebens gemeint, wobei zu betonen ist, dass es sich dabei um eine Messung handelt, die auf der Gesamtheit der mit dem verfügbaren Einkommen zu erwerbenden Sachgüter und Dienstleistungen beruht. Die Beurteilung des Lebensstandards auf diese Art und Weise ist zwar die gebräuchlichste Methode, stellt jedoch eine viel zu einfache Schätzung dieser außerordentlich komplexen Größe dar, weil dadurch sowohl die wichtigen Elemente des subjektiven Empfindens der Bevölkerung als auch die immateriellen Komponenten der Politik ausgeklammert werden. Das Rechnen und Vergleichen unvergleichbarer Parameter zur Bestimmung der Qualität des Lebensstandards entspricht zwar dem in der Gesellschaft dominierenden wissenschaftlich-technischen Geist und ist für die Menschen in der gegenwärtigen Massengesellschaft wohl nicht unbedeutend, kann jedoch nicht ausschlaggebend sein. Es muss nämlich festgestellt werden, dass – unabhängig vom real messbaren Niveau des Lebensstandards – weder alle Menschen in der Gesellschaft gleich zufrieden oder unzufrieden sind, noch alle die Qualität ihres Lebens nur nach dem Stand des Materiellen beurteilen wollen. Wenn ein Individuum seine Meinung über die soziale, kulturelle oder politische Situation in der Gesellschaft öffentlich vorträgt, kann die herrschende Macht diesbezüglich zufrieden oder unzufrieden sein: Seinen Anspruch auf dieses Empfinden selbst kann ihm weder sie noch eine weiß Gott wie geschickte Gedankenpolizei wegnehmen, weil dieses Empfinden ein ihm zustehendes Naturrecht ist, eine Eigenschaft der natürlichen Ordnung, die durch nichts eliminierbar ist. Das einzige, was die herrschende politische Macht erreichen kann, ist es, durch radikale Maßnahmen Furcht zu erzeugen, wodurch die öffentliche Lautstärke des Meinungsausdrucks vorübergehend abnimmt.

Das Empfinden des Individuums ist subjektiv und muss nicht unbedingt mit der gesellschaftlichen Realität übereinstimmen. Auch die moderne Gesellschaft der hohen Zivilisation, also eine Gemeinschaft der bewussten und vor allem der freiwilligen Kooperation, stellt keine Körperschaft der Menschen dar, die alle frei vom Druck des Eigennutzes wären. Dazu ist noch zu sagen, dass es keinen natürlichen, vorurteilsfreien Maßstab gibt, mit dem das Maß des moralisch gesunden Eigennutzes gemessen werden könnte. Was die herrschende politische Macht oder eine noch größere und mächtigere Gruppe in der Gesellschaft als sozial gerechtes oder politisch ausgewogenes Maß präsentiert, ist nichts anderes als eine politische Zwangsvorgabe, deren mangelnde Sachlichkeit durch das selbstgefällige Gerede von einer angeblich sozialethischen Politik der Machthaber übertüncht wird. Will man hinsichtlich der Beurteilung des Lebensstandards und der politischen Situation insgesamt das Empfinden des Individuums in der heutigen Massengesellschaft abschätzen, muss zunächst geklärt werden, was man unter dem Begriff Ausgewogenheit bzw. Gerechtigkeit versteht. Dass Reichtum bzw. Armut immer eine Ursache hat, interessiert den Massenmenschen sehr wenig. Er fühlt sich seinen Vorfahren überlegen, ignoriert die Chance auf geistige Befreiung und zollt den materiellen Errungenschaften hohes Lob. Bei der Umverteilung der Güter möchte er unbedingt aktiv mitmachen, das heißt: die Größe seines Gutes selbst bestimmen. Er betrachtet das als ihm moralisch zustehende und unveräußerliche Gerechtigkeit.

Die aufgezeigte Entwicklung wird vor allem durch die Missachtung der Gesetzmäßigkeiten des Politischen ermöglicht. Die herrschende politische Klasse ist von dieser Situation keinesfalls begeistert, macht aber dennoch mit. Der Grund für diese Einstellung ist einerseits der nicht zu umgehende Wahlstimmenfang und anderseits ihre relative Abhängigkeit von Großwirtschaft und Finanzwelt, welche den größten nicht einer Regierung angehörigen Machtfaktor der heutigen Welt darstellen.

In der modernen westlichen Demokratie, die immer mehr ein apolitisches Sammelsurium verschiedener Pressure-Group-Mikrodemokratien darstellt, wird auf das Nachdenken über die Zusammenhänge des natürlichen Wesens der Umverteilung der Güter verzichtet. Man bewegt sich gern auf den Feldern der Ideologie und Demagogie: den Reichen nehmen, um den Armen zu geben. Dass das aus ökonomischer Sicht Unfug ist und ethisch eine Heuchelei darstellt, kümmert offensichtlich nur sehr wenige Menschen. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass sie alle von dieser Art der Demokratie fasziniert sind, weil sie nur in einem solchen gesellschaftspolitischen System eine reale Chance haben, auch noch ihre verrücktesten Wünsche zu verwirklichen. Das ist zugleich der Beginn und das Ende der ansonsten wünschenswerten Kooperation. Unabhängig von der Tatsache, dass die wirtschaftliche Situation ein sehr wichtiger Faktor im Leben eines Menschen beziehungsweise der Gesellschaft ist, kann sie nicht der einzige Maßstab der Gesamtlage sein. Ohne die Rolle der Wirtschaft zu unterschätzen, muss festgestellt werden, dass ein so beurteilter Lebensstandard relativ und ständigen qualitativen und quantitativen Änderungen unterworfen ist. Unter normalen Umständen sollte diese Argumentationsschwäche kein größeres Problem verursachen. Dieses entsteht aber durch den mangelnden Sinn der Bevölkerung für eine realistische Einschätzung des Zustandes der zeitgenössischen Gesellschaft und der Fähigkeit der Politik, sich zwischen Gewünschtem und Möglichem zu behaupten. Eine qualitative und quantitative Veränderbarkeit der sogenannten sozialen Rechte im Sinne einer Anpassung an die Wirklichkeit, vor allem im Falle der erzwungenen Sparsamkeit, lehnen die verwöhnten Menschen in der modernen permissiven Massengesellschaft kategorisch ab. Ein einmal gewonnenes Recht bleibt ein ewiges Recht. Obwohl keine Ökonomie ein solches unvernünftiges Verhalten auf Dauer verkraften kann, macht die politische Klasse dieses Trauerspiel mit.

Nach den großen Verwüstungen im Zweiten Weltkrieg kam es im Westen zu einer gewaltigen Kumulation der Güter. Dieser Umstand führte zu einer Entwicklung, die durch den großen Optimismus der kriegsmüden Bevölkerung gekennzeichnet war. Dieser hoffnungsfrohen Aufbauphase folgten weniger optimistische Zeiten. Es stieg die Arbeitslosigkeit, begleitet von einem rasanten Anstieg der Staatsverschuldung; Finanzkrisen waren keine Seltenheit. Trotzdem waren die europäischen Länder politisch stabil, und hinsichtlich der wachsenden Diskrepanz zwischen Wunsch und Realität hielt sich das Wehklagen der Bevölkerung durchaus im Rahmen des Erträglichen.

Es soll an dieser Stelle auf eine bemerkenswerte Zwiespältigkeit aufmerksam gemacht werden: Es besteht nämlich ein Unterschied zwischen den alltäglichen Äußerungen der Bevölkerungsmehrheit und privaten Gesprächen, in welchen eine breite Unzufriedenheit geäußert wird, sowie ihrer Abstimmung bei den Wahlen, bei denen sich die Wähler auch dann mit überwältigender Mehrheit für zeitgenössische Parteien entscheiden, wenn diese für eine restriktive Politik stehen, die deutlich gegen die im vorpolitischen Raum angedeuteten oder geäußerten Wünsche und Forderungen der Bevölkerung gerichtet ist. In ihrer negativen Beurteilung dieser friedlichen Situation, die gelegentlich als Stallfrieden bezeichnet wird, berufen sich Kritiker auf den Umstand, dass seit längerer Zeit im Durchschnitt fast die Hälfte der wahlberechtigten Bürger den Wahlurnen fernbleibt. Das ist zweifelsohne wahr, es ist jedoch fraglich, ob dieses Desinteresse in sich den Keim einer möglichen Aktivität trägt; diese Sichtweise lässt sich nämlich durch keine stichhaltigen Beweise untermauern.

An dieser Stelle sollten wir auch einen Blick auf jene Menschen in der gegenwärtigen westlichen Massengesellschaft tun, die sowohl mit dem gesprochenen als auch mit dem geschriebenen Wort umzugehen wissen und dadurch gut und üppig parasitär leben können: die Intellektuellen. Damit ist hier aber nicht die kleine Zahl von geistig wachen und nicht korrumpierbaren gescheiten Menschen gemeint, sondern die große Masse gebildeter Wesen, deren Leistung keine auf der Grundlage der natürlichen Ordnung fußende Gesellschaft jemals brauchen würde: die offiziellen Intellektuellen (Hans Herbert von Arnim). Fruchtbringend sind sie nur der politischen Klasse und sich selbst. In einer verborgenen Symbiose mit der politischen Klasse gründen diese Eskamoteure der Überzeugungsarbeit unzählige honette Organisationen, die als Beweise für das Funktionieren der Demokratie für unverzichtbar erklärt werden, und beuten damit dann die geistige Trägheit des apolitischen Massenmenschen aus. In diesem großen Betrug sind die unzähligen X-ologen zwar eng mit der politischen Klasse verbunden, weltanschaulich aber nicht unbedingt mit dieser deckungsgleich, was jedoch irrelevant ist, da sich diese Großmeister des Nepps sowieso jeder politischen Klasse und jedemSolidarität der Demokratenschweigenden Mehrheitgeistige Elite