Kathrin Brückmann

Mann im Entblätterteig

Angefeuert

Emmelie saß mit den Kollegen am großen Redaktionstisch und lauschte den Willkommensworten ihres neuen Chefs, der endlos über die Vorzüge seines international vernetzten Verlagshauses schwadronierte. Es fielen Worte wie Kompetenz und Reichweite, dabei interessierte die Belegschaft nur, wie es mit ihrer eigenen Zeitung weiterginge. Da endlich kam Claus Meyerdinck zur Sache. »… natürlich wird es einige personelle Veränderungen geben …« Er ließ die Worte wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen hängen und musterte die Gesichter. Seine Begleiter, drei Männer in Anzügen mit Krawatte, die hier so deplatziert wirkten wie Hochhäuser auf dem Dorf, trugen ausdruckslose Mienen zur Schau. Seine Leibwächter? Speichellecker?

Ihr fuhr der Schreck in die Glieder. Hatte es nicht geheißen, keiner würde entlassen? Sie linste zu den Kollegen hinüber. Die waren genauso sprachlos wie sie selbst, nur Chefredakteur Tobias Findeisen sah aus, als hätte man ihn mit der Hand in der Keksdose ertappt. Hatte er es gewusst und nichts gesagt? Emmelie traute ihm so viel Niedertracht eigentlich nicht zu; immerhin hatte er die Onlinezeitung mit viel Herzblut und Engagement aufgebaut und zu dem gemacht, was sie heute war: interessant genug für eine Firma wie die Münchner Meyerdinck AG. In elegantem Schwung segelte ein Blatt des Ficus zu Boden, als hätte es nur darauf gewartet, dass endlich einmal Stille herrschte.

Sie wussten natürlich alle, auf was für wackligen Füßen, finanziell gesehen, Ü-Berlin, seit Langem stand. Tobias musste um jeden Anzeigenkunden kämpfen, weil die Leser lieber mit Adblocker surften, und ein Abosystem würde auch nicht genug bringen, da war sich das Team einig. Dafür gab es zu viele Gratisangebote im Netz. Ein schwieriger Spagat also, den sie letztlich nicht hatten bewältigen können. Seit bekannt geworden war, dass Verlagsriese Meyerdinck sie schlucken würde, standen die Zeichen auf Sturm, dessen Wogen Tobias zu glätten bemüht war. Meyerdinck sei ein Familienunternehmen, vom Chef persönlich geführt, da werde kein betriebsferner CEO alles umwerfen, was sie in zehn Jahren aufgebaut hatten, und niemand werde seine Arbeit verlieren. Von wegen! Emmelie ahnte, wen es zuerst treffen würde: sie als jüngstes Mitglied des Redaktionsteams. Tobias schien ihren eisigen Blick zu spüren; er rieb sich den Nacken und schielte zu ihr hinüber. Oh ja, er wusste genau, was Meyerdinck plante!

Das kleine runde Männchen rieb sich zufrieden die Hände. »Ich werde Sie jetzt einzeln in Herrn Findeisens Büro rufen und mit Ihnen besprechen, wie es weitergeht. Guten Tag, meine Herren … und Damen.« Gefolgt von seiner Entourage stolzierte er davon, bei jedem Schritt einen kleinen Hüpfer machend, als könnte ihn das größer erscheinen lassen.

Was für ein Wicht – Emmelie hasste den Giftzwerg schon jetzt aus tiefster Seele. Wo sollte sie eine neue Stelle finden? Arbeitslose Journalisten gab es wie Sand am Meer. Und sie war so froh gewesen, nach dem Studium gleich bei Ü-Berlin untergekommen zu sein, auch wenn es sich nur um ein regionales Stadtblatt ohne Printausgabe handelte. Immerhin ein Sprungbrett!

Tobias, dieser Verräter, schlich seinem neuen Herrn und Meister hinterher. An der Tür zu seinem Büro drehte er sich um und winkte Jürgen Ziemlich heran. Der Sportredakteur ging gelassen auf die beiden zu, und bald darauf waren sie in Tobias’ Arbeitszimmer verschwunden. Emmelie wusste nicht, wohin mit ihren geballten Fäusten. Klar, Jürgen musste sich als Ältester im Team kaum sorgen, und Sport ging eh immer. Tobias würde ›seinen besten Mann‹, wie er ihn oft nannte, kaum im Regen stehen lassen. Emmelie sah sich in dem chaotischen Großraumbüro um, das ihr in dem halben Jahr, seit sie hier arbeitete, bereits eine zweite Heimat geworden war. Die Kollegen hatten Grüppchen gebildet und tuschelten miteinander. Sie kam sich ausgeschlossen vor, schon jetzt als nicht mehr dazugehörig, und jeder schien es zu wissen. Die ›Familie‹ ließ sie bereits im Stich, oder bildete sie sich das ein? Da kreuzte ihr Blick den von Michaela, der einzigen anderen Frau im Team, und diese neigte einladend den Kopf. Erleichtert wischte Emmelie sich die Augen und gesellte sich zu der Reporterin für Bezirkspolitik und Tim, dem Mann fürs Feuilleton.

»Wird schon nicht so schlimm werden. Weißt ja, was Tobi versprochen hat.« Michaelas Worte klangen wie ein Mantra. Sie war auf den Job genauso angewiesen wie sie alle hier.

»Wenn jemand fliegt, dann ich.« Es klang bitterer, als Emmelie beabsichtigt hatte.

»Ach was! Ich glaub nicht, dass du dich sorgen musst. Wer soll sonst die Klubreportagen übernehmen? Das ist doch unser Aushängeschild.« Tim zwinkerte ihr zu. »Für mich ist das nichts, ich bin mehr der Kulturmensch. Und mit Theater, Oper und Museen hab ich schon genug zu tun.«

Emmelie lächelte ihn dankbar an. »Eigentlich kann ich mir auch nicht denken, dass Tobias uns angelogen hat.«

Das Gemurmel der anderen verstummte – Emmelie sah auf, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Jürgen stolzierte stolz geschwellten Bierbauchs dorthin, wo vorhin Meyerdinck seine kleine Ansprache gehalten hatte. Mit wichtigtuerischer Miene verkündete er: »Tim, du bist der Nächste.«

»Jetzt gilt’s«, stöhnte der und setzte sich in Bewegung.

Emmelie hörte Meyerdinck noch sagen: »Nehmen Sie Platz, Herr Lehmann«, dann schloss sich die Tür wieder.

Jürgen wurde unterdessen von den anderen belagert, zog aber nur mit Daumen und Zeigefinger einen imaginären Reißverschluss über seinem Mund zu. »Von mir hört ihr nix.« Die kahle Stelle auf seinem Schädel glänzte wie ein Scheinheiligenschein.

»Nun sag schon!« – »Mach’s Maul auf!« – »Gefeuert oder nicht?«

Emmelie hielt sich die Ohren zu. Jürgens selbstgefällige Visage sagte doch schon alles. Außerdem war der Typ ein Arsch, und Scheiße schwimmt bekanntlich immer oben. Ihn konnte sie als Einzigen im Team nicht leiden, und das lag beileibe nicht nur an ihrem Desinteresse für Sport. Der Mann riss dauernd zotige Witze, die haarscharf an sexueller Belästigung vorbeischrammten und oft genug sie selbst zum Ziel hatten.

Während einer nach dem anderen im Allerheiligsten verschwand und mit kryptischer Miene wieder auftauchte, hielt sie die Anspannung kaum aus. Natürlich wurde sie als Letzte gerufen, als alle anderen schon aufatmen konnten. Die Glücklichen! Auch wenn niemand etwas über sein Gespräch mit der neuen Chefetage gesagt hatte – schlecht war es für keinen gelaufen, das sah man ihnen an. Also war sie das auserkorene Opfer, das auf Meyerdincks Altar dargebracht werden sollte. Dass man sie als Einzige rauswarf, kam ihr extrem unfair und im Grunde auch unwahrscheinlich vor, aber was sollte ›personelle Veränderungen‹ sonst bedeuten?

»Fräulein Landau, bitte!«

Sie warf die Haare in den Nacken und streckte das Kinn vor. Schnell noch die feuchten Handflächen am Rock abgewischt, dann trat sie ihren Weg aufs Schafott an. Der kleine Raum war mit den fünf Herren ziemlich überfüllt. Warum die drei Bodyguards aus München dabei waren, konnte sie sich nicht denken, es sei denn, Meyerdinck fürchtete eine Verzweiflungstat eines seiner neuen Schäfchen.

»Setzen Sie sich.« Die fleischige Hand des neuen Chefs wies auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch.

Dankbar ließ Emmelie sich auf die Sitzfläche sinken, bevor ihre Knie einknicken konnten. Tobias mied ihren Blick. Na gut, das konnte sie auch. Sie lächelte gegen ihre Angst an.

»Ja, Fräulein Landau, wie ich höre, machen Sie Ihre Sache gar nicht so schlecht, trotz Ihrer jungen Jahre.«

»Danke«, murmelte sie. Wo blieb das Aber?

»Aber Sie verstehen natürlich, dass ich für die Reportagen über die Klubszene einen männlichen Reporter bevorzuge. Das ist ja auch nicht ganz ungefährlich, nicht wahr, Mädchen? Drogen, Alkohol und eine junge Frau nachts allein auf den Straßen.« Väterlich besorgt wiegte er sein rundes Haupt.

Emmelies Mund wurde schlagartig trocken. »Nein, ich …«, krächzte sie. Wie konnte sie ihm nur klarmachen, dass sie dem absolut gewachsen war?

Doch Meyerdinck schwadronierte bereits weiter. »Ich dachte mir, das lassen wir lieber unseren Herrn Altendorf hier übernehmen.«

Einer der Schlipsträger, ein Schnösel Anfang dreißig mit so stark gegeltem Haar, dass es wie ein Helm wirkte, lächelte schmal und nickte ihr zu. Was wollte so einer denn in Berlins quirligem Nachtleben? Emmelie hatte einige Zeit gebraucht, um Kontakte zu Klubbetreibern und Türstehern aufzubauen. Jetzt war sie überall gern gesehen und hatte sich mit ihren Kritiken bereits einen kleinen Namen gemacht. Dieser Piefke dagegen scheiterte vermutlich schon am Einlass. Sie wollte Meyerdinck das sagen und öffnete den Mund.

Der schnitt ihr mit einer herrischen Geste das Wort ab. »Was Ü-Berlin bislang fehlt, ist die etwas frauliche Note, die weibliche Leser anspricht. Ich dachte da an Kochtipps und Backrezepte. Das sollte Ihnen doch viel eher entsprechen, Sie sind ja sehr fraulich.« Sein Blick wanderte über Emmelies Kurven und wurde von einem Lächeln begleitet, das ihr Gänsehaut bereitete.

»Ich kann aber nicht kochen«, brachte sie heraus, bevor sich ihre Kehle endgültig wie zugeschnürt anfühlte.

Meyerdinck runzelte die Stirn. »Da haben Sie es!«, sagte er zu Tobias, als wäre ihr hausfrauliches Versagen seine Schuld. »Mein liebes Fräulein Landau, sehen Sie das als Chance. Lernen Sie es! Lernen Sie es! Oder wollen Sie Ihren Platz in der Redaktion räumen?«

Benommen schüttelte Emmelie den Kopf. Nur das nicht!

Tobias räusperte sich unbehaglich. »Tut mir echt leid, Emmelie. Ich hab alles versucht …«

Er sah so unglücklich aus, dass sie ihm das sogar glaubte. Selbst dem geleckten Altendorf schienen Meyerdincks vorsintflutliche Ansichten peinlich zu sein. Vermutlich gehörten auch die anderen beiden Schlipsträger jetzt zum Team. Ob sie die Einzige war, die ihr Ressort verloren hatte?

Meyerdincks Stimme unterbrach ihre müßigen Überlegungen – sie würde es früh genug erfahren. »Auf gute Zusammenarbeit. Guten Tag, Fräulein Landau.«

Sie erhob sich und schüttelte Meyerdincks Hand. Das geschah doch nicht wirklich? Vielleicht würde sie gleich aufwachen und über den Albtraum lachen.


Daheim in ihrer kleinen Wohnung in Berlin-Friedrichshain verließ Emmelie die mühsam zur Schau getragene Haltung. Sie warf sich aufs Sofa und wollte sich gerade so richtig schön ausheulen, als das Telefon klingelte. »Susu, gut, dass du anrufst!« Ihre seit Schultagen beste Freundin schickte der Himmel.

»Na, ich wollte doch mal hören, wie der neue Chef so ist. Was ist los, du klingst so komisch? Hast du etwa geweint?«

Frische Tränen quollen unter Emmelies Lidern hervor. »Ach Susu … Dieser Meyerdinck ist so ein Drecksack, das glaubst du gar nicht! Spaziert bei uns rein wie Napoleon und macht Tabula rasa.«

Am anderen Ende der Leitung japste ihre Freundin. »Nein! Er hat euch alle gefeuert?«

»Das nun nicht. Wir haben sogar drei neue Kollegen bekommen. Verstärkung für Jürgen, weil Sport ja ach so wichtig ist, außerdem einen Typen, der überregionale Themen bearbeiten soll – und dann wäre da noch der Altendorf, der jetzt mein Ressort übernimmt.«

»Oh nein! Und du? Gefeuert?«

Emmelie schnaubte. »Ich wünschte fast, es wäre so! Du sprichst mit der Leiterin des brandneuen Ressorts Kochen und Backen.«

Susu gab unterdrückte Laute von sich.

»Du lachst doch nicht etwa?«

Da platzte ihre Freundin heraus. »Du und kochen? Dir brennt doch sogar Wasser an!«

»Susu! Ich bin verzweifelt! Meyerdinck hat das Sagen, und er sagt, ich bin raus aus den Klubs. Fräulein, er hat mich Fräulein Landau genannt! Und gemeint, ich hätte so was Frauliches! Nachts auf den Straßen wäre es doch für mich viel zu gefährlich. Was soll ich bloß tun? Hör auf zu gackern wie ein blödes Suppenhuhn, das ist nicht komisch!«

Schlagartig wurde Susu ernst. »Nein, ist es nicht, ‘tschuldige. Aus welcher Höhle ist der denn gekrochen? Der Typ ist ja wohl ein reinrassiger Chauvinist und Sexist. Weißt du was? Du könntest ihn verklagen! Wir hatten neulich erst in Arbeitsrecht einen ähnlichen Fall. Du würdest garantiert Recht bekommen.«

»Und meine Stelle verlieren.« Emmelie seufzte. Als angehende Juristin sah ihre Freundin nur den rechtlichen Aspekt der Sache, nicht die harte Realität des Arbeitslebens. So was sprach sich herum, wenn eine Journalistin ihren Herausgeber verklagte. Sie würde nirgends mehr Fuß fassen können. »Recht haben und Recht bekommen … du weißt schon. Dabei ist Meyerdinck noch nicht mal so alt, wie man anhand seiner Ansichten glauben könnte. Also … sicher schon Nachkriegsgeneration.«

»Welcher Krieg?«, frotzelte Susu. »Es gab ja zwei Weltkriege …«

Emmelie musste lachen. »Ach du! Hey, mein neuer Chef sieht übrigens fast so aus wie Danny de Vito.«

»Ach, doch so groß? Das erklärt manches, wenn nicht gar vieles wie etwa, dass er Frauen gern klein macht. Du, wenn der dich feuert, kannst du auch dagegen klagen!«

Sie schüttelte den Kopf, obwohl ihre Freundin das nicht sehen konnte. »Das bringt doch alles nichts. Und mein Nachfolger Altendorf sieht aus, als hätte er einen Stock gefrühstückt, ein typischer Schlipsträger.«

»Vielleicht stolpert er ja über seinen Schlips und fällt gehörig auf die Schnauze, dann holt Rumpelstilzchen dich schneller zurück zu den Klubs, als du gucken kannst.«

Emmelie prustete heraus. »Rumpelstilzchen, wie das passt! Schön wär’s, wenn Altendorf zu seiner Alten ins Dorf zurückmüsste! Aber was mache ich bis dahin? Es wär ja kein Problem, wenn ich einfach nur irgendwelche Rezepte abschreiben müsste. Ich soll mir aber selbst welche ausdenken! Und natürlich kochen und Fotos davon machen. Einem Kochbuchverlag die Rechte abzukaufen, das käme ja zu teuer und würde Meyerdincks journalistischem Anspruch zuwiderlaufen. Ha! Der hat ja keine Ahnung, wie meine Küche aussieht.« Chaos war eine nette Umschreibung für das, was letztlich nur als Abstellplatz von Pizzaschachteln und Altglas diente. Es gab etwas freie Fläche um die Spüle und den Wasserkocher herum sowie den Weg zum Kühlschrank, mehr brauchte sie normalerweise auch nicht.

Susu schnaufte hörbar. »Wie, du sollst von zu Hause aus arbeiten? Spinnt der? Was hat das denn noch mit Journalismus zu tun?«

Genau das war auch Emmelies Sorge. Sie wäre vom Team abgeschnitten; niemand würde sie mehr ernst nehmen. »Unser Büro platzt mit den drei Neuen aus allen Nähten, und eine Küche besitzen wir ja auch nicht. Deswegen hat der Herr aus München sich gedacht, er könnte kurzerhand einen Homeoffice-Job aus meiner halben Stelle machen. Nur zu den Redaktionssitzungen am Freitag soll ich antanzen.« Sie sah sich schon für alle Zeiten einsam und allein vor sich hinwurschteln. »In meiner Küche finde ich garantiert nicht den Mann fürs Leben!«, klagte sie.

Ein Kichern drang aus dem Hörer. »Du müsstest ihn dir halt backen.«

»Ha ha!« Bei ihren Kochkünsten sah Emmelie da schwarz.

»Ach Süße, lass den Kopf nicht hängen. Ausgehen kannst du ja trotzdem noch, außerdem: wozu die Eile? Du hast Zeit!«

Susu hatte gut reden; sie war schließlich seit drei Jahren mit ihrem Fred zusammen. Wie sollte Emmelie ihr das erklären? Sie sehnte sich nach einer Partnerschaft, wie ihre Eltern sie gehabt hatten, eine aus Vertrauen und Liebe geborene Eintracht. Der frühe Tod der beiden hatte sie eins gelehrt: Das Leben konnte allzu schnell vorbei sein. Faule Kompromisse wollte sie deshalb nicht eingehen, und sie wusste ziemlich genau, was sie wollte.

»… Ansprüche etwas herunterschrauben, Süße. Dein Fabelwesen existiert vermutlich gar nicht. Und glaub mir, wenn’s funkt, dann funkt’s, und dann ist es dir ganz egal, wie lang seine Haare sind.«

Emmelie dachte an Freds beginnende Stirnglatze und grinste. »Das musst du ja so sehen.«

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann: »Das Äußere ist nicht alles. Das wirst du auch noch erkennen.«

Sie biss sich auf die Lippen. Hatte sie Susu beleidigt? »Ich …«

Doch ihre Freundin schien die Missstimmung schon vergessen zu haben. »Apropos Traummann. Rate mal, wer heiratet? Das errätst du nie!«

»Wer?«

»Billy! Hast du keine Einladung bekommen?«

»Das gibt’s nicht, Sybille Quandt, unsere verrückte Billy? Wart mal, ich hab die Post zwar hochgeholt, aber noch gar nicht durchgesehen. Ah da, großer weißer Umschlag?«

»Das ist er.«

Emmelie betastete das feine Papier. »Vornehm.« Den Hörer zwischen Hals und Schulter geklemmt, öffnete sie das Kuvert, und ihr entfuhr ein Pfiff. »Na, sag bloß, Markus Jörgensen, etwa von den Jörgensens?« In ihrer Heimatstadt Bremen gehörte die Industriellenfamilie zur Crème de la Crème. Sybille dagegen war vor nicht allzu langer Zeit noch als Punk unterwegs gewesen.

Susu gluckste. »Ja, unsere Billy hat sich einen dicken Fisch geangelt, wer hätte das gedacht?«

Emmelie verspürte mit einem Mal einen stechenden Schmerz. Somit war sie die Letzte aus ihrer früheren Clique, die noch keinen festen Partner hatte. »Bin ich zu kompliziert, Susu?«

Ihre Freundin antwortete nicht sofort. »Na ja …«

»Toll! Wenn selbst du das sagst.«

»So meine ich es nicht. Du bist ein wunderbarer Mensch, keine Frage. Sonst hätte ich dich doch nicht so lieb. Aber du willst zu viel. Geh doch mal etwas offener an die Kerle ran. Manchen Prinzen erkennt man erst, wenn man einen Frosch küsst.«

»Ich hab schon Frösche geküsst, glaub mir!« Unbeholfene Küsse von verschwitzten Pubertieren entsprachen nicht gerade ihrer Vorstellung von Romantik. Deswegen war sie auch die ganze Schulzeit über nicht weitergegangen als das. Bis … ja, bis. Mit Schaudern dachte Emmelie an ihr ›erstes Mal‹. Es war im Anschluss an die Abifeier geschehen … Christophs wulstige Lippen – trotz ihres Schwipses hätte sie sich beinahe übergeben, als er ihr seine Zunge in den Hals steckte. Aber sie wollte nicht als letzte Jungfrau des Jahrgangs die Schule verlassen. Hätte sie nur auf den Richtigen gewartet! Am nächsten Morgen war sie mit dickem Kater und einer gehörigen Portion Ekel über sich selbst aufgewacht, beides Dinge, die ihre Mutter im Handumdrehen hätte kurieren können. Doch dann war der Anruf gekommen … Der Verkehrsunfall der Eltern war ihr wie eine Strafe erschienen. Seither hatte sie zwar eine Menge Verabredungen gehabt, aber mit niemandem mehr geschlafen. »Die meisten Frösche werden zu Schweinen, wenn man sie ranlässt. Da bin ich lieber wählerisch.«

»Hm.« Emmelie konnte fast hören, wie Susu die Lippen zusammenkniff. Dann fuhr ihre Freundin aber fort: »Wirst du hinfahren?«

Bremen. Das Herz schlug plötzlich dumpf in ihrer Brust. Seit … damals, vor sieben Jahren, war sie nicht mehr dort gewesen. Die Zusage für den Studienplatz in Berlin in der Tasche hatte sie nichts in der Stadt ihrer Kindheit gehalten, nichts sie dorthin zurückgezogen … Sie hatte, noch benommen vom Schmerz, den Nachlass geregelt, ihr Elternhaus vermietet und war in Umzugswagen nach Berlin gesprungen. Zum Glück hatte es Susu, seither ihr ganzer Halt, ebenfalls in die Hauptstadt verschlagen. Vielleicht war es Zeit, einen Schritt zurück zu wagen, um voranzukommen? »Warum nicht? Mai, das ist ja noch ein paar Monate hin. Wir beide zusammen, das wird ein Spaß!«

»Abgemacht!«

Che-rio

Am nächsten Morgen schrillte der Wecker wie gewohnt um 7:30 Uhr. Emmelie hatte sich bereits kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt und der Katze ihr Trockenfutter gegeben, als ihr einfiel, dass sie heute ja gar nicht ins Büro musste. Ein Glück, denn sie sah zum Fürchten aus! Die Augen rot gerändert, die Haare so zerzaust, als hätte sich letzte Nacht ein Vogel darin ein Nest gebaut. »Au!« Die Bürste blieb in dem straßenköterblonden Gewölle stecken. Sie gab auf und stellte sich unter die Dusche. Hoffentlich half der Conditioner.

Allmählich belebte sie das warme Wasser. Das war wenigstens ein Vorteil an der Sache: ausschlafen, sich in Ruhe fertig machen und einfach jeden Tag einen Artikel schreiben. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm? Mit neuem Schwung zog sie sich an und setzte Teewasser auf.

Als sie mit ihrer Müslischale und dem dampfenden Ostfriesentee am Küchentisch Platz genommen hatte, ertönte vom Boden ein vorwurfsvolles Maunzen. »Hab ich dich ganz vergessen?« Emmelie rutschte mit dem Stuhl etwas nach hinten und klopfte einladend auf ihre Schenkel. »Wie heißt meine Süße?«, fragte sie.

»Miou«, antwortete ihre Katze und rollte sich behaglich schnurrend auf ihrem Schoß zusammen.

»Genau. Was bist du doch für ein kluges Tier!« Sie lächelte, auch wenn sie wusste, dass Miou nur auf das Ausschlecken des Schälchens spekulierte. »Die einzige Katze, die ihren Namen sagen kann. Hast du vielleicht eine Idee, was ich kochen könnte?« Dann erschrak sie. Alleinstehende Frau, die mit ihrer Katze spricht und Kochrezepte ausprobiert? Sie war im Begriff, ein Klischee zu werden! Das musste sie unbedingt verhindern. An der Pinnwand mahnte die Einladung zu Billys Hochzeit. Emmelie Landau und Begleitung. Begleitung, ha! Damit war sicher weder Miou noch ein Lebkuchenmann gemeint. Von wegen, back dir einen Kerl! Moment, vielleicht war das die Idee für den Start in ihr neues Aufgabengebiet? Die Jahreszeit passte, Anfang November. Da gab es in Bremens Bäckereien immer den Stutenkerl. Sollte sie sich an so einen heranwagen? Immerhin wäre das für die Berliner Region mal was anderes. Nur die Tonpfeife, die würde sie sicher nirgends bekommen. »Was soll’s, die lässt sich bestimmt auch aus Teig formen, was Miou?«

»Miep«, fiepte das Tier und stieß mit dem Kopf von unten gegen ihren Handballen. Emmelie kam der Aufforderung zum Kraulen gern nach. Eine erste Idee hätte sie schon mal, nur sollte sie ja eigene Gerichte erfinden, keine vorhandenen nachkochen. »Ach, da wird mir schon noch was einfallen, was?«


Ein Rezept für den Stutenkerl war im Internet schnell gefunden und ausgedruckt, die Pizzakartons aus der Küche zu einem Bündel verschnürt. Nachdem sie ihre Haare gebändigt hatte, machte Emmelie sich mit dem Rad auf den Weg zum Supermarkt. Heute würde es ein Großeinkauf werden – die Bestandsaufnahme von Kühlschrank und Vorratskammer hatte einen eklatanten Mangel an eigentlich allem offenbart. Kein Wunder, sie bestellte sich ihre Mahlzeiten auswärts oder wärmte sich, wenn sie ganz mutig war, ein Fertiggericht in der Mikrowelle auf. Oft ging sogar das schief, und wirklich lecker war das Zeug auch nicht.

»Du musst dich nur auf das konzentrieren, was du in der Küche tust, dann gelingt es dir auch«, hatte Susu ihr gestern noch geraten.

Die hatte leicht reden. Emmelie kannte nichts Langweiligeres, als am Herd zu stehen. War es da ein Wunder, wenn sie sich nur zu gern ablenken ließ und lieber mal schnell den Laptop aufklappte? Beklommen strampelte sie gegen den schneidenden Herbstwind an, über den sogenannten Dorfplatz an den besetzten Häusern der Rigaer Straße vorbei. Leichter Nieselregen schlug ihr ins Gesicht, und so war sie froh, als sie das Rad die Rampe zum Discounter hinaufschieben konnte. »Nächstes Mal nehme ich Handschuhe mit«, murmelte sie mit klappernden Zähnen.

»Kann ich nur empfehlen«, ertönte es hinter ihr.

Emmelie schaute über die Schulter. Ein junger Mann streckte ihr über den Lenker seines ramponiert aussehenden Drahtesels dick vermummte Hände entgegen. Ein Schal bedeckte das Kinn, und über die Ohren hatte er eine schreiend bunte Wollmütze gezogen. Sie lächelte. »Oh, die schauen schön warm aus. Lammfellhandschuhe mit Fingern hab ich noch nie gesehen.« Schön warm war auch sein Blick aus rehbraunen Augen. Emmelie spürte ein Kribbeln in den Fingerspitzen, das nicht von der Kälte herrührte. Es lag ihr auf der Zunge zu sagen, dass er als Afrikaner die Herbsttemperaturen in Deutschland bestimmt nicht gewöhnt war, als ihr bewusst wurde, dass er in akzentfreiem Deutsch auf sie einredete.

»… im Angebot. Du musst nur danach Ausschau halten. Oder bist du nicht von hier?«

Emmelie lachte auf. »Doch, das schon, aber ich kaufe nicht oft ein.« Sie schloss das Rad an einem der Fahrradständer fest. »Das heißt: In Zukunft werde ich öfter einkaufen müssen. Danke für den Tipp. Vielleicht haben sie die Handschuhe bald mal wieder.« Sie rieb ihre klammen Finger und kramte die Pfandmünze für den Wagen heraus. Der Mann hatte sich bereits einen geholt, wartete aber noch auf sie. Begleitung, wie nett! Vielleicht war es doch nicht ganz so aussichtslos, bei ihrer neuen Tätigkeit Bekanntschaften zu schließen? »Ich bin Emmelie«, sagte sie kurz entschlossen.

Er entblößte strahlend weiße Zähne. »Che. Freut mich.«

Sie gluckste. »Wie Che Guevara? Wie waren deine Eltern denn drauf?«

Er zuckte mit den Schultern und steuerte die Automatiktür an. »Vater Kubaner, Mutter aus der DDR, da kann so was passieren.«

»Schweres Erbe. Viva la revolución!« Wohlige Wärme umfing sie im Innern des Geschäfts.

Er salutierte grinsend. »Und welche Revolution bringt dich dazu, deine Gewohnheiten bezüglich der Vermeidung von Konsumtempeln zu ändern?«

Nachdem sie den Satz entschraubt hatte, sagte Emmelie: »Ich muss kochen lernen.«

»Wieso denn das?«

Plötzlich gehemmt rutschte ihr heraus: »Für meinen Zukünftigen.« Was ging es ihn an, was bei ihr los war? Sie würde ihn vermutlich nie wiedersehen, und ihrem Traummann sah er auch nicht im Mindesten ähnlich.

Ches Augenbrauen schoben sich Richtung Mützenrand. »Ich meinte eigentlich: Wieso kannst du nicht kochen?«

Emmelie schoss das Blut in die Wangen. Wie peinlich!

»He da vorne, wollt ihr einkaufen oder den ganzen Tag den Weg versperren?«

Das Auftauchen der ungeduldigen Kundin enthob sie einer Antwort; sie sprang beiseite und kaute verlegen auf ihrer Unterlippe herum. Da sie nichts sagte, zuckte Che mit den Schultern. Er warf die Handschuhe in den Wagen, zog eine zerknitterte Visitenkarte aus seiner Jackentasche und reichte sie ihr. »Sorry, ich muss weiter. Ruf an, wenn du Hilfe brauchst.« Damit setzte er sich in Bewegung und war schon bald hinter einem Regal verschwunden.

Sie glättete die Karte und las:

Restaurant El Compañero

Kubanische Küche

Che Müller

Inhaber und Koch


Ein Koch! Ausgerechnet einem Koch musste sie über den Weg laufen – und ihn vergraulen! Dabei hätte sie sich diese Bekanntschaft im wahrsten Wortsinne warmhalten sollen. Warum hatte sie ihn nur belogen und ihm was von einem Verlobten erzählt? Nach diesem Auftritt konnte sie ihn unmöglich bitten, ihr die Grundregeln des Kochens beizubringen. Langsam glaubte sie, dass Susu gar nicht so falsch lag mit ihrem Urteil: Sie sabotierte sich selbst. Ach was, redete sie sich ein. Che war in Eile, wie er selbst gesagt hatte, wollte bestimmt nur schnell eine fehlende Zutat besorgen. Köche mussten doch an sieben Tagen der Woche arbeiten, meist bis spät in die Nacht. Mit so jemandem konnte Emmelie sich keine Beziehung vorstellen. Wieso hatte er ihr seine Karte gegeben, trotz ihres Geredes über einen Verlobten? Wollte er am Ende wirklich nur helfen, ganz ohne Hintergedanken?

»Dumme, dumme, dumme Kuh!«, flüsterte sie vor sich hin. Die ungeduldige Kundin warf ihr vom gegenüberliegenden Brotregal her einen Blick zu, der Wein in Essig hätte verwandeln können. Emmelie war egal, was die Frau von ihr dachte. Wenn die sich angesprochen fühlte … Sie zwang ihre Aufmerksamkeit auf die vor ihr liegende Aufgabe, und bald war ihr Wagen fast randvoll. Als sie sich in die Schlange an der Kasse einreihte, sah sie Ches bunte Mütze gerade noch am Ausgang aufblitzen. Sie war wirklich eine dumme Kuh!

»Das macht dann 189,56 Euro«, verkündete die Dame an der Kasse.

Emmelie erschrak. »So viel?«

»Sie haben ja auch viel gekauft.«

»Stimmt.« Und nicht auf Angebote geachtet. Sie kramte in ihrem Portemonnaie. »Muss ich mit Karte bezahlen, tut mir leid.« Normalerweise zahlte sie bar, denn sie fürchtete sich vor manipulierten Kartenlesegeräten, aber so viel Geld hatte sie nicht bei sich.

Zum Glück hatte Meyerdinck ihr zugesichert, ihr alle anfallenden Kosten für Lebensmittel und dergleichen sowie einen Pauschbetrag für Strom zusätzlich zu ihrem Gehalt auszuzahlen. Das würde zwar jeden Monat eine furchtbare Rechnerei, allerdings brauchte sie das Geld. Hätte sie die Mieteinnahmen aus Bremen nicht, würde es sowieso vorn und hinten nicht reichen.

»Kein Problem.« Die Kassiererin schnappte sich die EC-Karte und steckte sie in die Apparatur. »Geheim und Grün dann bitte.«

Emmelie starrte sie einen Moment verständnislos an, bis sie die Worte als ›Geheimzahl eingeben und dann die grüne Taste drücken‹ enträtselt hatte.

»Wird das noch mal was heute, oder wollen Sie da vorn Kaffeeklatsch halten?«

Schon wieder die ungeduldige Kundin, was für ein Biest! Hastig drückte sie die Tasten.

»Falsche PIN. Vielleicht ein Zahlendreher? Versuchen Sie es noch mal.«

Welche Zahlen hatte sie denn verdreht? Plötzlich fiel ihr nicht einmal mehr die erste Ziffer der Geheimzahl ein. Oh nein, wie peinlich! Emmelie spürte die Frau hinter sich förmlich mit den Hufen stampfen. Wie war doch gleich die Eselsbrücke, mit der sie sich die Zahl gemerkt hatte? Eins hoch, zwei runter – und dann? Noch ein Fehlversuch. »Geht das nicht auch mit Unterschrift?«

»Bedaure …« Auch das Lächeln der Kassiererin wirkte jetzt leicht gezwungen.

Ganz ruhig! Emmelie machte ihren Kopf leer, und da klappte es auf einmal. Mit zitternder Hand und brennenden Ohren schob sie die letzten Sachen in den Wagen und hastete nach draußen. Nächstes Problem: Wie sollte sie diesen Rieseneinkauf nach Hause bekommen? Der kleine Korb auf dem Gepäckträger war schnell randvoll, der Einkaufswagen jedoch noch lange nicht leer. Auch ihr Rucksack war bereits prall gefüllt. Sie musste noch einmal in den Laden gehen und zwei dieser Großraumtüten erwerben. Allerdings baumelten die schweren Taschen so tief vom Lenker, dass sie in die Speichen gerieten, sobald Emmelie aufzusteigen versuchte. Zuguterletzt schob sie das Rad lieber nach Hause.


1000 g Weizenmehl Typ 550

400 ml Milch, handwarm

120 g Zucker

2 Päckchen Vanillezucker

120 g Butter

15 g Salz

2 Würfel frische Hefe

2 Eier

Mark einer Vanilleschote

Abrieb einer unbehandelten Zitrone

Rosinen

1 Eigelb zum Bestreichen

Emmelie stand in ihrer frisch geputzten Küche und starrte das Rezept an. Wie sollte sie daraus etwas Eigenes machen? Wenn sie vielleicht die Rosinen wegließe? Niemand mochte Rosinen. Aber die waren ja nur dazu da, um dem Stutenkerl als Augen und Knöpfe zu dienen. Womit ließen die sich ersetzen? Ihr Blick fiel auf die schwarzen Oliven, und sie klatschte vor Freude in die Hände. Genau, sie würde aus dem süßen Brot einfach ein herzhaftes machen, und schon war’s was Neues, das sie erschaffen hatte! Also, wie beginnen? Die Hefe in die handwarme Milch und etwas Zucker einrühren? Statt Zucker nahm Emmelie eine Prise Salz; sie wollte ja kein Kuchenbrot. Die Mischung goss sie in eine Mulde des gesiebten Mehls. Während der sogenannte Vorteig, unter einem Tuch vor Zugluft geschützt, zum Gehen in der Nähe der Heizung stand, überlegte sie weiter. Auch der Vanillezucker musste ersetzt werden, aber womit könnte sie ihrem Stutenkerl stattdessen Geschmack geben? Ihr Blick wanderte die frisch erworbenen Gewürze auf und ab und blieb am gemahlenen Zitronengras hängen. Wenn sowieso schon Zitrone rein gehörte, warum nicht? Genau nach der Zeitvorgabe aus dem Rezept fügte sie die weiteren Zutaten hinzu und begann den Teig zu kneten. Was für eine schleimige und mühsame Angelegenheit! Da gehörte noch mehr Mehl dran!

Unglücklich starrte Emmelie einige Zeit später auf den unförmigen, harten Klumpen, den sie fabriziert hatte. Irgendwie sah das nicht richtig aus. Ach was, beim Backen würde sich das geben. Was wusste sie schon von Hefeteig? Sie formte ein rissiges Männlein und verzierte es mit den Oliven. »So, ab mit dir in den Ofen, mein Traummann.«

Nachteig

»Oh Susu, eine Katastrophe! Gott sei Dank, dass du so schnell gekommen bist.«

Ihre Freundin begann schon im Flur zu husten. »Sag mal, kochst du auf offenem Feuer, oder hast du deine Küche in Brand gesteckt?«

»Nicht ganz, aber ich habe mich an der Herstellung fossiler Brennstoffe versucht. Da, schau.«

Beim Anblick des schwarz gebrannten Männleins brach Susu in Gelächter aus, das in einem Hustenanfall endete. »Was hast du denn mit dem angestellt?« Sie hob den Olivenkerl an und schlug ihn probehalber gegen die Kante der Arbeitsplatte. »Hart wie Stein, alle Achtung«, sagte sie grinsend. »Das muss man auch erst mal schaffen. Lass uns lieber ins Wohnzimmer gehen, falls du da nicht auch eine Räucherkerze gezündet hast.«

Emmelie schnappte sich noch schnell eine Flasche und folgte ihrer Freundin. »Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte!«, jammerte sie, während sie den Rotwein eingoss.

»Hast du dich genau ans Rezept gehalten? Danke, reicht! Ich muss ja noch nach Hause fahren.«

»Wenn ich das nur dürfte! Meyerdinck will aber was Neues sehen, das man nicht in jedem Kochbuch findet. Ich musste also variieren.«

Um Susus Mundwinkel zuckte es verdächtig. »Darf man fragen, was du variiert hast?«

»Erst mal anstoßen.« Leise klirrten die Gläser, dann lehnte Emmelie sich zurück. »Also, ich wollte einen Stutenkerl backen.«

Susu giggelte. »Du hast dir meinen Rat also zu Herzen genommen.«

»Mh. Passt ja auch gut zur Jahreszeit. Statt der Rosinen habe ich Oliven verwendet, und da durfte es natürlich auch kein süßes Brot werden, also habe ich den Zucker durch Salz ersetzt und statt Vanillezucker …«

»Stopp, stopp, stopp«, unterbrach Susu sie. »Hast du etwa allen Zucker durch Salz ersetzt?«

Emmelie nickte.

»Auch den im Vorteig?«

Wieso gluckste Susu schon wieder so unterdrückt? Emmelie wusste partout nicht, was los war. »Klar.«

Da brach die Freundin in erneutes Gelächter aus. »Oh Mädel«, keuchte sie schließlich und wischte sich die Augen. »Wie soll denn der Teig gehen ohne Zucker?«

»Mein Traummann sollte ja auch nicht gehen, sondern kommen«, verteidigte sie sich. »Woher hätte ich das denn wissen sollen?«

Susu barg in gespielter Verzweiflung den Kopf in den Händen. »Das weiß man doch! Hefe braucht Zucker. Spätestens nach Ablauf der Gehzeit hättest du merken müssen, dass da was falsch war. Und wieso sieht dein Traummann so dunkelhäutig aus? Zeit vergessen?«

Emmelie dachte an Che. Hatte ihr das Unterbewusstsein einen Streich gespielt? Vielleicht sollte sie ihn doch anrufen. »Na ja«, druckste sie. »Als die Backzeit um war und der Kerl immer noch so flach aussah, hab ich mir gedacht, ich müsste ihn noch etwas drinlassen.«

»Du bist echt unbezahlbar«, sagte Susu, nachdem sie sich von ihrem neuen Lachanfall erholt hatte. »Und ich hab geglaubt, du stehst auf flache Bäuche.«

»Ha ha! Sag mir lieber, was ich jetzt machen soll? Um zehn ist Redaktionsschluss, bis dahin muss ich was abliefern.« Ihr Blick wanderte zur Uhrzeitanzeige im DVD-Rekorder. »In zwei Stunden schaffe ich keinen neuen Brotkerl, das Schreiben nicht zu vergessen.« Hilfe suchend sah sie ihre Freundin an.

Susu hob abwehrend die Hände. »Lass mich da raus. Ich hab morgen ganz früh Vorlesung. Ich trink nur schnell aus, dann muss ich los. Außerdem kann ich nicht auch noch deinen Job machen.«

Das traf Emmelie. Als hätte sie dergleichen von Susu verlangt! Sie wollte schon protestieren, als ihr Ches sympathisches Lächeln wieder einfiel. »Schon gut, ich wüsste da jemanden, der mir helfen kann.«

Susu setzte sich wie elektrisiert auf. »Ach nee! Sag bloß, du hast jemanden kennengelernt? Erzähl! Wer, wann, wie, was? Warum weiß ich nichts davon?«

Ein wenig verlegen berichtete Emmelie ihrer Freundin von der unverhofften Begegnung. »Für heute bringt mich das allerdings auch nicht weiter. Glaub kaum, dass er sein Restaurant im Stich lässt, um zu mir zu galoppieren.«

Die Visitenkarte in den Händen drehend murmelte Susu: »Wer weiß, vielleicht ja doch? Weit ist es nicht, und Versuch macht kluch. Ich wusste gar nicht, dass du auf Revoluzzer stehst! Apropos galoppieren, ich muss jetzt wirklich.« Mit einem Küsschen auf die Wange verabschiedete sie sich.

Und nun? Mehr als Nein sagen konnte Che auch nicht, da hatte Susu schon recht. Emmelie nahm ihr Handy mit in die Küche und machte ein Foto ihres Schwarzbrot-Männekens. Das schickte sie zusammen mit einer Kurznachricht an Che: ›Brauche dringend Hilfe eines Profis! Gruß, Emmelie (vom Supermarkt)‹. Abgeschickt. Ihr Herz klopfte. Oh ha, ob sie sich tatsächlich ein bisschen in den Typen verguckt hatte?

Sie starrte auf das Display, aber das Telefon blieb dunkel und stumm. Unaufhaltsam verrann die Zeit, und Emmelies Verzweiflung wuchs. Wenn auch Che sie im Stich ließ, was sollte sie tun? Schließlich verblieb noch eine halbe Stunde bis zehn Uhr. Selbst wenn er in diesem Moment auf der Matte stünde, zaubern könnte er auch nicht. Vorwurfsvoll weiß leuchtete die leere Seite von ihrem Bildschirm herüber. »So, jetzt reicht’s, die können mich alle mal kreuzweise!«, schimpfte sie und ließ sich auf den Schreibtischstuhl plumpsen. Dann hämmerte sie in die Tasten.


Pumper-Nick – Stutenkerl mal anders


Es gehört zu den postmodernen Mythen, dass jede Frau in einer Küche etwas Essbares zubereiten kann, Zutaten vorausgesetzt. Als wäre das sozusagen ein Extra-Gen, mit dem wir ausgestattet sind. Dafür fehlen uns laut Herren der Schöpfung allerdings die Gene fürs Autofahren, Handwerken und das logische Denken. Mein neuer Chef zum Beispiel denkt so, weshalb er mir, einer bekennenden Kochanalphabetin, das Ressort Kochen und Backen übertragen hat.

Nun, der Mensch wächst an seinen Aufgaben. Hier also meine Variante des Stutenkerls, der Pumper-Nick.

Zutaten:

1000 g Weizenmehl Typ 550

400 ml Milch, handwarm

20 g Salz

120 g Butter

2 Würfel frische Hefe

2 Eier

1 Teelöffel Zitronengras, gemahlen

Abrieb einer unbehandelten Zitrone

Schwarze Oliven

1 Eigelb zum Bestreichen

Feuerwehr auf Kurzwahl‹

Emmelie schielte auf die Uhr. Noch eine Viertelstunde. Auch in die Beschreibung der Zubereitung schlich sich ein deutlicher sarkastischer Unterton, den sie mit dem Satz krönte:

Liebe Kinder, bitte nicht zu Hause nachmachen. Liebe Erwachsene, der Pumper-Nick ist nicht zum Verzehr geeignet und wenig dekorativ. Wer das Rezept dennoch nachbacken möchte, tut dies ausdrücklich auf eigene Gefahr.

Bis zum nächsten Mal, wenn es wieder heißt: Ungenießbares aus Emmelies Hexenküche!‹

Sie fügte das Foto des Kohlemanns hinzu und schickte den Artikel ab, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Fünf Minuten später summte ihr Handy. Scheiße, das ist bestimmt Tobias!, dachte sie.

Aber die Nachricht kam von Che: ›Sorry, bin noch voll im Stress, melde mich morgen.‹

So viel zu Rittern in schwarzer Rüstung. Mitternacht, Emmelie rief die Ü-Berlin-Seite auf. Sofort fiel ihr das veränderte Design auf. Meyerdinck hatte keine Zeit verloren; das musste alles schon in Arbeit gewesen sein, als Tobias ihnen erstmals von der Übernahme erzählt hatte. Tatsächlich, da prangten auch neue Begriffe im Untermenü. Kochen & Backen … Einen Moment zögerte sie den Klick noch heraus. Die würden ihren Artikel doch nicht so online gestellt haben? Tobias lobte zwar immer, dass er ihre Texte auch mal unredigiert veröffentlichen konnte, weil sie selten Fehler machte und eine gute Schreibe hatte, aber trotzdem.

»Nein!«, schrie sie. Da war er, unübersehbar ihr Schwarzfußindianer, dazu jedes einzelne Wort, genau so, wie sie es sich in ihrem Frust von der Seele geschrieben hatte. »Das ist mein Ende! Meyerdinck wird mich feuern!«

Miou sprang auf ihren Schoß und schnurrte.

»Ach du. Wenn du wüsstest! Bald gibt’s kein Markenfutter mehr, und ich werde vermutlich noch froh sein um meinen Pumper-Nick, wenn das Geld knapp wird.« Trotz allem fühlte sie sich ein klein wenig befreit. Kochrezepte waren nun wirklich nicht das, wofür sie Journalismus studiert hatte.