Michael Weiß

Liebe, Tod
und Pflege

Liebe Tod und Pflege

Inhalt

Vorwort

Genügsamkeit

Der Alkohol

Das Objekt Mensch als Produkt

Ein leises Piepsen

Darauf sollten sie achten

Ich bin viele

Ein letzter Blick

Der Pflegeklient und die Politik

Der Tod

Die Zungenspitze

Pflegebeziehungen

Mein Herz

Die Pflegekraft und die Politik

Todesfasten

Die Pflegekraft und die Gesellschaft

Herr COVID

Nachwort:

Vorwort

Ich schreibe dieses Buch aus zwei motivatorischen Antriebssträngen heraus. Zum einen ist es mir ein tiefes, inneres Bedürfnis, ein öffentliches, gesamtgesellschaftliches Verständnis als auch eine Sensibilisierung, diesen in meinen Augen viel zu häufig tabuisierten und oder oftmals verdrängten Themen gegenüber mit zu generieren und oder bei der Entstehung dieser fördernd mitzuwirken.

Zum anderen möchte ich es allen Pflegekräften widmen, welche Tag täglich, viel zu häufig unter viel zu schlechten Bedingungen, gepaart mit viel zu wenig Zeit, versuchen die bestmögliche fachpflegerische als auch psychoemotionale Zuwendung ihren zahllosen Pflegeklienten gegenüber zu generieren. Verliert nicht euren Mut.

Trotz der Tatsache, dass unser gesellschaftliches und dadurch auch automatisch unser soziokulturelles System in dem wir leben, also die Realität welche wir uns selber erschaffen, sich in meinen Augen überwiegend an falschen, sehr häufig egoistischen, etisch und moralisch mehr als fragwürdigen Normen und Werten orientiert, ist doch ein jeder und jede Einzelne/r von uns in ihrem/seinem täglichen Schaffen ein Teil dieses sozialen Gefüges und hat daher stetig die Wahl, wie er oder sie sich in besagtem Gefüge bewegt, verhält oder interagiert.

Wir alle schaffen uns unseren eigenen Himmel und auch die eigene Hölle also täglich selber, der Umgang mit unseren Alten, Kranken, Schwachen und Sterbenden, spielt dabei in meinen Augen eine sehr zentrale Rolle und ist in meinen Augen auch ein essentieller und sehr prägnanter Indikator für die soziale und emotionale Qualität einer Gruppe oder einer Gesellschaft. Es liegt also täglich ausschließlich an uns selbst, in jeder Sekunde, und jeder Minute und in jeder Stunde.

Genügsamkeit

Frau Drechsler ist eine überaus liebenswürdige alte Dame. Sie hat schon das stolze Alter von sechsundneunzig Jahren erreicht, doch wenn sie einem sagen würde sie sei erst achtzig, dann würde man es ihr auch ohne weiteres glauben. Sie wohnt bereits seit fünf Jahren bei uns und benötigt bislang keinerlei Hilfsmittel, außer einer Brille, einem Hörgerät rechts und einem Gehstock mit orthopädischem Griff, welchen sie eigentlich nur pro forma in der rechten Hand hält, während sie regelrecht, von A nach B über die Flure saust. Sie lebt noch vollkommen eigenständig bei uns und benötigt weder Hilfe beim an- oder auskleiden, noch bei der Körperpflege. Sogar den Rücken wäscht sie sich noch vollkommen eigenständig. Dies zeigte sie den Pflegekräften immer wieder gerne, wie sie mithilfe eines Handtuches, welches sie als großen Waschlappen umfunktioniert, welches sie sich über den Rücken wirft um sich damit sehr beherzt, besagten Rücken zu schrubben. Sie wüsste, dass man dies eigentlich nicht mache, aber man könne das Stück Baumwollstoff ja über Nacht in der Dusche trocknen lassen, äußert sie immer verschmitzt lächelnd. Ich sage ihr dann immer, dass wenn ich diesen ominösen Mann, der ihr sagen wolle, wie und wofür man Handtücher benutzt und sich daran störe, einmal persönlich treffen sollte, ich um ein wenig mehr Verständnis in ihrem Namen werben werde. Das bringt sie auch regelmäßig zum Lachen. Sie zeigt generell ein sehr großes Maß an Kreativität als auch Improvisationsvermögen, um sich von den körperlichen Einschränkungen des Alters nicht unterkriegen zu lassen und sämtliche Verrichtungen des Alltages selbstständig durch zu führen. Die einzige Hilfestellung, welche sie seit neuestem bereit war von uns anzunehmen, bestand darin, dass das Pflegepersonal ihr morgens die Beine wickeln durfte, da sie durch eine allmählich fortschreitende Venen- und sicherlich auch ein wenig Herzinsuffizienz, zu Ödem Bildung in den Beinen und den Füßen neigt. Abends wickelt sie sich die Kompressionsbinden eigenständig wieder ab und rollte diese sehr lange auch eigenständig wieder auf. Doch da ihre Arthrose in den Fingern, nun, da sie beinahe ein ganzes Jahrhundert auf dieser Erde weilt, langsam aber sicher immer schlimmer wird, nehmen wir ihr auch diese Mühe, gerne zusätzlich ab. Ich bewundere immer wie genügsam und Anspruchslos sie ist. Immerhin hätte sie auch noch sehr lange eigenständig daheim zurechtkommen können. Doch spätestens jetzt ist es natürlich ohne Frage besser, dass sie sich in einer geschützten und fachpflegerisch betreuten Umgebung befindet und dadurch auf eventuelle Unterstützung zurückgreifen kann. Sie war ihr Leben lang eigenständig und auch wenn es ihre eigene Entscheidung war, musste sie sich irgendwann mit der Tatsache auseinandersetzen, das sie dadurch ihren Hausrat, also alles das, was sie sagen wir mal in den letzten 85 Jahren mehr oder weniger bewusst angesammelt und zumindest die letzten fünfzig Jahre, in einer einhundertdreißig Quadratmeter großen Wohnung bis zu ihrem einundneunzigsten Lebensjahr angehäuft und zusammengetragen hatte, insoweit reduzieren, also verschenken oder entsorgen musste, das es in einem circa zwanzig Quadratmeter großen Zimmer unterzubringen und aufzubewahren war. Sie können mir glauben, diese besondere Situation bei und vor dem Heimeinzug ist in meinen Augen eine, für den Menschen, insofern er dies natürlich noch bewusst verarbeiten kann, sehr herausfordernde und sicherlich nicht einfache. Also wenn sie von mir jetzt verlangen würden und für viele kommt der Heimeinzug sehr überraschend nach Unfall, Sturz, Herzinfarkt oder Schlaganfall…., entscheiden zu müssen was ich in eine zwanzig Quadratmeter Wohnung mitnehme würde und der Rest wird an meine Familie verschenkt und oder kommt weg, da würde ich schon ziemlich doof aus der Wäsche gucken, glauben sie mir das. Alleine die Bücher und die Blue-rays und die Bilder. Wo kommt der Fünfunsechzigzoller hin? Doch für sie war das zum Glück kein Problem erzählt sie auch immer gerne, Sie konnte sich ja darauf vorbereiten, betont sie immer und ja, das ist sicherlich eine gute Sache, aber sie sagt auch, fünfundneunzig Prozent von dem was sie besaß hat sie zurückgelassen. Doch dann fügt sie immer noch hinzu, dass sie durch den Krieg schon einmal alles verloren hatte und dadurch auch wisse was wirklich von Bedeutung sei.

Sie wurde neunzehn hundert sechzehn in Berlin geboren, zu einer Zeit, in der der erste Weltkrieg in vollem Gange war und ihr Vater, ein Jahr nach ihrer Geburt in eben jenem Krieg, an der Französischen Front fallen sollte. Dieser Umstand zwang ihre Mutter dazu, sie und ihre drei Brüder, von denen die beiden ältesten ebenfalls einem späteren Weltkrieg zum Opfer fallen sollten, alleine groß zu ziehen. Als Hitler Polen überrannte war sie bereits dreiundzwanzig, seit vier Jahren verheiratet und bereits Mutter von zwei Söhnen. Als in der Nacht vom neunundzwanzigsten, auf den dreißigsten August neunzehnhundertzweiundvierzig der schwerste Luftangriff der Sowjetunion über Berlin hereinbrach, hatte sie drei Wochen zuvor ihre erste Tochter zur Welt gebracht. In dieser Nacht, in der die sowjetische Luftwaffe unzählige Tonnen Sprengstoff auf die Hauptstadt warf, saß sie mit ihren sechs und drei Jährigen Söhnen und ihrer neu geborenen Tochter in einem Keller in Kreuzberg und war sich sicher, dass sie nun alle in dieser Nacht sterben würden. Der Keller war vollkommen überfüllt, es war dunkel, man sah die Hand vor Augen kaum. Der Lärm muss ohrenbetäubend gewesen sein. Jeder Zentimeter in diesem Keller wackelte und bebte. Sie erzählt diese Geschichten sehr oft und ich bekomme jedes Mal eine Gänsehaut, wenn sie von dem näherkommenden Pfeifen, den stetigen Erschütterungen, dem unbeschreiblichen Lärm, dem Donner und der dauernden Ungewissheit ob die Decke beim nächsten Mal über einem einstürzen und sie alle unter sich lebendig begraben würde, berichtet. Das einzige, dass sie außer ihrem Leben und ihrer blanken Angst in dieser Nacht besaßen, waren die Kleider die sie am Leibe trugen und ein Eimer Wasser um die Windeln des Kleinkindes auszuwaschen. Nach dieser Nacht besaßen sie nichts mehr. Es ging ums nackte Überleben. Ihr Mann war zu dieser Zeit seit etwa sechs Monaten an vorderster Front und kehrte erst vierzehn Jahre später, als einer der letzte von insgesamt etwa 890.000 deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion zurück. Größtenteils zu Fuß legte er diese unendlich langen Distanz zurück.

Nachdem der Krieg vorüber war hieß es improvisieren. Aus den Trümmern und aus dem Schutt, also aus dem was die Bomben, das Feuer und die freie Witterung übriggelassen hatten und was „Der Russe“ wie sie es nannte nicht geplündert hatte, mussten sich die Überlebenden eine neue Existenz aufbauen. Sie erzählt diese Geschichten immer, während sie in ihrem alten beigen Ohrensessel sitzt und eine selbstgestrickte Wolldecke aus bunten Karos auf ihren Beinen ruht. Besonders berührt mich immer eine Szene, in der Sie schildert wie Sie mit ihren Kindern in den Wald geflohen war, aus Angst vor Vergewaltigung und Peinigung und Sie seit Tagen nicht genügend zu trinken hatten, ihr Durst wurde immer stärker, die Angst entdeckt zu werden allerdings auch. Da habe der liebe Gott es leicht schneien lassen und Sie habe die dünne Schneeschicht mit einem Kaffeelöffel von den Blättern und den Ästen aufgesammelt um es in einem kleinen Topf zu schmelzen, dies habe Stunden in Anspruch genommen.

Ich bin jetzt 36 und habe mir gerade mein viertes Sofa gekauft, meinen sechsten Fernseher und überlege jeden Monat aufs Neue, was ich mir denn als nächstes in die Wohnung stellen könnte. Ich habe noch niemals wirklich richtigen Durst oder Hunger verspürt, zumindest nicht aus tatsächlichem Mangel oder gar annähernd in einer ausgeprägten Intensität.

Fr. Drechsler sitzt einfach nur da. Sitzt in dem Sessel den Sie schon seit Jahrzehnten besitz. Sitzt da und schaut aus dem Fenster. Es läuft kein Radio, kein Fernseher und Sie scheint in sich zufrieden zu sein. Sie jammert nicht. Sie jammert nie. Sie sagt Sie sei einfach nur zufrieden. Zufrieden mit sich. Zufrieden mit ihrem Leben, der erlebten Vergangenheit und der jetzigen Gegenwart. Und Sie sei unheimlich stolz, dass Sie all ihre Kinder lebendig durch diese Zeit gebracht hatte und das aus allen etwas Anständiges geworden sei. Das kann Sie in meinen Augen auch sein, eigentlich noch viel viel mehr als das. Eigentlich ist Sie eine Heldin und ich habe das Glück sie zu treffen und sie unterstützen zu dürfen. Ich habe schon sehr viele Helden und Heldinnen getroffen.

In unserer Einrichtung, welche nach dem offenen Hausgemeinschaftskonzept aufgebaut ist, leben drei und dreißig Senioren in drei Gruppen und jeder von ihnen, hat seine ganz eigene, individuelle und persönliche Geschichte zu erzählen. Ich höre jedem einzelnen von ihnen, sobald es meine Zeit erlaubt, immer wieder gerne zu. Man kann sich heute, sehr vieles von dem was in der Vergangenheit geschehen ist nicht mehr, oder nur sehr schwer vorstellen. Auch wenn diese Geschichten, selbst auf mich, heute sehr unwirklich und surreal wirken, kann man aus ihnen auch heute noch sehr viel lernen, vorausgesetzt es besteht die Bereitschaft sich darauf einzulassen.

Der Alkohol

Der Alkohol in seinem Blut hat wohl hauptsächlich dazu beigetragen, denn ich kann mir beim besten Willen überhaupt nicht vorstellen, dass sich jemand, auch wenn er momentan die aller aller tiefste depressive Krise durchleben sollte, die man sich überhaupt nur vorstellen kann, ohne massiven Einfluss dieser oder eventuell einer anderen, sich im falschen Moment sehr teuflisch auf die rationale und humane Entscheidungskraft eines Menschen auswirkende Substanz, sonst für genau diese sehr spezielle Art und Weise der Durchführung dieser sowieso überaus heiklen und alles in Frage stellenden Handlung entschieden hätte. Besagter Schritt war äußerst radikal, mehr als nur ungewiss persönlichkeitsverändernd. In seinen metaphysischen und transzendenten Konsequenzen absolut unklar und unübersichtlich. In der Vielschichtigkeit der möglichen Auswirkungen überhaupt nicht absehbar und das soziokulturelle Umfeld in einer Art und Weise beeinflussend, wie es kaum eine andere Handlung hätte auch nur ansatzweise hätte sein können.

Und da lag er nun, dieses wirklich arme kleine Häufchen Elend und konnte nichts, aber auch wirklich überhaupt nicht das Geringste an der nun vorherrschenden Situation ändern. Nicht nur, dass er das eigentliche Kernziel seines Vorhabens gänzlich verfehlt hatte und damit im besten Fall nur der ewigen Dunkelheit und der eventuell damit verbundenen Gleichgültigkeit entkommen war. Nein, nun musste er sich im tiefsten Inneren seiner Seele auf kognitiver, rationaler, psychischer, emotionaler, sozialer und metakognitiver Ebene mit den nun sehr drastischen und unumkehrbaren Konsequenzen seiner Entscheidung auseinandersetzen. Dies war nun sein Schicksal. Sich das Schicksal selbst geschaffen, welches er von nun aushalten und ertragen, einfach nur ertragen, musste. In uns allen, das sah man dem ganzen Team eindeutig an, auch an den Ältesten und wenn man das so sagen kann Abgehärteten, ging das nicht ausschließlich Spur- und Emotionslos vorbei. Die Krankenhauspsychologin kam sogar und bat, falls notwendig, Vieraugengespräche an. Mir persönlich war nicht danach. Die Stationsleitung stellte es zunächst mal frei und fragte ob sich jemand nicht in der Lage sähe, seine/ihre ursprünglich erworbene individuelle Fachpflegerische Kompetenzen gepaart mit wenigstens ein wenig Fürsorgekraft und motivationalem Antrieb, an diesem ganz speziellen Pflegeklienten in praktischer Umsetzung zum Besten zu geben. Mir persönlich bereitete diese Vorstellung auf Anhieb keinerlei Probleme. Also verstehen sie mich nicht falsch. Nicht das ich auch nur den geringsten Furz von Mitleid oder Einfühlungsvermögen in den ersten Tagen diesem armen Häufchen Elend hätte entgegenbringen können, ob das nun falsch oder richtig ist oder war, sein mal kritisch dahingestellt. Aber ich empfand eben auch keine Abscheu oder gar Hass nein, ich traf komischer Weise auf vollkommene Emotionale Gleichgültigkeit in meinem Herzen. Nur um auch das klar zu stellen, heute in der Retrospektive geht das Geschehene in keinster Weise mehr emotionslos an mir vorüber, so dass ich damals auch sicherlich, wenn auch nur unbewusst, automatisch eine Art von psychoemotionalem Selbstschutz an den Tag gelegt haben musste. Bei einigen sah man es allerdings direkt in ihren Gesichtern, in ihrem Blick, ihrer Mimik ganz eindeutig nicht zwingend Hass, aber mindestens Verachtung und Abscheu und Verunsicherung. Nicht das meine Meinung die tatsächliche Teamstimmung in irgendeiner Art und Weise beeinflusst hätte, nein, dass sicherlich nicht, immer hin war ich nur der Praktikant. Diejenigen welche sich nun bereit erklärt hatten, wenigstens die zumindest zwingenden fachpflegerischen Maßnahmen an ihm durch zu führen, legten, nun die einen mehr, die anderen weniger, aber jeder auf seine ganz einzigartige Art und Weise, eine gewisse eigene Form und Farbe der Reserviertheit an den Tag. Denn jeder war in seiner subjektiven Erlebenswelt ganz klar der Meinung, dass das Ergebnis seiner Entscheidung unterm Strich ein verflucht, aber so richtig beschissener Tausch gewesen sei. Das sind diese Begebenheiten, bei welchen sich jeder auf seine ganz eigene Art und Weise, mit Fragen wie Sinnhaftigkeit, Göttlichkeit und Schicksalhaftigkeit auseinandersetzt.

Und soll ich ihnen etwas sagen, er tat das auch, ganz sicher tat er das und er wusste es, er wusste, dass wir dies auch taten, er wusste es und er sah es sicherlich haar genauso. Sein Gesicht war leer, leer von allem, leer und regungslos doch das er das Leben aus seiner ganz eigenen wie schon zuvor von ihm festgestellten Sicht jetzt nicht nur nicht mehr ertragen konnte, sondern ab diesem Moment es vielleicht auch gar nicht mehr verdiene, dass sah man ihm eindeutig an. Er hatte sich aus Körperlicher somatischer Sichtweise zum Glück nur die linke Hüfte, das Becken, den Oberschenkel und den dazu gehörigen Unterarm gebrochen aber ansonsten hatte er dieses extreme Ereignis, wenn man sich Bewusst macht, welche massiven Kräfte in dieser außergewöhnlichen Situation gewirkt haben müssen, ganz gut überstanden. Er bekam eine Morphium Pumpe, das ist eine Kleine Spritze in einem abgeschlossenen Plexiglasgehäuse, welche an einen intravenösen Zugang angeschlossen war. Er konnte über einen Knopf im Rahmen von genau vorgegebenen zeitlichen Grenzen, sich eigenständig eine kleine Dosis Morphium verabreichen. Obwohl der Spielraum der Dosierung schon relativ hoch eigestellt war begab es sich, das vielleicht auch unterstützt durch die bereits vorherrschende Sensibilisierung dem Alkohol und vielleicht auch noch anderen Substanzen gegenüber, auch nach sehr kurzer Zeit eine Sensibilisierung des Morphins gegenüber stattfand und der Dosisspielraum wohl nicht mehr für eine effektive Schmerzlinderung ausreichte. Er verlangte nach mehr. Natürlich gaben wir dies den diensthabenden Ärzten weiter und selbstverständlich setzte man sich damit auseinander. Denn grundsätzlich sollte niemand in einem Krankenhaus länger Schmerzen ertragen müssen ohne das diese eine zielgerichtete Behandlung und dadurch eben auch Linderung erfahren. Doch man sah jedem sehr genau an, dass aktives Mitleid nicht wirklich aufkam.

3,2 Promille waren es letzten Endes, welche sich zumindest bei der ersten Messung im Krankenhaus in seinem Blutkreislauf befanden und 3,2 Promille waren es sicherlich auch, als sich die Front seines Kraftfahrzeuges, frontal und beinahe gradlinig und in voller egoistischer, suizidaler Absicht in die ebenfällige Front eines sich im direkten Gegenverkehr befindlichen Kraftfahrzeuges bohrte. Zwei Objekte, welche sich mit Minimum einhundert Stundenkilometer aufeinander zu bewegen, frontal aufeinander prallen und zumindest für nur den Bruchteil einer Millisekunde ihre Geschwindigkeit, zumindest in ihre ursprüngliche Richtung beinahe augenblicklich auf null reduzieren, nur um genau in der nächsten, ebenso kurzen Millisekunde, ihre Geschwindigkeit wieder abrupt, auf etwa die Hälfte ihrer Ausgangsgeschwindigkeit, allerdings genau in eine andere Richtung wieder zu erhöhen. Zwei Kleinkinder zwei und vier Jahre alt und ihre Mutter waren tot. Ich weiß nicht ob augenblicklich und unverzüglich, oder ob diese einzigartige Szenerie von Hilflosigkeit und brachialer Zerstörung noch durch unendlich wirkende, Minuten von körperlich unerträglicher schmerzhafter Erfahrungen, in Kombination mit in ihrer unendlichen und unfassbaren Grausamkeit kaum vorstellbaren Bildern abgerundet, begleitet oder regelrecht garniert wurde, bevor sich das herrlich süße von Erlösung und irdischer Leblosigkeit geprägte Bild von Tod und körperlicher Vergänglichkeit über diese höchst tragische Situation und die darin verwickelten kaum gelebten Leben legte.